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Ist er schuldig oder nicht? Ein Drummer wird nach einer Party angeklagt. Sein Sänger John war mit ihm auf der Feier, was hat er mitbekommen? Dennis, einer der Tontechniker, war ebenfalls vor Ort, welche Erkenntnisse hat er? Thomas, der Rechtsanwalt der Gegenseite, bekommt direkte Informationen von der Klägerin, welche Schlussfolgerungen zieht er? Rolf, ein Journalist einer regionalen Zeitung, wird auf den Fall angesetzt und versucht die einzelnen Puzzleteile zusammenzusetzen. Welche Verbindungen zeigen sich ihm und kann er die über allem stehende Frage beantworten: Was ist die Wahrheit?
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Seitenzahl: 461
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Das Buch, das du in den Händen hältst, wurde mit der Intention geschrieben, dich zum Nachdenken anzuregen. Ich wollte nicht irgendein Buch schreiben, nur um ein Buch geschrieben zu haben. Es ging nicht darum, eine reine Unterhaltungslektüre zu verfassen, die man als Leser so schnell wieder vergessen, wie man sie gelesen hat. Ziel war es vielmehr, dass bestimmte Sätze oder Fragen, die im Buch auftauchen, etwas in dir ansprechen, etwas in dir auslösen, etwas in dir vorantreiben, das dich deinen Blick auf die Welt schärfen lässt. Es gibt eine Menge versteckter Botschaften in diesem Buch und keine klaren Antworten. Ich bin der Auffassung, das jeder Mensch nur selbst zu Erkenntnissen gelangen kann und mögliche Richtungen, Wegweiser und Blickwinkel aufzeigen alles ist, was andere dazu beitragen können. Wer andere nur belehrt und ihnen nicht selbst die Chance gibt zu lernen, der verpasst es, ihnen langfristig zu helfen. Aber genug der einleitenden Worte. Mögen dich genau die Inhalte dieses Buches ansprechen, die für dich am wertvollsten sind. Viel Spaß beim Lesen.
Jährliches Seefest bei herrlichem Spätsommerwetter
“Du bist der Nächste Johnny, Rob wird noch ungefähr zehn Minuten auf der Bühne stehen. Wenn du also noch irgendwelche letzten Rituale hast, dann mach sie jetzt.” Ich nicke nur. Nein, nein, letzte Rituale habe ich nicht. Solche Rituale sind ohnehin eher etwas für Menschen, die zusätzlichen Halt benötigen. Ich wende mich ab und gehe ein kleines Stück weiter, um einen Blick auf die feiernde Menge zu erlangen. Ausgelassen hüpfen die Fans zum Takt auf und ab und an den Mündern erkennt man, dass die meisten die Texte aus dem Effeff beherrschen. Das Publikum ist nicht mehr ganz jung, die meisten zwischen 25 und 40 Jahren. Einige Ältere sind auch dabei, wobeiälterrelativ ist, 50 vielleicht. Diese Musik ist eben nur etwas für die jetzige Generation. Die ältere Generation mit ihrer Pop- und Rockmusik ist viel zu weich, zu indirekt. Dort geht es immer nur um die Liebe, die Eine und wie sie einen wieder verlässt. Einfach nur öde. Bei der jüngeren Generation wird alles nur noch elektronisch gemacht, kaum noch Texte, nur noch Beats und schrille Töne. Keine Ahnung, wie man das aushält. Aber das gleiche dachten meine Eltern auch immer von der Musik, die ich höre. Ist wahrscheinlich eines dieser universellen Gesetze.
Vereinzelte Schleierwolken zieren den ansonsten blauen Himmel. Der Sommer in diesem Jahr ist glücklicherweise nicht so heiß, wie der letzte. Im vergangenen Jahr musste sogar ein Event ausfallen - es gab quasi hitzefrei, wie in der Schule damals. Verrückte Welt. Warm ist es aktuell trotzdem wieder, die jüngsten Nachrichten meldeten sogar, es könne sein, dass es im nächsten Sommer zu einem Wassermangel kommt - bei uns! Ich sag ja, verrückte Welt. Wenigstens geht heute ein wenig Wind. Eine kühle Brise an einem herrlichen Sommerabend, da könnte man auch zu Hause auf der Dachterrasse sitzen und sich ein frisches Bier vom Fass gönnen. Nur eines, der Körper soll schließlich fit bleiben. Seit viereinhalb Jahren läuft das Workout, jeden Tag, für 90 Minuten - so viel Zeit muss sein. Dieser Körper ist schließlich alles, was man hat.
Die Bühne besteht aus drei Teilen, allesamt ca. 20m breit. Die Band zur Begleitung spielt auf der linken Seite, der Sänger selbst in der Mitte, direkt unter dem futuristischen Banner des Seefests. So richtig passt der Banner mit seinen geschwungen Formen nicht ins Bild, wir Rapper sind doch eher kantig und ecken hier und da an. Auf dem rechten Bühnenabschnitt ist Platz für den Chor oder für die Tänzer. Warum die Organisatoren nur die Hauptkünstler auf der mittleren Bühne haben wollen, ich weiß es nicht. Aber es ist die achtzehnte Auflage des Seefests, also werden die schon wissen, was sie tun. Die Lichtshow jedenfalls kann sich sehen lassen und dass trotz des geringen Kontrastes zur Sommersonne, die immer noch recht hoch am Horizont steht. Erste längere Schattenwürfe der Fichten sind jedoch erkennbar, reichen aber noch nicht ganz bis zum See. Im See selbst schwimmen tatsächlich noch Enten. Die scheinen sich an der ohrenbetäubenden Musik, die aus den zahlreichen großen Standlautsprechern kommt, nicht zu stören. Hin und wieder machen Sie das Headbanging mit und tauchen ein und oder zweimal ihren Kopf unter Wasser. Danach paddeln sie weiter seelenruhig durch das schimmernde Wasser.
Das Areal ist riesig, bis zu 10.000 Fans sollen hier sein. Das ist schon eine ganze Menge. Mein erster und einziger Auftritt hier vor zwei Jahren war noch vor nur knapp 5.000 Fans und trotzdem ein voller Erfolg. Mit einem gelungenen Auftritt heute könnten die Verträge mit zwei Plattenproduzenten vielversprechend aufgestockt werden. Vielleicht reicht es dann auch endlich für den absoluten Tophit. Bislang war die beste Chartposition Nummer sechs. Das kann ja nicht das Ende der Messlatte sein. Drei Hits waren in den Top 10. Das ist für einen Rapper zwar schon beeindruckend, aber Rob, der arrogante Idiot, der gerade noch auf der Bühne steht, hat mit seinem aktuellen Hit sogar Platz drei geschafft - lächerlich, wenn man sich die Lyrics genauer anhört. Und Frank hat es sogar auf Platz zwei geschafft, was allerdings schon eine ganze Weile her ist. Zwei Jahre? Vielleicht sogar drei. Ich weiß es nicht mehr. Muss ich ihn später mal fragen. Die Fans heute jedenfalls scheinen weiter gut drauf zu sein, trotz der Tatsache, dass sie kaum Platz um sich rum haben. Eng gedrängt sind sie alle, wie Hühner in Käfighaltung. Nur dass es keinen richtigen Käfig gibt, lediglich Ordner in gelben Westen, die wohl als Hauptaufgabe haben, den Platz direkt vor der Bühne so gerappelt voll wie möglich zu halten. Das doch recht große Polizeiaufgebot scheint bislang nichts dagegen zu haben. Die halten sich weiter im Hintergrund auf, aber das mag auch andere Gründe haben. Schließlich ist dort etwas mehr Schatten und in all der Uniform schwitzt man bei dem Wetter schon leicht mal.
Der Parkplatz, vor dem sich die Polizisten aufgestellt haben, ist jedenfalls bis auf den letzten Platz gefüllt. Und nicht nur dass, Steven hat mir vorhin gesagt, dass selbst die Zufahrtsstraßen kilometerlang zugeparkt sind. Aber Steven übertreibt auch gerne mal. Ist schon immer witzig mit ihm, hin und wieder ist er der reinste Chaot, aber dann gibt es auch wieder Momente, da wirkt er wie der Dalai Lama. Schätze als Drummer muss man ein wenig verrückt sein. Er ist übrigens jemand, der Rituale hat. Jetzt wischt er wahrscheinlich gerade mit dem gestickten Tuch seiner verstorbenen Großmutter seine Drumsticks ab, nicht irgendwie, sondern von unten nach oben - immer von unten nach oben - genau sieben Mal. Er meint sieben sei seine Glückszahl. Glück - meiner Meinung nach hat das Leben nichts mit Glück zu tun, wenn man hart schuftet, kann man alles erreichen. Die drei Top 10 Hits sind nicht auf Grundlage von Glück entstanden, sondern weil wir täglich an uns arbeiten und uns nicht mit weniger als dem Besten zufriedengeben. Und genau das ist der Grund, warum wir es auch auf Platz eins schaffen werden. Vielleicht ja schon mit dem neuen LiedHarte Bandagen, das wir heute das erste Mal live spielen werden.
“Eine Minute noch Johnny! Wo steckt dein Drummer?”, fragt mich einer der Organisatoren. “Keine Panik, der beendet nur noch gerade sein Ritual, bin mir sicher, er ist jede - da kommt er doch. Stellt ihr nur sicher, dass mit der Technik alles funktioniert, den Rest besorgen wir dann schon.” Na dann wollen wir mal - drei Songs singen, drei krasse Performances abliefern und drei Mal wird die Crowd ausrasten. Los geht es mitSchmerz, dannGegen den Rest der Weltund schließlich der neue HitHarte Bandagen. Als Steven sich neben mir aufstellt, kann ich mir einen Spruch nicht verkneifen. “Steven, bist du bereit, hast du deinen Stick wieder mal poliert?”, necke ich. Er kennt meine Eigenheiten und weiß inzwischen damit umzugehen. “Haha, mach dich nur lustig.”, antwortet er, “Es sind vier Sticks und ja, frisch geputzt und poliert. Let’s go!”

Auf einer Bühne zu stehen, ist nicht immer leicht. Ich kann mich noch erinnern, dass ich als kleines Kind enormes Lampenfieber hatte, als wir eine Schulaufführung hatten, bei der ich die Raupe Nimmersatt gespielt habe. Minutenlang habe ich mich geweigert, auf die Bühne zu gehen und selbst meine Mutter konnte mich nicht beruhigen. Als Kind kann man jedoch sehr von anderen Kindern beeinflusst werden und als mir der große Bruder meines besten Freundes Gregor von seinem Lampenfieber berichtet hat und sagte, dass man von der Bühne aus ohnehin ganz anders wirkt, als man denkt und dass die Menschen einen dafür bewundern, diesen Mut zu haben, in andere Rollen zu schlüpfen, da konnte ich meine Angst für ein paar Sekunden ablegen und trat auf die Bühne.
Ich habe es geliebt - von dort an wusste ich, dass mein Weg irgendwann etwas mit dem Auftritt vor anderen Personen zu tun haben sollte. Es war ein tolles Erlebnis. Dass ich einmal als Rapper auf der Bühne vor mehreren tausend Leuten auftreten würde, hätte ich damals aber für ziemlich unmöglich gehalten - aber ich hätte auch nicht gewusst, was einen Rapper auszeichnet. Musikinstrumente haben mich jedenfalls früher nicht wahnsinnig angezogen, Musik zu hören jedoch schon. Zumindest bestätigen mir das meine Eltern immer wieder, wenn sie mir Geschichten von früher erzählen, als ich noch zu klein war, um mich daran zu erinnern. Einmal soll ich bei einem Geburtstag von einem Freund auf den Tisch geklettert sein und dort getanzt haben - wie gut, dass es zu der Zeit noch nicht üblich war, alles auf Video festzuhalten. Auch verwunderlich, wenn ich so darüber nachdenke, dass ich davor scheinbar kein Lampenfieber hatte. Ist wahrscheinlich die Unbekümmertheit in dem Alter.
Die Scheinwerfer, die auf die mittlere Bühne gerichtet sind, leuchten so grell, dass sie einen Großteil der Wahrnehmung der Umgebung einschränken. Immerhin die Reihe der blauen Dixi-Toiletten, die von zahlreichen kleinen Schlangen bedürfnisreicher Menschen belauert werden, sind noch zu erkennen. Der überwiegende Teil der Zuschauer wartet allerdings gespannt auf den ersten Beat. Das Mikrofon liegt fest in meiner Hand, die Kapuze ist tief ins Gesicht gezogen - eines meiner Markenzeichen. In der ersten Reihe steht eine vierköpfige Gruppe leicht bekleideter Frauen. Sie sind Anfang 30, würde ich schätzen. Ihre Augen sind groß und funkeln, als ich die Hand hebe und ihnen zuwinke. Etwas weiter rechts hat ein Vater seinen kleinen Sohn auf den Schultern. Ob die Lautstärke für den Jungen nicht zu laut ist? Manche Menschen schrecken vor nichts für ihr eigenes Vergnügen zurück. Aber der Vater ist auch wegen mir gekommen, von daher werde ich ihm und seinem Sohn eine tolle Show bieten. Der Beat setzt ein. Jubel schallt mir entgegen. Steven am Schlagzeug hat ein breites Grinsen im Gesicht und mein Gitarrist Manuel lässt das erste Riff leichthändig über die Saiten gleiten. Beide sind absolut hervorragend auf ihrem Gebiet. Fünf, sechs, sieben, acht.
“Wenn ich Morgens aufstehe, wenn ich dann voll drauf gehe, mich kurz wieder aufrege, dann doch hundert Pro gebe, werden all die Taten, die mich den Tag erwarten, nacheinander starten, dann kann der Schmerz noch warten.” Der SongSchmerzbeschreibt ein dunkles, wohlmöglich das dunkelste Kapitel meines bisherigen Lebens. Er handelt von dem immer wiederkehrenden Schmerz des Verlustes eines geliebten Menschen - in meinem Fall meines besten Freundes Gregors, den ich kannte, seitdem ich vier Jahre alt war. Anderthalb Jahre ist das her und seitdem schwebt eine dunkle Wolke über vielen Gedanken in meinem Kopf. Doch der musikalische Erfolg des vergangenen Jahres, die Liebe der Fans zu den Texten, nehmen die Trauer immer wieder ein wenig. Es ist ein Balanceakt, jeden Tag aufs Neue. “Voller Schmerz, berührst mein Herz, auch heute noch, man wärst du doch, hier bei mir, dann würd ich dir, sagen, was noch offen ist, seit ich dich so krass vermiss.” Man, wie viel haben wir zusammen gemacht, über Jahrzehnte hinweg. So traurig der Song für mich auch ist, so sehr erinnert er mich auch an die genialen Zeiten, die wir hatten. Die Streiche, die wir unseren Eltern gespielt haben, die Ausflüge, die wir mit den zwei kleinen Chiwawas von Gregor gemacht haben und nicht zu vergessen, den Urlaub, bei dem wir beide unseren ersten Kuss mit den schwarzhaarigen Zwillingsschwestern hatten. Was haben wir nicht alles erlebt. “All das ist reine Spekulation, selbst gemachte Manipulation, keine Aktion sondern Reaktion, und was bleibt, das ist der Hohn, ist reiner Schmerz - du weißt schon…”
Ein Meer aus Händen hängt in der Luft, der Schlussakkord klingt aus und Getöse der Menge durchhallt die plötzliche Stille der Lautsprecher. Die Scheinwerfer gehen für einen Moment aus. Beim Anblick der Menge fällt mir die fast durchweg dunkle Kleidung auf. Anhänger von Rap sind nicht die farbenfrohesten Menschen, wie es aussieht. Immerhin bringen die roten und grünen Bandanas einiger Fans sowie die Goldketten ein wenig Abwechslung ins Bild. Ansonsten kommt die meiste Farbe von der Haut der Frauen in der Menge - eine reizende Blondine mit vollen roten Lippen sticht dabei besonders hervor. Sie steht zwar erst irgendwo in Reihe zehn, ist aber ein wahrer Blickfang. Sie legt wert auf ihren Körper, das kann man sofort erkennen. Sehr sympathisch. Die Scheinwerfer gehen wieder an, aber nicht die vorderen, sondern dieses Mal die oberen. An Lichteffekten wird beim Festival hier nicht gespart. Steven ist wieder voll dabei, irgendwie bewundernswert für jemanden, der nicht im direkten Rampenlicht steht.
Gegen den Rest der Welthandelt von einem Einzelgänger, der ein ums andere Mal von seinen ehemaligen Freunden verraten wurde. Mit jedem Schicksalsschlag zieht er sich weiter zurück, isoliert sich und sieht sich der Welt allein gegenüber. “Bist mir in den Rücken gefallen, Julius Caesar fühlte ähnlich, innerlich möchte ich die Fäuste Ballen, hältst du mich für dämlich?” Diese Rolle des unterdrückten Helden ist schon oft verfilmt worden, aber in der Realität sind diese Menschen meist gar keine Helden, sondern Opfer - Opfer des Systems, Opfer von Vorurteilen oder Opfer ihrer Umgebung. Meist beginnt das schon in ganz frühen Jahren. Mein Blick schweift auf den kleinen Jungen in der ersten Reihe. Was für eine Zukunft ihn wohl erwartet? Wird er auch mal Opfer sein oder steht er auf der Seite derjenigen, die andere zu Opfern machen? “Habt gehetzt, habt gemobbt, habt mich zum Rückzug gezwungen, habt mein’ Elan gestoppt, hab nur noch mit mir gerungen.” Ist man erst mal in dieser Abwärtsspirale drin, kann man dagegen kaum noch etwas tun. Früher haben die Menschen Krieg erlebt und das muss grausam gewesen sein, aber immerhin hatten sie einen Feind, der nicht sie selbst war. Doch heute? So viele Menschen leiden und sind unzufrieden mit sich selbst, sehen sich selbst als den Gegner, den es zu besiegen gibt. “Ich bin allein, und das ist gut so, was ihr mir gebt, das brauch ich nicht, ich bin allein, und das ist gut so, eure Wörter haben kein Gewicht. Ich bin fürs Leben, aber ich bin kein Held, ich bin einfach nur, gegen den Rest der Welt.”
Wie viele von den applaudieren Fans sich wohl mit diesem Song identifizieren können? Die meisten sind wohl in Gruppen da, aber einige sicher auch allein oder als fünftes Rad am Wagen. Nach dem Tod von Gregor habe ich mich beim Ausgehen mit neuen Freunden häufig so gefühlt. Natürlich bin ich berühmt und gut aussehend. Da kommt man schnell in Kontakt mit neuen Menschen, aber was nützt das, wenn alles oberflächlich bleibt? Die anderen haben gemeinsame Vergangenheit, gemeinsame Jokes, gemeinsame Sprache. Was bin ich für sie? Ein Promi, mit dem man sich ablichten kann. Hier ein Selfie, da eine Party im VIP-Bereich, aber sonst? Wenigstens bei den Frauen gibt es Tieferes. Die geben sich schließlich nicht nur mit einem Foto zufrieden, sondern nehmen gerne mehr und zu gutem Sex habe ich noch nie nein gesagt.
Erneut gehen die Scheinwerfer aus, die Menge tobt und kopiert meine Pose mit nach unten geneigtem Kopf und nach oben ausgestreckter Faust. Das Adrenalin pumpt - gleich werden wir sehen, wie gut unser neuester Hit ankommt. Die Polizisten wirken etwas aktiver und beunruhigter, befürchten vielleicht, dass die Menge durch die Songs aggressiver wird. Aber der Veranstalter schenkt in den vier großen, mobilen Getränkewagen keine hochprozentigen Sachen aus. Ein bisschen Bier gibt es und ein wenig Wein, zu dem aber wenn nur die Frauen greifen. Es gibt sogar ein Gehwegkonzept dafür, so dass die Menschen nicht an den Wagen verharren, sondern weiter wandern müssen. Bis sie beim nächsten Wagen ankommen, vergeht schon einiges an Zeit in den Warteschlangen - ein gutes Konzept um komplett Besoffene zu verhindern, aber dass es nicht zu völliger Orientierungslosigkeit bei den Gästen führt, ist schon verblüffend. Liegt bestimmt an den vielen Ordnern in ihren schicken gelben Westen.
“Willst du hoch hinaus, fahr die Ellenbogen aus, bring dich in Position, denn nur dann stimmt auch der Lohn, achte auf deine Gegner, handle jetzt und nicht später, denn wenn du erst mal oben bist, läuft’s von alleine ganz gewiss.” Es ist schon merkwürdig, dass wir Menschen als soziale Wesen bezeichnet werden und uns gegenseitig so viel Unsoziales antun. Die paar reichsten Menschen haben kaum Probleme noch mehr Geld anzuhäufen, weil sie sich alle Voraussetzungen dafür einfach kaufen können. Die Armen hingegen können die besten Ideen haben, aber sind nicht in der Lage diese umzusetzen, weil ihnen der Start fehlt. Entweder besitzen sie das Geld nicht oder sie haben schlichtweg zu wenig Zeit, sich neu zu orientieren, weil sie mit dem Überleben selbst beschäftigt sind. Zur Elite zu gehören, war schon immer erstrebenswert, um ein gutes Leben zu führen. Ich bin froh, dass ich dazu gehöre. Ich brauche mir keine Gedanken darüber machen, wie es ist, nicht zu wissen, wo die Miete für den nächsten Monat herkommen soll, wann mein Kind mal mit auf Klassenfahrt fahren kann oder ob es morgen überhaupt noch was zu essen gibt. Neulich habe ich in einer Studie gelesen, dass zwei Prozent der Menschen genauso viel Reichtum besitzen wie die ärmere Hälfte. Das Schlimmste daran ist, dass unter dieser ärmeren Hälfte zehn Prozent Kinder sein sollen. Wenn man sich das ausrechnet, was das in Zahlen bedeutet, wird einem schwindelig. Ist doch verrückt, dass das nicht besser verteilt wird. “Nur du weißt, was das beste für dich ist - lass dir von andern nichts sagen, kämpf mit harten Bandagen! Niemand weiß, wie erfolgreich du jetzt bist - lass dir von andern nichts sagen, kämpf mit harten Bandagen! Verfolge dein Ziel, denn nur so wirst du reich - lass dir von andern nichts sagen, kämpf mit harten Bandagen! Dreh dich bloß nicht um, denn sonst wirst du zu weich - lass dir von andern nichts sagen, kämpf mit harten Bandagen!” Wer nicht mehr tut als alle anderen, der verliert den Kampf und den Anschluss. Ich stände nicht hier auf der Bühne, wenn ich nicht jeden Tag alles dafür tun würde, besser zu sein als all die anderen Rapper da draußen - all die arroganten Robs, all die abgelenkten Flops. Oh, ich liebe es, wenn sich meine Gedanken reimen, vielleicht sollte ich da auch ein Lied drüber schreiben.
Die Crowd jedenfalls geht ordentlich mit, das läuft genauso wie erhofft.Harte Bandagenkommt richtig gut an, der Beat ist auch einfach phänomenal, da hat sich Steven selbst übertroffen. Eine Gruppe Männer springt sich mit der Brust voraus gegenseitig entgegen und plustert sich dabei lachend auf. Es ist schön, zu wissen, dass meine Musik solche Wirkung hat, dass sie Menschen aus ihrem Alltag rausreißt und die Welt um sie herum mal für ein paar Minuten vergessen lässt. Und dann beginnt das Spiel von vorn - höher, schneller, weiter, dem anderen immer einen Schritt voraus sein. “Danke schön! Thank you! Ihr seid die Besten!” Noch einmal die Faust in die Luft strecken. Die Lichter verblassen und es geht runter von der Bühne.
Im abgesperrten Backstagebereich begegnet uns Frank Farell und zwinkert mir zu. “Digga, geile neue Platte, aber hör gut hin, ich werd die Leute noch mehr zum Feiern bringen! Lass uns nachher noch quatschen Digga, ja?” Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Sicher bin ich mir nicht, ob er einen Satz ohne das Wort ‘Digga’ sagen könnte. Schon bemerkenswert wie viel Energie der Kleine hat, reicht mir gerade mal bis zur Schulter und dabei bin ich mit meinen 1,83m ja auch nicht riesengroß. “Klar doch, ich bin noch ein Weilchen hier, lass es krachen da draußen!” Wir haben uns das erste Mal bei einem Benefizkonzert für benachteiligte Jugendliche getroffen und uns auf Anhieb gut verstanden. Wir haben den selben Humor, wie es scheint und können uns herrlich über all die anderen Rapper lustig machen - gerade die ohne vernünftige Karren. Ein bisschen Stil sollte man schon haben.
In der Nähe der Garderobe wird es von der Lautstärke etwas leiser, so dass Manuel, Steven und ich eine kleine Feedbackrunde machen können. Steven möchte das immer, er liebt eben seine Rituale. “Leute, der Auftritt war mega oder? Habt ihr gemerkt, wie geil der Beat beiHarte Bandagenankam?”, legt er auch direkt los. “Ja, Steven, das war Gänsehautstimmung, ist dir heute besonders gut gelungen!”, entgegnet Manuel. “Und all die Fäuste! Toll, nach den letzten zwei Monaten mit den kleineren Auftritten und all den Proben, mal wieder so viele Menschen zu begeistern!”, fährt er fort. “War nur viel zu kurz, hätten lieber zwei Künstler weniger sein sollen und dafür noch ein bis zwei Songs mehr.”, werfe ich ein. Steven verdreht die Augen. “Jetzt mach mal halblang und genieß, was wir da auf die Beine gestellt haben. Immer dieser Pessimismus!” Irgendwie hat er ja recht. “War schon cool, ja, nur wie gesagt zu kurz. Ist doch die Wahrheit.” Manuel schaltet sich ein, “Du bist echt nicht leicht zufrieden zu stellen.” Ich schaue ihm in die Augen und antworte, “Doch doch, wenn wir endlich von Platz eins der Charts grüßen, dann bin ich zufrieden!” Dem Gelächter folgt ein Abklatschen und die Entscheidung, dass wir darauf doch erst einmal anstoßen sollten. Gut, dass es Backstage eine eigene kleine Bar gibt, wobeiBarübertrieben ist - es ist mehr ein Tisch, hinter dem ein älterer Mann Mitte 40 ein paar Kisten Bier gestapelt hat und uns drei Flaschen davon reicht. Immerhin besser als draußen anzustehen. Es klirrt, “Auf den nächsten Nummer eins Hit!”

“Digga!”, tönt es hinter mir, wer das wohl sein könnte. “Hey, Frank, alles klar? Zufrieden mit deinem Auftritt?” Eine Antwort benötige ich bei dem Grinsen in seinem Gesicht eigentlich nicht. “Digga, logisch, hast du die Party verpasst? Ein Song krasser als der andere, Digga!” Ich sag’s ja, kein Satz ohne dieses Wort. “Aber klar doch, konnte mir nicht verkneifen, den ein oder anderen Blick auf deine Fans zu werfen. Hast du die junge Dame links an der Bühne gesehen, mit dem tiefen Ausschnitt? Die hat dich gefeiert! Und war obendrein nicht mal doppelt so groß wie du.” Witze über seine kleine Statur ist er natürlich gewohnt. “Digga, natürlich ist sie mir aufgefallen. Das wäre eine Frau, die mich heut zur Afterparty begleiten dürfte. Vielleicht sehe ich sie ja gleich noch, dann packe ich sie mit ein. Bist du später auch noch da?” Der Veranstalter hatte bekannt gegeben, dass es eine VIP-Afterparty im nächstgelegen Club geben wird - alle Künstler und Bandmitglieder kommen natürlich umsonst rein. Los geht es wohl gegen 23 Uhr, die Karten für alle anderen sind auf 100 beschränkt, also einigermaßen exklusiv. Für mich wäre es kein Problem noch ein, zwei Frauen mitzubringen, das geht immer klar. Die Veranstalter wollen uns Stars nie vergraulen und erfüllen so ziemlich jeden Wunsch. “Du solltest dich auf die Suche machen, sonst springt sie noch mit jemand anderem in die Kiste.”, rate ich ihm, “Ich weiß noch nicht, ob ich später dabei bin, könnte sein, dass Manuel es eher ruhig haben will nach dem Auftritt. Er ist ja schnell mal müde.” Ehrlicherweise hätte ich sagen sollen, dass ich es heute eher ruhig angehen lassen will und die Jungs sicher nichts dagegen hätten, aber ein bisschen Flunkern für ein gutes Bild bei Frank ist schon okay. “Ach was, mit wem denn, Digga? Rob? Dem laufen doch alle weg. Hast du von dem Gerücht gehört, dass er vor kurzem in einer Nacht gleich bei drei Frauen abgeblitzt ist, Digga? Die alle später mit anderen Heim gegangen sind. Haha, der Junge hat nicht nur keinen Geschmack bei Plattenfirmen, er hat auch keinen Stil bei Frauen und trotzdem denkt er, er wäre der Held der Welt, Digga. Crazy!”
Im Rapgeschäft bleibt fast nichts geheim. Ein Fehltritt macht so schnell die Runde, dass am nächsten Tag quasi die gesamte Szene Bescheid weiß. So viel macht das allerdings nicht aus, es gehört fast zum guten Ton, dass über einen gelästert wird, teils aus Neid, teils aus Langeweile, teils aus Boshaftigkeit und teils einfach aus Humor. Ich wage dennoch zu bezweifeln, dass an all den Geschichten tatsächlich was dran ist - vielleicht an 30 bis 40 Prozent, aber mehr auch nicht. “In der Tat, Zubu Records ist wirklich das letzte Label, gehen über Leichen die Jungs. Wenn die Gerüchte stimmen, haben sie schon mindestens vier Karrieren in diesem Jahr durch ihre Schmutzkampagnen auf dem Gewissen. Ich kann mir echt nicht erklären, wieso Rob nach seinem letzten Erfolg gerade dahin gewechselt ist.” Frank lacht, “Digga, vielleicht wollen die einfach als einzige übrig bleiben, dann schaffen sie es mit ganz viel Glück tatsächlich mal in die Top 20!” In der Tat ist die beste Platzierung eines Songs vom Label Zubu Records Platz 23 und dass, obwohl es das Label schon seit der Übernahme durch diesen Multimillionär vor sieben Jahren mit allen Mitteln versucht, bessere Hits zu landen. Aber keiner der wirklich guten will hin. Mich haben sie vor zwei Jahren gefragt, keine Chance. Ich bin glücklich mit meinen Jungs, manchmal schludern sie etwas, aber das Arbeitsverhältnis ist top, da gibt es nichts zu meckern. Und sie haben schon andere Künstler in die Top 10 vor uns gebracht. Wer einmal Erfolg hatte, der wird ihn auch wiederholen. Nach kurzem Plausch über die letzten Trackideen für Franks neues Album, das im nächsten Jahr erscheinen soll, trennen sich unsere Wege. “Digga”, sagt er zum Abschluss, “überleg’s dir mit der Party! Ich geh mal die hübsche Frau suchen, wir sehen uns später, Digga!”
So ein Backstagebereich bei einem Festival ist manchmal gar nicht so extravagant, wie sich einige das vorstellen. In erster Linie geht es um Abschirmung von den Fans, damit die Künstler sich in Ruhe vorbereiten und nach dem Auftritt wieder runterfahren können. Viel Mühe hat sich der Veranstalter diesmal aber wirklich nicht gegeben. Es wurden lediglich ein paar Gerüste hochgezogen, große Planen drüber gehangen und das war es dann auch fast schon. “Hoffentlich sieht’s bei der Party später nicht so runtergekommen aus.”, sagt Steven. “Ach, sollen wir da heut echt hin, meinst du das lohnt sich?”, entgegne ich. “Aber klar doch, beim VIP Ausgang warten bereits zwei nette Ladies, die uns begleiten wollen. Ich hab da schon mal was klargemacht.” Steven und ich sind die Singles in unserer Band, beide noch jung und frei. Andere in meinem Alter sind schon verheiratet, klar, aber ich will mich nicht festlegen und Zeit hab ich noch genug. Außerdem war bislang keine dabei, die mich wirklich geflasht hat. “Die zwei muss ich mir erst einmal anschauen, nicht dass du wie letztes Mal einfach wieder zu voreilig warst.” Nach unserem letzten kleinen Auftritt hatte Steven nämlich auch eine Gruppe Frauen angequatscht und mitgenommen, die sich als die reinsten Tussies rausstellten. Also ich bin ja auch für gutes Aussehen, aber die kannten einfach gar kein anderes Thema und waren sich auch zu schade, irgendetwas an körperlicher Bewegung zu unternehmen, was ihrem hochpolierten Auftritt hätte einen Schweißfleck verpassen können. Der Abend wurde dementsprechend öde und machte mich mit der Zeit sogar aggressiv.
Wie Manuel das immer mit uns aushält? Er ist sieben Jahre älter als ich und angeblich glücklich verheiratet. Seine Frau scheint sein Leben als Gitarrist eines Rappers nicht sonderlich zu interessieren. Sie war zwar schon hin und wieder mal mit bei Auftritten dabei, aber meist macht er sein eigenes Ding. Hat natürlich auch was, wenn man sich in bestimmten Situationen nicht sieht und so einige monatelange Touren, wie man sie von großen Rockbands vielleicht schon mal gehört hat, haben wir noch nie gemacht. Das längste war eine Woche und die kann man auch mal ohne seine Frau aushalten. “Komm mit, ich stelle euch vor, die eine hat schon nach dir gefragt. Eine hübsche Brünette, schlank, ungefähr deine Größe, mit einem schwarzen Minirock und einem leichten Top. Sie trägt diese großen Ohrringe, wie heißen die nochmal? Kreolen? Die Haare hat sie offen, relativ kurz, nur bis zu den Schultern und ein einladendes Lächeln.”, führt Steven aus. “Alter, wie merkst du dir all das, bist du sicher, dass ich mitkommen soll? Vielleicht willst du sie lieber für dich haben!” Steven hat echt ein Talent für diese Details. Manchmal kann ich einen ganzen Abend mit einer Frau verbringen und muss am nächsten Tag darüber grübeln, welche Haarfarbe sie hatte. “Nein, nein.”, lacht er, “Du solltest erst mal die Andere sehen, die ist eher mein Typ!”
Der erste Eindruck der zwei Frauen ist in Ordnung, definitiv besser als beim letzten Mal. Steven hat uns vorgestellt und die Stimmen der beiden sind freudig, herzlich und wohlklingend. Wenn es etwas gibt, dass ich bei andern bemerke, ist das die Stimme. “Steven hat uns gesagt, ihr zwei seid heute Abend bei der Afterparty am Start und dass wir euch begleiten dürfen. Ist das euer Ernst, wir würden uns total freuen!” Wie leicht es doch ist, Anschluss zu finden, wenn man berühmt ist. Die Frauen schmeißen sich einem quasi an den Hals. “Das lässt sich einrichten, ganz ohne Begleitung wollen wir da nicht auflaufen. Wir brechen später vom Hotel aus auf, am einfachsten wäre es, wenn wir uns dort treffen. Seid ihr mobil?” Beide nicken. “Stephanie ist mit ihrem Porsche hier, sie liebt schnelle Autos, dafür lässt sie auch mal den Alkohol links liegen, stimmt’s?” Schon faszinierend wie schnell Menschen einem sympathisch werden können. Autos sind doch einfach das Geilste auf der Welt. Reinsetzen, losfahren, den Stress des Alltags hinter sich lassen und die Geschwindigkeit genießen. Stephanie merkt an, “Oh ja, schnelle Autos sind ein Traum, ich liebe das Design von deinem BMW Johnny - einzigartig, aggressiv und elegant zugleich!” Mit einem schelmischen Lächeln zu ihrer Freundin fügt sie noch hinzu, “Aber heute werd ich mir schon noch den ein oder anderen Cocktail gönnen, man lebt ja nur einmal.”
Im Anschluss tauscht Steven noch die Nummern mit den Frauen aus und wir machen ab, uns gegen 22:30 Uhr am Hoteleingang zu treffen. Die Frauen können ihr Glück kaum fassen. Früher hatte ich immer den Eindruck, Männer liefen Frauen hinterher, aber in den vergangenen Jahren hat sich meine Meinung doch erheblich gewandelt, es ist keine Frage des Geschlechts, sondern eine des Ansehens. Bist du ein Star, will jede mit dir schlafen. Zurück im Backstagebereich berichten wir Manuel von unseren Plänen, aber dieser winkt ab. “Heute nicht Jungs, meine Frau und ich gehen später noch gemeinsam Essen, heute vor 17 Jahren haben wir uns kennengelernt. Das hat sich so etabliert. Sie holt mich später vom Hotel ab. Ihr kommt sicher auch ohne mich zurecht.” Ganz gewiss, ein wenig neidisch bin ich schon. 17 Jahre, faszinierend.
Zeit die Sachen zusammenzupacken. Angereist waren wir heute Morgen mit unserem kleinen Bus, frisch lackiert, schwarz, mit zwei dicken, silbernen Querstreifen, die von unten halb die Fahrer- und Beifahrertür bis ungefähr zur Mitte hoch laufen und dann dynamisch nach Hinten führen. Für uns drei reicht der kleine Bus, für andere Bands wäre die Kiste schon etwas zu eng. Mir war wichtig, dass die PS Zahl stimmt, da blieb nur der T6 mit allen Extras, die man sich so vorstellen kann: Getönte Scheiben, Sitzheizung, Head-Up Display, alles voll elektrisch, einfach zum verlieben. Am Sound mussten wir selbst ein wenig basteln, aber jetzt stimmt der Bass und der Klang ist vom Feinsten. Da wir früh morgens vor all den Besuchern in den Bussen und Autos angekommen waren, konnten wir noch auf dem Hauptparkplatz parken, so dass unser Equipment schnell aus- und eingeladen werden kann. Das machen wir allerdings zum Großteil nicht mehr selbst, anders als früher, als wir noch kleine unbekannte Musiker waren. Damals hat man sich auch schon mal blöd verhoben und musste dann den nächsten Tag mit verzerrtem Gesicht proben. Heute kommen die Veranstalter selbst auf uns zu und bieten uns Hilfe an. Wie schon gesagt, Star muss man sein.
Das Festival ist noch voll im Gang, gerade versucht ein Anheizer die Stimmung nochmal explizit hochzupushen. Diese Jungs scheinen immer extrem gut drauf zu sein, aber hinter der Bühne sieht man auch oft ein anderes Bild. Auf dem Weg zu unserem Bus kommen wir an einer Gruppe Jugendlicher vorbei, die sich etwas abseits im Kreis versammelt hat. Es sind neun, sechs Jungen und drei Mädchen, allesamt noch nicht oder gerade erst volljährig, würde ich schätzen. Kommen bestimmt aus der Gegend hier und wollten sich das Event der Älteren mal anschauen. Ein Mädchen scheint mich erkannt zu haben, zeigt mit dem Finger auf mich und macht sich direkt auf den Weg zu uns. Mit Sprung im Schritt und einem breiten Grinsen im Gesicht sagt sie, “Hi, hi Johnny! Ich bin echt ein großer Fan von dir, würdest du mein Cappy signieren? Hier, ich hab auch einen Stift.” Das Mädchen ist auf jeden Fall noch keine achtzehn, eher vierzehn, mit großen Augen, die mich hoffnungsvoll ansehen. “Hi”, ich warte. “Oh, ich heiße Christine.”, sagt sie freudig. “Hi, Christine. Das mache ich doch liebend gerne. Soll ich etwas Bestimmtes schreiben? Bist du aus der Gegend hier?” Sie schüttelt den Kopf, “Nein, schreib einfach was Schönes. Ja, bin ich, meine Freundinnen und die Jungs sind alle wegen mir hier, weil ich dich unbedingt live sehen wollte. Dein neuer Song ist mega cool!” Das nenne ich einen wahren Fan. Ich schreibeFür meinen jüngsten und mutigsten Fan Christine - dein Johnny. Sie würde mir am liebsten um den Hals springen, hält sich jedoch zurück und hüpft auf die Cappy lächelnd nur kurz auf der Stelle. Dann dreht sie sich um, schreit mir noch einDankehinterher und berichtet ihren Freundinnen und Freunden, was sie gerade erlebt hat.
Wir gehen weiter, der Klang der Musik aus den Lautsprechern ist selbst hier noch gut zu hören. Von Vogelgezwitscher oder anderen Naturgeräuschen ist nichts übrig. Trotz zahlreicher Mülltonnen sieht der Boden stark verdreckt aus. Abfälle zieren hier und dort die Wege und das Gestrüpp, sogar in einer der großen Fichten hängt Müll. Wie der da wohl hoch gekommen ist? Die Menschen und ihr Planet führen manchmal eine sehr merkwürdige Beziehung. In dem kleinen Waldstück westlich von unserer Position haben sich zwei lachende Männer versteckt. Sie scheinen bester Laune und rufen uns zu, “Hey Jungs, Bock auf ne kleine weiße Prise?” Die haben uns scheinbar nicht erkannt, so berühmt sind wir dann doch noch nicht. Widerliche Typen, wie kann man nur andere dazu anstiften, Drogen zu nehmen. “Ihr seid abartig und solltet euch was schämen, ihr Idioten!”, platzt es mir raus. Steven hält mich zurück, “Johnny, bleib ruhig, lass denen doch ihren Spaß.” Wegsperren sollte man diese Leute, ruinieren nicht nur ihr eigenes, sondern auch die Leben anderer und ihrer Familien. “Man sollte diesen Deppen einfach mal eine scheuern, würde bestimmt helfen.” Ich lasse mich von Steven mitziehen und nach und nach verschwinden die beiden Gestalten aus meinem Blickfeld. “Jetzt fahren wir erst einmal zurück ins Hotel, da vorne ist unser Bus. Hast du die Schlüssel?”, fragt Manuel. “Ja”, antwortet Steven, “Ich fahr uns schnell hin.” Was die beiden sonst noch bequatschen, bekomme ich nicht mit. Meine Gedanken sind bei den zwei Vollidioten hängen geblieben, meine Miene erstarrt. Ohne Worte nehme ich meinen Platz hinten im Bus ein, balle die Fäuste und schließe meine Augen.
Einige Tage später in einem Wohnviertel mit Reihenhäusern
Die grünen Zahlen des Weckers erhellen den sonst dunklen Raum. Geklingelt hat er nicht, es ist 4:50 Uhr. Mein Körper zittert, ich wische mir den Angstschweiß von der Stirn. Alles nur wegen diesem Traum. Immer und immer wieder kehrt er zurück und immer und immer wieder reagiert mein Körper auf ähnliche Weise. Im Traum ist es Nacht, die Sterne am Himmel sind deutlich zu erkennen, der Mond ist halb gefüllt und erhellt die Landschaft. Mein Vater steht aufrecht vor mir und zeigt in Richtung eines Hügels, gesprochen wird nicht, alles geschieht mit Zeichensprache. Das Gewehr in seiner Hand verheißt nichts Gutes. Langsam pirschen wir uns vor, nur wir beide sind weit und breit zu sehen. Welchen Auftrag wir haben, weiß ich nicht. Nach einem Drittel des Anstiegs hält mein Vater inne und lauscht. Außer dem Zirpen der zahlreichen Grillen ist nichts zu hören. Wir gehen weiter, die Beine allzeit gebeugt, um das Gewicht besser abzufedern. Ich habe meine Augen meist nach Hinten und zur rechten Seite gerichtet, mein Vater übernimmt die anderen Gebiete. Nach zwei Dritteln des Weges hält er erneut inne. Wieder ist kein unnatürliches Geräusch zu vernehmen. Er deutet mir an, dass wir uns das letzte Stück robbend fortbewegen sollten, um noch unauffälliger zu sein. Wir lassen uns zu Boden und kriechen Meter für Meter näher an die Hügelkuppe. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Auf der rechten Seite, etwas abhängig, ist ein Waldstück zu erkennen, zahlreiche Tannen ragen meterhoch in die Luft und werfen ihre Schatten in unsere Richtung. Sie wirken wie bedrohliche Riesen, die kommen, um uns zu holen und in absolute Schwärze zu verbannen. Hinter uns liegt das Tal, aus dem wir emporgestiegen sind. Ein kleines Dorf ist in der Ferne erkennbar, zwei, drei Laternen erhellen es. Ansonsten relativ kurz geschnittene Wiesen und abgeerntete Felder wohin man blickt, kaum Deckung. Wir haben Glück gehabt, dass wir bislang nicht aufgefallen sind. Ich blicke zu meinem Vater, er schaut konzentriert nach links. In dieser Richtung scheint es nach einem kleinen Tal noch einmal gute 20m höher zu gehen. Auch dort ragen Bäume empor, mehr von diesen furchteinflößenden Tannen. Bewegungen sind nicht auszumachen. Vor uns erstreckt sich zwischen all den Wäldern ein Pfad von links nach rechts, gesäumt von einem kleinen Holzzaun auf beiden Seiten. Eine Sitzbank erlaubt den Blick in unsere Richtung, sie ist leer.
In der Ferne ragt ein unidentifizierbares Bauwerk ein Stück in die Luft, könnte ein alte Ruine sein oder ein alleinstehendes Haus. Auch meinem Vater ist es aufgefallen. Das werden wir uns genauer ansehen, gibt er mir zu verstehen. Sein Plan ist es, die Dunkelheit der Tannen zu unserer Rechten zu nutzen, wir robben also noch ein kleines Stück weiter in diese Richtung und verschwinden im Schwarz der Schatten. Nachdem wir uns aufgerichtet haben und einige Schritte gegangen sind, werden die Umrisse des Objektes klarer. Es scheint sich um eine kleine Scheune mit einem Speichertank daneben zu handeln. Das Scheunendach verläuft spitz zu und der Tank ragt daneben ein paar Meter höher in den Nachthimmel. Licht brennt keines. Wir setzen unseren Weg fort, müssen gleich aber wieder die Schatten verlassen. Mein Vater stoppt und hält einmal mehr den Zeigefinger vor den Mund. Er lauscht. Ein leichtes Klappern ist zu hören oder ist es mehr ein Quietschen? Dann knackt es plötzlich hinter uns im Wald. Blitzartig drehen wir uns um und werfen uns zu Boden. Der Ast, so meine Vermutung, muss ein gutes Stück im Wald zu Bruch gegangen sein. Es ist wieder ruhig. Dann wieder das Quietschen aus der anderen Richtung, kaum wahrnehmbar. Zeit, sich zu entscheiden, wir können hier nicht ewig verharren. Mein Vater deutet auf die Scheune, wir robben los. Das Quietschen verstummt immer wieder, kommt dann zurück und wird manchmal von einem Klappern gefolgt. Es handelt sich offenbar um eine schwingende Tür oder ein Fenster, das im leichten Wind hin und her schwingt und dann gegen den eigenen Rahmen stößt, ohne zu schließen. An sich ein gutes Zeichen, denn es deutet darauf hin, dass die Scheune verlassen ist. Ich drehe mich um, war das da ein Schatten, der sich bewegt hat oder spielen mir meine Augen einen Streich? Verdammt schwer, irgendetwas in der Dunkelheit der Bäume zu erkennen. Es sind vielleicht noch 50m bis zur Scheune, als ein lauter Knall ertönt. Keine Armlänge neben mir trifft etwas den Boden, das war knapp. Es vergehen keine zwei Sekunden, dann knallt es wieder. Jemandaus dem Waldschießt auf uns. Agil springt mein Vater auf und läuft in möglichst geduckter Haltung Zickzacklinien. Ich tue es ihm gleich und versuche, schnell voran zu kommen. Normalerweise kann man 50m in ein paar Sekunden zurücklegen, doch mir kommt es vor, als würden wir minutenlang versuchen, den Schüssen auszuweichen. Wieder ein Knall, das Holz der Scheune splittert. Mein Vater ist knapp vor mir, ich blicke hinter uns und sehe gleich zwei Funken aufblitzen, die Schüsse werden gefolgt von einem Aufstöhnen. Kurz nur. Dann sinkt mein Vater vor mir zu Boden und ich reiße die Augen auf und erwache.
Hannes Truggenbrot, Ehemann von Svenja Truggenbrot, Vater von Rolf Truggenbrot, verstorben im Alter von nur 36 Jahren. Damals war ich 12 Jahre alt. Die genauen Umstände des Todes sind bis heute nicht bekannt. Mein Vater war beim Wehrdienst und wurde für einen Einsatz ins Ausland geschickt, ja, in ein Kriegsgebiet, aber laut offizieller Stelle nicht gefährlich. Eigentlich sollte sein Einsatz nur vier Wochen dauern, doch er wurde zweimal verlängert und in der elften Woche erreichte meine Mutter dann die Nachricht. Ein Hauptmann, so erzählt sie immer, stand an einem Novemberabend vor unserer Haustür. Er berichtete, dass Papa in einem nächtlichen Einsatz verschollen sei. Der Funkkontakt sei plötzlich abgebrochen und da nach zehn Tagen keine Spur von ihm auffindbar war und die Gegend dafür bekannt ist, im wahrsten Sinne des Wortes, keine Gefangenen zu machen, schätzten die Offiziere vor Ort die Überlebenschancen auf unter einem Prozent.
Sie sollten recht behalten, obgleich der Leichnam nie gefunden wurde. Nur wenige Wochen später begannen die Alpträume und dauern bis heute, 32 Jahre später an. Auf Grund meines Berufes als Journalist habe ich viele Quellen angezapft, um mehr Klarheit über die Vorfälle damals zu bekommen, aber gebracht hat es nichts. Immer wieder verlief ich mich in Sackgassen, immer wieder verliefen sich die Spuren im Sand. Bei den Einsätzen sind noch zwei weitere Männer spurlos verschwunden und die damals verantwortlichen Offiziere sind inzwischen alle tot. Einige Dokumente sindwegen Geheimhaltungnoch weitere zwanzig Jahre unter Verschluss, andere Dokumente sind zwar zugänglich, aber meist fast durchgehend geschwärzt. Es stinkt alles zum Himmel. Bei meinen Recherchen hatte ich stets das Gefühl, dass die Wahrheit einfach nicht ans Licht kommen soll. Ob die Träume jemals aufhören? Ich bezweifle es.
Die Nachricht über den vermutlichen Tod meines Vaters traf meine Mutter und mich hart und unerwartet. Ich habe ihn abgöttisch geliebt. Jeden Tag, an den ich mich erinnern kann, zeigte er mir, wie viel ich ihm bedeutete. Er sagte es nicht nur, er zeigte es. In seinen Gesten und in seiner Mimik lag reine Liebe für mich. Er war ein unglaublich guter und geduldiger Lehrer, der mir erklärte, wie die Natur funktioniert, was es mit den Sternen auf sich hat und wieso es Ebbe und Flut gibt. Er regte meine Neugier an und ließ mich alles erforschen, was ich wollte. Meiner Mutter fiel mehr die Rolle zu, mich hier und da in meinen Bestrebungen zu zügeln und zu bremsen. Auch sie wollte natürlich nur das Beste für mich, aber wuchs irgendwie mit der Zeit in diese Rolle hinein. Nach dem Tod konnte sie diese Rolle leider nie wirklich ablegen, blieb die Mahnerin und war übervorsichtig bei allem, was auch nur im Ansatz gefährlich hätte sein können. Dies brachte einen klaren Bruch in unsere Beziehung, weshalb ich mich öfters aus dem Haus schlich, Hauptsache weg von ihr und ihrem Aufsichtswahn. Wozu diese Ausflüge führten, wenn ich dann wieder heimkehrte, kann man sich denken.
Hilfe im täglichen Leben bekam meine Mutter durch meinen Onkel, der sich verstärkt um die Aufgaben kümmerte, die sonst mein Vater erledigt hatte: Reparaturen, Verwaltungskram und die Gartenarbeit. Er war auch Journalist und ermutigte mich immer wieder, mich auch in dieser Richtung zu betätigen. Ich machte mehrere Praktika bei Zeitungen und schrieb für die Schülerzeitung monatlich mindestens zwei lange Berichte. Recherchieren machte mir Spaß und deckte meine große Neugier zumindest zum Teil ab. Ich fragte meinen Onkel damals, ob er nicht herausfinden könnte, was wirklich passiert sei, aber er antwortete nur, dass ihm die Hände gebunden seien. Damals konnte ich nicht fassen, dass er sich nicht mehr dahinter zu klemmen schien. Er war nicht so gut im Erklären wie mein Vater. Heute weiß ich, was ihn in seinen Recherchen stoppte. Wir haben uns schon oft über das Thema unterhalten. Der Tod von Hannes Truggenbrot bleibt nach wie vor ein Rätsel, Nachforschungen werden große Steine in den Weg gelegt und immer mehr Menschen, die Informationen hätten, versterben. Mit ihnen stirbt auch das Wissen über die Vorfälle. Wer weiß, ob die Wahrheit je ans Licht kommen wird.
Ich schalte das Licht meiner Nachttischlampe ein und sehe mich um. Die weißen Wände starren mir ausdruckslos entgegen, die ebenso weiße Decke wirkt erdrückend. Außer meinem nussbraunem, viertürigen Kleiderschrank, meinem farblich dazu passendem Nachttisch mit zwei Schubladen, meinem 1,60m breiten Metallbett und meinem viereckigen Bambuswäschekorb ist das Zimmer leer. Der laminierte Boden hat bereits zwei Dellen vom Vormieter und der kleine darauf befindliche grüne Teppich, ein Überbleibsel aus meiner letzten Beziehung, ist fast der einzige Farbklecks, der erkennbar ist. Die Jalousien sind unten, Gardinen hab ich nicht. Wofür auch? In den zweiten Stock kann man von der Straße ohnehin nicht hineingucken. Das letzte Mal, das eine Frau hier übernachtet hat, ist Jahre her, vier oder fünf. Sie sagte, es sei lieblos eingerichtet, so steril und eintönig. Ich habe da kein Auge für, klar ist es einfach gehalten, aber eben auch praktisch. Keine Pflanzen, die man gießen muss und die dann doch eingehen, keine kitschigen Objekte oder Fotos, die einen an längst vergangene Zeiten erinnern und auch kein sonstiger Krimskrams, der nur unnötig Geld kostet.
An ein Wiedereinschlafen ist nicht zu denken. Nicht unbedingt, weil ich es nicht könnte, eher, weil ich es nicht will. Die reale Welt um 4:55 Uhr ist deutlich friedlicher als die Traumwelt. Kaum eine Menschenseele ist auf den Beinen und erst nach und nach wird der Geräuschpegel des Alltags die Oberhand über die Stille ergreifen. Stille ist etwas Merkwürdiges, kurz aushalten kann man sie ja, aber dann macht sie einen verrückt. Ich überlege das Radio meines Weckers einzuschalten, aber gleich kommen nur die Nachrichten, man kann den Tag auch angenehmer starten. Von den neuesten Dingen in der Welt erfahre ich noch früh genug. Die Beine aus dem Bett geschwungen, richte ich mich langsam auf und strecke mich, hole meine grauen, gefilzten Hausschuhe unter dem Bett hervor, werfe meinen weißen Morgenmantel über und begebe mich durch den kleinen Flur in die Küche. Selbige ist nur knapp 10qm groß und dennoch viel zu überdimensioniert. Allein gekocht hab ich hier noch nie. Aber die Kaffeemaschine ist top und der Wasserkocher hat auch schon Wasser für den ein oder anderen Tee erhitzt. Es ist auch nicht so, dass ich nicht Vorräte da hätte, nur schmeiße ich 80 Prozent davon irgendwann nach Ablauf des Haltbarkeitsdatums weg. Reinste Geldverschwendung, aber im Notfall will man ja doch was da haben. Zuletzt aussortiert habe ich vor ungefähr zwei Wochen. Eine ganze Klappkiste habe ich entsorgt, mir war nicht einmal bewusst, dass ich überhaupt so viel gekauft hatte. Von Konfitüre über Knäckebrot bis hin zu Dosengemüse war alles dabei, teilweise über ein Jahr abgelaufen. Bei ein paar Wochen schmeiße ich die Sachen nicht gleich weg, aber irgendwann ist die Grenze dann auch erreicht. Eine Zeit lang war ein Kollege regelmäßig nach der Arbeit mit zu mir gekommen, als wir gemeinsam an einem Artikel über den geplanten Autobahnausbau durch den Nachbarort geschrieben haben. Da gingen einige der kleineren Sachen weg, zum Beispiel so asiatische Terrinen und vorgefertigte Pfannkuchen, die man nur in der Pfanne heiß machen muss. Höchstwahrscheinlich habe ich danach einmal zu viel eingekauft und als ich dann wieder komplett allein war, stapelte sich alles im Abstellraum. Wie dem auch sei, jetzt ist wieder Platz und Besuch hat sich für die nächsten zwei Wochen bislang nicht angekündigt.
Ich öffne die Jalousien in allen Zimmern und blicke schließlich im Wohnzimmer durch das große Klappfenster hinaus. Im letzten Jahr ließ der Vermieter alle Jalousien elektrisch umstellen, davor musste man noch selbst kurbeln, jetzt reicht ein Knopfdruck und in aller Seelenruhe fährt eine Lamelle nach der anderen nach oben.Gegenüber steht quasi das selbe Reihenhaus wie das, in dem ich wohne. Dahinter nochmal und dahinter nochmal. Viermal das genau gleich Bauwerk, einzig unterschieden durch die Menschen, die es bewohnen. Die Fassade wirkt trist, was aber auch nur so wirken kann, weil meine Fenster das letzte Mal vor - ich muss überlegen - wahrscheinlich vor zwei Jahren geputzt wurden. Damals kam meine Mutter zu Besuch und ich wollte keinen völlig schockierenden Eindruck hinterlassen. Ist mir allerdings nur zum Teil gelungen. Das Dach läuft leicht spitz zu, bietet aber keinen Platz für einen Dachboden. Die Wohnungen besitzen alle einen kleinen Balkon. Wenn man sich ganz dünn macht, passen sogar zwei Stühle drauf. Ich selbst verbringe nie Zeit dort, aber andere Parteien haben ihre tatsächlich mit Pflanzen behangen oder sogar einen kleinen Grill dort stehen, quasi eine zweite Küche - nichts für mich.
Automatisch führt mich mein Weg ins Badezimmer. Zeit für den schlimmsten Moment des Morgens: den Blick in den Spiegel. “Du siehst heute schlimm aus.”, murmele ich vor mich hin. Die Augenränder sind tief, die Augen selbst klein. Die Wangen, früher straff und rund, fallen langsam ein und hängen nur noch schlaff da. Die Haare sind völlig zerzaust, der Bart zu lang. “Kein Wunder, dass du so niemanden findest.” Ich greife zum elektrischen Bartschneider und stutze den Bart zurecht. Danach schnappe ich mir meinen Kamm und versuche, die Haare geschickt über die kahlen Stellen zu verteilen. Geht schon irgendwie, so genau schaut eh keiner hin. Zeit für die nächste Tasse Kaffee. Eine der zwei Birnen der Küchenlampe flackert, die andere ist seit Monaten kaputt. Muss ich unbedingt mal dem Vermieter sagen, der soll sich drum kümmern.

Die Funktionskleidung saß auch schon mal besser. Wäre ich letzte Woche doch noch zweimal mehr trotz des schlechten Wetters gelaufen.Man wird nicht jüngerdarf nicht so häufig als Ausrede gelten, die Beine hochzulegen und nichts zu tun. Die neuen Laufschuhe allerdings fühlen sich fantastisch an, leicht und doch gut gepolstert federn sie meine Schritte ab. Der nächste offizielle Marathon ist nur noch knapp zwei Monate weg, bis dahin steht drei- bis viermal die Woche laufen auf dem Programm - immer mindestens einen Halbmarathon und mindestens einmal in der Woche auch die Gesamtstrecke. So schnell wie vor fünf Jahren bin ich nicht mehr, aber bei den letzten drei Rennen war ich immer unter den besten Fünf in meinem Alter. In den Rennen merke ich den Unterschied zu den alltäglichen Läufen. Letztere sind durch hügeliges Terrain und daher bedeutend anstrengender als die flachen Laufstrecken, bei denen es um Medaillen geht. Zwei Silbermedaillen liegen in der Schublade meines Schreibtisches, für Gold hat es nie gereicht. Ich rede natürlich nicht von Olympia, das waren immer ganz andere Dimensionen mit all den Stars aus Afrika.
Eines der Probleme, wenn man in einer Stadt Marathon laufen möchte, ist der Verkehr. Es dauerte knapp sechs Monate, bis ich eine Strecke gefunden hatte, bei der ich auf keine Ampel warten musste und ohne anzuhalten durchlaufen konnte. Dabei handelt es sich um einen Rundkurs, der entlang der Goethestraße führt, beim Theater links reingeht, vorbei am Zoo und dem kleinen Naturschutzgebiet bis an den Stadtrand. Von dort aus schwenke ich in Richtung Tannenallee, dann wieder links in die kleine Parkanlage beim Sendeturm, vorbei an meiner Arbeitsstätte und über die Fußgängerbrücke zurück wieder Richtung Goethestraße. Beim ganzen Marathon drehe ich zwei von diesen Runden. Heute habe ich die Zeit dafür, schließlich war ich ja früh hoch.
Als ich am Theater vorbeilaufe, lese ich auf einem der Schilder, dass heute Abend eine Vorführung von einem regionalen Künstler läuft, über den ich auch schon geschrieben habe. Sein Name ist Bernard Veteri und sein neuesten StückDer Preis der Erkenntnissoll sehr tiefgründig sein. Vielleicht kann ich es mir zu Recherchezwecken demnächst anschauen. Ein paar Minuten später ist die kleine Parkanlage, wie ich erwartet hatte, noch ziemlich verlassen. Lediglich eine ältere Dame mit Hund begegnet mir dort, würdigt mich allerdings keines Blickes. Wer weiß, wo sie mit ihren Gedanken war. An der Fußgängerbrücke, die über insgesamt vier Spuren verläuft, hängt ein großer Banner, der mir ins Auge fällt. Welchen Sinn oder von wem er dort aufgehängt worden ist, erschließt sich mir zwar nicht, aber in großen Buchstaben ist dort zu lesen:Das Wahre vom Bequemen zu unterscheiden, erfordert Mut. Klingt wie aus einem Film, irgendwas, das eine alte, weise Frau zu einer jungen Frau sagen würde.
Nach Ende meiner ersten Runde kommen mir Seitenstechen, das passiert mir alle paar Wochen immer wieder mal. Gewöhnlich verschwinden die Schmerzen aber nach kurzer Pause schnell und ich kann meinen Lauf fortsetzen. Wäre heute Wettkampf, würde ich selbstverständlich durchlaufen, aber den Zwang brauche ich mir in meinem Alter, jetzt beim normalen Laufen, nicht zu geben. Ich halte deshalb in der Nähe eines Kiosks an, neben dem eine Litfaßsäule steht. Wer liest die Anzeigen darauf überhaupt noch im Zeitalter von Smartphones und Social Media? Mindestens eine Person, ertappe ich mich selbst. Nochmals Werbung für das Theater, eine entlaufene Katze wird vermisst, veraltete Anzeigen von diversen Konzerten und noch so ein seltsamer Spruch, der ohne Grund dort steht:Wie eine Pflanze irgendwann den Weg durch den Asphalt findet, so findet auch der Kern der Wahrheit irgendwann den Weg durch das Geflecht an Lügen. Ob das alles Teil einer großen Kampagne ist? Aber wofür?
“Die neuen Forschungsergebnisse sind bahnbrechend. Niemand hätte gedacht, dass so etwas möglich ist.”, höre ich einen jungen Mann sagen. Seine Gesprächspartnerin erwidert, “Ich zuallerletzt! Ich bin damit aufgewachsen, dass es nichts, aber auch gar nichts gibt, was in der Lage wäre, die chemische Verbindung zwischen diesen Molekülen aufrechtzuerhalten - es macht ja auch gar keinen Sinn.” Wahrscheinlich sind die zwei Arbeitskollegen, irgendwelche Forscher. Der Mann nickt. “Eigentlich nicht, aber die Versuche haben es ein ums andere Mal gezeigt. Die veröffentlichten Paper scheinen stichfest zu sein. Ist ein wenig so, wie die Menschen sich gefühlt haben müssen, als die Erkenntnis aufkam, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, sondern sich um die Sonne dreht.” Sie lacht nur. “Also dieser Vergleich ist doch etwas überzogen. Du sollst doch nicht immer übertreiben.”, ermahnt sie ihren Gesprächspartner und fügt dann an, ”Aber ich weiß, was du meinst. Ich bin gespannt, wie lange es dauern wird, damit diese Entdeckung Auswirkungen auf unser aller Leben haben wird.” Worüber die zwei wohl genau sprechen? Nachdenklich blickt der Mann gen Himmel: “Das weiß wohl nur Gott, aber wenn du mich fragst, nicht lange. Bei all dem wissenschaftlichen Fortschritt, den die Menschheit in den letzten Jahren gemacht hat, bei all der Beschleunigung und bei all dem rasanten Wandel finden die schlauen Köpfe da oben bestimmt innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre diverse geniale Anwendungen. Und der Markt regelt den Rest, das ist ja bekannt.” Es wird Zeit weiterzulaufen, denn das Seitenstechen hat aufgehört. Worum es bei dem Gespräch genau ging, finde ich leider nicht heraus. Aber was soll’s, auf in die zweite Runde.
Am Ende meiner zweiten Runde, die ich ohne jegliche Beschwerden absolviere, halte ich noch kurz beim Bäcker um die Ecke - ja, den gibt es hier tatsächlich noch - und hole mir zwei belegte Brötchen mit Salat, einem saftigen Stück Fleisch und ein paar Gurken und Tomaten. So günstig kann man es ja nicht selber machen, zumal die Zeit für die Zubereitung wirklich besser genutzt werden kann. Ich bezahle bar, da gehöre ich zur aussterbenden Sorte. Die meisten Menschen, die mir in meinem Alltag sonst beim Einkaufen auffallen, sind überzeugte Kartenzahler. Ich mag das Kleingeld aber irgendwie und für meine Laufrunden habe ich immer einen kleinen Bauchbeutel dabei.
Wieder daheim angekommen, packe ich mir eines der Brötchen für die Arbeit ein, das andere verzehre ich zusammen mit einer weiteren Tasse Kaffee. Beim Überfliegen der Zeitung stoße ich auf kein besonders spannendes Thema, aber auf der Arbeit werde ich sicher noch über was stolpern. Eigentlich gibt es ja heutzutage keinen Tag mehr, an dem nicht irgendetwas Weltbewegendes geschieht. Der Kaffee ist schon ein wenig abgekühlt inzwischen, das tut der Wirkung aber keinen Abbruch. Ich fühle mich fit für den Tag und die verkürzte Nacht auf Grund des Alptraums ist fast vergessen. Ich springe noch schnell unter die Dusche, putze die Zähne und schmeiße mich in meinen legeren, dunkelblauen Anzug. Viele der Kollegen tragen inzwischen nur noch Jeans und T-Shirt oder Pullover zur Arbeit, aber ich finde, elegante Kleidung gehört schon zum guten Stil, gerade auch, wenn man mal Interviews führt. Es muss ja nicht piekfein sein, also keine Krawatte oder so, aber ein bisschen Klasse gehört sich schon.
Beim Anziehen meiner Schuhe fällt mir ein, dass ich noch zwei Dokumente mit zur Arbeit nehmen wollte. Ich stapfe ins Arbeitszimmer, blicke auf einen Berg Papiere und zwei große Tafeln mit Zeitungsausschnitten und Pinnadeln, die Verbindungen anzeigen, ganz so wie man es aus guten Filmen kennt. Ich bin altmodisch, was das betrifft. Andere machen inzwischen alles digital und brauchen kaum noch Papier und Tafeln, aber mir ist das zu eingeengt. Ich brauche das Bild möglichst lebensgroß vor mir. Dann funktioniert mein Kopf besser und Zusammenhänge fallen mir auf, die ich sonst nie erkennen würde. Es dauert bestimmt zehn Minuten, bis ich die beiden Dokumente gefunden habe, aber was lange währt, wird gut, heißt es ja so schön. Ich müsste mal wieder etwas mehr Ordnung schaffen, dann ginge es bestimmt schneller. Am liebsten hätte ich eine Sekretärin, die das für mich erledigt, aber wer blickt schon durch das Chaos, was ich tagtäglich fabriziere. Der Gedanke ringt mir ein Lächeln ab.
Auf dem Hausflur ist es laut. Michael und Dennis müssen zur Schule beziehungsweise in den Kindergarten. Die zwei haben beide ein unfassbares Organ, was sie auch mehr als genug in Schreiwettbewerben gegeneinander demonstrieren. Ich frage mich, was in der Erziehung dort falsch läuft. Wahrscheinlich sind die Eltern einfach zu lasch, lassen den Kindern alles durchgehen. Ich sage ja nicht, dass es früher richtig war, die Kinder mit dem Rohrstock zu schlagen, aber in gewisser Weise übertreiben es die meisten Eltern jetzt in der anderen Richtung. Egal was das Kind tut, es ist ein Engel, böse Worte oder Zurechtweisungen sind verpönt. Die Folge ist mangelnder Respekt vor Erwachsenen, Missachtung von einfachsten Verhaltensregeln und fehlendes Gespür dafür, wann eine Grenze erreicht ist. Manchmal mache ich mir echte Sorgen über die zukünftigen Erwachsenen und dabei bekleckert sich meine Generation schon nicht mit Ruhm.
Ich öffne die Wohnungstür und ein kreischendes “Ich will meine Jacke aber heute nicht anziehen. Es ist viel zu heiß!”, peitscht mir entgegen. “Tag.”, sage ich kurz und knapp. “Guten Morgen Herr Truggenbrot, welch schöner Tag heute, wie geht es Ihnen?”, fragt Frau Dinsel, ich glaube Jennifer ist ihr Vorname. “Den Umständen entsprechend.”, antwortete ich, ohne genauer auf selbige einzugehen. Nach kurzem Stutzen sagt sie: “Die Kinder haben schlecht geschlafen die Nacht und sind etwas aufgebracht. Ich bitte das zu entschuldigen, sie können hin und wieder ganz schön Krach machen.” Hin und wieder ist gut, denke ich mir, bis 21 Uhr ist täglich nicht an ruhiges Arbeiten von zu Hause aus zu denken. Immer wieder schreien die Kinder, immer wieder gibt es Gemecker und immer wieder knallen Türen. Erst wenn die Gören im Bett sind, wird es ruhiger. “Ja.”, ist alles, was ich hervorbringe und beginne, die Treppe hinab zu steigen. Frau Dinsel wünscht mir noch einen schönen Tag. Kurz vor der Haustür angekommen, höre ich eines der Kinder fragen: “Mama, wieso ist der Mann so seltsam und redet so wenig?” Ich bilde mir ein, einen Seufzer zu hören, “Ach Dennis, wahrscheinlich ist er nur sehr im Stress wegen der Arbeit. Du weißt doch, er ist Journalist, das ist ein anstrengender Job.” Damit hat es nicht so viel zu tun,genervt von deinem Lärmwürde es besser treffen.