Im Aufstand - Michael Meinert - E-Book

Im Aufstand E-Book

Michael Meinert

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Beschreibung

Schlesien, 1905. Komtesse Franziska von Wedell wird des noblen Pensionats, in dem sie standesgemäß erzogen werden soll, verwiesen, weil sie gegen die strengen Regeln rebelliert. Nun möchte sie stattdessen einen medizinischen Beruf erlernen, doch ihr Vater, Graf Ferdinand von Wedell, schlägt ihr diesen Wunsch aufgrund seiner starren Adels- und Glaubensprinzipien ab. Es kommt zum Zerwürfnis und Franziska flieht zu ihrer Freundin Julie von Götzen und mit dieser gemeinsam weiter bis nach Deutsch-Ostafrika. Beim dortigen Gouverneur, dem Onkel ihrer Freundin, finden sie jedoch nicht die erhoffte Sicherheit, sondern sie geraten mitten hinein in die Wirren des Maji-Maji-Aufstands ...

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Schlesien, 1905. Komtesse Franziska von Wedell wird des noblen Pensionats, in dem sie standesgemäß erzogen werden soll, verwiesen, weil sie gegen die strengen Regeln rebelliert. Nun möchte sie stattdessen einen medizinischen Beruf erlernen, doch ihr Vater, Graf Ferdinand von Wedell, schlägt ihr diesen Wunsch aufgrund seiner starren Adels- und Glaubensprinzipien ab. Es kommt zum Zerwürfnis und Franziska flieht zu ihrer Freundin Julie von Götzen und mit dieser gemeinsam weiter bis nach Deutsch-Ostafrika. Beim dortigen Gouverneur, dem Onkel ihrer Freundin, finden sie jedoch nicht die erhoffte Sicherheit, sondern sie geraten mitten hinein in die Wirren des Maji-Maji-Aufstands ...

Die Hochwald-Saga spielt in der schlesischen Grafschaft Glatz und der Provinzhauptstadt Breslau. Über drei Generationen, von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, wird die wechselvolle Geschichte einer eng mit den schlesischen Wäldern verbundenen Familie erzählt.

Michael Meinert wurde 1979 in Datteln geboren. Er ist verheiratet und lebt heute in Mülheim an der Ruhr. Schon als Kind fand er zum Glauben an Jesus Christus. In der Hochwald-Saga, in der er tiefgehende und aktuelle Glaubensthemen mit der Handlung verwebt, entführt er die Leser ins historische Preußen.

www.michael-meinert.eu

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Die Bibelzitate sind der Elberfelder Übersetzung (Edition CSV Hückeswagen) entnommen.

Titelfotos:

Landschaft: © Adobe Stock, 49494611, Photocreo Bednarek

Junge Frau: © Adobe Stock, 56298296, Voyagerix

Foto Coverrückseite: © Tim Fuhrländer

Lektorat: Friedhelm von der Mark

Umschlaggestaltung und Satz:

DTP-MEDIEN GmbH, Haiger

eBook Erstellung:

ceBooks.de, Eduard Klassen

Paperback:

ISBN 978-3-942258-08-1

Bestell-Nr. 176.808

eBook (ePub):

ISBN 978-3-942258-58-6

Bestell-Nr. 176.858

Copyright © 2017 BOAS media e. V., Burbach

Alle Rechte vorbehalten

www.boas-media.de

Für meine beiden neuen Testleserinnen:

Anne-Kathrin

Als Dank dafür, dass ich Dir immer zwischendurch afrikanische und medizinische Fragen stellen durfte und prompte Antworten erhielt, für Dein Detailwissen, das Du zum Teil höchstselbst ins Manuskript eingefügt hast, sowie für Deine nächtlichen Leseaktionen, die noch erstaunlich hilfreiche Kommentare hervorgebracht haben.

Franzi

(die nichts mit der Hauptperson dieses Buches zu tun hat)

Du weißt, warum.

Vorwort

Wissen Sie, wie hoch der höchste deutsche Berg ist? – Stimmt genau! 2 962 Meter über Normalhöhennull. Aber wenn Sie diese Antwort im Jahr 1905 gegeben hätten, wäre sie falsch gewesen. Damals war der höchste deutsche Berg 5 895 Meter hoch. Und das liegt nicht etwa daran, dass die Zugspitze in den letzten 112 Jahren um knapp 3 000 Meter geschrumpft wäre. Nein, im Jahr 1905 lag der höchste deutsche Berg in Afrika, genauer gesagt in Deutsch-Ostafrika (das ungefähr das Gebiet der heutigen Staaten Tansania, Burundi und Ruanda umfasste), und hieß Kaiser-Wilhelm-Spitze. Der Name änderte sich übrigens erst 1964, als der Gipfel des Kilimandscharo-Massivs den Suaheli-Namen Kibo („der Helle“) bekam.

Bestimmt fragen Sie sich jetzt, warum ich Ihnen das erzähle. Und warum sich der Kibo auf dem Titelbild eines Bandes der Hochwald-Saga befindet.

Wölfelsgrund, das 700-Seelen-Dorf in der Grafschaft Glatz in Schlesien, und Deutsch-Ostafrika, das Schutzgebiet, wie die Deutschen ihre Kolonien nannten, liegen gar nicht so weit auseinander, wie Sie wahrscheinlich denken. Jedenfalls gibt es eine Person, die beide miteinander verbindet.

Am 12. Mai 1866 wurde auf Schloss Scharfeneck bei Obersteine in der Grafschaft Glatz, ungefähr 50 Kilometer nordwestlich von Wölfelsgrund, Graf Gustav Adolf von Götzen geboren, der 1901 zum Gouverneur des Schutzgebietes Deutsch-Ostafrika ernannt wurde. Da zudem noch eine meiner Testleserinnen Tansania gut kennt und mich für dieses Land begeistern konnte, wurde bei einem Spaziergang durch den Bochumer Stadtpark aus einer klitzekleinen Idee ruckzuck ein ganzer Roman – den Sie jetzt in Händen halten.

Bevor es losgeht, gebe ich Ihnen schnell noch ein paar Informationen an die Hand, damit Sie mir unterwegs nicht verloren gehen. Zur Orientierung finden Sie eine Karte des Schutzgebietes mit den wichtigsten Orten, die im Buch eine Rolle spielen. Und da uns einige Soldaten der kaiserlichen Armee und der deutschen Schutztruppen – so hießen die Streitkräfte in den Schutzgebieten – begegnen werden, füge ich Ihnen auch eine Liste der Dienstgrade bei.

Sprachlich müssen Sie sich in Deutsch-Ostafrika an Suaheli gewöhnen. Allerdings gebe ich Ihnen kein Wörterbuch mit auf die Reise, Sie sollen ja gegenüber den Figuren des Buches keinen Vorteil haben. Ganz am Ende des Buches finden Sie aber eine Übersetzung aller im Buch verwendeten Suaheli-Wörter. Und wo wir gerade bei der Sprache sind: Die Kurzform Julie für den Namen der Komtesse Julia Viola von Götzen sollten Sie deutsch aussprechen, also wie den Monatsnamen Juli.

Und damit wissen Sie schon alles, was Sie wissen müssen, und ich könnte Sie auf die Reise schicken. Doch wie kommen Sie nun nach Deutsch-Ostafrika? Von der Fliegerei würde ich Ihnen zur damaligen Zeit noch abraten, daher wählen wir lieber das übliche Reisemittel: den Reichspostdampfer.

Herzlich willkommen also an Bord eines Dampfers der Deutschen Ost-Afrika-Linie, der sich neben heutigen Kreuzfahrtschiffen beinahe wie eine bessere Yacht ausnehmen würde. Und damit Sie sich während der wochenlangen Seereise richtig wohlfühlen, stelle ich Ihnen einige Besatzungsmitglieder vor, die einen großen Anteil daran haben, dass Sie diese Reise überhaupt antreten können.

Zuerst die Obermaschinistin, die für den reibungslosen – sozusagen gut geschmierten – Betrieb sorgt: meine Frau, die mich mit ihrer Geduld unterstützt, wenn ich stundenlang am PC sitze, die Tastatur viel zu laut rattern lasse und ganze Abende mit meinem Lektor vertelefoniere.

Ach ja, mein Lektor. Der Heizer, der immer Dampf auf den Kessel gibt und so das Schiff bei jedem Wind und Wetter vorwärtstreibt. Ich weiß, ich bin ein schwieriger Autor. Und Du bist ein beinharter Lektor. Es geht nicht ohne hitzige Diskussionen ab, aber letztlich ist es eine konstruktive Zusammenarbeit. Und dafür: Danke.

Einen ebenfalls nicht zu unterschätzenden Anteil haben die fünf Stewardessen: meine wohlwollenden Testleserinnen Anne-Kathrin, Catharina, Elisabeth, Franziska und Liliane. Vielen Dank, dass Ihr Euch bereits durch das Manuskript quält, wenn es noch auf der Buchwerft liegt. Und für die Erfrischungen, die Ihr mir immer wieder darreicht. Ihr habt mich oft aufgebaut, wenn ich das Manuskript am liebsten in die Papiertonne geschmissen hätte – und Ihr habt es vielleicht nicht einmal bemerkt.

Neben den Stewardessen gibt es noch jede Menge Matrosen, ohne die unsere Schiffsreise auch nicht funktionieren würde. Das sind Leute, an die ich Bitten um die unmöglichsten Dinge herangetragen habe: einen historischen Stadtplan von Daressalam; Pferdenamen; witzige Erlebnisse mit hohen Absätzen; einen Strick für einen Fessel-Selbstversuch (am nautischen Knoten müsst Ihr aber noch arbeiten ); Informationen zu Operationssälen in Afrika, Blutentnahmen und Diphtherie; Aufklärung über grammatische Feinheiten der deutschen Sprache ... Ich danke herzlich für jede noch so unscheinbar wirkende Antwort und Unterstützung.

Den Kapitän habe ich mir bis zum Schluss aufgehoben: meinen Gott und Herrn Jesus Christus. Er soll immer das Kommando über meine Schreibarbeit haben. Und Fantasie, Schreibgefühl, Gesundheit, Energie – alles kommt nur von Ihm. Das sind Geschenke aus reiner Gnade, für die ich Ihm danke.

Und die Passagiere – natürlich erster Klasse! – sind Sie. Doch bevor Sie ungeduldig werden – rasch die Landungsbrücke rein – die Leinen los – ein dröhnendes Tuten – und auf geht’s – hinein in den Aufstand.

Datteln, im Juli 2015 

Michael Meinert

Infanterie der kaiserlichen Armee und deutsche Soldaten der Schutztruppe für DOA

Schwarze Soldaten der Schutztruppe für DOA

Bemerkung

Mannschaftsdienstgrade

Grenadier, Füsilier etc.

Askari

Gefreiter

Obergefreiter

Unteroffiziersdienstgrade

Unteroffizier

Schausch

meist Führer einer Gruppe

(ca. 8 – 12 Mann)

Sergeant

Betschausch

Vizefeldwebel

Feldwebel

Offiziersdienstgrade

Fähnrich

Offiziersanwärter im Rang eines Unteroffiziers

Feldwebelleutnant

Leutnant

Effendi

meist Zugführer (bis zu 60 Mann starke Einheit)

höchster Dienstgrad, den ein Schwarzer in der Schutztruppe erreichen konnte

Oberleutnant

Hauptmann

meist Chef einer Kompanie, einer bis zu 250 Mann starken Einheit

Major

Oberstleutnant

meist Stellvertreter des Regimentskommandeurs

Oberst

Kommandeur eines Regiments

Breslau, 22. April 1905 (Ostersamstag)

Komtesse Franziska von Wedell knetete ihre Finger, als sie mit ihrer besten Freundin Julie von Götzen über die Flure des Pensionats zum Büro der Vorsteherin ging. Es war einfach zu ärgerlich, dass sie bei ihrem heimlichen Ausflug zur Parade des benachbarten Infanterieregiments erwischt worden waren. Nach dem, was sie aus Fräulein von Steinbachs Sicht in der letzten Zeit schon alles verbrochen hatten, würde es schwer werden, sie zur Milde zu stimmen.

„Es ist einfach lächerlich.“ Julie blieb stehen und funkelte Franzi aus ihren nachtschwarzen Augen an. „Was haben wir schon getan? Diese übertriebenen Regeln des Pensionats sind doch geradezu dazu gemacht, um gebrochen zu werden.“

Franzi griff nach ihrem Zopf und legte ihn nach vorn über die Schulter. Julie hatte recht. Wenn die Regeln nicht so übermäßig streng gewesen wären, hätten sie sie bestimmt nicht ständig übertreten. Aber ... „Ich glaube kaum, dass die Steinbach sich von diesem Argument überzeugen lässt.“

„Wir haben doch nur der Parade anlässlich des Kommandeurswechsels zugesehen – was bitte ist daran verwerflich? Das ist doch geradezu unsere vaterländische Pflicht!“

Trotz ihrer schwierigen Lage musste Franzi grinsen. Ihren regelwidrigen Ausflug als vaterländische Pflicht zu bezeichnen, war eine Unverfrorenheit. Das, was sie magnetisch angezogen hatte, waren die Söhne des Vaterlands, die schneidigen Soldaten in ihren prächtigen Paradeuniformen, gewesen.

„Jedenfalls sollten wir uns reumütig zeigen“, brummte Franzi, „sonst macht die Steinbach ihre Drohung wahr und verweist uns des Pensionats – mein alter Herr würde mir vor Wut jedes Haar einzeln vom Kopf rupfen!“

„Das wird schon nicht passieren. Dein Vater und mein Onkel spenden viel zu viel an diese vorbildliche Anstalt, als dass die Steinbach es sich leisten könnte, uns hinauszuwerfen.“

„Hoffentlich.“ Franzi reckte das Kinn. „Und jetzt komm, wir sollten wenigstens zu diesem Gespräch nicht zu spät kommen.“

Julie ging zu einem Spiegel und prüfte, ob ihr tiefschwarzes Haar richtig lag. „Wenn wir pünktlich kämen, wäre die Steinbach bestimmt verblüfft.“

Franzi trat neben sie und zupfte an ihren blonden Locken, die sie mit Julies Hilfe in einen Zopf gezwängt hatte. „Wir sollten es nicht darauf ankommen lassen. Komm.“ Sie hakte sich bei ihrer Freundin unter und zog sie mit sich fort.

Julie hatte gut reden. Ihre Eltern waren schon lange tot und ihr Erziehungsberechtigter, ihr Onkel Graf Gustav Adolf von Götzen, der Gouverneur des Schutzgebietes Deutsch-Ostafrika, erfüllte seiner Lieblingsnichte jeden Wunsch. Obwohl er Tausende von Kilometern entfernt in Daressalam residierte, liebte er sie ganz offensichtlich wie eine eigene Tochter.

Franzi wünschte, ihr Vater würde sie ebenso lieben wie Graf Götzen seine Nichte. Aber ihr Vater kannte keine Nachsicht mit ihr. Das konnte sie sich nur damit erklären, dass er ihr die Schuld an allem gab, was vor 19 Jahren bei ihrer Geburt geschehen war. Ihre sieben Jahre ältere Schwester Charlotte hatte Diphtherie gehabt, und ihre Mutter hatte sich aufreibend um sie gekümmert, trotz der Schwangerschaft. Als sie, Franzi, dann geboren wurde, ging es ihrer Schwester etwas besser, aber ihre Mutter war von der Sorge um ihre kranke Tochter so entkräftet, dass sie die Geburt nicht überlebte. Und Charlotte traf der Tod ihrer Mutter so tief, dass sich die Krankheit wieder zum Schlechteren wandte. Drei Tage später war auch Charlotte tot. Ihr Vater hatte den Tod seiner über alles geliebten Frau und seines ältesten Kindes nie verwunden. Und er gab ihr die Schuld daran. Als ob sie etwas dazu könnte.

Sie erreichten das Büro der Vorsteherin. Franzi knetete erneut ihre Finger, während Julie sie frech grinsend ansah. „Wir werden das schon schaffen, Franzi. Lass mich nur machen.“

„Hoffentlich.“

Julie hob die Hand und klopfte beherzt an die massive Eichentür. Von innen ertönte ein „Herein!“, als wäre es auf einer Fanfare geblasen worden.

Unwillkürlich fuhr Franzi zurück und legte die Hände auf die Ohren. Solche schrillen Töne mochte sie nicht, sie war vielmehr in die sonoren Klänge ihrer heiß geliebten Viola vernarrt.

Ihre Freundin zog ihr mit einem Grinsen die Hände von den Ohren und öffnete schwungvoll die Tür. Franzi presste eine Hand aufs Herz, dann folgte sie ihrer Freundin ins Büro. Julie machte bereits einen formvollendeten Knicks vor der Vorsteherin. Hastig schloss Franzi die Tür – dabei rutschte ihr die Klinke aus der schweißnassen Hand und die schwere Tür donnerte ins Schloss.

„Franziska!“ Die Fanfarenstimme ließ sie zusammenfahren. „Die Türe hat eine Klinke, an der sie leise geschlossen zu werden vermag. Bitte öffne die Türe und schließe sie erneut – aber geräuschlos.“

Franzi ballte die Faust. Diese Demütigung! Genauso hatte ihr Vater sie schon als Kind gemaßregelt, nur mit weniger geschwollenen Worten. Sie atmete tief ein und wieder aus, dann öffnete sie leise die Tür, um sie ebenso leise wieder zu schließen.

„Warum nicht gleich so?“, trötete Fräulein von Steinbach.

Knirschend presste Franzi die Zähne aufeinander, damit ihr kein unbedachtes Wort entschlüpfte. Wenn sie die Vorsteherin dazu bringen wollte, sie nicht des Pensionats zu verweisen, musste sie sich zusammenreißen.

Sie drehte sich um, trat neben Julie und machte ihren besten Knicks. „Gnädiges Fräulein, Sie haben uns rufen lassen.“

Fräulein von Steinbach thronte wie die böse Königin in Schneewittchen hinter ihrem Schreibtisch. Das streng zurückfrisierte, schon angegraute Haar und die scharfen Linien in ihrem Gesicht ließen sie wie eine vertrocknete Stockrose aussehen.

Franzi schauderte. Diese Frau hielt nun ihr Schicksal in ihren verknöcherten Händen.

Die Vorsteherin hielt ihr Lorgnon vor die meergrauen Augen und funkelte sie an. „Komtesse Franziska Elisabeth von Wedell, Komtesse Julia Viola von Götzen, möchtet ihr mir nicht mitteilen, warum ich euch zu mir rief?“

Die nächste Demütigung! Sollte die Steinbach doch einfach ihre Standpauke loslassen!

„Gnädiges Fräulein“, ergriff Julie das Wort, „wenn ich Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen darf: Heute Morgen besuchten Franzi und ich die Parade des Infanterieregiments ...“

Franzi hielt erschrocken die Luft an. Mit dieser Bemerkung würden sie die Steinbach bestimmt nicht zur Milde stimmen.

„Deine Frechheit ist völlig unangebracht!“, keifte Fräulein von Steinbach. „Außerdem sagte ich euch bereits wiederholt, dass ihr das Verstümmeln der Namen zu unterlassen habt, Julia. Deine Freundin heißt Franziska.“ Sie ließ ihr Lorgnon sinken. „Und ich vergaß selbstverständlich nicht, welches Fehltrittes ihr euch schuldig gemacht habt. Ich hoffte vielmehr, euch ein reumütiges Geständnis zu entlocken.“

Franzi holte tief Luft. „Es tut uns leid, Fräulein von Steinbach ...“

„So, es tut euch leid.“ Die Stimme der Vorsteherin schrillte in Franzis Ohren. „Darf ich dann um eine Erklärung bitten, warum ihr widerrechtlich die Anstalt verlassen habt, um der Parade beizuwohnen?“

„Wir dachten“ – Julie lächelte überfreundlich –, „dass es kein Verstoß gegen die Regeln sei. Immerhin bekam das Regiment, dessen Garnison beinahe im Nachbargebäude ist, einen neuen Kommandeur.“

„Eure Begeisterung für stramme Kerle mit Gardemaß in schillernden Uniformen ist hinreichend bekannt.“ Fräulein von Steinbach stand auf und kam um ihren wuchtigen Mahagonischreibtisch herum. „Ich erinnere euch daran, dass ihr bereits mehrfach dabei angetroffen wurdet, wie ihr am Fenster eures Zimmers standet und vermittelst eines Opernglases zum Exerzierplatze hinüberstarrtet – oftmals zu einer Zeit, zu der ihr eigentlich dem Unterrichte hättet beiwohnen sollen.“

Während des Unterrichts hatten sie das nur einmal getan. Aber Franzi schluckte ihren Widerspruch schnell hinunter und räusperte sich. „Sie müssen doch zugeben, gnädiges Fräulein, dass die Nähe der Soldaten eine gewisse Faszination ausübt.“

„Warum sollte ich das zugeben? Ich habe euch oftmals vor der von Männern ausgehenden Gefahr gewarnt, in Sonderheit vor Männern, die Uniform tragen. Euer heutiger Ausflug belegt leider zu deutlich, dass ihr meine Warnungen in den Wind geschlagen habt.“

„Im heimatkundlichen Unterricht haben wir gelernt, dass die Soldaten ihren Dienst zu unserem Schutz versehen.“ Julie stützte die rechte Hand auf die Hüfte. „Wie können sie uns dann gefährlich werden?“

Franzi sah ihre Freundin von der Seite an. Julie war mutig – wahrscheinlich mutiger, als gut für sie beide war.

Fräulein von Steinbach trat vor Julie hin und tippte ihr mit dem Lorgnon gegen die Brust. „Du weißt sehr wohl, was ich meine, Julia. Unterlasse deine aufsässigen Erwiderungen. Ihr beide seid viel zu oft aufgefallen, als dass ich euch in diesem Tone mit mir zu reden erlaubte.“

„Bitte, Fräulein von Steinbach“ – Franzi verknotete ihre Finger ineinander –, „es gab in der Tat kleinere Verfehlungen unsererseits, aber ...“

Die Vorsteherin drehte sich zu ihr und funkelte sie an. Ihre knöchernen Finger, die das Lorgnon umfassten, bebten. „Ob eure Missetaten kleiner oder größer waren, obliegt nicht eurer Beurteilung, sondern der meinigen. Wie oft, Franziska, glaubst du, seid ihr beide allein in diesem Monate bereits zu spät zu den Mahlzeiten oder zum Unterrichte erschienen?“

Franzi zog ihren Zopf über die rechte Schulter. „Es – es kann höchstens – einige wenige Male gewesen sein.“

Fräulein von Steinbach stakste zum Schreibtisch und hob ein Blatt Papier auf. Sie hielt ihr Lorgnon vor die Augen. „Franziska von Wedell und Julia von Götzen erschienen an drei Tagen zu spät zum Unterrichte sowie an vier Tagen zu spät zu einer der Mahlzeiten. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass heute erst der 22. Tag im April ist, sind das nicht wenige Male, auch nicht einige Male, sondern viele Male.“

Franzi lag das Wort Erbsenzählerin auf der Zunge, aber sie schluckte es hinunter, bevor es ihr hinausrutschte. Es hatte immer gute Gründe gegeben, wenn sie zu spät gekommen waren: Entweder hatte sie ihre unzähmbaren Locken nicht gekämmt bekommen oder der Wecker hatte nicht geklingelt oder ...

„Dann erinnere ich mich dieser wilden Bestie“, trötete die Steinbach weiter, „die ihr in unsere Anstalt verschleppt habt.“

„Wilde Bestie!?“ Franzi konnte ein Auflachen nicht unterdrücken. „Es handelte sich um ein nur wenige Tage altes Kätzchen, das von einem dieser Automobile angefahren worden war. Wir konnten es doch nicht seinem Schicksal ...“

„Die Hausordnung untersagt, Tiere mit in die Anstalt zu bringen. Außerdem hat diese Bestie im gesamten Pensionat ihre Hinterlassenschaften verteilt! Und du wagst noch, darüber zu lachen!“

„Aber wir konnten doch das Kätzchen ...“, versuchte es nun auch Julie.

„Ruhe!“, trompetete Fräulein von Steinbach. „Des Weiteren habt ihr euch an drei Tagen unerlaubt vom Gelände der Anstalt entfernt; heute habt ihr euch sogar durch listige Täuschung einer Lehrkraft, indem ihr eine Magenverstimmung simuliert habt, dem gemeinsamen Osterausfluge entzogen, um einem zweifelhaften Vergnügen nachzugehen.“

Franzi schielte zu Julie hinüber und bemerkte deren mühsam unterdrücktes Grinsen. Zuerst war Julie so lange neben ihr auf ihrem Bett herumgehopst und hatte damit die Matratze zum Schwanken gebracht, dass Franzi sich wie auf hoher See fühlte und ihr wirklich übel wurde – eine Erfahrung von der letzten Bootstour auf der Oder, als sie sich gleich mehrfach über der Bordwand hängend erbrechen musste. Danach hatte Julie sich eine Feder in den Hals gesteckt – und schon hatte niemand mehr von ihnen verlangt, an dem Ausflug teilzunehmen. Stattdessen hatten sie sich davongeschlichen und der Parade auf dem Breslauer Ring beigewohnt, wo es diesmal sogar einen lustigen Zwischenfall gegeben hatte: Ein kleiner Leutnant hatte den Befehl Präsentiert das Gewehr überhört und für reichlich Unordnung gesorgt – in dessen Haut wollte sie nicht stecken. Zu dumm nur, dass die alte Lehrerin, die zu ihrer Versorgung zurückgeblieben war, ihr Entweichen bemerkt und sie genau in diesem Augenblick aufgegriffen hatte.

„Uns ging es heute Morgen wirklich schlecht!“, verteidigte Julie sich. „Sie haben es doch selbst gesehen!“

„Eure wundersam plötzliche Heilung belehrte mich eines anderen.“ Fräulein von Steinbach warf das Protokoll ihrer Untaten auf den Schreibtisch und drehte sich wieder zu ihnen um. „Weiterhin wurden unter euren Betten Bierflaschen gefunden. Abgesehen von der Tatsache, dass der Genuss geistiger Getränke in der Anstalt untersagt ist – schämt ihr euch nicht, als Damen der Gesellschaft, die ihr doch einmal werden wollt, wie der gemeine Proletarier Bier zu trinken?“

Franzi presste die Lippen aufeinander. Damen der Gesellschaft. Niemals wollte sie so ein Porzellanpüppchen werden, auch wenn sie noch nie in ihrem Leben Bier getrunken hatte, genauso wenig wie Julie. Sie schielte zu ihrer Freundin hinüber und schüttelte leicht den Kopf. Nein, sie würden nicht verraten, dass das Bier für den Gärtner gewesen war, damit dieser sie heimlich durch die Gartenpforte hinaus- und wieder hereinließ – viel öfter noch, als der Steinbach aufgefallen war.

„Ihr schüttelt die Köpfe?“, kreischte die Vorsteherin. „Ihr seht nicht einmal ein, wie unwürdig ein solches Verhalten ist? Und die Zigaretten, die ich in eurem Nachttische gefunden habe?“

„Wann haben Sie ...?“ Franzi verschlug es die Sprache. Diese Frau hatte es wirklich gewagt, ihre abschließbaren Fächer zu durchwühlen? Hatte sie etwa Zweitschlüssel dafür, ohne dass sie davon wussten?

„Der Zeitpunkt ist unerheblich, es genügt, dass ich sie gefunden habe. Ihr solltet euch schämen.“

Julie reckte die Nase in die Luft. „Ich bitte bemerken zu dürfen, dass wir weder das Bier getrunken noch die Zigaretten geraucht haben.“

Franzi riss die Augen auf. In Bezug auf das Bier sagte Julie die Wahrheit, aber geraucht hatten sie sehr wohl.

„Wie kommt es dann, dass einige Zigaretten fehlten?“, keifte Fräulein von Steinbach. „Macht eure Vergehen nicht noch dadurch schlimmer, dass ihr mich belügt!“

„Ich habe geraucht.“ Franzi verknotete ihre Finger so fest, dass sie schmerzten. Mit Lügen kamen sie nicht weit. Zwar hatte Julie viel öfter geraucht als sie, aber sie fand es feige, die Unwahrheit zu sagen.

„So, du also, Franziska. Dein Vater wird wenig erbaut sein, wenn ich ihm davon berichte.“

Ihr Vater. Wahrscheinlich würde er sie eine Woche in ihrem Zimmer einsperren und sie dann in ein Heim für missratene Jugendliche schicken.

Franzi sah zu ihrer Freundin hinüber. Sie war es gewesen, die die Zigaretten besorgt hatte, aber sie schwieg. Julie hatte es mit der Wahrheit noch nie sonderlich genau genommen.

„Und dann dein unentwegtes Bratschenspiel, Franziska“, unterbrach die Fanfare Franzis Gedanken.

Sie richtete sich hoch auf. „Haben Sie etwas daran auszusetzen? Ich dachte, eine musikalische Ausbildung ist für höhere Töchter unabdingbar.“ Außerdem sollte sie nicht immer von der Bratsche reden. Viola hörte sich viel klangvoller an.

„Nur alles im richtigen Maße. Für dich ist die Musik eine Gefahr. Ich habe dich beim Bratschenspiele beobachtet. Dein weltentrückter Blick, dein rasendes Spiel – man könnte meinen, du seiest besessen!“

Franzi blieb die Sprache weg. Hatte Fräulein von Steinbach denn gar kein Verständnis für ihre Liebe zur Musik? Die Worte hätten allerdings auch von ihrem Vater stammen können, nur noch mit einigen frommen Phrasen oder seinem unabdingbarem Das war schon immer so! garniert. Er hatte ihr als Kind schon die Violine weggenommen und den Unterricht beendet, nachdem er ihr eine übermäßige Begeisterung und unselige Leidenschaft konstatiert hatte. Zum Glück war sie hier im Pensionat auf Julie getroffen, die von ihrem Onkel zu Beginn der Pensionatszeit eine Viola geschenkt bekommen hatte, diese aber nur mit mäßiger Begeisterung spielte und sie deshalb an Franzi abgetreten hatte.

„Deine Besessenheit ging so weit, dass du sogar nach Beginn der Nachtruhe noch gespielt hast.“ Die Steinbach trat dicht vor sie hin. „Und dann auch noch diese moderne Musik! Das kann ich nicht gutheißen.“

Julie klapperte lautstark mit ihren hohen Absätzen auf das Parkett. „Gnädiges Fräulein, es handelt sich um Musik von Camille Saint-Saëns!“

„Auch noch ein französischer Komponist! Du genierst dich nicht, Franziska, die Musik unseres Erbfeindes von jenseits des Rheines zu spielen?“

„Aber für die Musik ist es doch unerheblich, wer sie komponiert hat!“ Franzi spürte, wie es in ihr brodelte. Wenn die Steinbach nur noch ein Wort dazu sagte, würde sie aus der Haut fahren.

„Ich sehe, dass die Musik dich vollständig verblendet hat. Die Bratsche ist eine Gefahr für dich. Ich werde das Instrument konfiszieren.“

„Das können Sie nicht tun!“ Die Steinbach war wirklich wie ihr Vater. Sie musste nur noch sagen: Die Bratsche ist dein Götze.

„Ich weiß selbst genauestens, was ich kann und was nicht. Und denke an das oberste Gebot für höhere Töchter: Bewahre die Contenance!“

„Contenance!“ Franzi spie das Wort beinahe aus. „Sie tun doch gerade alles dafür, mich um die Contenance zu bringen!“

„Franziska! Ich meine es gut mit dir! Du genießt eine exquisite Erziehung, um dich deines Standes geziemend zu benehmen.“

„Pah, ein Porzellanpüppchen wollen Sie aus mir machen! Eine Frau, die nur dazu dient, prächtige Kleider auszuführen und die Männer zu beeindrucken. Das ist doch das, was Sie mit deines Standes geziemend meinen, oder etwa nicht?“ Franzi machte einen Schritt vor, sodass ihre Nasenspitze fast die der Vorsteherin berührte. „Es ist traurig, dass mein Vater seine bürgerliche Herkunft vergessen hat und so sehr auf seinen Grafenstand pocht. Aber ich sage Ihnen etwas: Ich pfeife auf diesen Standesdünkel! Ich will etwas Sinnvolles tun und keine leblose Modepuppe sein, die nur dazu da ist, die neueste Mode zu präsentieren. Es gibt so viel Leid in der Welt und ich werde etwas dagegen unternehmen, auch wenn Sie und mein Vater alles tun, um das zu verhindern.“

„Franzi!“ Julie legte den Arm um ihre Schultern und zog sie etwas von der Vorsteherin weg. „Mach doch nicht alles noch schlimmer!“

„Lass mich! Irgendwann muss es doch einmal gesagt werden! Mein Vater und Sie, Fräulein von Steinbach, wollen mich in den Käfig der besseren Gesellschaft sperren. Alles, was ich tue, ist böse oder eine Gefahr für mich, alles verbieten Sie mir. Sie begründen das mit Ihren lächerlichen gesellschaftlichen Regeln, drohen mit Strafen, wenn die Regeln gebrochen werden, mein Vater kommt obendrein noch mit seiner Bibel daher, und wenn alles nicht hilft, heißt es Das war schon immer so! – aber im Grunde wollen Sie beide nur das Eine: mir Ihren eigenen Willen aufzwingen!“

„Das genügt!“ Die meergrauen Augen der Vorsteherin fielen beinahe aus ihren Höhlen. „Du verkennst, was ich nur zu deinem Besten getan habe.“

„Gnädiges Fräulein“, mischte sich Julie ein, „Franzi ist erregt ...“

„Franziska lautet ihr Name!“, trompetete die Steinbach. „Julia von Götzen, du kannst gehen. Bei dir will ich Gnade vor Recht ergehen lassen, als Strafe wirst du jedoch eine Woche lang den Küchendienst übernehmen. – Franziska, du packst deine Koffer, du bist des Institutes verwiesen. Gleich am Montag wirst du abreisen. Ich telegrafiere deinem Vater, dass er dich in Habelschwerdt am Bahnhofe abholt. – Hinaus mit euch!“

Franzi ließ den Kopf hängen, doch da nahm Julie sie in den Arm.

„Du warst brillant, Franzi“, wisperte sie ihr ins Ohr. „Ich bin stolz auf dich.“

Franzi fühlte sich allerdings alles andere als stolz, wenn sie an ihren Vater dachte, der sie am Bahnhof in Habelschwerdt erwarten würde.

Ein durchdringender Pfiff der Lokomotive ließ Franzi zusammenzucken. Die Schaffner warfen die Türen zu, dann ruckte der Zug an und rollte langsam aus dem Schlesischen Centralbahnhof zu Breslau.

Franzi zog ihren Zopf nach vorn über die Schulter. Ihre Freundin Julie hatte ihr heute Morgen ein letztes Mal geholfen, ihre Locken zu bändigen – ihr Vater fand es nämlich ebenso wie Fräulein von Steinbach unschicklich, wenn sie ihre Haare offen oder auch nur als offenen Zopf trug. Und das, obwohl auch ihre Mutter meistens offenes Haar getragen hatte. Wahrscheinlich passte es ihrem Vater nicht, dass sie, die missratene Tochter, ihn an seine innig geliebte Gattin erinnerte. Einen sinnvollen Grund hatte er jedoch noch nie angegeben – das war eben schon immer so. Aber da sie ihren Vater unbedingt günstig stimmen musste, hatte sie sich heute dieser unsinnigen Regel unterworfen – er tobte bestimmt schon genug. Und ganz bestimmt hatte er sich schon einen Plan zurechtgelegt, wie er weiter mit ihr verfahren wollte – einen Plan, der schlimmer war als das Pensionat in Breslau. Denn Strafe musste schließlich sein.

„Psst!“

Sie fuhr zur Abteiltür herum. Sah sie Gespenster? „Julie, du?“ Sie hatte nicht einmal gehört, dass die Tür geöffnet worden war.

Ihre Freundin setzte ein breites Grinsen auf, ihre schwarzen Augen funkelten. „Glaubst du, ich bleibe allein im Pensionat? Ohne dich werde ich dort so verstimmt wie die Bratsche in einem kalten Keller!“ Sie wies auf den Instrumentenkoffer in ihrer Hand.

Franzi betrachtete ihn sehnsüchtig. Der Abschied von der Viola war ihr fast genauso schwer gefallen wie der von Julie. Aber das Instrument gehörte nun einmal ihrer Freundin.

„Ich kann es kaum glauben!“ Franzi schob ihren Koffer beiseite, damit Julie Platz fand. „Du hast einfach das Pensionat verlassen, obwohl du nicht fortgeschickt wurdest?“

Julie ließ sich in die Polster plumpsen, dass die Federn krachten. „Ich habe genug von diesem Gefängnis. Die Steinbach spielt sich ja auf wie ein preußischer Wachsoldat.“

„Aber was wird dein Onkel sagen?“

„Mein Onkel!“ Julie winkte lachend ab. „Bis die Nachricht von meiner Flucht aus dem Pensionat ihn in Daressalam erreicht und er darauf antwortet, bin ich schon längst auf einem Schiff nach Deutsch-Ostafrika.“

Franzi riss die Augen auf. „Du willst nach Deutsch-Ostafrika?“ Im Geist sah sie hohe Palmen vor sich, deren Wedel sich im warmen Wind wiegten. In den Geografiestunden, in denen sie die deutschen Schutzgebiete durchgenommen hatten, hatte sie ausnahmsweise zugehört. Seitdem träumte sie davon, den afrikanischen Kontinent einmal zu betreten.

„Wohin soll ich sonst? Mein Onkel ist doch der einzige Mensch auf der Welt, den ich noch habe – jedenfalls der einzige Mensch, der mich lieb hat. Meine Großmutter auf Schloss Scharfeneck ist ja ein zweibeiniger Eisblock.“

„Und du bist dir sicher, dass dein Onkel dich aufnehmen wird?“

„Aber selbstverständlich.“ Julie klimperte mit ihren Wimpern und schmunzelte. „Er wird sich so darüber freuen, mich zu sehen, dass er ganz vergessen wird, nach dem Grund dafür zu fragen.“

Franzi schaute auf ihre Hände hinab. Ob ihre beiden Tanten Stefanie und Lisa sie auch so verhätschelt hätten, wenn sie nicht schon gestorben wären, bevor ihre Eltern geheiratet hatten? „Wie kommt es eigentlich, dass dein Onkel dich so verwöhnt?“

„Ich habe mich das auch oft gefragt.“ Julies sonst so fröhliches Gesicht wurde plötzlich ungewöhnlich ernst. „Vielleicht hat er nur Mitleid mit seiner Nichte, die so früh Waise wurde? Oder aber es hat etwas mit dem Geheimnis um den Tod meiner Eltern zu tun. Es muss sich dabei wirklich um irgendetwas von außergewöhnlicher Tragweite handeln, warum sonst will niemand mit mir darüber sprechen? Meine Großmutter lehnt es ja bis heute rundweg ab, den Namen meiner Mutter überhaupt in den Mund zu nehmen, und meinen Vater erwähnt sie auch nicht mehr.“

Franzi starrte Julie an. Solche Geheimnisse faszinierten sie. „Und was ist mit deinem Onkel in Daressalam? Wenn er dich so mag, warum hat nicht wenigstens er dir etwas über deine Eltern erzählt?“

„Ich bin überzeugt, dass er weiß, wer meine Mutter war und weshalb meine Eltern so früh starben. Aber warum er ebenfalls nicht darüber redet, obwohl er sonst ganz anders zu mir ist als meine Großmutter und die übrigen Verwandten, verstehe ich auch nicht.“

„Und du hast es tatsächlich nicht geschafft, das Geheimnis zu ergründen?“

„Ich habe es bestimmt schon tausendmal versucht. Aber wenn ich nur meine Eltern erwähne, bekommt meine Großmutter jedes Mal einen Tobsuchtsanfall. Ihre Bediensteten trauen sich aus Angst vor ihr nicht, mir etwas zu sagen. Und mein Onkel ist zu weit weg, als dass ich ihn zum Reden bringen könnte.“

Franzi schüttelte den Kopf und sah aus dem Fenster, wo die flache Landschaft um Breslau von den Hügeln der Grafschaft Glatz abgelöst wurde. „Und was willst du jetzt tun? Dieser Zug fährt nicht nach Hamburg, wo die Dampfer der Deutschen Ostafrika-Linie ablegen.“

„Ich will zuerst nach Schloss Scharfeneck. Ich muss mich ja für die Reise in die Tropen ausrüsten. Für meine Großmutter werde ich schon eine Geschichte erfinden, damit sie mich nicht postwendend und in Ketten ins Pensionat zurückschickt.“

„Ich weiß, wie du deiner bärbeißigen Großmutter aus dem Weg gehen kannst.“ Franzi richtete sich auf. „Komm mit mir nach Wölfelsgrund.“

„Um mir stattdessen die Standpauke deines Vaters anzuhören?“ Julie lachte auf. „Niemals. Er hat dich doch schon in so vielen Briefen vor mir gewarnt, weil er in mir den Grund für dein missfälliges Verhalten ausgemacht hat.“

Das war leider nur zu wahr. Seit ihr Vater mit der Steinbach über ihre Untaten und ihr exzessives Bratschenspiel gesprochen hatte, war Julie von Götzen für ihren Vater ein böser Verkehr, der ihre guten Sitten verdarb. Trotzdem wäre es ihr eine große Beruhigung, ihre Freundin bei sich zu haben. „Bitte komm mit mir, Julie. Ich fürchte mich davor, meinem Vater allein gegenüberzutreten.“

„Meine Begleitung wird dir wenig nutzen.“

„Jedenfalls könntest du mich unterstützen. Und mein Vater wird es gewiss nicht wagen, mir vor Fremden eine Strafpredigt zu halten.“

Doch Julie schüttelte den Kopf. „Nein, Franzi, den Gefallen kann ich dir nicht tun. Aber komm du doch mit mir nach Scharfeneck – und von dort aus mit nach Deutsch-Ostafrika.“

„Nach ...?“ Franzi verschluckte sich beinahe. „Du meinst, ich sollte – durchbrennen?“

Ihre Freundin zuckte mit den Schultern. „Nenne es, wie es dir beliebt. Es war doch schon immer dein Traum, nach Afrika zu reisen. Und du willst armen Menschen etwas Gutes tun. Wo sonst hättest du so viel Gelegenheit dazu wie in Afrika?“

Franzi starrte auf ihre Schuhspitzen. Aber vor ihren Augen sah sie das Bild der sich wiegenden Palmen, auf ihrer Haut spürte sie den warmen Wüstenwind und in der Nase hatte sie schon den Duft von Orchideen und Oleander. Das Schaukeln des Zuges verwandelte sich in das Schwanken eines Kamels – was sie auch daran erinnerte, dass die Reise nach Afrika eine wochenlange Schifffahrt bedeutete. Bei ihrer Seekrankheit würde das vermutlich kein Vergnügen.

„Wie gerne würde ich dich begleiten. Aber wenn ich das tun will, muss ich doch zuerst eine medizinische Ausbildung haben.“ Eine Ausbildung, die ihr Vater ihr immer verweigert hatte, weil es sich für ein Mädchen, noch dazu ihres Standes, nicht geziemte.

Julies schwarze Augen funkelten. „Es gibt so viele Krankenstationen im Schutzgebiet, wo helfende Hände dringend gebraucht werden. Dort würdest du mit Handkuss willkommen geheißen und alles Notwendige blitzschnell lernen. Und Robert Koch ist doch ebenfalls in Deutsch-Ostafrika. Vielleicht kannst du im biologisch-landwirtschaftlichen Institut in Amani sogar persönlich von ihm etwas lernen.“

Robert Koch! Der Name elektrisierte sie. Sie hatte jeden Zeitungsartikel über den berühmten Mediziner verschlungen. Es war viel zu verlockend, ihn zu treffen und ihm vielleicht sogar bei seinen Forschungen helfen zu können, als dass Franzi das Angebot ihrer Freundin einfach so ausschlagen könnte.

Zwar würde sie am liebsten Medizin studieren, um selbst nach Heilmethoden für lebensbedrohliche Krankheiten forschen zu können. Denn wenn die medizinische Forschung nur wenige Jahre schneller gewesen wäre, würde ihre Schwester Charlotte heute wahrscheinlich noch leben, und ihre Mutter ebenfalls – und es galt, noch viele andere Krankheiten, die ähnlich schrecklich waren wie Diphtherie, zu bekämpfen. Doch ein Studium würde ihr Vater ihr erst recht nicht erlauben. Warum sollte sie dann nicht mit Julie nach Afrika gehen und dort etwas Sinnvolles aus ihrem Leben machen? Aber andererseits – sollte sie einfach so verschwinden? Ohne noch einmal mit ihrem Vater gesprochen zu haben? Es kam ihr feige vor, ihm nicht wenigstens den Grund zu nennen, der sie von zu Hause forttrieb.

„Nein.“ Sie sah Julie fest in die Augen und warf ihren Zopf über die Schulter. „Ich werde nach Hause fahren. Ich muss sehen, wie mein Vater mich aufnimmt. Ob er wirklich so streng ist, wie ich befürchte. Und sollte es so sein, werde ich erhobenen Hauptes gehen.“

Julie lächelte. „Die stolze Franzi. Aber ich hatte es mir schon gedacht.“

„Ich werde mich nicht heimlich davonschleichen. Wenn ich aus einer festen Überzeugung heraus gehe, werde ich diese Entscheidung auch vor meinem Vater vertreten.“

Der Zug hielt in Strehlen und Franzi beobachtete durchs Fenster einige Offiziere, die lärmend zustiegen. Als ein breitschultriger Hauptmann, dessen Schnurrbartspitzen wie Hellebarden in die Höhe standen, ihr ungeniert zulächelte, wandte sie den Blick schnell ab.

„Und dann ist da noch meine Großmama“, fuhr Franzi leise fort. „Sie ist für mich wie eine Mutter. Ich kann sie nicht ohne Abschied zurücklassen, vor allem, weil ich nicht weiß, ob ich sie dann jemals wiedersehen würde. Sie ist schon 77 Jahre alt.“

„Ich werde einige Tage auf Schloss Scharfeneck bleiben, bevor ich nach Hamburg fahre. Wenn du es zu Hause nicht aushältst und doch noch mitkommen willst, weißt du, wo du mich findest. Der Weg ist ja nicht weit.“

Franzi nickte, obwohl sie nicht sicher war, dass sie wirklich von zu Hause weggehen würde. Wenn sie an den freundlich rauschenden Hochwald und die friedlich plätschernde Wölfel dachte, konnte sie sich kaum vorstellen, fortzugehen, um nie wiederzukommen. Und auch an dem Forsthaus, das ihr Vater nach und nach zu einem Forstschloss ausgebaut hatte, hing sie, obwohl es für ihren Geschmack zu protzig geraten war. Ursprünglich war es wohl bescheidener gewesen, aber nach dem Tod ihrer Mutter hatte ihr Vater mit einigen kleinen Reparaturen angefangen, die dann immer weiter ausgeufert waren – ihre Großmama hatte es einmal seine Art der Trauerbewältigung genannt. Herausgekommen war schließlich der heutige Prunkbau, mit dem ihr Vater seine Standesgenossen zu beeindrucken versuchte.

Julie legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Ich hoffe, dass du mit mir kommen wirst. Wir haben schon so viele Abenteuer zusammen durchgemacht.“ Sie stand auf und griff nach ihren Taschen. „Die nächste Station ist schon Glatz, wo ich dich verlassen muss.“

„Du willst mich also wirklich allein lassen?“

„Ich mache dir ein Abschiedsgeschenk.“ Ihre Freundin setzte sich wieder neben sie und nahm ihren Bratschenkoffer auf den Schoß. „Du liebst dieses Instrument viel mehr als ich. Und du spielst es auch viel besser. Nimm es mit nach Wölfelsgrund – für immer.“

Fassungslos starrte Franzi ihre Freundin an. „Du – du willst mir deine Viola schenken?“ Über die Ferien ausgeliehen hatte sie sie ja schon öfter. Aber nun sollte sie die Viola für den Rest ihres Lebens behalten? „Sie ist doch ein Familienerbstück, oder nicht?“

„Ja, sie ist das Einzige, das mir von meinen Eltern geblieben ist. Aber mein Onkel hat mir, als er sie mir zu Beginn meiner Pensionatszeit geschenkt hat, gesagt, dass ich sie nicht mit nach Scharfeneck nehmen soll. Denn Großmutter solle nie erfahren, dass ich das Instrument besitze, weil sie es mir wahrscheinlich wegnehmen würde. Deshalb gebe ich es dir.“ Sie reichte ihr die Viola herüber.

Zart strich Franzi mit dem Fingerrücken über den Koffer. „Ich habe mich schon gefragt, wie ich es ohne Viola aushalten soll. Aber bist du dir ganz sicher, dass du sie mir geben willst?“

„Was habe ich von einem Familienerbstück, dessen Geschichte ich nicht kenne? Ich weiß nicht einmal, wer diese Bratsche gespielt hat. War es meine namenlose Mutter? Oder vielleicht mein Vater?“ Julie nahm sie in den Arm. „Nein, nimm du sie, Franzi. Und solltest du doch noch mit mir nach Deutsch-Ostafrika reisen, bringst du sie einfach wieder mit.“

Franzi musste lächeln und blinzelte gleichzeitig ihre Tränen weg. „Danke, Julie!“

Die Lokomotive stieß einen Pfiff aus und Julie sprang wieder auf. „Gleich sind wir in Glatz.“

Sie schnappte sich ihre Taschen und stürmte auf den Gang hinaus – tränenreiche Abschiedsszenen waren noch nie nach Julies Geschmack gewesen. Ein Offizier, der mit einigen Kameraden im Gang stand, eilte herbei und nahm ihr die Taschen ab.

Als der Zug mit kreischenden Bremsen im Bahnhof von Glatz hielt, riss Franzi das Fenster auf. Da verließ ihre Freundin den Zug – die Freundin, mit der sie Jahre im Pensionat verbracht hatte.

Julie winkte ihr noch einmal zu und wies dann den Offizier an, ihre Taschen einem Gepäckträger zu übergeben.

Rasch schloss Franzi das Fenster wieder, damit Julie ihre Tränen nicht sah, wandte sich um – und fuhr erschrocken zusammen. Da stand der breitschultrige Hauptmann mit dem Hellebarden-Schnauzbart in der Tür und grinste sie an.

„Gnä... Gnädiges Fräulein gestatten, dass ich Sie über den traurigen Abschied hinwegtröste.“

Der Hauptmann machte einen stattlichen Eindruck, und im ersten Augenblick war Franzi versucht, seine Gesellschaft anzunehmen. Doch das Glitzern in seinen Augen gefiel ihr nicht. Und dann roch sie seinen Atem. Alkohol. Für die Steinbach wäre er bestimmt der lebende Beweis, dass Männer gefährlich waren.

„Entschuldigen Sie.“ Seine Zunge schaffte es nicht mehr, die Worte sicher zu formen. „Ich vergaß, mich vorzustellen. Emil Schröder, Hauptmann im Granedier... Grienedar... Gre-nie-dir-Rigiment König Friedrich III.“ Er plumpste auf den Sitz, auf dem Julie eben noch gesessen hatte, und starrte sie an. „Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass Sie fanta... fanstatisch blaue Augen haben?“

Um ihre Augenfarbe hatte Julie sie schon immer beneidet, aber von diesem alkoholisierten Hauptmann wollte sie keine Komplimente hören. „Bitte verlassen Sie sofort mein Coupé.“

„Warum so unfreundlich, mein schönes Kind? Was haben Sie gegen einen aufrechten Soldaten unseres Kösers und Kainigs – Kai... Kaisers und Königs?“

„Gegen aufrechte Soldaten habe ich nichts.“ Sie versuchte, so viel Festigkeit wie möglich in ihre Stimme zu legen. „Sie aber, Herr Hauptmann, sind nicht mehr aufrecht, sondern sturzbetrunken.“

„Aber das ist aus... ausgeschlossen.“ Er hickste. „Ich bin so nüchtern wie der Pfarrer am Sonntagmorgen.“

Mit erstaunlicher Behändigkeit haschte er nach ihrer Hand und zog sie neben sich auf den Sitz. Im gleichen Augenblick wurden die Türen zugeworfen und der Zug ruckte an.

Franzi stieß einen spitzen Schrei aus. „Lassen Sie mich sofort los, sonst rufe ich um Hilfe!“

Er lachte und hüllte sie damit in eine Wolke aus Alkoholdunst. „Nicht so zimperlich, mein schönes Kind.“ Er versuchte, einen Arm um sie zu legen.

„Ich bin nicht Ihr schönes Kind. Und jetzt verlassen Sie augenblicklich das Coupé, sonst sorge ich dafür, dass Sie ein Disziplinarverfahren wegen ungebührlichen Verhaltens einer Dame gegenüber erhalten.“

„Oh nein, mein schönes Kind.“ Er stand auf und stocherte mit dem Zeigefinger in der Luft herum. „So herzlos können Sie doch nicht sein. Ich muss für eine Woche ins Mö... Me... Manevör, da können Sie mich doch nicht so rüde zurückweisen.“

Sie stieß ihn mit beiden Fäusten vor die Brust, dass er auf den gegenüberliegenden Sitz taumelte und mit dem Kopf gegen die Wand des Abteils donnerte.

„Aber mein schönes Kind ...“ Er rülpste. „Wiss... Wissen Sie überhaupt, was ein Ma... Menöver ist? Wir ziehen so... suzosagen in den Krieg, sim... similieren Kriegsum... ...umstände ...“

„Natürlich weiß ich, was ein Manöver ist! Und jetzt hinaus mit Ihnen!“

„Was geht hier vor?“

Beim Klang der barschen Stimme fuhr Franzi vom Sitz auf. In der Abteiltür stand ein weiterer Offizier, doch der kleine, schmächtige Leutnant würde bestimmt keine große Hilfe sein.

„Schröder, was fällt Ihnen ein, die Dame zu belästigen?“ Die volltönende Stimme passte so gar nicht zu der schmächtigen Figur des Leutnants.

„Aber Schenck“, stotterte der Hauptmann. „Dieses schöne Kind hat mich hereingebeten ...“

„Lügner!“ Franzi ballte die Faust. „Wenn Sie mich schon belästigen, dann stehen Sie auch wenigstens dazu und versuchen sich nicht mit einer Lüge feige herauszureden.“

„Feige?“ Schröder rollte mit den Augen. „Sie nnn... nennen mich fff... feige?“

Mit einem Schritt war der kleine Leutnant bei dem Hauptmann und riss so heftig an seinem Arm, dass er mit einem Schwung auf seinen Füßen stand. Dann schob er ihn kurzerhand auf den Gang hinaus, wo Schröder gegen ein Fenster taumelte. Als der Zug über eine Weiche fuhr, wurde Schröder gegen die andere Wand des Ganges geschleudert und konnte sich nur mühsam auf den Beinen halten.

Der Leutnant drehte sich wieder zu Franzi um und rückte seine Schirmmütze zurecht. „Bitte verzeihen Sie, gnädiges Fräulein. Ich werde dafür sorgen, dass der Herr Hauptmann Sie nicht wieder belästigt.“

Bewundernd starrte Franzi den schmalen Offizier an und knickste. „Ich danke Ihnen, Herr Leutnant.“ Männer waren also doch nicht alle gefährlich.

Er schlug die Hacken zusammen. „Leutnant Moritz von Schenck, zu Ihren Diensten, gnädiges Fräulein.“

Dieser Mann war erstaunlich. Seine Figur sah alles andere als kraftvoll aus, aber das schien er durch große Energie wettzumachen. Und seine Augen! Wenn der Hauptmann gerade ihre eigenen Augen bewundert hatte – die des kleinen Leutnants waren mindestens ebenso auffallend blau. Und irgendwie kam er ihr bekannt vor. War das nicht der Leutnant, der bei der Parade in Breslau den Befehl verpasst hatte? Jedenfalls war der auch klein gewachsen gewesen.

Leutnant von Schenck nickte ihr mit der Andeutung eines Lächelns noch einmal zu, dann schloss er die Abteiltür.

Franzi sank auf den Sitz, doch da pfiff die Lokomotive schon wieder – das musste Habelschwerdt sein. Sie schloss für einen Augenblick die Augen, um sich auf den Empfang, der sie erwartete, vorzubereiten. Dann stand sie auf, nahm ihr Gepäck und die Viola und trat auf den Gang hinaus.

Dort stand der kleine Leutnant wie der Wachposten vorm Breslauer Stadtschloss und schien darauf zu achten, dass sich niemand ihrem Abteil näherte. Mit einer eleganten Verbeugung nahm er ihr den Koffer ab.

Schnaufend und fauchend fuhr der Zug in den kleinen Bahnhof von Habelschwerdt ein. Schenck öffnete die Tür, sprang auf den Perron und nahm ihr Gepäck entgegen. Doch als sie ihm die Viola hinausreichen wollte, wurde der Leutnant plötzlich von einem Herrn im eleganten Gehrock beiseitegeschoben.

„Ich mache das schon. Gehen Sie nur.“

Ihr Vater.

* * *

Schnaufend und fauchend fuhr der Zug in den Bahnhof von Habelschwerdt ein.

Graf Ferdinand Grüning von Wedell faltete die Hände und richtete seinen Blick zum Himmel. „Herr Jesus, bitte hilf mir, richtig mit Franziska umzugehen.“

Es war schon viel zu oft zum Streit mit seiner Tochter gekommen, und wahrscheinlich war er selbst nicht immer unschuldig daran gewesen. Aber irgendwie musste seine Tochter doch begreifen, dass es mit ihren Eskapaden so nicht weitergehen konnte. Der Verweis vom Pensionat war der beste Beweis dafür.

Endlich hielt der Zug und die Türen flogen auf. Als Erstes sah Ferdinand einige Offiziere, die auf den Perron sprangen. Richtig, der Bürgermeister hatte ihn ja informiert, dass im Hochwald ein Manöver stattfinden sollte. Ausgerechnet zu der Zeit, in der Franziska zu Hause sein würde, die viel zu sehr von Offizieren fasziniert war. Er würde gut auf sie achtgeben müssen.

Da erschien Franziskas blonder Kopf, der ihn an ein Weizenfeld im August erinnerte. Ein kleiner Offizier stand vor ihr auf dem Perron und nahm ihr den Koffer ab. Sie schenkte ihm ein Lächeln, das für seinen Geschmack viel zu freundlich, wenn nicht gar anhimmelnd war. Das fing ja gut an! Kaum stieg Franziska aus dem Zug, poussierte sie schon mit einem Offizier!

Mit wenigen Schritten bahnte Ferdinand sich einen Weg durch die Menge auf dem Perron und schob den Offizier beiseite. „Ich mache das schon. Gehen Sie nur.“

Franziska verdrehte die Augen, doch Ferdinand drehte sich demonstrativ zu dem Leutnant um und richtete sich hoch auf.

„Ich bin der Vater dieser Dame.“

Der Soldat rückte an seiner Schirmmütze. „Diese Rolle werde ich Ihnen nicht streitig machen.“

„Sie! Was wollen Sie damit sagen?“

„Dass ich nicht die Absicht habe, Ihre Tochter zu adoptieren.“ Der Leutnant wandte sich an Franziska und verbeugte sich formvollendet. „Gehaben Sie sich wohl, gnädiges Fräulein.“

Als Franziska dem Soldaten die Hand zum Kuss reichte, hätte Ferdinand sie am liebsten weggeschlagen. Endlich entfernte sich der Offizier, und Franziska sprang mit einem zweiten, unförmigen Koffer auf den Perron.

„Möchtest du mir nicht erklären, wie du an die Begleitung dieses windigen Offiziers kommst?“

„Möchtest du mich nicht begrüßen, Vater?“

Ferdinand ließ den Kopf hängen. „Du hast recht, entschuldige, Franziska.“ Er breitete die Arme aus.

Doch sie wich seiner Umarmung aus und ergriff nur seine Hand. „Leutnant von Schenck stand mir in einer misslichen ...“

„Du kennst bereits seinen Namen?“ Ferdinand spürte, wie die Angst nach ihm packte. Es war ja hinreichend bekannt, dass Offiziere sich in Friedenszeiten darauf verlegten, unschuldige Frauen zu erobern.

„Wie ich zu sagen versuchte, stand er mir in einer misslichen Lage bei und nannte mir dabei seinen Namen.“

„Die missliche Lage ging wohl eher von dem Offizier selbst aus.“ Seine Tochter war für die Reize von Offizieren in glänzenden Uniformen viel zu empfänglich. Und wohin solch unselige Neigungen führen konnten, hatte er am eigenen Leib erfahren, als er den Reizen eines schillernden Fräuleins erlegen war. Er würde mit allen Mitteln verhindern müssen, dass Franziska denselben Fehler machte.

„Können wir nicht zum Wagen gehen?“ Sie legte ihren Zopf nach vorn über die Schulter – immerhin trug sie ihr Haar nicht offen.

Er winkte seinen Kutscher herbei, der das Gepäck aufnahm. „Was bitte ist das für ein Koffer?“ Ferdinand wies auf das unförmige Gepäckstück, das Franziska nicht aus der Hand gab. Sollte sie etwa wieder dieses Götzen-Instrument mitgebracht haben?

Sie fuhr mit dem Zeigefinger über den Koffer. „Das ist die Viola meiner Freundin. Sie hat sie mir anvertraut, weil ich sie so gerne spiele.“

„Julia von Götzen?“ Er hatte seine Tochter hin und wieder im Pensionat besucht – meistens, weil die Vorsteherin ihn wegen Schwierigkeiten mit Franziska herbeigerufen hatte – und hatte dabei auch das schwarzhaarige Mädchen kennengelernt, das Fräulein von Steinbach als Ursache allen Übels dargestellt hatte.

„Ja, es ist Julies Viola.“ Franziska drückte den Koffer an sich, während sie zum Wagen gingen.

„Du weißt, dass ich dein übertriebenes Spiel nicht dulde. Ich habe dir damals nicht umsonst die Geige weggenommen. Und es ändert auch nichts, dass es sich bei diesem Instrument um eine Bratsche handelt.“ Also wieder die Bratsche dieser Julia von Götzen. Vielleicht sollte er froh sein, dass seine Tochter aus dem Pensionat heraus und damit dem schlechten Einfluss dieses Mädchens entzogen war. Allerdings stand sie nun ohne Abschluss da.

„Die Viola wirst du mir nicht wegnehmen!“ Franziska funkelte ihn an und umschlang das Instrument so fest, dass der Koffer zu krachen begann.

„Unter der Bedingung, dass du nur eine halbe Stunde am Tag spielst – keine Minute länger.“

„Vater!“ Sie krampfte die Finger um den Griff des Bratschenkoffers, dass die Knöchel weiß wurden.

„Keine Widerrede.“ Wenn er nicht mit harter Hand durchgriff, würde seine Tochter ihm noch vollends entgleiten.

Sie bestiegen den Wagen, der Kutscher sprang auf den Bock, und dann fuhren sie mit klappernden Hufen durch die Gassen von Habelschwerdt.

Aus dem Augenwinkel beobachtete Ferdinand seine Tochter. Franziska starrte stur geradeaus, die Bratsche wie ein Kleinkind im Arm haltend. Sie biss die Zähne zusammen, dass die Kieferknochen hervortraten. – Er sollte es mit Freundlichkeit versuchen.

Ferdinand wandte sich seiner Tochter zu und sah ihr in die kornblumenblauen Augen. „Bitte verzeih mir, Franziska, dass ich dich am Bahnhof direkt mit meinen Sorgen überfiel. Du musst verstehen, dass mir dein Verweis vom Pensionat einen Schrecken versetzt hat.“

„Es ist doch lächerlich, dass die Steinbach mich wegen einer solchen Lappalie hinausgeworfen hat.“

„Das, was sie mir depeschiert hat, war durchaus keine Lappalie.“

„Natürlich hat sie alles viel schlimmer dargestellt, als es wirklich war.“ Franziska knetete ihre Finger im Schoß. „Ich habe nur mit Julie einer Parade beigewohnt, mehr nicht.“

Mit Julia also. Bestimmt war dieses schwarzhaarige Mädchen wieder die Anstifterin gewesen. Er würde jeden Kontakt zu dieser Komtesse Götzen unterbinden. „Wie ich hörte, war es aber nicht nur die Parade. Ihr habt eine Krankheit simuliert ...“

Über Franziskas Gesicht huschte ein schelmisches Grinsen, das sie schnell hinter einer Hand verbarg. „Das war der einzige Weg, dem langweiligen Ausflug zu entgehen.“

Unwillkürlich musste auch Ferdinand schmunzeln. Rasch sah er zur Seite. Seine Tochter durfte nicht merken, wie sehr ihn diese Vorstellung amüsierte – vor allem, weil sie ihm so ähnlich war. Wenn er daran dachte, welche Schauspielereien er in seiner Jugendzeit ausgeheckt hatte ... Dagegen war Franziskas Vergehen wirklich beinahe harmlos. „Und was ist mit dem Bier unter euren Betten?“

„Das haben wir gar nicht selbst getrunken.“

„So, nicht selbst getrunken. Und warum stand es dann unter euren Betten?“

Franziska presste die Lippen aufeinander, dass sie weiß wurden.

„Nun? Fällt dir keine plausible Ausrede ein?“

„Ich brauche keine Ausrede.“

„Dann lass mich die Wahrheit hören.“

„Ich habe sie dir bereits gesagt: Wir haben das Bier nicht selbst getrunken.“

„Was habt ihr dann damit getan? Ihr hattet es doch nicht umsonst unter euren Betten stehen.“

„Das kann ich nicht sagen.“

Ferdinand schüttelte den Kopf. Der Gedanke, dass seine Tochter heimlich Alkohol trinken könnte, war für ihn unerträglich. „Wenn du mir keinen guten Grund angeben kannst oder willst, muss ich doch glauben, du habest es selbst getrunken.“

„Vater!“ Ihre blauen Augen funkelten ihn an. „Willst du mir unterstellen, ich würde nicht die Wahrheit sagen? Glaubst du wirklich, ich würde mit Julie zusammen heimlich Bier trinken?“

„Was soll ich denn sonst glauben, wenn unter deinem Bett Bier gefunden wird? Und du keine andere plausible Begründung vorbringst?“

Sie ließ den Kopf hängen. „Du glaubst mir also nicht“, flüsterte sie.

Er atmete tief durch. Sie hatten die Kreisstadt Habelschwerdt inzwischen hinter sich und der harzige Duft der Wälder gab ihm ein wenig Ruhe. „Franziska, lass uns doch vernünftig miteinander reden. Fräulein von Steinbach hat dich ihrer Anstalt verwiesen – also liegen ausreichend Gründe dafür vor.“

„Du bist genauso wie sie“, fauchte sie. „Warum habe ich eigentlich noch gehofft, du könntest Verständnis für mich haben?“

Wie sehr wünschte er sich in solchen Situationen, seine Frau würde noch leben. Lena hätte bestimmt die richtigen Worte gefunden, um das Herz ihrer Tochter zu erreichen. „Du musst doch begreifen, dass ich dein Verhalten nicht gutheißen kann. Ich will dir zugutehalten, dass du unter dem schlechten Einfluss von Julia von Götzen standest, aber das ist keine Entschuldigung für den Verweis vom Pensionat.“

„Es ist nicht ihr Einfluss.“ Sie reckte die Nase in die Luft und schob das Kinn vor. „Julie wurde nicht einmal hinausgeworfen, sondern nur ich.“

„Und dann behauptest du, deine Vergehen seien Lappalien gewesen?“

„Ach Vater, du glaubst mir ja doch kein Wort.“

Er seufzte tief auf. Was hatte er nun wieder falsch gemacht, dass Franziska sich so vor ihm verschloss? Warum mussten alle Gespräche mit ihr so enden? Und es war ja nicht nur Franziska, auch mit seinen Söhnen Claus Ferdinand und Friedrich Wilhelm gab es immer wieder ähnliche Diskussionen. „Ich verstehe deine Uneinsichtigkeit nicht. Begreifst du denn nicht, dass du etwas falsch gemacht hast und nun die Folgen trägst?“

„Ich habe die Regeln des Pensionats gebrochen, ja. Aber selbst wenn nach deinen Prinzipien jeder Regelverstoß eine Strafe nach sich ziehen muss, rechtfertigt das nicht eine solch drakonische Strafe. Du magst reden, solange du willst, Vater, das werde ich niemals einsehen. Fräulein von Steinbach und du, ihr seid doch alle nur scheinheilige Menschen, die die Fehler anderer ausposaunen, um die eigene Unvollkommenheit zu vertuschen.“

„Franziska!“ Ferdinand wäre beinahe aufgesprungen. „Du weißt doch genau, dass dieser Vorwurf nicht stimmt!“

„Und ob er stimmt! Ihr Christen wollt doch immer vollkommen sein, und da euch das nicht gelingt, müsst ihr die Fehler anderer herausstellen.“

Ihr Christen. Ferdinand vergrub das Gesicht in den Händen. Das war das Schlimmste: Franziska lehnte den Glauben an Jesus Christus, der ihm Lebensinhalt war, vehement ab.

Der Wagen bog nach Wölfelsgrund ab. Doch Ferdinand konnte sich nicht an der Schönheit seiner Heimat erfreuen. Wie Bleigewichte hing die Sorge um Franziska an seinem Herzen. Er griff nach ihrer Hand, doch sie zog sie rasch weg und sah geflissentlich zur Seite.

„Ich meine es doch nur gut mit dir“, versuchte er es erneut. „Ich möchte, dass du ein rechtschaffenes Mädchen wirst und ...“

„Hör auf!“ Sie hielt sich die Ohren zu. „Ich kann dieses Gefasel nicht mehr hören! Mein Leben soll nicht nur aus schönen Kleidern, züchtigen Plaudereien und gehorsamem Ehefrauendasein bestehen. Ich möchte etwas aus meinem Leben machen! Bitte, Vater“ – jetzt sah sie ihn wieder an –, „lass mich Ärztin werden.“

Ferdinand stockte der Atem. „Lass doch diese abstruse Idee. Das ist für eine Frau völlig unangemessen. Und außerdem werde ich dich kaum an eine Universität schicken, wo du gerade des Pensionats verwiesen wurdest!“

Ihre Stimme wurde immer leiser. „Vater, ich bitte dich darum.“

Er konnte sich denken, wie schwer Franziska diese Worte fielen. Doch er konnte ihr diesen Wunsch unmöglich erfüllen. In der Gesellschaft würde es einen Aufschrei geben, wenn er seiner Tochter ein Studium erlauben würde. Das konnte er sich einfach nicht leisten! Er war erst vor knapp dreißig Jahren nobilitiert worden und bei seinen Standesgenossen immer noch nicht voll akzeptiert. Eine Tochter, die aus dem Rahmen fiel, würde seinem Ansehen nur schaden. Und seine Glaubensgeschwister würden ihn erst recht schief anschauen, wenn er seine Tochter studieren ließ. Das wäre ein Skandal! „Es geht nicht, Franziska.“

„Und warum erfüllst du meinen Brüdern jeden Wunsch?“ Alle Sanftheit wich aus Franziskas Stimme. „Claudinand möchte Offizier werden – du erlaubst es. Fritz möchte sogar bei der Garde in Berlin dienen – du erlaubst es. Sie machen das Töten zu ihrem Beruf – du erlaubst es. Aber wenn ich anderen Gutes tun will, schmetterst du es mit einem Nein ab.“

Ferdinand sah zu den Villen hinüber, die die Straße in Wölfelsgrund säumten. „Für einen jungen Mann von Adel ist es eben normal, in der Armee zu dienen. Aber als Mädchen zu studieren ...“

„Ich kann dir den wahren Grund sagen.“ Franziska sah ihn an, ihre Augen sprühten Blitze. „Du hast mir nie verziehen, dass es meine Geburt war, bei der Mama starb. Und kurz darauf deine älteste Tochter, die bestimmt ein Ausbund an Frömmigkeit und Wohlerzogenheit geworden wäre.“

„Franziska! Du weißt genau, dass das nicht wahr ist!“

„Jetzt glaube ich dir kein Wort. Schließlich kann ich mir dein Verhalten nicht anders erklären.“ Sie senkte den Kopf, ihre Stimme klang erstickt. „Und dabei wünsche ich mir nichts sehnlicher als eine Mutter, die mich wahrhaft liebt. Und eine große Schwester, die mich versteht.“

„Franzi – Töchterchen!“ Er streckte den Arm aus, um ihn ihr um die Schultern zu legen, doch sie schüttelte ihn ab.

„Fass mich nicht an! Am liebsten würde ich direkt wieder umkehren und zu Julie reisen, anstatt in dieses liebelose Forstschloss zu kommen.“ Ihre Faust schloss sich um das Ende ihres Zopfes und sie zog so heftig daran, dass es ihm schon beim Zuschauen wehtat.

Er legte die Hände über die Augen und schwieg. Jedes weitere Wort würde alles nur noch schlimmer machen, als es ohnehin schon war. Hoffentlich gelang es seiner Mutter, mäßigend auf Franziska einzuwirken. Und zum Glück kam auch Claus Ferdinand in einigen Tagen auf Urlaub nach Hause. Sein besonnener Ältester hatte immer einen guten Einfluss auf Franziska ausgeübt, vielleicht schaffte er es, die Wogen zu glätten.

Julies Herz machte fünf Schläge pro Sekunde, als die Droschke durch den Torbogen von Schloss Scharfeneck rumpelte und dann im Schlosshof hielt. Der Kutscher öffnete den Schlag und sie sprang hinaus.

„Bitte bringen Sie meinen Koffer in die Eingangshalle.“

Julie raffte ihren Rock und stieg die Stufen der Freitreppe hinauf. Als sie die große Halle betrat, fröstelte sie. Das ganze Schloss strahlte eine Atmosphäre der Kälte aus, obwohl im Kamin ein Feuer brannte.

Der alte Diener, der hier gleichsam zum Inventar gehörte, stelzte auf sie zu, als wäre sein Rückgrat eine Eisenstange. Nur ein winziges Zucken seiner Augenbrauen verriet seine Überraschung. Er verbeugte sich, ohne dabei den Oberkörper zu krümmen.

„Bitte melden Sie mich meiner Großmutter.“

Wieder eine steife Verbeugung, dann entschwand der Diener lautlos die Treppe hinauf.

Julie trat vor den Kamin und rieb sich die Hände, doch die Kälte wollte sich nicht vertreiben lassen.

Auf diesem Schloss würde sie es nicht lange aushalten. Der Empfang durch ihre Großmutter würde mindestens genauso kalt ausfallen wie der durch den Diener. Selbst die Überraschung über das plötzliche Auftauchen ihrer Enkelin würde ihre Großmutter nicht aus ihrer Starre reißen.

Kurze Zeit später kam der Diener gemessenen Schrittes wieder die Treppe hinab, blieb in gebotenem Abstand vor Julie stehen und knickte wieder den Oberkörper in der Hüfte nach vorne. „Die gnädige Frau Gräfin lassen bitten“, näselte er.

Dann stieg er vor ihr die Treppe hinauf, so langsam, als würde er das Erreichen jeder einzelnen Stufe genießen. Vor einer zweiflügeligen Tür blieb er stehen und ließ seine Fingerknöchel dezent gegen das massive Holz pochen.

„Ich lasse bitten“, tönte es von innen.

Der Diener öffnete beide Flügel und brachte seine unvermeidliche Verbeugung erneut in Anwendung. „Die gnädige Frau Gräfin lassen bitten.“

„Das sagten Sie bereits“, brummte Julie, als sie an ihm vorbei in den Salon ihrer Großmutter trat. Hinter ihr schlossen sich lautlos die Türflügel.

Gräfin Helena Wilhelmina Katharina von Götzen thronte auf einem hochlehnigen Sessel und verbarg ihr Gesicht hinter einer ausladenden Zeitung. Als Julie sich räusperte, ließ sie die Zeitung sinken und faltete sie raschelnd zusammen. „Julia, was wünschest du?“

Das Gesicht ihrer Großmutter war wie aus Marmor gemeißelt. Nicht der Hauch eines Lächelns erwärmte ihre Züge, kein Funken von Freude zeigte sich in ihren Augen, die grau waren wie der Himmel im November. Ebenso grau war das streng zurückgekämmte Haar. Kein einziges Härchen lag an der falschen Stelle.

Julie knickste. „Ich musste das Pensionat verlassen, Großmutter.“ Das stimmte zwar nicht, aber wenn sie zugab, das Pensionat freiwillig verlassen zu haben, würde ihre Großmutter sie wahrscheinlich sofort wieder dorthin zurückschicken.

„Aus welchem Grunde?“ Ihre Großmutter ließ auch kein Anzeichen von Ärger sehen.

„Fräulein von Steinbach beschuldigte meine Freundin und mich, einige Regeln übertreten zu haben.“

„Sicherlich zu Recht. – Und du glaubst, nun einfach wieder hier auf Scharfeneck einziehen zu können?“