Iloy - Denn er ist anders - Rea Sturm - E-Book

Iloy - Denn er ist anders E-Book

Rea Sturm

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Beschreibung

Iloy ist anders. Denn er ist ein Mischling – halb Mensch, halb Ink, nicht Mann, nicht Frau. Dessen wird er sich schmerzlich bewusst, Tag für Tag aufs Neue. Auf Aborra, der landwirtschaftlich geprägten Kolonialwelt, wird seine Anwesenheit lediglich geduldet. Die Mitschüler meiden ihn, während die meisten Lehrer zumindest versuchen, ihn ihre Abneigung nicht allzu deutlich spüren zu lassen. Aber alle wissen: Iloy gehört nicht dazu. Da begegnet er Laith, die neu auf die Schule und in seine Klasse kommt. Iloy verliebt sich in sie und sie scheint sich ebenfalls für ihn zu interessieren. Doch damit vervielfachen sich seine Probleme nur noch. Denn sie ist die Tochter eines Hohen Hauses der Zentralwelt und wurde von ihrem Vater nach Aborra verbannt. Und darüber hinaus hat sich auch ausgerechnet Derrin, der Sohn des Administrator Aborras, in sie verliebt, Iloys größter Feind. Verzweifelt versucht Iloy mit dieser so offensichtlich unmöglichen Liebe umzugehen, seinen Platz in der aborranischen Gesellschaft zu finden und das Geheimnis seiner Herkunft zu ergründen.

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Seitenzahl: 413

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Rea Sturm

ILOY

DENN ER IST ANDERS

1

In der letzten Nacht hatten heiße Nordwinde feinen Lehm in die Stadt getragen. Jeder Schritt ließ die Wölkchen tanzen. Iloy schlängelte sich an den Häuserreihen entlang, während ihn der Duft der nachtblühenden Sumpfgewächse in der Nase kitzelte. Der Wind kam nun von Süden und senkte die Temperatur auf angenehme Werte. Iloys dichte Wimpern schützten die schwarzen Augen vor den Strahlen der blauen Sonne, die blass über die zerklüfteten Berge schimmerte. Die Straße belebte sich schnell in der Dämmerung. Lastjets schwebten über die Passanten hinweg.

Zur Abwechslung versuchte Iloy, die Schule von hinten zu erreichen. Doch Erren war schlau. Es gelang ihm immer wieder, Iloy aufzuspüren. Ein letztes Mal sondierte er die Umgebung. Da! Braunes, schulterlanges Haar, eine bullige Gestalt hinter einigen Passanten! Es war Everian, der ihn in dieser Sekunde entdeckte und einen schrillen Pfiff ausstieß.

Iloy ergriff die Flucht. Doch in die falsche Richtung, wie es schien, denn Erren schob sich hinter einem parkenden Jet hervor und versperrte ihm den Weg. Iloy konnte dem athletischen Jungen gerade noch ausweichen. Er spürte, wie Finger seinen Ärmel streiften, Halt suchten und ihn verloren.

»Zu langsam, Grosch!« Iloy grinste in sich hinein, als Erren für Sekunden der Weg von zwei Arbeitern versperrt wurde.

»Verdammt!«, fluchte der junge Grosch und setzte ihm nach.

Iloy wandte sich nach rechts, aber ein weiterer Verfolger sprang hinter der nächsten Häuserecke hervor. Das hätte er sich ja denken können. Seraja war wendiger als Erren, er umlief geschickt zwei Frauen mit kleinen Kindern an der Hand und riegelte diesen Weg ab. Ein kleines Quäntchen schneller duckte sich Iloy unter Serajas Griff weg, machte einen Schlenker und lief zum Straßenring, der die Schule umschloss.

Erren rannte seinen Freund im Gedränge um. Sie gerieten ins Stolpern. Iloy hörte sie fluchen. Aus den Augenwinkeln sah er Everian eine Frau mit einem dumpfen Aufprall rücksichtslos von den Füßen reißen. Die drei Jäger ließen nicht locker und formierten sich neu.

Iloy hatte keine andere Wahl, er musste die menschenverstopfte Straße überqueren. Auf der anderen Seite schloss sich eine breite Rasenfläche an, hinter der die sechs Schritt hohe Mauer seiner Schule aufragte.

Das Brummen der Lastjets über ihm dröhnte in Iloys Ohren. Wie dicht waren seine Verfolger hinter ihm? In einer einzigen fließenden Bewegung schlängelte er sich durch die zielstrebigen Passanten, die ihn kaum bemerkten. Dementsprechend schnell erreichte er die Grünfläche. Iloy wagte es, sich umzudrehen, und beobachtete, wie die drei sich unter Beschimpfungen durch die Menge drängten. Ohne Hindernisse würden Erren und seinen Freunde schnell aufholten.

Rasch zog er den handgroßen Datenschreiber aus seiner Hosentasche und sicherte das dünne Gerät zwischen den Zähnen. Ein tiefer Atemzug in seine Lunge und er lief los. Seine langen Beine streckten sich nahezu mühelos. Das Trio spurtete ihm nach und schob sich keuchend dichter heran. Er konnte ihren Atem hören, spüren, wie sie versuchten, seine Haarspitzen oder Jackenärmel zu fassen. Iloy straffte die sehnigen Muskeln noch ein kleines bisschen, dabei genoss er die Vorstellung ihrer schmerzverzerrten Grimassen.

Die Mauer war da. Iloy drückte sich ab. Der Gravitation zum Trotz lief er ein Stück hoch, warf sich nach vorne und packte fest an der rauen Kante zu. Seine schmalen Finger saugten sich förmlich an den naturbelassenen Steinen fest. Unter ihm prallten zwei Körper an die Wand. Eine Hand berührte noch seine Schuhspitze, doch sie glitt ab.

Gewonnen!

Als er nach unten blickte, konnte Iloy sehen, wie Seraja rückwärts zu Boden stürzte, während Everian an der Wand herab rutschte. Erren war fünf Schritte entfernt stehen geblieben, wo er atemlos die Hände in die Hüften stemmte. Seine Augen funkelten voller Zorn.

Wendig schwang Iloy sich auf die Mauer, ohne seine ausgelaugten Verfolgern aus den Augen zu lassen. Er musste grinsen, was mit dem Datenschreiber zwischen den Zähnen nicht leicht war. Als stumme Provokation steckte Iloy den Datenschreiber in seine Hosentasche zurück, zog das kurze, sandfarbene Hemd und die Hose zurecht und strich sich seine schulterlangen, schwarzen Haare aus dem schmalen Gesicht. Der kleine Sprint hatte seine beiden Herzen kaum beschleunigt. Er genoss es, wieder einmal schneller gewesen zu sein.

Erren kämmte mit den Fingern durch sein aschblondes Haar und spuckte Straßenlehm aus. Staub bedeckte seine elegant geschnittene, schwarze Kombi. Die einfachere Kleidung seiner Freunde war weniger schmutzempfindlich.

Everians zotteligen, braunen Haare klebten ihm im Gesicht. »Verdammter Mist! Das bezahlst du mir, Bastard.« Er steckte den Zeigefinger durch ein Loch am Ärmel seiner Jacke und sah finster zu ihm hoch.

Seraja, der sich selten ordentlich kleidete, runzelte die Stirn. »Wenn du mir nicht in die Quere gekommen wärst, hätte ich ihn geschnappt, Ev.«

Was für ein beklagenswerter Haufen. »Warum gebt ihr nicht endlich auf?« Spott lag in Iloys Worten.

Durch Errens bronzefarbenen Teint schimmerte eine Spur Rot. Sein ausgestreckter Zeigefinger richtete sich auf Iloy, während sich sein Gesicht zu einer hässlichen Fratze verzog. »INK!«

Iloys siegesbewusste Haltung geriet ins Wanken. Das Wort war kein Schimpfwort. Es bezeichnete Iloys ethnische Herkunft, doch aus Errens Mund klang es hart und gemein. Er hatte etwas Wichtiges verdrängt. Seine Feinde wollten ihm die Prügel seines Lebens verpassen. Was würde passieren, wenn es ihnen gelingen sollte, Iloy eines Tages zu stellen?

Erren erkannte seine aufkeimende Angst. Mit einem feinen Lächeln gab er seinen Freunden das Zeichen zum Abzug, und sie rannten um die nächste Mauerecke.

Iloy wischte den beunruhigenden Gedanken beiseite. Das durfte eben nie passieren. Er setzte sich in Bewegung, rannte ein Stück auf der Mauer entlang und sprang hinter einigen Büschen die sechs Schritt auf den Boden herab.

Mit seiner hoch entwickelten Konzentrationsfähigkeit vertiefte sich Iloy die ersten beiden biochemischen Unterrichtseinheiten besser als jeder andere in seine Aufgaben. Analysieren, berechnen, geduldig und genau Experimente erstellen war eine seiner liebsten Tätigkeiten. Allzu schnell wechselten sie in der dritten Stunde zur langweiligen Stellarphysik, der Iloy wenig Interesse entgegenbrachte, obwohl er sie ohne Probleme beherrschte.

Ein leises, arhythmisches Klacken drang bis in das Klassenzimmer. Die Unterstufe, der Erren und seine Klassenkameraden angehörten, schwitzte draußen beim Sport. Verschiedene Dreierteams spielten Sensorball, und die restlichen Jungs übten sich im Stockkampf.

Sensorball stellte eine aborranische Besonderheit dar. Das Spiel war nicht in den von Zentral-Anthor vorgegebenen Lehrplänen enthalten, doch die Aborraner liebten es heiß und innig. Die Sportlehrerin, Siria Teiban, schritt korrigierend durch die verschiedenen Grüppchen. Manchmal aktivierte sie ihren Datenschreiber und notierte sich Bemerkungen oder Noten über einzelne Schüler.

Iloy spielte kein Sensorball. Nicht weil er es nicht konnte. Der Schulleiter Siri Bran ließ ihn nicht!

Sein Blick schweifte zu den Anugavenbäumen, die den Haupteingang säumten. Der Wind wiegte die großen Blätter im bizarren Wechsel aus Licht und Schatten. Er liebte solche Beobachtungen. Dieses Mal boten sie nicht genug Ablenkung, um seine negativen Gedanken zu bändigen.

Gerade traf Erren zum zehnten Mal in Folge und verbuchte den Sieg für seine Mannschaft. Die Teiban und seine Mitspieler beglückwünschten ihn. Iloys Lippen wurden schmal. Was war daran schon so besonders? Er wäre in der Lage, allein gegen die drei Spieler zu gewinnen. Trotzdem hätte Iloy gerne mit ihnen gegen Erren gespielt. Wem würde dann zugejubelt werden?

Als Sohn des Administrators Grosch besaß das Leben für Erren so seine Vorteile. Einige Lehrer vergaben ihre Noten in der Absicht, Ärger mit dem Administrator zu vermeiden. Das war verdammt ungerecht. Zumal Iloy das zweite Jahr Unterstufe übersprungen hatte und jetzt in der Oberstufe neben wesentlich älteren Schülern saß, denen er genauso überlegen war. Wenigstens ließen sie ihn in Ruhe, während die drei oft ihre begrenzte Freizeit damit verbrachten, Iloy zu jagen. Er musste ständig auf der Hut sein.

In der Zwischenzeit bezog ein anderes Sensorteam gegen Grosch, Seraja und Everian auf dem quadratischen Spielfeld Stellung. Groschs blaues Team bekam den Ball. Eine der vier Sensortafeln leuchtete grün auf. Fast hätte Erren geworfen. Statt den Ball an Everian abzugeben, hielt er ihn fest, obwohl ein Feld blau aufflackerte, zu dem er in einem ungünstigen Winkel stand. Eine schlechte Entscheidung! Man musste schnell und gewandt sein, wenn man die kurz leuchtenden Senoren rechtzeitig treffen wollte. Erren behielt den Ball zu lange, machte einen Sicherheitspass zu Seraja. Der warf auf einen blauen Sensor. Zu langsam! Das Licht erlosch. Der Ball prallte punktlos ab.

Jetzt stieg Erren mit einem der Gegner in die Luft und katapultierte ihn aus dem Feld. Er fing den Ball im Flug und traf endlich.

Die Gegner bekamen den kleinen, harten Ball. Nach einem Fehlpass verloren sie ihn allerdings wieder. Iloy hätte in der gleichen Zeit drei Punkte gemacht. Schwache Leistung, Erren. Das Spiel langweilte ihn. Iloy richtete seine Aufmerksamkeit auf das Datenpult. Es zeigte die gleiche, kinderleichte Aufgabe von vor zehn Minuten an.

Die Luft im Klassenzimmer wurde langsam stickig. Seine Nase war zwar menschlich, doch die feinen Rezeptoren spürten solche Veränderungen sehr schnell. Stickig. Erstickend. Unerträglich. Seine Überlegungen glitten von einem unangenehmen Thema zum nächsten. In der kommenden Stunde hatten sie Sport. Der Gedanke an den Ertüchtigungsunterricht für Mädchen frustrierte ihn. Weder das lasche Ausdauertraining, das meist aus Laufen bestand, noch die dämliche Gymnastik machten Spaß. Wenn die Jungen ihn sahen, lachten sie sich krumm.

»Iloy!« Eine feste Stimme weckte ihn aus seinen Grübeleien. »Iloy Fein! Kannst du meine Frage beantworten?«

Siri Kokks runzelte die Stirn. Vielleicht überlegte er, welche Hälfte von Iloys Gehirn ihm antworten würde? Die anthorische oder die inkische? Anthor machten solche Unterscheidungen tatsächlich. Hatten sie damit Recht? Er selbst konnte keine wie auch immer geartete Grenze in seinem Kopf finden. Er hatte sich einfach immer als Iloy gefühlt. War das falsch?

Mit Grauen dachte Iloy an die Geschichtsaufzeichnungen, in denen Ink Hinterwäldler verkörperten, die von den ankommenden Anthor zu ihrem Schutz in Reservate umgesiedelt worden waren. Eine aussterbende Rasse, die sich nie gegen die Besiedelung durch Anthor gewehrt hatte und heute auf vier wenig einladenden Welten existierte. Ohne auf sein Datenpult zu schauen, stellte Iloy die Berechnungen im Kopf fertig.

»Das Raumschiff wird sein Ziel um 3,6482 Basissekunden verfehlen, Siri.« Er unterdrückte die Ausführung, dass diese Berechnung nur korrekt blieb, wenn man die eine oder andere irreguläre Raumkomponente außer Acht ließ. Standardberechnungen wie diese konnten schließlich nicht auf sämtliche Sonderfälle der Galaxie eingehen.

Kokks nickte, weder überrascht noch enttäuscht wie jene Lehrer, die ihn gerne bei einem Fehler erwischen würden.

Die älteren Schüler, zwölf Jungen und vier Mädchen, gafften über ihre Schultern zu ihm zurück. Teilweise schüttelten sie die Köpfe oder tuschelten, wie Elehis, die ihre nussbraune Mähne gekonnt über die Schulter warf.

»Der Mischling muss mal wieder angeben.« Sie überprüfte, ob er ihre Bemerkung gehört hatte.

Mit der nötigen Arroganz starrte Iloy sie so lange an, bis sie ihr spöttisches Grinsen aufgab und nach vorne sah.

Die Holoschüler ignorierten ihn. Sie nahmen von anderen Städten oder Farmen aus virtuell am Unterricht teil. Ihre Oberkörper thronten halb durchsichtig auf den Tischen vor ihm.

Jetzt war es passiert. Seine Stimmung war von den höchsten Höhen seines Sieges über Erren in die tiefsten Tiefen gerutscht.

Während Kokks ungerührt mit seinem Unterricht fortfuhr, schaute Iloy in seiner dunklen Stimmung gefangen aus dem Fenster. Warum belog er sich selbst? Anders zu sein als die anderen war schrecklich. Als kleines Kind war er stolz darauf gewesen, ein halber Ink zu sein. Warum sahen Leute wie Erren auf ihn herab? Wie sollte er ein Mitglied der Gesellschaft werden, wenn seine guten Eigenschaften und Fähigkeiten nicht geschätzt wurden?

In der Oberstufe kannten alle anderen ihren Platz, oder sie träumten von ihrer Karriere. Einige würden die Geschäfte ihrer Eltern fortführen, andere in der Armee ein sicheres Einkommen finden. Er wusste mit jedem Tag weniger, wer oder was er war oder sein wollte.

Die restliche Stunde schenkte Iloy niemand mehr Beachtung. Wie meistens blieb er sitzen, bis seine Mitschüler das Zimmer verlassen hatten.

Kokks hob den Kopf. »Ach, Iloy, hast du schon ein Thema für deine Abschlussarbeit? Deine Mitschüler haben ihre Vorschläge schon eingereicht. Ich weiß, du bist erst dreizehn geworden und die anderen sind im Schnitt vier bis sechs Jahre älter, doch vom Wissensstand her können wir dir hier nicht mehr viel beibringen.«

Sein Lehrer sah ihn erwartungsvoll an. Kokks war groß, hatte blaue Augen und rötliche Haare. Auf seiner Nase tummelten sich dicke Sommersprossen. Als junger Lehrer hegte er seine Ideale und Ambitionen.

Verlegen wich Iloy seinem Blick aus und schüttelte den Kopf. Er fühlte sich klein und grau. Warum konnte ihn Kokks nicht übersehen, wie er es die letzte halbe Stunde getan hatte? Sein Lehrer dachte an eine Ausbildung im fernen Anthor, aber das lehnte Beni strikt ab. Sein Vater wollte ihm die Werkstatt vererben. Er hatte ihm viel über Maschinen beigebracht, obwohl Iloy das keinen Spaß machte. Beni würde ihn nicht zwingen, Techniker zu werden. Dessen war sich Iloy sicher, doch er hasste es, seinen Vater enttäuschen zu müssen.

Kokks schürzte die Lippen. »Tja, bei den meisten fällt mir eine Beratung leicht, denn es zeichnen sich bestimmte Begabungen ab. Bei dir weiß ich, ehrlich gesagt, nicht so recht. Du hast seit Jahren überall gleichbleibend beste Bewertungen. Gibt es irgendetwas, das du gerne machen würdest?«

Unwillig betrachtete Iloy seine Füße und schüttelte abermals den Kopf. Wie lange wollte ihn sein Lehrer noch anstarren?

Kokks seufzte. »Sag deinem Vater, ich werde bei ihm vorbeisehen. Du kannst gehen.«

Was? Überrascht sah Iloy hoch. Zu seinem Vater hatte sich bisher keiner seiner Lehrer getraut. Aber Kokks würdigte ihn keines Blickes mehr.

Auf dem Weg zum Umkleideraum der Mädchen beschloss er, sich endlich ein Thema auszusuchen, damit Kokks Ruhe geben würde. Vielleicht ,Dynamische Fruchtfolgen in der nördlichen Hemisphäre‘ oder ,Bewässerungseffizienz in kleinen bis großen Teilbereichen der Agrarwirtschaft‘. Das würde dem Planeten wenigstens nutzen, selbst wenn es ihn nicht im Mindesten interessierte.

Er war spät dran. In der Kabine schnatterten die elf Mädchen der Oberstufenklassen wie aufgeregte Drontaputen. Die meisten trugen bereits ihre Sportkleidung. Einige strichen über ihre figurbetonten Trainingsanzüge, bewunderten sich dabei im Spiegel oder bürsteten ihre Haare auf Hochglanz. Hauptsächlich quasselten sie über Jungs. Iloy fragte sich, warum sie an der Schule waren, wenn die wenigsten von ihnen später in einem Beruf arbeiten würden.

Als Mädchen mit siebzehn in die Schule gehen zu dürfen, war ein Privileg reicher Töchter. Ihre Familien schwammen in Sel. So wie Elehis‘ Vater, der eine Baufirma leitete. Die dumme Gwon konnte so arrogant sein, wie sie wollte, letztendlich wurde sie als Frau über ihren Vater oder einen zukünftigen Ehemann definiert. Frauen hatten sich zu fügen! Deshalb war es doppelt demütigend, von den Lehrern zu den Mädchen gesteckt zu werden.

Als Gipfel allen Verdrusses hielten sich die Mädchen für etwas Besseres, denn Iloys Vater war nicht reich. Beni steckte fast ihre gesamten Sel in die Schulausbildung. Nur für welche Perspektive, wenn Iloy sie doch nicht wahrnehmen durfte?

Misstrauisch beobachtete er die Mädchen aus den Augenwinkeln. Mit ihren prallen Busen, schmalen Taillen und runden Hüften wackelten sie um ihn herum. Gutes Aussehen stellte ihr Hauptkapital dar, solange sie unverheiratet waren. Vor seinem geistigen Auge sah er sich mit praller Figur vor dem Spiegel stehen und elegant den kleinen Finger abspreizen. Die Jungen würden aus ganz anderen Gründen über ihn tuscheln. Keine Anfeindungen mehr, dafür der Gehorsam gegenüber dem Ehemann. Entsetzt schüttelte Iloy den Kopf. Kein Leben für ihn.

Wenn er sich im Spiegel betrachtete, sah er einem Jungen sehr viel ähnlicher: Dünn, gerade, schmale Hüften. Die breiten Schultern fehlten. Trotzdem war er sehr stark. Klar, seine Arme und Beine waren für anthorische Verhältnisse überlang. Vermutlich sah er im Vergleich zu Erren, den die Mädchen umschwärmten, hässlich aus. Er hatte schon Jungs beobachtet, die sich am Leerd zum Baden getroffen hatten. Ihre Körper hatten sich äußerlich nur durch die Geschlechtsorgane und die Brustwarzen von seiner sehnig wirkenden Erscheinung unterschieden. Wäre er äußerlich ein Junge, würde selbst ein Erren Grosch seine Überlegenheit akzeptieren. Oder?

Wenn er sich vorstellte, alle fünf Schritt die Hosen im Schritt zurecht ziehen zu müssen, musste er allerdings lachen! Warum dachte er überhaupt über so etwas nach? Wünschte er sich wirklich, sein Körper würde über Nacht ganz anthorisch werden? Eine Sekunde lang, ja. Aus vollem Herzen. Er hatte es satt, anders zu sein. Wenn er ganz genau so wäre wie sie, würden die Anfeindungen enden. Oh nein, wie eklig und dumm, solche Gedanken zu haben! Es war abgrundtief peinlich. Zudem, wenn es nichts mehr Inkisches an ihm gäbe, verlöre er vielleicht automatisch seine hervorragende Intelligenz. Konnte er das wollen?

Sein Kopf brodelte von den unmöglichsten Vorstellungen. In seinen Träumen rannte er endlos über fremde Welten, die er nicht kannte und auf denen es keinen Ort zum Bleiben gab. Wann hatte das angefangen? Und vor allem, wann würde diese Unsicherheit wieder verschwinden?

»Mach Platz, Ink!« Beim Vorbeigehen rempelte Elehis ihn an. Ihre dunkelbraunen Augen sahen in die Runde, ob die anderen Mädchen ihre Heldentat beobachtet hatten. Offensichtlich ja, denn sie kicherten. Sichtbar zufrieden mit sich selbst stolzierte Elehis zum Trainingsplatz davon.

Die Demütigung widerstandslos hinnehmend, ließ sich Iloy auf die Bank zurückfallen und wartete, bis sie alle draußen waren, bevor er sich vollends umzog. Verdammt. Er hatte nicht aufgepasst. Er musste aufhören, über diesen Mist nachzudenken! Er war Iloy, der Mischling, und würde nie etwas anderes sein. Zum ersten Mal in seinem Leben fiel es ihm schwer, sich damit abzufinden.

Dem Sport folgten eine langweilige Geschichtsstunde und Lyrik. Ein Fach, das er liebte.

»Würdest du uns das Gedicht vorlesen, Iloy?«, forderte ihn Kokks auf.

Iloy hatte das erwartet und erhob sich. Den verschlungenen Gedanken eines Dichters zu folgen, regte ihn an, als wäre er auf der Suche nach einem verborgenen Schatz. Vor Jahren, Beni hatte mal wieder getrunken, zitierte er ein inkisches Gedicht. Das fließende, klangvolle Ink formte ein mehrdimensionales Bild imposanter Natur, das den Zustand in Raum und Zeit genau spiegelten. Leider redeten sie zu Hause sonst ausschließlich anthorisch. Ink weckte Erinnerungen, die Beni nicht mit Iloy teilen wollte und seinen Vater zur Flasche greifen ließen. Es war unmöglich, ihn dann noch zu erreichen. Iloy unterdrückte den Schauer, der über seinen Rücken laufen wollte, und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf den Vortrag des Gedichts.

»Endlos von Tendra Ivren Benoin. Lieblich streicht die Hand, verborgen! Sanft streift der Blick, ganz leicht! Frei fliegen die Gedanken, grenzenlos. Gefangen folgt die Sehnsucht dem Pfad, ganz tief. Ungestillt reift süßes Verlangen. Endlos!«

Er ließ die Worte nachklingen in seinem Kopf. Unerfüllte Leidenschaften gab es wohl viele unter den Sirias der Hohen Häuser in Anthor. Ob er einmal so etwas fühlen mochte? Oder meinte Tendra lediglich die Einsamkeit? Die empfand Iloy schon heute.

Kichern zerriss die getragene Stille.

»Was drückt dieses Gedicht aus, Elehis?« Kokks unterband sofort die Unruhe. Iloy sah den Ärger über die Geringschätzung des Gedichts in Kokks blauen Augen funkeln.

Elehis lief rot an.

Besran, einer der vorlauteren Typen, kam ihr mit einer Antwort zuvor. »Dass die Sirias in Anthor zu viel Zeit haben!«

Ein Feixen zog durch die Klasse.

Kokks kräuselte unwillig seine Nase. »Dafür fehlt bei dir das Gehirn, Besran. Keine Sorge, für den Dienst als Madlak muss man nur einen Laser halten können.«

Diesmal lachten alle offen. Selbst Iloy konnte es sich nicht verkneifen. So schlagfertig wies Kokks selten jemanden zurecht. Iloy genoss es, denn er wusste, in der Pause würden sie ihre Witze über seinen gefühlvollen Vortrag reißen. Lyrik stellte in den Augen der Siedler reine Zeitvergeudung dar.

Nach der Besprechung des Lebenslaufs der Dichterin und dem Vergleich mit anderen Gedichten verschiedener Jahrhunderte, stellte ihnen Kokks die Aufgabe, weitere Gedichte dieser Zeit ausfindig zu machen, die Tendras Thema widerspiegelten oder ihr widersprachen. Iloy freute sich auf die Spurensuche. Es machte ihm nichts aus, Stunden mit einem solchen Thema zu verbringen.

Die Glocke läutete zum Schulessen und Iloy ließ sich Zeit, um in die Kantine zu kommen. Schon seit zwei Jahren saß er grundsätzlich allein am Tisch. Das war auch besser so, denn oft versuchten ein paar Scherzbolde, ihm irgendetwas unterzuschieben oder sein Tablett vom Tisch zu befördern, weil sie damit Erren imponieren wollten.

Es gab keinen freien Tisch, also nahm er auf der anderen Seite einer mäßig besetzen Bank Platz. Nicht lange und er bekam von hinten einen Rempler ab. Das Essen fiel von seiner Gabel. Wenigstens kleckerte es nicht auf sein Hemd, sondern nur auf den Boden.

»Hat unser Kleiner noch nicht essen gelernt?« Es war Grosch, der mit einem schiefen Lächeln auf ihn heruntersah.

Instinktiv griff Iloy nach seinem Datenschreiber und schob ihn in die Tasche seines Hemdes. »Du warst heute wieder super langsam, Grosch! Deine Großmutter hätte besser gespielt!« Sein Gegenschlag gelang besser, als gedacht.

Abrupt beugte sich Erren über Iloys Schulter. »Du hast immer noch nicht verstanden, mit wem du es zu tun hast, oder? Du bist fällig, Mischling! Du bist so was von fällig!« Seine silberblauen Augen hatten sich zu schmalen Schlitzen verengt. Anscheinend war Grosch sehr schlechter Laune.

Diesem Funkeln hielt Iloy mit Leichtigkeit stand. Er war in der Lage, mit einem vollkommen ausdruckslosen Blick zu erwidern. Das machte Erren verrückt. Nichts, was er tat, konnte Iloy verletzen. Das war zumindest der Eindruck, den Iloy erwecken wollte.

Als einer der Lehrer herüber sah, richtete Grosch sich lächelnd auf und ging weiter. Zwei weitere Rempler von Seraja und Everian folgten, dann war das Trio vorbei.

»Mit wem als dem größten Idioten des Universums sollte ich es zu tun haben?«, flüsterte Iloy mehr zu sich selbst.

Erren drehte sich um. Hatte er es gehört? Wohl kaum, dazu war er schon zu weit weg. Zum Abschied zeigte er mit dem Finger auf ihn und formte lautlos das Wort ,Ink‘. Erst danach verließen die drei die Kantine.

Ein kalter Schauer rieselte sein Rückgrat hinab. Iloy ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Die Schüler saßen schwatzend über ihrem Essen. Einige wandten sich gerade ab, andere hatten keine Notiz von der Aktion genommen. War Iloy überhaupt im gleichen Raum mit ihnen? Mit Unbehagen stocherte er in seiner Mahlzeit herum und zwang sich zum Essen, während er seinen Fluchtinstinkt unterdrückte. Vermutlich lag es an seiner inneren Unruhe, wenn die Welt um ihn heute so viel bedrohlicher wirkte als sonst.

Nach der Mittagspause ging Iloys Klasse zum praktischen Technikunterricht bei Siri Lombor, der echtes theoretisches Genie und praktische Unfähigkeit in einem verkörperte. Lombor freute sich, wenn Iloy ihm mit seinem Technikwissen unter die Arme griff. Er war der einzige Lehrer, der sein Anderssein vollständig ignorierte und ohne Zögern ,mein lieber Junge‘ zu ihm sagte.

Beni hatte Iloy als Kleinkind alle Freiheiten gelassen. Allein deshalb hielten Leute, die nicht wussten, was Iloy war, ihn für einen Jungen. Er trug ja auch Hosen und keine Kleider. In all der Zeit hatte er den Eindruck gewonnen, den Anthor fehlte die Phantasie, sich eine intelligente Lebensform vorzustellen, die weder männlich noch weiblich war. Schließlich waren sie die überlegene Rasse zwischen diesen Sternen.

Die Stunden bei Siri Lombor verstrichen meist schnell. Heute hatte Iloy allerdings das Gefühl, die Zeit dehnte sich zu einer zähen Masse aus.

Aber am Ende läutete die Glocke das Unterrichtende ein. Draußen im Gang alberten Erren und seine Freunde mit einigen Mädchen aus der Grundstufenklasse, die in Iloys Alter waren.

Seraja ließ seinen Talisman, einen alten, abgegriffenen Sensorball, vom Boden abfedern. Einmal hatte er den Fehler gemacht, ihn Iloy nachzuwerfen. Danach durfte er ihn mehrere Tage in einem Dornengestrüpp suchen. Everian bemerkte Iloy. Das Gekicher der Mädchen schien ihn eher zu langweilen. Sein kalter Blick folgte Iloy bei jeder Bewegung. Doch er störte Erren nicht, der gerade mit ihrem letzten Sensorballsieg angab und die Bewunderung sichtlich genoss. Eine bessere Ablenkung konnte sich Iloy nicht wünschen. Er bog um die nächste Ecke und verließ das Gebäude.

Die Sonne tauchte die wenigen Wolken in ein freundliches gelb-grünes Farbenspiel. Die Luft war weniger drückend als in den vergangenen Wochen. Ein untrügliches Zeichen für den wohltemperierten Frühling auf Aborra. Bald würden die Fünftausender, die die Ebene säumten, wieder ihre weißen Hauben tragen. Manchmal lag der Schnee im Sommer bis in die vorgelagerten Bergwälder und gab den Wachstumslinien des aborranischen Winterholzes seine einzigartige Struktur.

Iloy verließ die Stadt östlich in Richtung Sumpfwald, sein bevorzugtes Rückzugsgebiet. Die Jungs aus der Stadt mieden den Wald wegen der Sternwürmer, die beim Blutsaugen fiese Wunden hinterließen. Es hatte sein Gutes, anders zu sein, denn die Würmer mochten sein Blut offenbar weniger als das der Anthor. Außerdem bemerkte er sie schon, wenn sie ihren ersten tastenden Arm vorschoben, und nicht erst, wenn sie fest und schmerzhaft zuzogen.

Schlingranken bildeten undurchdringliche Vorhänge an den knorrigen, alten Baumriesen. Sie erblühten, vom Frühling erweckt, in leuchtenden Farben. Iloy schlich auf den schmalen Tierpfaden an den Wasserkühen vorbei, deren mächtige Hörner schon Leben gekostet hatten, und trank aus dem klaren Tümpel, in dem Silva lauerte. Silva, eine dicke, alte Wasserspinne, kannte ihn gut. Sie hielt sich zurück, nachdem sie bei einem Angriff auf ihn ein Bein eingebüßt hatte. Durch sein schnelles Ausweichen hatte die Spinne ihn damals knapp verfehlt. Dabei war sie zwischen tote Äste gerutscht, die ihr beim Nachgeben ein Bein abgeklemmt hatten. Es war längst nachgewachsen. Aber ihr Gedächtnis an den Unfall musste gut sein, seither scheute sie weitere Angriffe. Er lächelte ihr zu, während sie ihn nicht aus ihren zehn Augenpaaren ließ, von denen die Hälfte aus dem Wasser ragten.

Allmählich nahm die Anspannung des Morgens ab. Auf einer dicken Astgabel, die über einen Seitenarm des Leerd ragte, störte ihn niemand. Nach all den wirren Gedankenströmen vom Morgen versuchte er sich vorzustellen, wie es sein mochte, bei den Ink zu leben. Beni hatte ihm von ihren kargen Welten erzählt. Ihre Rundbauten lagen weit verstreut und optisch in die Landschaft eingefügt. Größere Dörfer gab es nicht. Wollte man eines ihrer Häuser finden, musste man sehr aufmerksam suchen.

Ink wanderten oft Jahre über den Planeten, um Freunde oder Verwandte zu besuchen. Je nach Anliegen lebten sie so lange es ihnen gefiel bei ihren Gastgebern. Beni meinte, ein Ink würde lieber einen Tentakel verlieren als gegen das Gastrecht zu verstoßen. Dafür konnte es schon mal vorkommen, dass sie ihre Tür nicht öffneten, wenn sie mit einem Besucher nicht einverstanden waren.

Sie arbeiteten für den täglichen Bedarf. Die restliche Zeit nutzten sie zur Muße. Es gab keine Raumschiffe, doch sie hatten offensichtlich die Möglichkeit, mit den anderen Inkwelten zu kommunizieren. Beni vermutete, dass die Ink in ihrer Blütezeit auf dem Großteil der bewohnbaren Welten gesiedelt hatten. Warum sie sich von dieser hohen Zivilisationsstufe zurückentwickelt hatten, war selbst für Beni ein großes Mysterium, denn zu dieser Frage gaben die Ink keine Auskunft. Viele Ink redeten überhaupt nicht mit Anthor. Sie verschenkten ihr Vertrauen nicht leichtfertig. Umgekehrt verschwendeten die meisten Anthor keinen Gedanken an die primitiven Ureinwohner.

Lag seine Zukunft dort? Konnte er so ein Leben führen? Was wäre, wenn sie die gleichen Vorurteile besäßen wie die Siedler hier auf Aborra? Wenn sein anthorisch erworbenes Wissen nicht gefragt wäre? Dort würde alles fremd und neu sein. Das wäre auch nicht besser.

Die bläuliche Sonne sank dem Horizont entgegen und färbte den Himmel in Grün- und Blautöne. Iloy sprang vom Ast herab und rannte zur Stadt zurück. Als guter Läufer genoss er die Geschmeidigkeit seiner Sehnen und Muskeln, die den zugeführten Sauerstoff verbrannten. Seine zwei Herzen schlugen im Wechsel, voller Freude über die Anstrengung. Für ein paar weitere Minuten vergaß Iloy seine Sorgen.

In der Stadt drosselte er sein Tempo, bog schließlich an der wandfüllenden, dreireihigen Werbung ,Benimar Fein, Haus- und Maschinentechnik, Wartung und Reparatur‘ um die Ecke und blieb schlagartig stehen. So schnell kehrten die Probleme zurück. Kokks sprach vor der Werkstatt mit Beni. Der Lehrer wandte ihm den Rücken zu, während sein Vater mit verschränkten Armen breitbeinig dastand und Iloy über dessen Schulter hinweg kommen sah. Die beiden Männer hatten etwa die gleiche Größe. Beni war ein gutes Stück breiter, seine Muskeln und sein kahler Kopf wirkten auf viele Menschen einschüchternd. Warum vertrieb Beni Kokks nicht? Stattdessen lud er den Lehrer nach ein paar Worten ein, ihm zu folgen.

Iloy schlich um das Haus und kletterte durch sein Fenster, öffnete ganz leise die Tür einen Spalt weit und spähte hinaus. Kokks sah sich neugierig um und setzte sich an den Tisch in der Küche. Beni holte zwei Gläser und schenkte ihnen Wasser ein.

»Nun, Siri Fein, es ist nicht meine Absicht, Sie zu bedrängen, doch es ist eine Schande, wenn Iloy seine vielfältigen Begabungen nicht ausschöpfen kann.«

Benni zog die linke Augenbrauen hoch. »Das liegt nicht an Iloy«, entgegnete er in seinem tiefen Bass.

Kokks schien verärgert. »Haben Sie denn keine Vorstellung, wie außergewöhnlich Iloy ist? Ihr Sohn hat eine wissenschaftliche Ader! Es gibt auf Anthor einen Ink, der …«

Benis bösartiger Blick ließ Kokks den Rest des Satzes schlucken. Sein Lehrer rang sichtlich mit sich. Unsicherer fuhr er fort. »Er kann mehr als Setzlinge in die Erde bringen oder die Jets in Ihrer Werkstatt auseinandernehmen. Eine Karriere in der Armee böte vielfältige Möglichkeiten.«

Iloy hörte seinen Vater rau lachen. »Armee! Bevor ein Mischling in der Armee dient, lassen sie dort Frauen zu. Iloy ist zum Teil ein Ink, Siri Kokks! Wenn es Ihnen nicht entgangen ist, dürften Sie wissen, wie wenig Aggressivität Iloy besitzt! Ihre Kollegen haben es bemerkt, und die meisten sind zu der Ansicht gelangt, dass es nichts gibt, was man einem Ink-Mischling anvertrauen könnte. Wer will schon den Ärger haben, den so ein Sonderfall mit sich bringt! Wäre er nicht ein hervorragender Lehrer, Siri Kokks? Leider scheint das ja nicht zulässig, da es die Schulordnung nicht vorsieht. Immerhin hat es eine Frau geschafft, an Ihrer Schule angestellt zu werden!«

Der Sarkasmus prallte an seinem Lehrer ab. Im Gegenteil, Kokks ließ nicht locker. »Sie verschwenden seine Potentiale, Fein! Soll er Ihre mickrige Werkstatt fortführen? Bei seinen natürlichen Reflexen wäre er ein ausgezeichneter Jägerpilot. Im All sieht man den Tod nur aus der Ferne, und es geschieht per Sensordruck. Das kann man bequem ausblenden! Zumal der Gegner Schuppen hat oder minderwertiges Schmugglergesindel ist. Außerdem gäbe es in Zentral-Anthor ungeahnte Möglichkeiten, um sein Wissen zu erweitern. Man kann nie wissen, ob man abgelehnt wird, wenn man es nicht wenigstens versucht. Ich kann mir nicht vorstellen, warum Anthor ein solches Talent verg-«

Ohne eine Vorwarnung ließ Beni die Faust auf den Tisch krachen. Die Wassergläser sprangen in die Luft und verschütteten ihren Inhalt. »Noch mal für besonders Begriffsstutzige! Ein Ink tötet nicht! Er braucht keine Bewerbungen zu schreiben. Hier mit meiner Werkstatt ist er bestens versorgt.« Diesmal betonte er jedes einzelne Wort.

Kokks wurde bleich. Sicher hatte er genug Geschichten über den Techniker Fein gehört, die ihn warnten, vorsichtig zu sein. Es scherte seinen Vater nicht sonderlich, was die Leute hinter seinem Rücken redeten. Sie wussten, wer Beni angriff, zog den Kürzeren. Einige Bewohner ließen ihre defekten Jets lieber liegen, als sie zu ihm zu bringen. Iloy hatte ihn ein einziges Mal bei einer Schlägerei erlebt. Es war entsetzlich gewesen.

Um Haltung bemüht, erhob sich Kokks und zog seine einfache, gepflegte Kombi zurecht. »Na gut, Fein. Wenn Sie darauf bestehen, Ihr Kind in ärmlichen Verhältnissen vegetieren zu lassen! Manche wollen sich nicht helfen lassen. Entschuldigen Sie die Störung, Siri Fein!« Empört schlug der Lehrer die Tür hinter sich zu. Sie konnten seine davon eilenden Schritte hören.

Vater starrte einige Momente auf die Tischplatte und öffnete die geballten Fäuste. Dann stellte er die umgeworfenen Gläser hin und wischte das Wasser auf. »Ich habe Sewae gekocht. Lass uns essen, sonst wird es kalt.«

Iloy kam aus seinem Zimmer, holte Teller und Besteck aus dem Schrank, wobei er sich fragte, was seinem Vater wohl durch den Kopf ging. Wie so oft, wenn er aus der Werkstatt kam, roch er nach Schweiß, den Schmiermitteln und Ölen, die viele Erntemaschinen benötigten. Kokks irrte sich, wenn er Beni für einen dummen Unterschichtler hielt. Im Grunde existierten zwei Benis. Der Benimar Fein, der in der Werkstatt arbeitete, manchmal zu viel trank und sich zu Prügeleien hinreißen ließ, und der Vater, der im Gegensatz zu vielen Siedlern niemals sein Kind schlagen würde. Iloy hatte nie auch nur eine Spur Angst vor ihm empfunden. Angst um ihn allerdings schon.

Wortlos zog Beni den Topf aus dem Kocher und legte auf. Sie nahmen Platz und aßen schweigend.

Hatte Kokks nicht Recht mit dem, was er sagte? Würden Iloys Fähigkeiten hier versauern? Es war ein ausgesprochen netter Zug von dem Mann, sich für Iloy einzusetzen. Er hatte ihn unterschätzt. Wenn ein gebildeter Mann wie Kokks über seine Herkunft wegsehen konnte, musste er vielleicht nur ein kleines Bisschen anthor-ähnlicher werden, um auch von anderen akzeptiert zu werden.

Plötzlich platzte es aus ihm heraus. »Wenn ich kämpfen könnte, würdest du mir dann erlauben, Aborra zu verlassen?«

Sein Vater legte das Besteck zu Seite. »Glaub mir, das löst nicht das kleinste Problem für dich, Iloy! Denn darum geht es gar nicht. Das Problem steckt in den Köpfen der Leute, nicht in dir! Du bist vollkommen in Ordnung. Du bist besser als sie. Das macht die verrückt.«

Iloy schwieg. Es war müßig, über eine Reise nach Anthor nachzudenken. Sie hatten die Sel nicht und er konnte Beni nicht allein lassen, wenn er fürchten musste, dass sein Vater sich ganz dem Trinken ergab. Warum beschlich ihn das Gefühl, dass sich etwas verändern musste? Es schien etwas zu fehlen.

Mit zwei steilen Falten zwischen den Augen nahm Beni das Besteck wieder auf. Natürlich hatte sein Vater recht. Iloy konnte nicht kämpfen, geschweige denn töten. Die Armee war keine Option. Seine Überlegungen vom Morgen kehrten zurück. Wenn er vom Äußerlichen anthorischer aussehen würde, dann … er holte tief Luft, um den ganzen Rest seiner wirren und in letzter Zeit so unlogischen Gedanken auszusprechen.

»Ich habe über das, was Lormat sagte, nachgedacht.«

Lormat war sein Grundstufenlehrer gewesen. Möglicherweise hatte er Iloys heutige Probleme kommen sehen. »Vielleicht wäre es das Beste, wenn ich mich so einer Geschlechtsopera-«

Das Besteck klirrte auf den Tisch und sein Vater starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Was zur Sonne redest du da? Iloy, es hat einen Grund, warum deine Mutter dich so gemacht hat, wie du bist!«

Beni sprang vom Stuhl auf, langte er über den Tisch, zog Iloy mit Leichtigkeit hoch und schüttelte ihn. Das hatte er noch nie getan. Iloys Oberarme schmerzten unter seinem Griff.

»Warum denkst du nur so eine verölte Scheiße?« Wut und Verzweiflung trieben Tränen in Benis graue Augen.

Ihn weinen zu sehen, schockierte Iloy. Er hing wie ein Stück Fleisch in der Luft, unfähig sich zu bewegen.

»Versprich mir, niemals so einen Unsinn zu machen, hörst du? Versprich es mir!«

Iloy nickte benommen. Im nächsten Moment erdrückte Beni ihn schier an seiner Brust. Plötzlich wusste Iloy nicht mehr, warum er so dumme Dinge dachte. Was brachte ihn derartig durcheinander? Er fühlte, wie die Tränen kamen. Leise flüsterte er seinem Vater ins Ohr. »Tut mir leid. Ich verspreche es dir!«

Die starken Arme seines Vaters wiegten ihn, wie er es früher so oft getan hatte, als die Welt des Kindes viel einfacher funktioniert hatte. Nach ein paar Minuten stellte Beni ihn auf die Beine zurück und befahl Iloy mit rauer Stimme, die Küche aufzuräumen, während er zu seinen Maschinen flüchtete.

Iloy fühlte sich leer, sobald Beni die Tür hinter sich zugezogen hatte. Er räumte auf, aktivierte den Wissenschaftssender und schaltete ab, als die Aranori einen Strahlentoten vivisezierten, dessen Erzfrachter das Pech gehabt hatte, im Lebrian System liegen zu bleiben. Zum Glück hatte er noch Tendras Gedicht, mit dem er sich beschäftigen konnte, bis ihm die Augen zufielen.

Am Morgen werkelte Beni immer noch in der Werkstatt und hatte ohne ihn gefrühstückt. Traurig zog Iloy seine üblichen weiten Hosen und ein locker geschnittenes Hemd an, dessen Enden viel zu lang waren, um sie in die Hosen zu stecken, und ging zur Schule. Er trug die Schuld an Vaters Melancholie. Wenn Beni von Erinnerungen gequält wurde, gab es nichts, was Iloy tun konnte, damit er sich besser fühlte. Iloy konnte sich nicht an seine Mutter erinnern. Iridane war wenige Wochen nach seiner Geburt gestorben.

Bedrückt nahm er den Weg zum Haupteingang der Schule, bis er Everian in einem Hauseingang herumlungern sah. Er besaß eine gewisse Ähnlichkeit mit den Baumstämmen, die sein Vater auf den Holzplantagen schlagen ließ. Im Sensorteam spielte er den Block. Er war wenig beweglich, dafür prallten die Gegner reihenweise an ihm ab.

Iloys Laune besserte sich ein gutes Stück, während er sich anpirschte, ihm auf die Schulter tippte und ihn mit offenem Mund stehen ließ. Everians wütender Aufschrei erklang mit erheblicher Verzögerung. Allerdings verriet der Laut Erren und Seraja, wo Iloy zu finden war, und sie setzten zu einer Verfolgung an, gaben sie aber auf, als Iloy das Schulgelände erreichte. Die Gefahr, hier von Lehrern gesehen zu werden, war viel zu groß.

Am Schultor drehte sich Iloy um. Everians helle Haut ließ seinen Kopf glühen wie eine rote Lampe unter einem braunen Haarschopf. Grosch musste ihn am Arm greifen, damit er Iloy nicht bis in den Schulhof folgte.

Die drei stritten. Sie standen weit weg, doch Everian brüllte laut genug. »Sollen wir uns ewig von ihm verarschen lassen? Ich habe es satt, Erren!«

Der junge Grosch antwortete zu leise. Selbst Iloys gute Ohren verstanden es nicht. Es war ihm auch egal. Erren würde ihn nie erwischen. Er zuckte mit den Schultern und rannte in das Gebäude. Es wurde höchste Zeit.

Siri Ajlan, ihr Geschichtslehrer, fragte oft nur Daten ab. Eine öde Unterrichtseinheit, wie Iloy fand. Angefangen bei der Ankunft der sechs anthorischen Schiffe im Jahre Null, über die Expansion, die Machtergreifung des Hauses Islahan und die Niederschlagung ihrer Revolte 601 bis 613 nach der Ankunft bis zu den einzelnen Geschichtsschreibungen der verschiedenen Häuser. Eine glorreicher als die andere. Am ausführlichsten nahmen sie die Geschicke des Hohen Hauses Benoin und den Aufbau des Handelskontors durch.

Heute quälte Ajlan sie zum wiederholten Male mit der Besiedlung Aborras im Jahr 765 durch das Haus Benoin und für welche Verdienste es dem Haus Darelian übergeben worden war.

Nicht nur Iloy fand das langweilig. Derin, ein klein gewachsener Achtzehnjähriger, versuchte ihren Lehrer mit einem spannenderen Thema abzulenken. »Siri Ajlan, glauben Sie, die Echsen sind eine ernste Gefahr für uns? Mein Ziehvater sagt, es gab Überfälle im Nachbarsektor auf Lamesch 4 und 5. Wenige Wochen vorher haben sie eine Siedlung auf Trillion verwüstet.«

Mit seinem runden Gesicht strahlte der Lehrer eine gewisse Ruhe aus. Das Grau beherrschte seine ehemals schwarzen Haare bereits. Er lächelte im Bewusstsein, von Derin abgelenkt zu werden, und ließ sich gutmütig darauf ein. »Das ist eine interessante Frage, Derin. Jedenfalls scheinen die Echsen nicht so friedlich, wie es unser Iloy ist. Insgesamt ist die Rede von dreizehn Überfällen, bei denen geraubt und auch getötet wurde. Dabei haben wir Anfang letzten Jahres als friedvolle Händler Kontakt zu ihnen aufgenommen. Soweit ich weiß, verstärken alle Häuser die Sicherheitsmaßnahmen in den angegriffenen Regionen. Also müssen wir uns wohl keine Sorgen machen, Derin.«

Die Schüler lachten, während Iloy die Lippen aufeinander presste. Mit den Angreifern in irgendeiner Weise verglichen zu werden, ärgerte ihn maßlos. Es war überheblich, weil es suggerierte, dass die Ink genauso primitiv waren wie diese Echsen, die mit ihren Beutezügen für Angst und Schrecken gesorgt hatten. Zumindest bei Iloy. Die acht Lamesch-Systeme im Rhyngürtel waren unmittelbare Nachbarn. Die Sonnen Lamesch 4 und 5 gehörten zwar den Häusern Saih und Terowin, doch es erzeugte trotzdem ein beklemmendes Gefühl in seinem Bauch, das sich nach hinten zur Wirbelsäule durch schob und wie ein Wurm sein Rückenmark entlang kroch. Der anthorische Rat hatte bisher nur wenige Bilder veröffentlicht. Die meisten Aborraner machten sich deshalb keine Gedanken, wie Ajlans Antwort bewies. Viele Jungs wie Derin schienen eher begierig darauf zu sein, die Echsen zu bekämpfen. Sie machten lockere Sprüche darüber, wie sie diese Diebesbanden fertigmachen würden. Iloy unterdrückte ein Schaudern.

Vollkommen unerwartet öffnete sich die Tür und ein schlankes Mädchen mit feuerroten Haaren kam herein. Ihre gleichmäßig bronzene Haut wies sie wie Erren als Mitglied eines anthorischen Hauses aus. War sie eine Verwandte von Erren? Zu wenig Ähnlichkeit, entschied Iloy. Er wusste nicht einmal, ob die Groschs weitere Familienangehörige auf anderen Welten hatten. Aborra jedenfalls gehörte dem Haus Darelian, das wiederum dem Hohen Haus Benoin unterstand. Die Groschs verwalteten den Planeten lediglich. Also war das Mädchen eine Darelian, oder eine A Haiv. Doch die Alen A Haiv hatten meist pigmentloses, weißes Haar und ebenso farblose bis rötliche Augen.

Ajlan sah ihr erwartungsvoll entgegen. »Ah, willkommen! Hätten Sie die Freundlichkeit, sich vorzustellen?«

Mit einer natürlichen Eleganz schlenderte sie vor die Klasse und ließ ihren Blick einmal über die Schüler schweifen. Ihr schwarzes Kleid mit den feuerroten Verbrämungen und Einsätzen musste direkt von Anthor stammen. »Heo, mein Name ist Laith.« Das war sehr salopp.

Siri Ajlan hob die Augenbrauen und wartete auf mehr Details, während er seine Hände schweigend gefaltet hielt.

Das Mädchen genoss die gespannte Erwartung in der Klasse, dann rollte sie die blauen Augen geradezu arrogant und ließ sich zu einem einzigen Wort herab. »Darelian.«

Ein Raunen ging durch die Klasse. Wieso waren die anderen so erstaunt? Hätte es eine andere logische Erklärung geben können?

»Sehr schön, Siria Laith, suche Sie sich einen Platz«, forderte Ajlan sie auf.

Die Siria beachtete den Lehrer nicht mehr weiter. Sie sah sich um, kam in die letzte Reihe und setzte sich zwei Sitze von Iloy entfernt hin.

Obwohl sie erwachsener aussah, schätzte er sie auf siebzehn. Wie kam sie auf eine Siedlerschule? Wenn sie bisher auf Anthor gelebt hatte, wo es die besten Schulen gab, war das ein unglaublicher Abstieg. Außerdem wurden die Töchter aus wichtigen Häusern in der Regel früher verheiratet. Heiraten waren ein wichtiges politisches Mittel zur Beeinflussung anderer Häuser im Rat. Eine Darelian an ihrer Schule war mehr als merkwürdig. Hier kam sie mit der weißen Unterschicht in Kontakt. Konnte ihre Familie das wollen? Wohl eher nicht. Selbst für Erren, den Sohn des einfachen Hauses Grosch, war es eher ungewöhnlich, eine öffentliche Schule zu besuchen. Häuser, die etwas auf sich hielten, schickten ihre Söhne nach Anthor, selbst wenn es nicht für die berühmten Akademien reichte. Die Töchter wurden privat unterrichtet.

Plötzlich lächelte diese Laith Iloy kurz an, wandte sich allerdings ab, als er nicht reagierte, und besah sich die anderen Schüler genauer.

Ajlan setzte seinen Unterricht trotz der Unruhe in der Klasse fort. Ständig sahen sich seine Mitschüler nach der Darelian um. Iloys Interesse erlahmte. Sie verhielt sich noch viel snobistischer als Erren. Da war es wesentlich reizvoller, die kleinen, smaragdgrünen Schwirrvögel, die vor dem Fenster an den trichterförmigen Blüten der Anugavenbäumen in der Luft balancierten, zu beobachten.

Es läutete zur Pause, und sofort wurde Laith von den Mädchen neugierig umringt. Die saloppe Art ihrer Vorstellung stiftete Verwirrung. Laith bat die Mädchen, sie einfach beim Vornamen zu nennen. Was schon recht unglaublich war. Normalerweise beraubte Laiths gesellschaftliche Stellung den Siedlernachwuchs jeder Hoffnung, sie näher kennenlernen zu dürfen. Was die Jungen nicht davon abhielt, die üblichen Beurteilungen über ihr Aussehen abzugeben. Und die lagen alle sehr hoch.

Mit Recht, allein schon ihr Knochenaufbau zeigte eine feine Struktur und entsprach nicht dem breitknochigen Typ Siedlerfrau. Darelian war bekannt für seinen erlesenen Geschmack. Soweit Iloy wusste, besaß der Mann mindestens sechs Frauen, obwohl laut Gesetz lediglich eine Frau als Mutter seiner Erben eingesetzt werden konnte. Was sich ein Ratsmitglied nicht alles leisten durfte, mit den richtigen Beziehungen.

Elehis, die bisher unbestrittene Königin der ganzen Stufe, bemühte sich, der Ratstochter zu gefallen. »Heo, das ist ja toll, dich bei uns zu haben - Laith. Was verschafft uns denn die Ehre?« Unbeholfen zögerte Elehis vor dem Namen, was verriet, wie unsicher sie sich fühlen musste, die Darelian nicht mit Siria anzusprechen.

Die Frage stellte Iloy sich auch. Ganz unauffällig saß er an seinem Pult und suchte nach ein paar interessanten Informationen über Raum-Zeitberechnungen, während er sie belauschte.

Laith lächelte gewinnend. »Ach, wisst ihr, eigentlich darf ich euch das gar nicht sagen.«

Allein wie sie ihre schmalen Fingerspitzen kurz an die Schläfe legte, die Augenlider langsam schloss und die Mundwinkel ihre blitzsauberen Zähne entblößten, verdiente Beachtung. Die Mädchen hingen an ihren Lippen. Ein Geheimnis! Mädchen lieben Geheimnisse, so viel war Iloy klar. Sehr geschickt!Sie wird sie alle um den Finger wickeln, dachte er. Viele Achs und Ohs und gutes Zureden bewirkten sehr schnell Laiths Redseligkeit. Sie leckte sich die Lippen. Wieder senkten sich die Wimpern über die Iris herab. Lügner taten das oft. Absolut durchsichtig, wie Iloy fand.

»Na ja, mein Vater will die Schulen seines Planeten auf ihre Leistungsfähigkeit prüfen, und ich bin eine seiner Inspektorinnen.«

Die Mädchen starrten sie aus großen, runden Augen an. Das war ja soooo aufregend. Diesen Schwachsinn glaubte er keinen Moment. Was für eine dumme Gwon! Pure Zeitverschwendung, ihr weiter zuzuhören.

Seine Konzentration kehrte zu seiner Hausarbeit zurück, damit er sich die Arbeit am Nachmittag ersparte. Die Pause reichte ihm dazu normalerweise aus. Doch heute sollte es wohl nicht sein. Recht unvermittelt setzte sich Derin neben ihn. Offensichtlich interessierten ihn die Spekulationen um die Neue nicht allzu sehr oder er nutzte die Ablenkung aus einem anderen Grund.

»Was schreibst du denn?« Neugierig schielte Derin ihm über die Schulter.

Iloy lehnte sich zurück. Derins schmales Gesicht spiegelte sich hervorragend auf seinem Pult. Er ahnte, worum es ging. Derin hatte seine Abschlussarbeit bereits um ein Jahr verschoben, weil er sich als Pilot in Anthor bewerben wollte. An ihrem ersten Schultag hatte er das zufällig aus einem Gespräch zwischen Derin und dessen Freunden erfahren. Nach Anthor flogen ausnahmslos die Besten. Eine nur gute Bewertung in seiner Abschlussarbeit würde diesen Traum beenden.

»Ich schreibe nicht an meiner Abschlussarbeit, falls du das glaubst«, meinte er kühl.

Daraufhin gab sich Derin lässig, doch Iloy spürte deutlich seine Anspannung. »Was ist denn dein Thema?«

Warum sollte Iloy nicht großzügig sein? »Wenn du mir sagst, welches Thema du dir ausgesucht hast, werde ich ein anderes nehmen, damit du keine Angst haben musst, schlechter abzuschneiden«, gab er genauso lässig zurück.

Das ganze Gespräch war schwachsinnig. Beni würde kein Thema gutheißen, das mehr als Planetenrelevanz besaß. Das gestrige Gespräch mit Kokks hatte das deutlich werden lassen, wenn Iloy auch nicht verstand, warum und wie es mit dem Tod seiner Mutter zusammenhing.

Derin zuckte getroffen zusammen. »Ich glaube nicht, dass ich mich vor dir fürchten muss!«

Mit hochgezogenen Augenbrauen drehte sich Iloy zu ihm um. Für sein Alter war Derin klein, das war von Vorteil bei diesem Berufswunsch. In seine blaugrünen Augen blickend, konnte Iloy sich vorstellen, wie es für Derin sein musste, hier auf dem Planeten zu versauern, wenn man sich nach der großen Weite da draußen sehnte.

»Derin, ich will gar nicht Pilot werden. Wenn du möchtest, helfe ich dir bei deiner Arbeit.« Er versuchte, versöhnlich zu wirken, um seine etwas unsensible Antwort abzumildern. Das gelang ihm offensichtlich nicht.

Verletzt sprang Derin auf. »Hast du nicht gehört, ich habe es nicht nötig, mir von einem wie dir helfen zu lassen!«

Alle, die in der Pause im Raum geblieben waren, schauten zu ihnen herüber. Mit rotem Kopf rannte Derin hinaus. Seine Mitschüler folgten ihm mit Blicken und drehten sich dann finster zu Iloy um.

Äußerlich ruhig arbeitete er an seinem Pult weiter. Er hatte Derin nicht brüskieren wollen. Andererseits konnte Iloy ohnehin machen, was er wollte, es war sowieso falsch.

Wann würden sie endlich aufhören, ihn anzustarren?

Elehis brach das Schweigen. »Typisch Iloy! Immer muss er Ärger machen! Kommt, lasst uns draußen weitersprechen. Hier ist die Luft so stickig!«

Die Siria musterte ihn kurz und folgte den anderen nach draußen. Sicher würden sie sich über ihn das Maul zerreißen! Ihr genau erklären, was er war! Er biss die Zähne zusammen. Bald hatte er diese dämliche Schule hinter sich. Danach würde er allen aus dem Weg gehen können. Oder sollte er gleich in die Sümpfe laufen und nie wieder zurückkommen? Nein. Das konnte er Beni nicht antun. Seinen Vater konnte er nicht allein lassen.

Da bohrten sie wieder, diese verwirrend unsteten Gedanken! Ihm war zum Schreien zumute. In allem, was er tat, war er besser als die anderen, aber keine seiner Leistungen wurde honoriert. Sollte er sich absichtlich blöd anstellen, damit die anderen sich an ihm beweisen konnten?

Als Kokks in die Klasse kam, stand Iloy auf und ging wortlos an allen vorbei hinaus. Zunächst lief er langsam durch die schmalen Gassen des äußeren Bezirks der Stadt, dann in steigendem Tempo in die Sümpfe hinaus. Er wollte einfach nur weg.

Kurz bevor er die Sümpfe erreichte, überlegte er es sich anders und nahm den langen Weg am Leerd entlang über die Felder. Dort konnte er schneller laufen. Sein Gehirn wurde mit verwirrenden Vorstellungen überfrachtet, die jeder realistischen Grundlage entbehrten. Er sah, wie Erren auf ihn einprügelte, Schüler ihn offen als Lügner beschimpften. Am schlimmsten war das Bild seines Vaters, der einen Menschen tötete. Dazwischen tauchte die schemenhafte Gestalt eines Ink auf, der im Begriff war, sich Iloy zuzuwenden, oder war er das selbst? Das war so absurd. Prasselten alle seine Ängste zur gleichen Zeit auf ihn ein? Das unaufhörliche Grübeln machte ihn wahnsinnig!

Er wollte nicht mehr denken, also beschleunigte er den Weg entlang, den die Holzarbeiter mit ihren Maschinen benutzten. Das hohe Tempo befreite seinen Geist von den lästigen Gedanken und Zweifeln. Laufen, bis die Lunge, die Beine und der ganze Körper nichts mehr hergaben.

Es klappte. Die Bilder lösten sich auf. Eine Zeit lang dachte er nichts, sah nur Sterne in den glühendsten Farben vor seinen gesenkten Augenlidern. Irgendwann ließ er sich fallen und blieb japsend liegen. Die Gräser kitzelten ihn mit ihren würzig riechenden Fruchtfedern, während der Wind sie beugte. Die Augen fielen ihm zu. Es war heiß.

Er befand sich auf einer langen, einsamen Wanderung, denn er suchte das Haus seiner Mutter. Flirrende Hitze verzerrte das Bild der kargen, mit wenigen Sträuchern und vielen Steinen gestalteten Landschaft. Sein Mund war trocken. Da vorne! Da musste der Eingang sein. Dort würde es alles geben, was er brauchte. Doch da fand sich nichts. Es war nur ein Fels in der Ebene. Trockenheit, Glut, rauer Fels. Nichts sonst. Hartnäckig suchte er weiter, aber egal, wie oft er den Inkbau gefunden zu haben glaubte, es gab nichts als Leere. Er wühlte im Sand. Es musste ein Anzeichen für ihre Existenz geben! Seine Verzweiflung wuchs mit jedem Fehlschlag. Er würde vertrocknen. Seine Todesangst steigerte sich.