Gescheiterte Flucht - Michael Meinert - E-Book

Gescheiterte Flucht E-Book

Michael Meinert

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Beschreibung

Schlesien, um 1850. Oberförster Albert Grüning lebt zurückgezogen hoch oben im Wald. Erfolgreich verjagt er mit seiner ungehobelten Art jeden, der in seine Einsamkeit vorzudringen wagt. Doch als zunächst ein Wilddieb und wenig später die junge Rahel von Bredow in seinem Forst auftauchen, ist es um seine Ruhe geschehen. Seine Vorgesetzten setzen ihn wegen des Wilddiebs unter Druck. Gleichzeitig muss er sich eingestehen, dass die gottesfürchtige Rahel für ihn mehr als nur eine Sommerfrischlerin ist. Und dann erscheint auch noch ein Feind aus seiner verdrängten Vergangenheit im Forsthaus. Ist seine Flucht vor Gott und der Vergangenheit gescheitert? Aber so schnell gibt Grüning nicht auf ...

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Schlesien, um 1850. Oberförster Albert Grüning lebt zurückgezogen hoch oben im Wald. Erfolgreich verjagt er mit seiner ungehobelten Art jeden, der in seine Einsamkeit vorzudringen wagt. Doch als zunächst ein Wilddieb und wenig später die junge Rahel von Bredow in seinem Forst auftauchen, ist es um seine Ruhe geschehen. Seine Vorgesetzten setzen ihn wegen des Wilddiebs unter Druck. Gleichzeitig muss er sich eingestehen, dass die gottesfürchtige Rahel für ihn mehr als nur eine Sommerfrischlerin ist. Und dann erscheint auch noch ein Feind aus seiner verdrängten Vergangenheit im Forsthaus. Ist seine Flucht vor Gott und der Vergangenheit gescheitert? Aber so schnell gibt Grüning nicht auf ...

Die Hochwald-Saga spielt in der schlesischen Grafschaft Glatz und der Provinzhauptstadt Breslau. Über drei Generationen, von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, wird die wechselvolle Geschichte einer eng mit den schlesischen Wäldern verbundenen Familie erzählt.

Michael Meinert wurde 1979 in Datteln geboren. Er ist verheiratet und lebt heute in Mülheim an der Ruhr. Schon als Kind fand er zum Glauben an Jesus Christus. In der Hochwald-Saga, in der er tiefgehende und aktuelle Glaubensthemen mit der Handlung verwebt, entführt er die Leser ins historische Preußen.

www.michael-meinert.eu

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Die Bibelzitate sind der Elberfelder Übersetzung

(Edition CSV Hückeswagen) entnommen.

Titelfotos:

Wald © R_K_by_Erich Keppler_pixelio.de

Jäger © Bergringfoto - Fotolia.com

Junge Frau © dondoc-foto - Fotolia.com

Foto Coverrückseite: © Tim Fuhrländer

Lektorat: Friedhelm von der Mark

Umschlaggestaltung und Satz:

DTP-MEDIEN GmbH, Haiger

eBook Erstellung:

Stefan Böhringer, eWort

Paperback:

ISBN 978-3-942258-05-0

Art.-Nr. 176.805

eBook (ePub):

ISBN 978-3-942258-55-5

Art.-Nr. 176.855

Copyright © 2012 BOAS media e. V., Burbach

Alle Rechte vorbehalten

www.boas-media.de

 Karte: © 52 Pickup – wikipedia.org (Lizenz: CC BY-SA 3.0)

Prolog

31. Dezember 1829

Wie riesige Männer aus Schnee und Eis standen die uralten Wettertannen des Waldes rechts und links des Weges. Überhaupt bestand die Welt scheinbar nur noch aus einer eisigen Wand und der panischen Angst in ihm.

Unbarmherzig presste er seinem schnaufenden Pferd die Sporen in die Seiten. Trotzdem hatte er das Gefühl, als wären die Hufe des Tieres am Waldboden festgefroren. Aber die vorbeisausenden Bäume belehrten ihn eines anderen. Er verließ sich ganz auf den Instinkt des Pferdes, denn die Helligkeit des Schnees war machtlos gegen die zwischen den Bäumen noch finsterer wirkende Nacht. Zudem musste er wegen der dicht fallenden Schneeflocken, die wie Nadeln in sein Gesicht stachen, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkneifen.

Er beugte sich weit über den Hals seines Hengstes. „Asael, heute Nacht musst du laufen, wie du noch nie in deinem Leben gelaufen bist“, keuchte er ihm ins Ohr.

Das kluge Tier schien ihn zu verstehen, denn es steigerte seinen rasenden Galopp noch weiter, sodass es mit dem Bauch fast den Boden berührte.

Er wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn, wobei er nicht unterscheiden konnte, ob das Wasser, das ihm unablässig in die Augen lief und ihm die schlechte Sicht noch zusätzlich trübte, vom stärker werdenden Schneetreiben oder vom Schweiß kam, der trotz der grimmigen Kälte in großen Tropfen an seiner Stirn herunterfloss.

„Oh Gott!“, rief er in den eisigen Wald hinein. „Oh Gott! Lass mich sie erreichen! Du musst mich sie erreichen lassen!“ Was war nur in ihn gefahren, dass er sie so behandelt hatte? Er begriff sich selbst nicht mehr, und er konnte nur hoffen, dass diese Einsicht nicht zu spät kam.

Wie viele Stunden waren vergangen, seitdem er sie fortgeschickt hatte? Fünf? Sechs? Und wie viele Stunden jagte er bereits hinter ihr her? Er wusste es nicht, es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Jedenfalls viel zu lange für ein zu Tode erschöpftes Mädchen auf einem ebenso erschöpften Pferd.

„Oh Gott, lass mich sie finden!“, schrie er seine Verzweiflung wieder in die finstere Winternacht hinaus. War er überhaupt noch auf dem richtigen Weg? Ritt er nicht schon viel zu lange durch diesen schaurigen Wald? Wie sollte er sich auch orientieren, mitten in der Nacht, im Wald, peitschende Flocken um sich herum?

Wieder fuhr er sich mit dem Ärmel über die Augen. Täuschte er sich oder wurde es vor ihm etwas heller? Sollte dieser endlose Wald doch ein Ende nehmen?

„Lauf, Asael!“, trieb er sein Pferd an, dem die Schaumflocken um das Maul flogen. „Wenn wir sie gefunden haben, darfst du ausruhen, solange du willst.“

Doch jetzt steigerte der Hengst seine Geschwindigkeit nicht mehr, er musste dem andauernden Galopp Tribut zollen.

Stattdessen bemerkte der Reiter, dass die Bäume rechts und links von ihm zurücktraten. Er parierte das Pferd durch und versuchte, mit seinen Augen die weiße Wand vor ihm zu durchdringen. Doch die wirbelnden Flocken verschluckten alle Konturen, eine öde, grau-weiße Fläche gähnte ihn an. Wie ein Leichentuch, schoss es ihm durch den Kopf.

Er ließ sein Tier noch einige Ellen vorwärtsgehen, um dann kopfschüttelnd erneut anzuhalten. Eigentlich müsste er jetzt trotz der schlechten Sicht die Lichter der Stadt vor sich sehen, doch da war nichts. Ungeduldig schlug er mit der geballten Faust auf den Sattelknopf. Es konnte nicht anders sein, er musste die Weggabelung im Wald verpasst haben. Deshalb kam ihm der Weg durch den Wald auch viel zu weit vor.

Er zerbiss einen Fluch zwischen den Zähnen. Es durfte nicht wahr sein! Nun war er fast eine Meile umsonst geritten! Aber alles Schimpfen half ihm nicht. „Wir müssen zurück, Asael.“

Müde hob das Tier den Kopf, ließ sich aber willig wenden und in den Wald zurücklenken. Und erneut begann der rasende Ritt, zuerst in vollstem Galopp, doch als er glaubte, die Nähe der Weggabelung erreicht zu haben, ließ er das Pferd in den Trab zurückfallen.

Scharf lugte er nach links, wo zwischen den grauen Schatten der Bäume, an deren Ästen die Eiszapfen wie Schwerter hingen, der schmale Weg abzweigen musste, den er vorhin verpasst hatte. Abermals wischte er sich das Wasser aus den Augen, um nur ja die Gabelung nicht noch einmal zu verfehlen.

Und dann entdeckte er am linken Wegesrand den windschiefen Wegweiser, der eigentlich den Weg zur nahen Stadt weisen sollte, jetzt aber völlig zugeschneit war. Kurz hielt er Asael noch einmal an, um den Boden nach Hufspuren abzusuchen, doch der fallende Schnee hatte alle Spuren verwischt. Also gab er seinem Tier die Sporen, dass es ein protestierendes Wiehern von sich gab, sich aber trotzdem seinem Willen beugte und wieder in Galopp fiel. Bald musste zur Rechten auf einer kleinen Lichtung das Wegkreuz stehen, an dem er sich neu orientieren konnte.

„Gott, ich weiß nicht, was ich tue, wenn ich zu spät komme“, murmelte er vor sich hin. Er hob den Kopf und schrie in die tanzenden Flocken hinein: „Du musst mich sie finden lassen! Du musst!“

Asael spielte erschrocken mit den Ohren, und der Reiter klopfte ihm beruhigend auf den Hals. Er durfte das überanstrengte Tier nicht auch noch ängstigen. Doch sofort kehrten seine Gedanken zu dem Mädchen zurück, das er irgendwo vor sich wusste – zumindest ahnte, hoffte. „Was ist bloß in mich gefahren?“, stöhnte er. „Warum ...?“

Als er den grauen Schatten zu seiner Rechten sah, brachte er Asael brutal zum Stehen. Er hatte das Wegkreuz erreicht. Er konnte es hinter dem Vorhang des Schneetreibens nur erahnen, aber daneben hob sich ein anderes dunkles Gebilde vom weißen Untergrund ab. Als sein Hengst ob der rüden Behandlung protestierend wieherte, antwortete diese Gestalt ebenfalls mit einem Wiehern.

Aus dem Sattel springen und auf diesen Schatten zueilen war eins. Zwar versank er bis über die Knie im Schnee, doch die Entfernung verringerte sich schneller, als er erwartet hatte: Vor ihm stand eine glänzend schwarze Stute, die ihm entgegengekommen war und ihn mit einem schwachen Schnauben begrüßte.

Voller Entsetzen starrte er auf das Pferd. Ja, es war ihre Stute mit dem auffallend schwarzen Fell, aber in welch erbarmungswürdigem Zustand war das Tier! Sofort erkannte er, dass es lahmte und völlig erschöpft war. Sein Blick wanderte nach oben, dorthin, wo die Reiterin sitzen musste. Doch der Sattel war leer. Ein Schmerz wie von einem Schlag in die Magengrube durchfuhr ihn.

„Katharina!“, schrie er in das undurchdringliche Weiß hinein. „Katharina!“ Jetzt war es ein Brüllen.

Doch es blieb alles still, so regungslos still. Nur das feine, leise Rieseln der Schneeflocken drang an sein Ohr. Mit seinen Augen versuchte er das Flockengewirbel zu durchdringen, suchend watete er über die Lichtung. Doch er sah nur trostloses Weiß und die in eisigem Schweigen dastehenden Tannen, die ihre Äste tief beugten unter der Last des Schnees.

Als er vor das Wegkreuz trat, erstarrte er plötzlich in der Bewegung. Beinahe hätte er die reglose Gestalt übersehen, die sich nur schwach vom weißen Untergrund abhob, weil sich auch über sie schon eine dünne Schneedecke gebreitet hatte.

Er warf sich in den Schnee. Da lag sie – die Mütze war ihr vom Kopf geglitten und die langen Locken lagen wie eine Kapuze um ihren Kopf. Er fasste sie an den Schultern, um sie zu wecken, denn wenn sie hier liegen blieb, würde sie noch erfrieren – doch sie reagierte nicht.

Er beugte sich zu ihr herab. „Katharina! Kannst du mir verzeihen?“, flüsterte er ihr ins Ohr. Doch sie blieb stumm.

Er griff nach ihrer Hand, die in einem dünnen Lederhandschuh steckte. „Katharina, wach auf! Ich bin jetzt bei dir!“ Doch sie regte sich nicht.

Er spürte die Panik wie eine Lawine über sich rollen. Hastig zog er ihr den Handschuh von den Fingern – sie waren kalt, eiskalt. Und steif. Er legte die Hand auf ihre Wangen – und zog sie erschrocken zurück. Auch die waren eiskalt.

Mit fliegenden Fingern öffnete er ihren kostbaren Mantel und legte das Ohr auf ihre Brust. Kein Herzschlag. Kein Atemzug. Nichts.

Wie ein spitzer Eiszapfen bohrte sich die Erkenntnis in seinen Kopf, dass er zu spät gekommen war.

„Warum?“, schrie er zu dem Kreuz hinauf, zu dessen Füßen das tote Mädchen lag. „Wo warst du, Gott? Habe ich dich etwa nicht genug angefleht? Warum?“

Doch der grausame Flockenvorhang um ihn herum verschluckte seinen Schrei.

Mai 1849

„Still, Rex!“ Energisch fasste Oberförster Albert Grüning seinen Jagdhund am Halsband. „Störst ja die Morgenstille!“

Doch das sonst so folgsame Tier warf ihm nur einen kurzen Blick zu, um dann wieder wütend in die Dämmerung zwischen den Stämmen der Buchen hineinzubellen.

Grüning schob die qualmende Tabakspfeife aus dem rechten in den linken Mundwinkel und beugte sich zu seinem treuen Begleiter hinab. „Hast du keinen Sinn für die Morgenstimmung, du dummer Hund? Übertönst sogar das Vogelkonzert mit deinem Kläffen!“

Der Hund sah ihn verständnislos an, zog an seinem Halsband und gab ein gefährliches Knurren von sich.

„Was hast du? Was soll dort zwischen den Buchen sein?“ Der Förster ließ das Halsband los, übersprang den Graben am Wegesrand und ging ein paar Schritte in den Wald hinein, was Rex sogleich zum Anlass nahm, erneut ein wütendes Bellen hören zu lassen. „Still!“, zischte Grüning. „Kann doch sonst nichts hören!“

Rex gehorchte sofort, und da vernahm der Förster zwischen den Stämmen ein leises Rascheln. Angespannt blieb er stehen und tastete nach seinem Gewehr. Der Hund schien doch nicht grundlos den ganzen Wald in Aufregung versetzen zu wollen. Aber sollte ein Mensch schon so früh am Tag hier unterwegs sein, und dann auch noch abseits der Wege? Das war ja Unfug!

„Hast wohl nur ein Reh erschreckt. Komm, Rex.“

Der Oberförster musste den Hund erneut am Halsband zerren. Endlich folgte Rex, wandte aber noch oft den Kopf zurück und knurrte grimmig vor sich hin. Grüning widmete ihm nun keine Aufmerksamkeit mehr, sondern ließ das Halsband los und betrachtete die Lichtreflexe, die die Morgensonne durch das Blätterdach zauberte. Über das leise Rauschen und Raunen, das der kühle Morgenwind in den Zweigen und Blättern erweckte, und über das vielstimmige Konzert der Vögel drang jetzt noch ein anderer Ton an das Ohr des Försters.

„Hörst du, Rex? Dort rauscht die Wölfel und lädt uns zum Bad.“

Aber Rex schien seine Aufmerksamkeit schon wieder auf etwas anderes zu richten. Er blieb stehen und knurrte erneut, doch diesmal erkannte Grüning den Grund für Rex‘ Verhalten recht bald: Vor ihm auf dem Weg erschien ein Reiter, der sich in gemächlichem Trab näherte. Diesmal beruhigte er seinen Hund nicht, obwohl das Knurren in wütendes Bellen überging. Erst als er den Reiter im Dämmerlicht des Waldes erkennen konnte, befahl er: „Still, Rex.“

Der entgegenkommende Mann winkte und grüßte fröhlich: „Guten Morgen, Albert.“

„Morgen“, brummte Grüning, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen.

Lachend fuhr sich der Reiter mit der Hand durch das dunkle Haar. „Welch charmanter Empfang, Herr Oberförster!“

„Musst du heute nicht zum Dienst?“

„Nein, mein lieber Albert“, erwiderte er immer noch lachend und schlug dem Förster vom Pferd herab auf die Schulter. „Ich habe heute ein eminent wichtiges Rendezvous, weshalb ich mir einen Tag Urlaub erbat.“

„Dachte es mir“, entgegnete Grüning und musterte die nicht eben imposante Gestalt seines Freundes, „so wie du dich herausgeputzt hast.“

„Ja, heute musste ich mich tatsächlich in den Frack zwängen. Sieh nur, er scheint bei der letzten Reinigung eingegangen zu sein, ich vermochte kaum die Knöpfe zu schließen.“

„Verzeih, Franz, Dienst ruft. Habe keinen Urlaub.“ Ein kurzer Pfiff, der Rex an seine Seite rief, und der Oberförster marschierte davon, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen.

„Wenn ich den einsamen Sonderling aus dem Hochwald nicht auch anders kennte ...“, hörte er seinen Freund Franz Marwitz noch hinter sich murmeln. Der Rest des Selbstgesprächs wurde vom lauter werdenden Rauschen der Wölfel verschluckt.

Bald bog Grüning mit seinem Hund vom Hauptweg in einen schmalen Nebenweg ab, der direkt zum Fluss führte. Schwanzwedelnd lief Rex voraus und blieb erwartungsvoll am Ufer stehen, während Grüning seine Pfeife ausklopfte und seinen Uniformrock samt seiner Flinte an eine Astgabel hängte.

Prüfend sah er auf das schäumend dahinfließende Wasser. Die Schneeschmelze im Gebirge schien jetzt, Anfang Mai, ihren Höhepunkt zu erreichen. In Kürze würde sich das harmlos scheinende Flüsschen in einen reißenden Strom verwandeln und die Straßen und Keller des Dorfes im Tal unter Wasser setzen. Er war gespannt, ob der Bau des Staudamms, der in diesem Sommer begonnen werden sollte, tatsächlich Abhilfe schaffen würde.

Freudig bellend sprang Rex an ihm hoch.

„Ist ja gut“, knurrte Grüning und klopfte ihm auf die Flanke. „Komme schon!“ Er entledigte sich seiner restlichen Kleidung und war mit wenigen Schritten im Wasser.

Rex zögerte noch, aber Grüning rief ihm zu: „Zier dich nicht! Brauchst nicht jeden Tag neu zu überlegen, ob das Wasser wärmer geworden ist.“

Da sprang auch das Tier in den Fluss, während der Oberförster untertauchte. Grüning genoss das Prickeln auf der Haut, das das eisige Wasser in ihm auslöste. Prustend tauchte er wieder auf und leckte sich das Gebirgswasser von den Lippen – so schmeckte Reinheit und Freiheit. Mit kräftigen Zügen kämpfte er gegen die Strömung an und hielt sich dadurch warm.

Gerade wollte er erneut abtauchen, als er plötzlich kerzengerade aus dem Wasser schoss. War da nicht gerade ein Schuss gefallen!? Mit langen Sätzen sprang er ans Ufer und schüttelte sich das Wasser aus den Ohren, um besser hören zu können. Hatte er sich getäuscht? Jetzt war nur noch das Rauschen der Wölfel zu vernehmen, das selbst den Gesang der Vögel übertönte.

Als er eben einen sonnigen Platz aufsuchen wollte, um sich trocknen zu lassen, wurde die Morgenstille jäh zerrissen – nicht weit entfernt fiel erneut ein Schuss!

Während Rex sich ans Ufer kämpfte, warf sich Grüning, nass wie er war, in seine Uniform, ergriff die Büchse und stülpte die Mütze über sein kurzgeschnittenes Haar. Er hatte in diesem Jahr keine Jagderlaubnis ausgestellt, weil der Wildbestand infolge des harten Winters stark zurückgegangen war. Und während der Schonzeit durfte ohnehin nicht gejagt werden.

Mit weit ausgreifenden Schritten, den aufgeregt um ihn herumtänzelnden Rex nahe an seiner Seite, kehrte Grüning auf den Hauptweg zurück und wandte sich dann in die Richtung, aus der er die Schüsse gehört hatte. Scheinbar hatte sich Rex vorhin doch nicht grundlos so wütend gebärdet, und er hätte das Rascheln zwischen den Buchen nicht so einfach abtun sollen.

Doch wer rechnete schon mit so etwas? Beinahe zwanzig Jahre diente er jetzt im Schneeberger Forst, aber mit einem Wilderer hatte er sich noch nicht herumschlagen müssen.

Als er die Gegend erreichte, wo die Schüsse gefallen sein mussten, drückte er sich, das Gewehr schussbereit in den Händen, nahe an den mächtigen Stamm einer Eiche und bedeutete seinem Hund, sich zu setzen und Stille zu bewahren. Das Tier gehorchte augenblicklich – es schien die Anspannung seines Herrn zu spüren. Auch als der Förster vom Weg ins Unterholz vordrang, dabei stets die Deckung großer Bäume ausnutzend, blieb Rex brav sitzen und rührte sich nicht.

Mit äußerster Vorsicht arbeitete Grüning sich voran, immer darauf bedacht, sich nicht durch das Rascheln des vorjährigen Laubs oder durch das Knacken eines Astes zu verraten. Er war sicher, dass die Schüsse ganz in der Nähe gefallen waren.

Gerade wollte er sich weiter voran unter die herabhängenden Zweige einer Kiefer pirschen, als er vor sich eine Bewegung wahrnahm. Er hielt inne und umklammerte die Büchse fester. Zwar hatte er nicht die Absicht, den Wilderer über den Haufen zu schießen, aber immerhin konnte sich ein gestellter Wilddieb zu einer tödlichen Gefahr entwickeln.

Er versuchte, die Dämmerung zwischen den Bäumen tiefer im Wald zu durchdringen. Hockte dort auf dem Waldboden nicht eine Gestalt? Beugte sie sich nicht über ein Reh oder einen Hirsch? Oder gaukelte ihm seine aufgereizte Fantasie ein Trugbild vor? Er spürte, wie sein Herz heftig von innen gegen den Uniformrock pochte, während ihm – trotz der feuchten und damit kühlen Kleidung – der Schweiß am ganzen Körper aus den Poren strömte.

Nein, es war kein Trugbild. Die Gestalt richtete sich aus der gebückten Stellung auf und sah sich prüfend um. Leider konnte er sie nicht genau erkennen, da die Entfernung zu groß war und nur einzelne Strahlen der Morgensonne das dichte Blätterdach durchdrangen, die seine Sicht mehr beeinträchtigten als besserten.

Einen Augenblick zögerte Grüning noch, dann trat er, die Büchse im Anschlag, rasch aus dem Schatten der Kiefer heraus und rief mit durchdringender Stimme, die das Morgenkonzert der Vögel jäh verstummen ließ: „Halt! Stehen bleiben!“

Er stand sprungbereit, um sofort wieder Deckung hinter der Kiefer suchen zu können, falls es dem Wilderer einfallen sollte, ihn mit der Waffe zu bedrohen. Doch die Gestalt wandte sich blitzschnell um und verschwand raschelnden Schrittes im Unterholz.

„Rex!“, rief Grüning und setzte dem Mann mit langen Schritten nach. Er musste diesen Gesetzesübertreter unbedingt fangen. Jahrelang hatte er den Forst vorbildlich geführt und von seinen Vorgesetzten manches Lob und auch die eine oder andere Beförderung erhalten. Das wollte er sich keinesfalls von einem Wilddieb zerstören lassen!

Er spürte, wie ihm die Zweige ins Gesicht schlugen und es zerkratzten, während er mit dem Ärmel an einem vorstehenden Ast hängen blieb; mit einem hässlichen Laut riss das Gewebe seiner Uniform. Rex lief mit hängender Zunge an ihm vorüber, und der Förster verließ sich ganz auf die Nase des Hundes, da er nicht erkennen konnte, welche Richtung der Flüchtige eingeschlagen hatte.

Er stolperte über eine unter dem Laub verborgene Baumwurzel, schlug der Länge nach hin, rappelte sich fluchend wieder auf und lief weiter. Seine schneidige Uniform war für eine Verfolgung unter den Bäumen gänzlich ungeeignet. Am Hals schloss sie viel zu eng und nahm ihm beinahe den Atem – oder waren es seine 44 Lebensjahre, die sich inzwischen bemerkbar machten?

Rex hatte schon einen bedeutenden Vorsprung, immer wieder entschwand er im Unterholz seinen Blicken. Ein tief hängender Zweig riss Grüning die Mütze vom Kopf. Er machte sich nicht die Mühe, sie aufzuheben – nur weiter, vorwärts! Der Wilderer durfte nicht entkommen!

Wieder angelte eine verborgene Wurzel nach seinem Fuß. Mit einem dumpfen Laut geriet er in die horizontale Lage, wobei ihn ein heftiger Schmerz durchschoss, als sein Knie unsanfte Bekanntschaft mit einem dicken Ast schloss. Stöhnend rieb er das lädierte Knie, ehe er sich mühsam aufrichtete, indem er sich an einem Baum abstützte.

Mit zusammengebissenen Zähnen humpelte er noch ein paar Schritte weiter, doch dann musste er einsehen, dass eine weitere Verfolgung des Wilderers in seinem Zustand aussichtslos war. Er zischte ein Wort zwischen den Zähnen hervor, das alles andere als ein Dank oder Segenswunsch war, und stieß dann einen kurzen, durchdringenden Pfiff aus, worauf ihm aus ziemlich weiter Entfernung Rex‘ Bellen antwortete.

Er hinkte den Weg zurück, den er gekommen war, und eben als er den Platz erreichte, an dem er den Wilderer überrascht hatte, holte Rex ihn ein. Schnuppernd umkreiste der Hund den toten Rehbock, den der Wilddieb hatte liegen lassen müssen.

Grimmig ballte Grüning die Faust. Ein Wilderer in seinem Forst! Oftmals hatte er seine Kollegen als unfähig belächelt, die sich manchmal monatelang mit solchen Wildschützen herumgeschlagen hatten – nun war er plötzlich selbst betroffen.

Er beugte sich zu seinem Hund herab und kraulte ihm den Nacken. „Du solltest reden können, Rex, vielleicht hast du ihn erkannt.“ Denn Grüning hatte nur sehen können, dass der Mann von gedrungener Gestalt war. Doch der heftig hechelnde Hund sah ihn nur aus treuen Augen an, und so sagte Grüning: „Ich glaube, Rex, jetzt beginnt für uns eine turbulente Zeit.“

* * *

Ministerialdirektor Hermann Wittemann blätterte immer wieder die Akte durch, auf deren Deckblatt unter dem Wappen der Provinz Schlesien in großen Buchstaben die Aufschrift Schneeberger Forst prangte. Obwohl seine Entdeckung nun bereits vier Wochen zurücklag, freute er sich noch immer diebisch darüber, auf diesem Weg plötzlich Albert Grüning wiedergefunden zu haben.

Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Scheinbar war es doch ein guter Gedanke gewesen, sich in seine alte Heimat Breslau zurückversetzen zu lassen – und das nicht nur wegen der Beförderung.

„Fräulein Jahn!“, rief er gedämpft, worauf unverzüglich seine hübsche Sekretärin das Büro betrat. Seine hohe Stellung beim Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten brachte ihm viele Vorteile. Gewiss genossen nur wenige Beamte in preußischen Behörden den Vorzug, eine Sekretärin mit solch unverschämt langen Beinen zu haben.

Die junge Frau schenkte ihm ein freundliches Lächeln, während sie untertänig knickste. „Herr Ministerialdirektor wünschen?“

„Fräulein Jahn, ich habe etwas zu diktieren.“ Warum nur noch niemand auf den Gedanken gekommen ist, die fußlangen Kleider der Frauen gegen kürzere auszutauschen?

„Soll ich gleich beginnen?“

„Beginnen? Ach so, nein.“ Dieses Fräulein Jahn konnte ihn doch tatsächlich für einen Moment sogar seinen Feldzug gegen Grüning vergessen lassen. „Bitte gehen Sie vorher noch zum Kolonialwarenhändler und besorgen Sie mir eine Kiste Zigarillos – Sie wissen schon welche. Danach werde ich Ihnen diktieren.“

Das Mädchen knickste erneut und verließ das Büro, wobei der Rock um ihre Beine raschelte. Noch eine Weile starrte Wittemann die Tür an, die sie lautlos hinter sich geschlossen hatte, ehe er sich dem vor ihm liegenden Brief zuwandte, der den Posteingangsstempel des gestrigen Tages trug.

„Albert Grüning“, murmelte er vor sich hin. Als Wittemann vor fast zwanzig Jahren in die Provinzialverwaltung Pommern versetzt wurde, musste er die Suche nach diesem Schuft abbrechen. Und jetzt traf er hier in Schlesien wieder auf ihn – und passenderweise war er auch noch Oberförster in seinem Verwaltungsbereich!

Er lächelte vor sich hin und betrachtete den Brief mit Grünings viel zu akkurater Handschrift, in dem dieser der Behörde mitteilte, dass ein Wilddieb im Schneeberger Forst sein Unwesen treibe und vor wenigen Tagen einen Rehbock geschossen habe. „So so, ein Wilddieb. Du wirst schon ein passendes Antwortschreiben erhalten, Albert Grüning. – Aber nicht von mir.“

Er warf den Brief auf den massigen Schreibtisch und lehnte sich erneut zurück. – Albert Grüning. – Wie viele Erinnerungen dieser Name in ihm weckte! Vergessen hatte er ihn nie, aber in Pommern hatte er schon allein der Entfernung wegen keine Gelegenheit, sich um ihn zu kümmern. Aber nun war er wieder in Schlesien – und er würde sich um diesen Kerl kümmern!

Ein dezentes Klopfen an seiner Tür weckte ihn aus seinen Gedanken. Auf sein „Herein“ trat Fräulein Jahn ein, die die gewünschten Zigarillos auf seinen Schreibtisch legte und dann erwartungsvoll stehen blieb.

Es steht ihr gut, wenn ihre Wangen vom raschen Gehen gerötet sind und einige ihrer blonden Löckchen aus der Frisur heraus in die Stirn fallen, schoss es ihm durch den Kopf. Nur ungern löste er seine Augen von dem erfreulichen Anblick, als er nach den Zigarillos fingerte und sich eines davon ansteckte. Genießerisch schloss er die Augen, als er den Geschmack des aromatisierten Tabakrauchs auf der Zunge spürte.

„Danke, Fräulein Jahn.“ Er erhob sich aus seinem Sessel und streckte sich. Sie ist beinahe so groß wie ich – eigentlich unverschämt von einem Mädchen. Und es lag nicht daran, dass sie besonders hoch gewachsen war. „Bitte nehmen Sie am Schreibtisch Platz, ich werde Ihnen einen Brief an den Oberförster Albert Grüning im Schneeberger Forst diktieren. Die Adresse entnehmen Sie bitte seinem Bericht – er liegt auf dem Schreibtisch.“

Duftende Wolken vor sich hin paffend trat er ans Fenster und schob den Vorhang zur Seite. Durch die Scheiben drang dumpf das Rattern der Kutschen von unten herauf, während die Domglocken soeben die Mittagsstunde verkündeten.

Er wandte sich um und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Fensterbrett. Der Anblick der schreibenden Sekretärin war deutlich schöner als die graue Stadt mit den braunen Wassern der Oder. Durch den zurückgeschobenen Vorhang fiel das gleißende Sonnenlicht geradewegs in die Amtsstube und auf das Mädchen. Fasziniert betrachtete er ihre kleine Hand, die der Feder viel schönere Buchstaben entlocken konnte, als es ihm selbst gelingen würde. Den Ring, der an ihrem Mittelfinger aufblitzte, hatte er ihr vor einem halben Jahr zu Weihnachten geschenkt.

Sie sah erwartungsvoll zu ihm auf. „Ich bin so weit, Herr Ministerialdirektor.“

Er trat näher und warf einen Blick über ihre Schulter. „Mit Erstaunen habe ich von Ihrem Bericht Kenntnis genommen ...“

Kratzend fuhr die Feder über das Papier, während er ihr mit spitzen Fingern ein verirrtes Kirschblütenblatt aus dem Haar zupfte. Sie sah nur kurz zu ihm auf und lächelte flüchtig, um sich sogleich wieder über den Brief zu beugen.

Mit monotoner Stimme diktierte er weiter: „Sie wissen, dass mir als Ihrem Dienstvorgesetzten sehr daran gelegen ist, solch unangenehme Vorfälle rasch zu erledigen.“ Er trat einige Schritte zur Seite, weil er von dort ihr konzentriertes Gesicht besser betrachten konnte. Als sie die Feder ruhen ließ und ihn erwartungsvoll ansah, fragte er: „Wo waren wir stehen geblieben?“

Sie wiederholte den letzten Satz, worauf er fortfuhr: „Ich fordere Sie auf, den Wilddieb umgehend zu arretieren und dabei auf die körperliche Unversehrtheit des Delinquenten zu achten. Ich weise Sie darauf hin, dass die Arretierung umgehend – bitte unterstreichen Sie umgehend! – vorzunehmen ist, andernfalls viele fähige Forstleute bereitstehen, Ihren Posten als Oberförster im Schneeberger Forst zu übernehmen.“

Sie hielt inne und sah mit hochgezogenen Augenbrauen zu ihm auf.

„Habe ich zu schnell diktiert?“

„Treibt dieser Wilddieb schon längere Zeit sein Unwesen im Schneeberger Forst?“

„Ist Ihnen meine Formulierung zu streng?“ Er musste unwillkürlich schmunzeln, weil seine scharfen Worte offenbar genau die beabsichtigte Wirkung hatten.

„Verzeihen Sie, es steht mir nicht zu, mich dazu zu äußern.“

Wittemann drückte sein Zigarillo in einen Ascher. „Es schadet nie, die Forstleute unter Druck zu setzen. Sie machen sich sonst ein schönes Leben in ihrem Wald und legen sich auf die faule Haut. Also schreiben Sie: ... Ihren Posten als Oberförster zu übernehmen.“

Wieder kratzte die Feder über das Papier. Wittemann trat erneut hinter sie und bemerkte jetzt, da der Geruch seines Zigarillos sich langsam verzog, den feinen Duft ihres Rosenparfums. Sein Geschenk zu ihrem 22. Geburtstag.

„Jetzt fehlt nur noch Ihre Unterschrift, Herr Ministerialdirektor.“

„Legen Sie das Schreiben bitte Herrn Regierungsrat Knauer zur Unterschrift vor, er ist der direkte Vorgesetzte Grünings.“

Wittemann konnte in den Augen der Sekretärin die unausgesprochene Frage lesen, warum dann nicht Knauer den Brief diktiert habe. Aber diese Frage beantwortete er ihr nicht. Er musste vorsichtig sein, dass er sich nicht in dem Netz seines eigenen Plans verfing. Schließlich sollte dieser drohend gehaltene Brief an Grüning nur die Ouvertüre sein.

Als Fräulein Jahn mit dem Schreiben aus seinem Büro verschwand, hatte er das Gefühl, als sei die Sonne hinter einer Wolke verschwunden. Dabei schien sie doch noch so hell und warm wie zuvor.

Er nahm sich wieder die Akte mit der Aufschrift Schneeberger Forst vor und blätterte rückwärts. Fast zwanzig Jahre war Grüning also bereits dort, ohne sich etwas zuschulden kommen zu lassen. Im Gegenteil: Manches lobende Schreiben, das sein Vorgänger noch verfasst hatte, sprang ihm ins Auge. Offensichtlich war Grüning nicht nur ein unbescholtener, sondern ein geradezu vortrefflicher Beamter. Dann würde ihn sein Brief umso mehr treffen.

Es klopfte.

„Herein!“

Die Tür öffnete sich und Regierungsrat Knauer trat ein, gefolgt von Fräulein Jahn.

„Was gibt es, Knauer?“

„Bitte verzeihen Sie, Herr Ministerialdirektor“, stotterte der Beamte. „Fräulein Jahn legte mir soeben dieses Schreiben zur Unterschrift vor und ...“

„Was und? Wollen Sie mir den unterschriebenen Brief nun höchstselbst zurückbringen?“

„Nein, Herr Ministerialdirektor, ich wollte mich nur vergewissern ...“

„Hören Sie, Knauer, wenn ich einen Brief diktiere, steht es Ihnen nicht zu, ihn zu hinterfragen!“

„Nichts für ungut, Herr Ministerialdirektor, ich wunderte mich nur, weil doch der Oberförster Grüning überall den besten Leumund genießt. Er ist einer unserer fähigsten Oberförster, der seinen Forst peinlich genau im Griff hat ...“

„Soll ich mir ein Loblied auf diesen Oberförster Grüning anhören? Sie sollten den Brief schnellstens unterschreiben, Knauer.“ Seine Stimme war drohend geworden. Immer diese unbestechlichen preußischen Beamten!

Der Regierungsrat senkte den Blick, atmete tief durch, griff aber schließlich doch zur Feder und setzte seinen Namen unter das Schriftstück. Als er sich wieder aufrichtete, waren seine Lippen fest aufeinander gepresst. Sein Widerwille gegen diese Unterschrift stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

Also entschloss sich Wittemann zu einer freundlichen Geste. Er legte dem Mann die Hand auf die Schulter. „Sie dürfen mir schon vertrauen, Herr Knauer.“ Zu seinem Ärgernis musste er den Kopf in den Nacken legen, um seinem Untergebenen in die Augen sehen zu können. Dennoch brachte er ein mühsames Lächeln zustande. „Mir ist es ein Anliegen, mit den Wilddieben einmal gründlich aufzuräumen, und dazu müssen wir bei den Forstbeamten ein wenig härter durchgreifen.“

„Sehr wohl, Herr Ministerialdirektor.“ Knauer räusperte sich. „Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Ihr Vorgänger hat darauf nicht viel Wert gelegt.“

„Dann ist es an der Zeit, damit zu beginnen. – Fräulein Jahn, bitte tragen Sie den Brief in die Kanzlei und sorgen Sie dafür, dass er heute noch abgeht.“

Die junge Frau huschte davon und auch Regierungsrat Knauer verließ mit einem Bückling das Büro.

Wittemann ließ sich wieder in seinen Sessel plumpsen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Er musste vorsichtig sein, denn dieser Knauer schien ein überkorrekter Beamter zu sein. Es galt, ihn auf seine Seite zu ziehen, da er ihn noch öfter benötigen würde. Denn so sehr er sich auch darüber freute, Grüning wiedergefunden zu haben und ihn durch diesen Brief unter Druck zu setzen – dies konnte nur der erste Schritt auf seinem langen Weg der Rache sein.

Mit lautem Krachen schlug der grüngestrichene Fensterladen mit dem herzförmigen Ausschnitt gegen die Außenmauer des Forsthauses.

„He, Trine, was soll der Lärm?“, polterte Grüning, der soeben sein Arbeitszimmer betrat. Rex lag noch vor dem Kamin und sah zu ihm auf, als sei er von dem Lärm gerade aus dem tiefsten Schlaf gerissen worden.

Die kugelige Frau öffnete auch den zweiten Laden, ehe sie sich zu dem Oberförster umwandte. „Herr Oberförster mögen verzeihen, der Laden rutschte mir aus den Händen.“

Rex legte den Kopf wieder auf die Vorderpfoten, und Grüning angelte vor sich hin brummelnd eine lange Pfeife vom Regal. Während er sie stopfte, fiel sein Blick auf den Schreibtisch, und er schüttelte unwillig den Kopf. „Trine? Was ist mit der Post?“

Hurtig eilte die kleine Frau an den wuchtigen Sekretär. „Herr Oberförster? Was soll mit der Post geschehen sein?“

Er riss ein Streichholz an und setzte den Tabak in Brand. „Haben Sie auch die erledigte Post der letzten Wochen bereitgelegt?“

Zuerst warf ihm seine Haushälterin einen verständnislosen Blick zu, ehe sie in Lachen ausbrach. „Herr Oberförster mögen verzeihen, Sie haben lange nicht mehr an Ihrem Schreibtisch gesessen. So hat sich die Post angesammelt.“

Er paffte mächtige Wolken vor sich hin. „Was hat ein Förster am Schreibtisch verloren? Gehöre in den Wald!“ Er nahm den Stapel Briefe vom Tisch und wog ihn in der Hand. Trine hatte schon recht, er war dem Schreibtisch tatsächlich viel zu lange ferngeblieben. Aber die Post von den Behörden brachte ohnehin nur Ärger.

„Eine große Tasse Kaffee, Trine.“ Er warf die Briefe wieder auf den Tisch, dass sie wie ein Fächer auseinanderfielen. „Dann keine Störung mehr.“

Trine schob sich aus dem Raum, um seinem Befehl Folge zu leisten, während er am Sekretär Platz nahm. Er verwünschte noch heute den Menschen, der den Papierkram bestimmt nur erfunden hatte, um Menschen wie ihn damit zu ärgern.

Mit einem abgrundtiefen Seufzer griff er erneut nach dem Stapel und blätterte ihn lustlos durch: Anfragen wegen Holzverkäufen, Anträge auf Jagderlaubnis – doch da sprang ihm plötzlich ein Brief entgegen, der nicht amtlich aussah. Schon der Ort des Absenders ließ ihn nichts Gutes ahnen. Neiße – das war sein Heimatort, wo er aufgewachsen war und bis zu seinem überstürzten Wegzug vor zwanzig Jahren gelebt hatte.

Als er den Namen Rosina Grüning las, biss er auf sein Pfeifenmundstück, dass es knirschte. Was wollte seine Schwester schon wieder von ihm? Sie kannten sich ja kaum, da sie damals nur wenige Jahre alt gewesen war und sie sich seitdem kaum einmal gesehen hatten. Warum verstand sie denn nicht, dass sie ihn einfach in Ruhe lassen sollte?

Schwere Schritte ließen ihn aufsehen: Trines massige Gestalt näherte sich. Sie trug ein riesiges Tablett.

„Herr Oberförster mögen verzeihen, aber Sie haben ja noch gar nicht gefrühstückt.“ Sie stellte das Tablett auf seinen Sekretär, und der aromatische Duft von Kaffee und frischen Brötchen stieg ihm in die Nase.

Obwohl ihm das Wasser im Mund zusammenlief, knurrte er: „Müssen Sie das Zeug mitten auf den Tisch stellen? Sehen doch, dass ich arbeite.“

Wortlos rückte Trine das Tablett ein wenig beiseite, um dann, so schnell es ihre gewichtige Gestalt zuließ, das Arbeitszimmer wieder zu verlassen.

Grüning nahm die Pfeife aus dem Mundwinkel und schlürfte an dem Kaffee. „Verflixt! Viel zu heiß gekocht!“

Er legte den Brief seiner Schwester Rosina beiseite, nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife und blätterte die Post weiter durch. Ein Schreiben mit dem Siegel der Provinz Schlesien fiel ihm ins Auge – sollte das Ministerium schon auf seinen Bericht geantwortet haben? Die Behörden waren doch sonst nicht so schnell! Auch diesen Brief legte er beiseite, um dann den restlichen Stapel achtlos in einen Ablagekorb zu schmeißen.

Vorsichtig brach er das Siegel des amtlichen Schreibens und entfaltete das Blatt. Einen neuen Schreiber schienen sie zu haben. Fast konnte man meinen, die Schrift sei von einer Frau.

Er schob die Pfeife schief in den Mundwinkel und begann zu lesen. Doch schon nach den ersten Sätzen fingen die Buchstaben an, vor seinen Augen zu tanzen, und kopfschüttelnd begann er noch einmal von vorne. Doch er las nichts anderes als beim ersten Mal, und als er bis zum Ende gekommen war, krachte seine Faust donnernd auf den Sekretär, dass der Kaffee überschwappte und einen braunen Fleck auf Rosinas Brief hinterließ.

„Sind denn die Herren in Breslau verrückt geworden?“, rief er zornig.

Erschrocken fuhr Rex aus seinen Träumen auf und kam auf ihn zu, doch der Förster wies ihn ab. „Sitz!“

Was fiel diesen Herrschaften ein? Zwanzig Jahre lang hatte er sich nichts zuschulden kommen lassen, sondern den Forst vorbildlich geführt. Andere hingegen hatten beinahe jedes Jahr einen Wilddieb in ihrem Revier und saßen immer noch auf ihrem Posten. Hatte er es aber zum ersten Mal mit einem Wilddieb zu tun und es gelang ihm nicht sofort, ihn zu stellen – und wem gelang das schon? –, bekam er gleich ein geharnischtes Schreiben vom Ministerium! Er konnte nicht begreifen, was in Regierungsrat Knauer gefahren war, mit dem er doch oft schon zu tun hatte und immer gut zurechtgekommen war.

Er legte die Pfeife, die ihm vor Schreck ausgegangen war, in den Ascher und las den Brief erneut. „Ich fordere Sie auf, den Wilddieb umgehend zu arretieren und dabei auf die körperliche Unversehrtheit des Delinquenten zu achten. Ich weise Sie darauf hin, dass die Arretierung umgehend vorzunehmen ist, andernfalls viele fähige Forstleute bereitstehen, Ihren Posten als Oberförster im Schneeberger Forst zu übernehmen.“

Wie stellten sich die Herren vom grünen Tisch das eigentlich vor? Sollte er den Herrn Wilderer vielleicht noch höflich bitten, zu ihm in die Oberförsterei zu kommen und sich freundlichst zu ergeben?

Grüning sprang auf und lief mit großen Schritten im Arbeitszimmer auf und ab. Eine Frechheit, ihm so etwas zu bieten!

Er trank den mittlerweile erkalteten Kaffee in einem Zug leer und stopfte seine Pfeife neu. Ärgerlich füllte er das Zimmer mit dem blauen Qualm, als er nach Rosinas Brief griff. Wird auch nicht viel Gutes enthalten. Rüde zerfetzte er das zierliche Siegel und begann zu lesen, ohne dabei seine Wanderung zu unterbrechen.

Als er zu Ende gekommen war, knüllte er ihn zu einer Kugel zusammen und warf ihn erbost in eine Ecke. Sofort sprang Rex auf und sauste hinterher, um den Ball zurückzuholen und vor seine Füße zu legen. – Dummes Tier!

Wütend stampfte er die Papierkugel platt. Wusste doch, dass der Brief wieder nichts taugt. Was fällt diesem Mädchen ein? Schwer ließ er sich in seinen Sessel vor dem Schreibtisch fallen und stützte den Kopf in die Hände. Immer wieder musste die Vergangenheit aufgewärmt werden. Und immer wurden ihm die Vorwürfe gemacht, sogar von seiner Schwester, die damals kaum geboren war.

„Herr Oberförster mögen verzeihen, Sie haben ja gar nichts gegessen.“

Er hatte Trine nicht kommen hören, so sehr hatte ihn Rosinas Brief erregt. Ohne aufzusehen, knurrte er: „Den Kaffee kochen Sie beim nächsten Mal nicht so heiß. Und die Brötchen können Sie als Wackersteine für den Bau des Staudamms verwenden.“

Als er keine Antwort erhielt, das Tablett aber auch nicht entfernt wurde, sah er auf. Da stand die kleine, runde Person vor ihm, hatte die Hände in die gut gepolsterten Hüften gestemmt und die Backen aufgeblasen.

„Herr Oberförster, die Brötchen habe ich gebacken wie alle Morgen. Und Kaffee ist für gewöhnlich ein Heißgetränk. Sie wissen gar nicht, wie gut Sie es haben. Sie können nur maulen und murren. Aber dass es mit Ihrer Laune nicht zum Besten steht, sehe ich an dem zusammengeknüllten und plattgetrampelten Brief dort auf der Erde. Aber daran sind weder mein Kaffee noch meine Brötchen schuld. – Herr Oberförster mögen verzeihen.“

Das war eine außerordentlich lange Rede für seine Trine. Zuerst wollte er erbost auffahren, doch trotz seiner üblen Laune musste er anerkennen, dass sie nicht so ganz Unrecht hatte. „Ja, ja“, antwortete er daher nur und winkte zum Tablett hinüber. „Wegtragen.“

Mit erstaunlicher Gewandtheit nahm Trine das Tablett und verließ das Arbeitszimmer beschwingten Schrittes, dem er ihre Erleichterung entnahm, dass sie so glimpflich davongekommen war. Grüning wandte sich soeben wieder seiner Post zu, als er im Hof der Försterei Hufschlag vernahm.

* * *

Franz Marwitz schob sich aus dem Sattel und band sein Pferd an den Eisenring neben der Haustür, über der das prachtvolle Geweih eines Sechzehnenders sogleich die Bestimmung dieses abgelegenen Hauses verriet.

„Schön hat er es hier, das muss man ihm lassen, aber einsam, denkbar einsam“, murmelte Marwitz vor sich hin, während er sich umsah. Rund um die Lichtung, auf der die Oberförsterei stand, dehnte sich unendlich weit der Hochwald aus.

Er trat durch die stets unverschlossene Haustür und ging zielstrebig auf das Arbeitszimmer seines Freundes zu, als plötzlich Trine von der anderen Seite in den dämmrigen Hausflur gehuscht kam.

„Holla, Sie unersetzliches Oberförsterei-Faktotum!“, rief er.

Trine blieb erschrocken stehen. „Ach, Sie sind es, Herr Marwitz. Ich habe Sie gar nicht bemerkt!“

„Wo weilen Sie denn mit Ihren Gedanken? Und Sie sind ja völlig erhitzt! Hat dieser Tyrann Sie wieder über Gebühr gescheucht? Denken Sie an Ihre Hypertonie!“

„Verzeihen Sie, Herr Marwitz, an was soll ich denken?“

Er legte lachend den Arm um ihre Schultern. „An Ihren Bluthochdruck, Sie Köchin des besten Kaffees in ganz Schlesien. Ich sehe Sie eine leere Tasse auf Ihrem Tablett balancieren – sähen Sie sich imstande, mir eine gefüllte darzureichen?“

„Mit Vergnügen, Herr Marwitz, nachdem der Herr Oberförster meinen Kaffee gerade noch gescholten und sogar meine Brötchen als Wackersteine bezeichnet hat ...“

„Was hat er? Oh, dieser Rüpel!“ Marwitz wandte sich der Tür des Arbeitszimmers zu. „Warten Sie, ich werde ihn lehren, wie er Ihre deliziösen Brötchen zu titulieren hat!“

Doch die Frau hielt ihn am Arm zurück. „Nicht doch, Herr Marwitz, ich habe mir bereits ein Herz gefasst und ihm ...“

„... eine adäquate Antwort gegeben? Trine, das grenzt an Insubordination! – Und er hat Sie nicht an die frische Luft gesetzt?“

„Nein, er sagte nichts, und dann habe ich mich schnell davongemacht. Aber vorher war er schlimmster Laune. Sie kennen ihn ja, wie er ist, wenn er an seinem Schreibtisch sitzen muss.“

„Oh ja, dann ist er völlig ungenießbar. So will ich mich denn heroenhaft in die Höhle des Löwen wagen. Und Sie denken bitte an Ihren exquisiten Kaffee – und dazu gehört selbstverständlich eines dieser grandiosen Brötchen.“ Mit spitzen Fingern stibitzte er ihr eines vom Tablett und eilte beschwingt in Grünings Arbeitszimmer.

„Guten Morgen, du bärbeißiger Brummbär – ja, wo steckst du denn überhaupt?“

Grüning hatte sich so in seinen Tabaksqualm gehüllt, dass Marwitz ihn kaum hinter seinem Sekretär zu entdecken vermochte.

„Eine Luft ist das hier, man sollte nicht meinen, im gesunden Klima des Hochwaldes zu sein.“ Kurz entschlossen stieß Marwitz die Fensterflügel auf. „Du sagst ja gar nichts, Albert, bist du verstummt?“

„Redest selbst ununterbrochen.“

„Muss ich doch, wenn wir uns nicht anschweigen wollen“, entgegnete Marwitz und ließ sich in das Sofa fallen, dass es in allen Federn krachte. „Was muss ich nur für Klagen über dich hören, Albert? Warum hast du deine Trine derart malträtiert?“

„Geht‘s dich etwas an?“, brummte es vom Schreibtisch, wo immer neue Wolken erzeugt wurden, gegen die die frische Luft, die durch das geöffnete Fenster hereinströmte, vergebens ankämpfte.

„Du hast heute wirklich exzellente Laune, Albert. Da komme ich gerade recht, dich ein wenig aufzumuntern.“

„Kann mich nicht erinnern, dich eingeladen zu haben.“

Marwitz musste lachen. Dieser Förster war einfach unmöglich! „Wenn ich auf eine Invitation wartete, bekäme ich dich wahrscheinlich bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag nicht mehr zu Gesicht. Voilà, dein Rex ist gastfreundlicher. Er wedelt mit dem Schwanz und leckt mir sogar die Hand.“

„Wenn du Wert drauf legst, werde ich dir nächstens ebenfalls die Hand abschlecken.“

„Danke, ich verzichte“, lachte Marwitz. „Aber wie wäre es mit einem höflichen Morgengruß? Oder mit der gütigen Nachfrage nach meinem werten Wohlbefinden?“

„Was erwartest du? Hast mich selbst einen bärbeißigen Brummbär genannt. Und dein Befinden scheint, deinem altweibischen Redeschwall nach zu urteilen, ausgezeichnet zu sein.“

„Albert, du steigerst dich! Das waren schon drei zusammenhängende Sätze! Und Menschenkenntnis hast du auch bewiesen, mein Befinden ist fürwahr grandios. Ich muss dir unbedingt berichten, was mich in diese frohe Stimmung versetzt hat.“

„Hatte heute schon Ärger genug.“

„Aber Albert, ich bringe doch gute Neuigkeiten. Gib acht ...“ Marwitz hielt inne, als die Tür aufgestoßen wurde. „Ah, da kommt mein Kaffee.“ Er sprang auf und ließ sich von der Haushälterin die dampfende Tasse reichen. „Trine, Sie sind ein Schatz!“

„Vorsicht, verbrennst dir sonst die Zunge. Trine kocht den Kaffee heute mit besonderer Hitze“, klang es hinter den Tabakswolken hervor.

„Könnte es an dem Ausdruck kochen liegen, Albert, dass der Kaffee so heiß ist?“, stieß Marwitz hervor, während er sich vor Lachen krümmte. „Ich danke Ihnen, Trine, mir wird dieses Getränk vorzüglich munden. Schwarz wie die Nacht und bitter wie ...“

„... das Leben“, brummte Grüning.

„Bitter wie das Leben? Mein lieber Albert, du bist vollkommen unwissend!“

Marwitz schob Trine mit einem aufmunternden Lächeln zur Tür hinaus und trat dann nahe an den Schreibtisch heran, um Grüning besser erkennen zu können.

Wie man mit 44 Jahren noch so unverschämt jung aussehen kann, wunderte er sich. Grünings Haar war – bis auf unscheinbare Ausnahmen an den Schläfen – noch dunkelbraun, während er bei sich selbst gleich etliche graue Strähnen gefunden hatte, obwohl er elf Jahre jünger war.

„Albert, du magst etliche Jahre älter sein als ich, aber ich weiß jetzt, wie schön das Leben sein kann.“

„Wäre eine völlig neue Entdeckung.“

Marwitz‘ Lächeln erstarb und er schaute dem Förster unverwandt in das von Wind und Wetter gebräunte Gesicht. Was für Gedanken verbargen sich hinter dieser Stirn mit den zwei tiefen Furchen über der Nasenwurzel?

„Albert, warum immer solche Worte von dir? Wie kommt es, dass du mir beinahe die Freude zu zerstören vermagst? Wenn ich zu dir komme, habe ich das Gefühl, als käme ich aus dem lachenden Sonnenschein in einen Hagelschauer.“

„Warum kommst du dann?“

„Albert! Denkst du nicht mehr an Dänemark letztes Jahr? Das Gefecht auf dem Sundewitt, als du mir das Leben gerettet hast? Ich bin dein Freund!“

„Bah.“ Grüning machte eine abweisende Handbewegung. „Große Worte. Erzähl lieber, was dich in meine unliebsame Nähe treibt. Sehe doch, dass du kaum noch an dich halten kannst.“

Marwitz zog sich einen Stuhl heran und setzte sich auf die andere Seite des Schreibtisches. Manchmal fragte er sich wirklich, warum er überhaupt noch die Freundschaft zu Grüning aufrecht hielt. Es musste wohl an dem Krieg im letzten Jahr liegen, als er den Förster so anders erlebt hatte. Er glaubte, dass hinter der grantigen Schale des einsamen Sonderlings aus dem Hochwald ein anderer Mensch steckte, und er wollte wissen, was den Oberförster zu diesem raubeinigen Menschen gemacht hatte.

„Albert, mir ist ein großes Glück begegnet.“

„So etwas soll es geben?“

„Ja, Gott hat mir ein exquisites Geschenk bereitet. Als wir uns letztens im Wald begegneten, ritt ich nach Wilhelmsthal ...“

„Halt ein, Franz! Will es nicht in pathetischen Worten hören. Der Frack, dein Glück – es kann sich nur um die Aneinanderkettung zweier bisher freier Menschen handeln.“

Marwitz musste schmunzeln. „Wenn du mit dieser sonderbaren Deskription eine Verlobung zu benennen beliebst, dann hast du allerdings das Rechte getroffen.“

„Wer sind die Leichtsinnigen, die ihre Freiheit geopfert haben? Einer scheint vor mir zu sitzen.“

„Sehr wohl, der eine bin ich.“ Marwitz zögerte. Vor seinem inneren Auge sah er die hellblauen Augen und das von braunen Locken umrahmte Gesicht seiner Braut. Beinahe ehrfürchtig sagte er: „Und die andere ist Amanda Wertheim.“

„Amanda Wertheim“, wiederholte Grüning und klopfte seine Pfeife aus. „Der Name ist mir nicht unbekannt. Weiß ihn nur nicht zuzuordnen.“

Da schlug Marwitz mit der flachen Hand auf die Tischplatte, dass es knallte. „Albert, ich bin konsterniert! Du kennst deine eigene Cousine nicht mehr?“

„Ach, meine Base“, gab Grüning gleichmütig zurück. „Woher sollte ich sie kennen? War sie überhaupt schon geboren, als ...“ Er brach ab.

Zu gern hätte Marwitz das erfahren, was Grüning auf der Zunge gelegen hatte. Aber er wusste, dass eine Nachfrage ihn nur noch schweigsamer machen würde.

„Zweite Chronika sechzehn Vers neun.“ Der Förster ließ die Worte unvermittelt in die Stille hineinfallen.

Verwirrt sah Marwitz ihn an. „Wie bitte?“

„Der einzige Bibelvers, den ich kenne.“

„Und würdest du die Güte besitzen, mir den Inhalt dieses Verses mitzuteilen?“

„Hierin hast du töricht gehandelt, denn von nun an wirst du Kriege haben“, zitierte Grüning.

„Albert, das passt nun aber überhaupt nicht zu einer Verlobung“, rief Marwitz. „Wie kommst du ausgerechnet auf diesen Bibelvers?“

„Frauen haben zwei schlechte Angewohnheiten: Entweder werden sie krank oder sie wollen uns Männer herumkommandieren. Tritt das Erste ein, bricht dein Glück in Scherben. Aber das Zweite ist beinahe noch schlimmer. Musst dich immer nach ihr richten, pünktlich zum Essen erscheinen, darfst nicht so viel rauchen wie du willst, Haustiere sind auch verboten. Stattdessen musst du deinen Lohn für Kleider und Duftwässerchen ausgeben. Tust du es nicht, hast du Streit.“

Marwitz schüttelte den Kopf. Er konnte den Freund nicht verstehen.

„Ich muss mir über das alles keine Gedanken machen“, fuhr Grüning fort. „Ich bin frei!“

Aber glückliche Menschen sehen anders aus, dachte Marwitz, als er das düstere Gesicht vor sich betrachtete. Was ging nur in diesem Mann vor? „Albert“, fragte er, „hast du eigentlich nie geliebt?“

Das harte Auflachen ging ihm durch Mark und Bein. „Was ist schon Liebe? Scher dich zu deinem Weibsbild, aber gedenke meiner Worte: Das vermeintliche Glück zerbricht, ehe du es mit Händen greifen kannst.“

Marwitz erhob sich und sah kopfschüttelnd auf den Förster hinab. Er wusste nicht mehr, was er sagen sollte, und so verließ er wortlos die Oberförsterei.

Als er draußen im warmen Licht der Sonne stand, atmete er tief durch. Er wollte sich nicht von dieser bedrückenden Stimmung im Forsthaus anstecken lassen, aber er würde dennoch alles versuchen, diesen Mann aus seiner Verbitterung zu reißen.

Hermann Wittemann stand am Fenster seines Büros und sah auf die Lastkähne hinab, die sich mühsam die Oder aufwärts kämpften. Dabei trommelte er den Yorckschen Marsch auf das Fensterbrett, dass ihm die Finger schmerzten. Hoffentlich würde seine Sekretärin bald mit der Tagespost kommen und hoffentlich war endlich ein Antwortbrief Grünings dabei. Es wunderte ihn ohnehin, dass er nun schon zwei Wochen schwieg. Sollte sein Brief etwa spurlos an ihm vorübergegangen sein?

Als es anklopfte, fuhr er herum. „Herein!“

Fräulein Jahn trat ein, immer wieder ein erfreulicher Anblick.

„Bringen Sie die Post?“, fragte er ungeduldig.

„Aber nein, Herr Ministerialdirektor. Dafür ist es doch noch zu früh am Tag.“

Sie hatte recht. Seine Ungeduld ließ ihn die Zeit vergessen.

„Aber es ist Besuch für Sie gekommen“, fuhr sie fort. „Soll ich ihn hereinführen?“

„Um diese Zeit? Wer ist es?“

„Ein Herr von Bredow. Er sagt, es sei äußerst wichtig.“

„Mein Schwager?“ Wenn er ihn hier im Ministerium aufsuchte, musste es tatsächlich etwas Dringendes sein, sahen sie sich doch allwöchentlich auf der Kegelbahn. „Führen Sie ihn herein. Und bringen Sie uns bitte Kaffee, einige Zigarren, und legen Sie auch meine Zigarillos bereit.“

Fräulein Jahn eilte hinaus, während Wittemann zwei Sessel um den runden Tisch am Fenster rückte.

Als er die vom Teppich gedämpften Schritte eines Mannes hörte, wandte er sich um. „Viktor! Welch seltener Besuch in meinen heiligen Hallen!“

Der Gast legte Hut und Überzieher ab und schüttelte Wittemann die Hand. Er sah wieder aus wie der vollendete Edelmann: Frack, Zylinder – alle Details stimmten.

Wittemann wies mit dem Arm einladend auf die Sessel. „Bitte, nehmen wir doch Platz. Möchtest du dem strahlenden Kegelsieger des gestrigen Abends deine Huldigung persönlich darbringen, dass du mich gleich heute aufsuchst?“

Von Bredow lachte gezwungen. „Nein, Hermann, ich wollte dich gerne einmal allein sprechen.“ Unaufhörlich drehte er an einem der Knöpfe seines Fracks.

„Dann warte einen Augenblick, wir werden gleich ungestört sein. Meine Sekretärin wird uns nur noch – da ist sie schon.“

Fräulein Jahn stellte den Kaffee und die Tabakwaren auf den Tisch und wollte sich unauffällig entfernen.

Wittemann hielt sie zurück. „Fräulein Jahn, bitte sorgen Sie dafür, dass wir nicht gestört werden.“

Sie knickste. „Selbstverständlich, Herr Ministerialdirektor.“ Sie schloss die Tür hinter sich, als sie den Raum verließ.

„Donnerwetter!“, entfuhr es von Bredow. „Hätte ich das gewusst, hätte ich dich bereits öfter besucht.“

Wittemann lachte. Seine Leidenschaft für schöne Mädchen teilte der Mann seiner Schwester mit ihm. „Die Familie des Fräuleins war vollständig verarmt, als ihr Vater, einer meiner ehemaligen Regimentskameraden, den Freitod wählte. Da hielt ich es für meine Pflicht, mich ihrer anzunehmen.“

„Eine Pflicht, die dir sicher nicht schwer geworden ist“, lachte von Bredow, immer noch an dem Knopf seines Fracks drehend.

„Es gibt auch angenehme Pflichten. Sie ist ein wahrer Glücksgriff: fleißig, freundlich und ...“

„... hübsch“, vollendete von Bredow.

„Jetzt ist er ab.“

„Wie bitte?“

„Der Knopf.“

Von Bredow betrachtete den Knopf in seiner Hand und steckte ihn dann in die Tasche. „Das Dienstmädchen wird ihn wieder annähen.“

„Auch hübsch?“

„Meine Frau und meine Tochter sorgen dafür, dass das Personal nicht hübsch ist“, brummte von Bredow, griff nach einer Zigarre und schnitt sie an.

„Offenbar gibt es einschlägige Erfahrungen“, lachte Wittemann. „Da lobe ich mir mein Witwerdasein.“ Er reichte seinem Gegenüber Feuer, um die Zigarre anzustecken. Hatte die Hand seines Schwagers früher schon gezittert?

Von Bredow nahm einen tiefen Zug. „Ausgezeichnete Zigarren habt ihr im Ministerium.“

Was er nur von ihm wollte? Jetzt klopfte er unaufhörlich mit dem Finger auf die Zigarre; warum diese Nervosität? Er wusste doch, dass sie gut befreundet waren. Wittemann lehnte sich in seinem Sessel zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Sprich dich aus, Viktor.“

Von Bredow seufzte tief auf. „Hermann, du bist mir immer wie ein Bruder gewesen.“

„Du mir ja auch. Aber bist du gekommen, mir dies unter vier Augen zu sagen?“

„Und deine einzige Schwester, meine Frau Wilhelmine, lag dir auch stets am Herzen.“

„Auch dieses, ja.“ Er sollte doch endlich ausspucken, was er von ihm wollte.

„Und Rahel, meine Tochter – ich meine, du hättest immer eine gewisse Zuneigung zu ihr empfunden.“

Aber nicht nur, weil sie meine Nichte ist, sondern insbesondere weil sie ausgesprochen hübsch ist – oder jedenfalls war, als ich sie zuletzt gesehen habe. „Ja ja“, antwortete er zerstreut.

„Wir sind in Not, Hermann.“

„Was du schon Not nennst.“ Wittemann zündete sich ein Zigarillo an und blies gekonnt blaue Kringel in die Luft.

„Es ist ernst. Hermann, ich ...“ Von Bredow sprang auf und machte einige Schritte durch das Büro. Dann blieb er mit hängenden Schultern vor Wittemann stehen. „Ich bin bankrott.“

Wittemann, der gerade die Asche von seinem Zigarillo in den Ascher streichen wollte, hielt mitten in der Bewegung inne. Zusammen mit dem schweren Ticken der Wanduhr und dem Klopfen von Bredows auf die Zigarre schwebte das unheilschwangere Wort im Raum.

In Wittemanns Kopf überschlugen sich die Gedanken. Es war klar, dass sein Schwager ihn um Hilfe bitten wollte. Aber welcher Vorteil konnte für ihn aus dessen Misere erwachsen?

„Wie viel?“, fragte er nur.

Von Bredow trat wieder an den Tisch und stützte sich mit beiden Händen darauf ab, dass er ein lautes Knarren von sich gab. „Nächste Woche sind die Zinsen für eine Hypothek fällig, und ich habe keine Ahnung, woher ich das Geld nehmen soll.“

„Ein neuer Kredit?“

„Völlig aussichtslos. Keine Bank leiht mir Geld.“

Wittemann betrachtete den distinguiert aussehenden Mann und schüttelte den Kopf. „Wie konnte es so weit kommen?“

Von Bredow sank wieder in den Sessel und begann erneut, auf seine Zigarre zu klopfen. „Erst Wilhelmines Unfall. Ihre Behandlungen verschlingen Unsummen.“

Wittemann lehnte sich wieder in seinem Sessel zurück und nickte. Seine Schwester saß seit dem Unfall vor sieben Jahren im Rollstuhl.

„Dann der Weberaufstand anno 44. Er brachte mich an den Rand des Ruins. Ich versuchte, die Lage durch einige Investitionen zu retten. Leider erwiesen sie sich ausnahmslos als Fehlschläge. Kürzlich musste ich sogar Rahel vom Internat nehmen, weil ich die Gebühren nicht mehr aufbringen kann.“

„Und der Betrag?“

„Ich muss bis nächste Woche 8000 Taler auftreiben.“

Wittemann musste schlucken. Das war allerdings ein kleines Vermögen. Dafür konnte er schon eine entsprechende Gegenleistung verlangen. Deshalb sagte er: „Das ist auch für mich ein gewagtes Geschäft.“ In Gedanken sah er die Zahlen vor sich und wusste, dass er von Bredow mühelos helfen konnte.

„Du bist meine letzte Rettung, Hermann. Sollte ich den Betrag nicht aufbringen können, bleibt mir nur noch ein Ausweg.“

Wittemann kannte diesen Weg. Den gleichen Weg war auch Fräulein Jahns Vater gegangen. Aber die Verzweiflung seines Schwagers sollte ruhig grenzenlos werden – umso mehr sprang für ihn dabei heraus.

„Was ist mit Rahel?“, fragte er unvermittelt.

Von Bredow hielt kurz im steten Klopfen inne, um dann mit doppelter Geschwindigkeit fortzufahren. Durch das Qualmgewölk hindurch konnte Wittemann seinen verwirrten Gesichtsausdruck erkennen. „Willst du ihren Wert taxieren?“

Wittemann verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Sie ist jung, und wenn sie sich so positiv weiterentwickelt hat, wie ich denke, ließe sich aus ihrer Schönheit Kapital schlagen.“ Wenn er geglaubt hatte, von Bredow würde nun in die Höhe fahren und dieses Ansinnen weit von sich weisen, hatte er sich geirrt.

„So wie deine Sekretärin. Sie hat auch verstanden, ihre Reize gewinnbringend einzusetzen.“

Wittemann lachte. Von dieser Seite drohte ihm also kein Widerstand. „Würde sie das tun?“

„Du kennst deine Schwester. Leider ist es ihr gelungen, ihre frommen Flausen auch in Rahels Kopf zu setzen. Morgens beten, mittags beten, abends beten, die Bibel ist ihr steter Begleiter. Und die altmodischen Moralvorstellungen hat sie ebenfalls von ihrer Mutter übernommen.“

„Jungmädchen-Flausen. Die sollte man ihr austreiben können. Wie alt ist sie jetzt?“

„21 Jahre.“

„Ich werde sie heiraten.“ Innerlich krümmte sich Wittemann vor Lachen, als er seinem Schwager in die Augen sah, die groß wurden wie Doppeltalermünzen. Sogar das notorische Klopfen auf die Zigarre hörte auf.

„Du willst sie heiraten?“, krächzte er endlich. „Ihr Onkel? Du bist 23 Jahre älter als sie!“

„Höchste Zeit, mich wieder nach einer dauerhaften Gefährtin umzusehen. Und sie braucht einen starken Mann, der ihr das fromme Gehabe abgewöhnt.“