Im Château - Martin Walker - E-Book

Im Château E-Book

Martin Walker

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Beschreibung

Bruno im Sondereinsatz: Eine Gruppe alter Freunde, die sich aus dem Silicon Valley kennen, trifft sich alljährlich zu einer Urlaubswoche, diesmal im wunderschönen, luxuriösen Château de Rouffillac. Doch im Vorfeld wird einer von ihnen, Brice Kerquelin, Opfer eines mysteriösen »Unfalls«, und Bruno wird zum Schutz der kleinen Runde abgeordnet. Aber nicht nur sein Scharfsinn, sondern auch seine Kochkünste sind gefragt: In der Abgeschiedenheit des Schlosses wappnet er sich gegen Übergriffe und sorgt mit Estragonhühnchen und Tarte tatin fürs leibliche Wohl.

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Martin Walker

Im Château

Der sechzehnte Fall für Bruno, Chef de police

Roman

Aus dem Englischen von Michael Windgassen

Diogenes

Für Natalia Antelava und die Journalistinnen und Journalisten von CodaStory.com

1

Bruno Courrèges, als Chef de police zuständig für das Tal der Vézère im Périgord, hatte schon seit Langem ein besonderes Faible für den mittelalterlichen Marktplatz von Sarlat; heute aber sah er ihn aus einem ganz neuen Blickwinkel. Er saß mit Freunden auf einer der oberen Bankreihen, für sein Empfinden ein bisschen zu hoch. Die Tribüne war für das alljährliche Theaterfestival aufgebaut worden, bei dem diesmal die Schlacht von Sarlat im Jahr 1370 nachgespielt werden sollte, mit der sich die Stadt von der englischen Herrschaft befreit hatte. Als ehemaliger Soldat war Bruno gespannt darauf, wie diese nachgestellte Schlacht wirken würde.

»Über Jahrhunderte und schon in gallorömischer Zeit war Sarlat die Hauptstadt des Périgord Noir. Der hiesigen Abtei soll Karl der Große wertvolle Reliquien geschenkt haben«, las Pamela aus einem Reiseführer vor. Bruno, der neben ihr saß, betrachtete sie liebevoll; seine frühere Geliebte war zu der engsten Freundin geworden, die er je gehabt hatte. »Durch sie wurden zahllose Pilger angelockt, die der Stadt zu wachsendem Wohlstand verhalfen. Die Mönche gründeten im Lauf der Zeit 85 Tochterkirchen, deren Gemeinden sich im Jahr 1200 fast zweihundert Kilometer weit bis nach Toulouse erstreckten.«

»Und wo dann wohl trotzdem gern die Tugenden der Armut gepredigt wurden«, brummte Gérard Mangin, der rechts von Bruno saß. Als Bürgermeister von Saint-Denis hatte er Bruno vor über zehn Jahren als Stadtpolizisten eingestellt. Für Bruno, der ohne Eltern aufgewachsen war, war er eine Art Ersatzvater geworden. Mangin war überzeugter Republikaner, der nur zu Taufen, Beerdigungen oder dann in die Kirche ging, wenn es seine Amtspflichten von ihm verlangten. Trauungen waren, wie er fand, Sache des Standesamtes, deren Vollzug darum seine Obliegenheit und nicht die eines Priesters war.

Um die drei hatten sich etliche von Brunos Freunden und Freundinnen gruppiert. Auf Pamelas anderer Seite hatte der Baron Platz genommen, einer von Brunos Jagdpartnern. Fabiola, Ärztin an der städtischen Klinik, und ihr Partner Gilles saßen eine Bankreihe tiefer neben Brunos Cousin Alain und dessen Freundin Rosalie; die beiden wollten später im Jahr heiraten, sobald sie ihre zwanzig Jahre in der Armée de l’Air abgedient haben würden. In der Reihe unter ihnen saßen Miranda, Pamelas Partnerin auf dem Reiterhof, und ihr Vater Jack Crimson, ein pensionierter britischer Diplomat. Nur Florence fehlte, die Naturkundelehrerin, die gegen Miranda den Kürzeren gezogen hatte, als es darum ging, welche von beiden zu Hause bei den Kindern bleiben sollte, die nach einem langen Tag an Pamelas Swimmingpool erschöpft und müde waren.

Bruno hatte einen perfekten Tag hinter sich, ganz ohne solche Zwischenfälle wie an seinen letzten freien Tagen, Freitag und Sonntag der vergangenen Woche, als er drei Verkehrsunfälle aufzunehmen hatte, nach zwei verloren gegangenen Kindern suchen und einen handfesten Streit zwischen zwei betrunkenen holländischen Touristen, die in ihren Kajaks aneinandergeraten waren, schlichten musste. Heute hatte er mit seinen Freunden einen erholsamen Tag auf dem Reiterhof verbracht, im Pool geplanscht, ein Mittagessen für alle gezaubert und den Kindern nebenbei gezeigt, wie Russische Eier zubereitet werden.

Sie hatten ihm dabei zugesehen, als er hart gekochte Eier halbierte und die Dotter auslöffelte, die er mit einer Gabel zerdrückte und dann mit Honigsenf, Paprika, einem Spritzer Zitronensaft und Sonnenblumenöl zu einer Mayonnaise verrührte. Die füllte er in zwölf Eihälften; sie waren für die Erwachsenen bestimmt. Die Kinder fragte er, wie sie ihre am liebsten haben wollten. »Mit Ketchup«, antworteten sie. Also gab Bruno die restliche Mayonnaise in eine Schüssel und rührte zusammen mit den verbleibenden Dottern ein wenig Ketchup unter, worauf sie rosarot wurde. Er gab die Mischung in die Eihälften für die Kinder und schaute ihnen dann grinsend nach, als sie nach draußen stürmten, um den Erwachsenen stolz ihre rosa Russischen Eier zu präsentieren. Er lächelte noch, während er selbst nach draußen ging und Pamela fragen hörte, ob das geplante Schauspiel am Abend eine historisch korrekte Nachstellung der Schlacht von Sarlat sei.

»Das hängt wohl wieder einmal davon ab, wessen Version der Geschichte man als Vorlage nimmt«, antwortete der Bürgermeister. »Sowohl englische als auch französische Historiker haben später ihre jeweils patriotisch eingefärbte Sicht darauf übernommen. Zu der Zeit, als die Schlacht stattfand, hatten die meisten Menschen unserer Region den Herzog von Aquitanien als ihren Herrn akzeptiert, und der war zur Hälfte Engländer. Er sprach zwar ihre Sprache nicht, aber das tat der französische König auch nicht, weil hier Okzitanisch gesprochen wurde. Außerdem verlangte der englische Herzog weniger Steuern, und England war der Hauptmarkt für unsere Weine.«

»Wer immer Sarlat gebaut hat, ob Franzosen oder Engländer, hat uns etwas Wunderschönes hinterlassen«, sagte Bruno. Er konnte sich an der Altstadt nicht sattsehen, diesem Juwel mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Baukunst, so gut erhalten, dass sie immer wieder als Kulisse für französische Historienfilme ausgewählt wurde. Die Märkte und Messen für lokale Delikatessen wie Trüffel oder foie gras fanden landesweit großen Anklang. Sarlat war tief verwoben mit der Geschichte Frankreichs. Im Hundertjährigen Krieg gegen England wurde die Stadt erobert und dann wieder befreit. Auch unter den Religionskriegen im 16. Jahrhundert hatte die Stadt fürchterlich zu leiden; sie tobten so lange und erbittert, dass ihnen über zwei Millionen Menschen zum Opfer fielen – ein Zehntel der französischen Bevölkerung, nicht nur allein durch den Krieg, sondern auch durch Seuchen, Hungersnöte und marodierende Soldaten.

Sarlat hatte die Werbetrommel für die Tourismussaison kräftig gerührt und damit großes Interesse geweckt, nicht zuletzt bei Medienvertretern, die mit Fernsehkameras und Reportern angerückt waren. Auf der riesigen Tribüne auf dem zentralen Platz war kein Platz frei geblieben. Der Stadtkämmerer hatte sich nicht lumpen lassen und ein großzügiges Budget für mittelalterliche Kostüme und Musiker freigegeben, um das große patriotische Ereignis angemessen zu feiern und des Stadtvolks von Sarlat zu gedenken, das sich von innen heraus gegen die Engländer erhoben hatte, während französische Truppen die Stadttore von außen stürmten.

Die Idee für das Fest war an das alljährlich stattfindende historische Schauspiel zur Schlacht von Castillon im Jahr 1453 angelehnt; damals war das englische Heer unter der Führung des Herzogs von Salisbury, John Talbot, entscheidend geschlagen worden. Die rosbifs, wie die Franzosen ihre Erzfeinde jenseits des Kanals nannten, waren endlich für immer aus dem Süden und Westen Frankreichs vertrieben worden. Nur die Hafenstadt Calais blieb für weitere hundert Jahre in englischer Hand. Jedes Jahr im Sommer findet in Castillon, jetzt bekannt als Castillon-la-Bataille, ein prächtiges Fest in Erinnerung an den damaligen Sieg statt. Auf dem Programm stehen Umzüge in historischen Kostümen und Ritterspiele zu Pferd zwischen bunten Zelten und Wimpeln und unter dem Donner der Kanone, die den französischen Sieg überhaupt erst möglich gemacht hatte, weil dank ihrer Feuerkraft der strategisch wichtige, nur einen Tagesmarsch entfernte Hafen von Bordeaux eingenommen werden konnte.

Bruno hatte sich oft gewundert, warum der Name Jean Bureau inzwischen fast vergessen war, obwohl vor allem ihm der Sieg von Castillon zu verdanken gewesen war. Als Feldzeugmeister und Oberbefehlshaber der Artillerie hatte Bureau dreihundert Kanonen hinter einem Verteidigungsgraben aufstellen lassen. Deren Reichweite war größer als die der Langbögen, deretwegen die englischen Bogenschützen bisher als unbesiegbar galten. Daher war es eine Schlacht, die sich geradezu für ein Reenactment anbot. Die Engländer blieben stehen, um ihre Langbögen abzuschießen, die Kanonen dröhnten, und die Schützen fielen. Dann setzte die englische Infanterie zum Angriff an und die Kanonen dröhnten erneut, und schließlich erschienen die französischen Ritter zu Pferd zum triumphalen letzten Schlag.

In Szene gesetzt und von ohrenbetäubenden Soundeffekten begleitet, war all das für Touristen gut nachzuvollziehen. Kein Wunder, dass das Ganze ein Erfolg ist, dachte Bruno. Doch die dargestellte Schlacht dauerte weniger als zwanzig Minuten, und das Publikum wollte mehr als Kampfgetümmel. Darum wurden auch Szenen aus dem französischen Lager nachgestellt, so etwa die Lieferung von Hammel- und Rinderherden zur Verköstigung der Soldaten, ein Markt mit feschen Milchmädchen, Volkstänzen und Musik, eine feierliche Segnung französischer Truppen durch patriotische Kirchenmänner oder das umständliche Anlegen einer Ritterrüstung. Auf der gegnerischen Seite ließ man auch englische Bogenschützen antreten, die in ihrer absurd überheblichen Zuversicht nicht ahnten, dass sie, die ein Jahrhundert lang jede Schlacht gewonnen hatten, mit ihren Pfeilen den modernen Kanonen nichts entgegenzusetzen hatten. Für einen großartigen Theaterabend war gesorgt.

Bruno wusste einiges über die Wirren von Häuserkämpfen und fragte sich, wie die geplanten zwei Stunden für die Befreiung der Stadt Sarlat gefüllt werden sollten. Es gab keine Gräben, die angegriffen oder verteidigt werden mussten, nicht den Donner von Kanonen, keine Pfeilschwärme, und in den engen Gassen, die in der mittelalterlichen Stadt zum Hauptplatz führten, war nicht mit dem Ansturm einer Kavallerie zu rechnen. Allerdings hörte er schon seit geraumer Zeit im Hintergrund muhende Rinder und das Blöken der Schafe, die für ihren Auf‌tritt in Stellung gebracht wurden, außerdem waren – so typisch für das Périgord – schnatternde Gänse und das Poltern von Holzfässern, die über Kopfsteinpflaster gerollt wurden, zu vernehmen.

All diese Geräusche hatten Bruno und seine Freunde schon begrüßt, als sie am späten Nachmittag angekommen und über den mittelalterlichen Markt geschlendert waren, den man rundum zusätzlich errichtet hatte. An den Ständen wurden kleine Souvenirs und Spielzeug für Kinder angeboten, Ritterhelme, Plastikschwerter und Bögen mit Gummispitzen, verkauft von Männern in Lederwämsen und jungen Frauen, die als Marketenderinnen verkleidet waren. Zur Einstimmung schauten sie inszenierten Schwertkämpfen zu und genehmigten sich ein überteuertes Getränk, das als Met bezeichnet wurde, aber wohl, wie Bruno herausschmeckte, ein für das Bergerac typischer halbsüßer Rosette-Weißwein war. Gut gelaunt aß jeder eine Portion Grillfleisch, ebenfalls überteuert, gefolgt von frischen Erdbeeren in Papierbechern. Um halb acht, als es dunkler wurde und sich jenes sanfte Zwielicht über die Stadt legte, das die Franzosen crépuscule nennen, riefen Trompetenstöße sie zu ihren Sitzplätzen.

Ein als Herold verkleideter Mann erschien auf einem der Balkone jenseits des Platzes, flankiert von zwei Hornbläsern, die mit schallenden Signalen das Publikum zur Ordnung riefen. Es folgte ein erster langer Trommelwirbel, worauf sich der Herold zu Wort meldete.

»Frankreich ächzt unter dem englischen Joch«, rief er. »Seit der Schlacht bei Poitiers, als englische Bogenschützen unter dem Kommando des berüchtigten Schwarzen Prinzen die Blume der französischen Ritterschaft niedermähten, ist halb Frankreich vom Feind besetzt. Von Anjou bis zu den Pyrenäen, von Bordeaux bis zur Auvergne herrschen die Engländer. Nun aber, im Sommer 1370, zehn Jahre nach dem verhassten Friedensschluss, der unserem gefangenen König aufgenötigt wurde, rührt sich in den Tälern, Feldern und Weinbergen des Périgord Widerstand, der auf Befreiung sinnt. Connétable Bertrand du Guesclin, Ritter ohne Fehl und Tadel, bereitet sich darauf vor, Frankreich zurückzuerobern.

Für diese große Mission hat sich du Guesclin eine Stadt als Symbol auserkoren: den Bischofssitz Sarlat und seine berühmte Abtei, deren Wohlstand Karl dem Großen zu verdanken ist. Ein Heer wurde ausgehoben und auf geheimen Pfaden durch die Wälder ins Herz des Périgord geführt. Als Händler verkleidete Spione drangen bis nach Sarlat vor, wo sie mit den Konsuln und dem Volk von Sarlat den Weg für den kühnen Angriff ebneten, bei dem die Schlacht zur Befreiung Frankreichs ihren Ausgang nahm.«

Hinter einem anderen Balkon jenseits des Platzes wurde ein Vorhang beiseitegezogen, Männer in zeitgenössischer Kleidung waren zu sehen, offenbar Verschwörer, die sich um eine funkelnde Kerze scharten und mit wütenden Worten darüber sprachen, wie schwer Sarlat unter der englischen Herrschaft zu leiden hatte.

»Wir gehen als Bauern verkleidet auf den Markt, aber auf unserem Karren sind Schwerter versteckt«, sagte einer der Verschwörer, dessen Flüsterstimme über ein unsichtbares Mikrofon und Lautsprecher verstärkt wurde, sodass sie jeder auf dem Platz hören konnte. »Wir nehmen das Torhaus ein und öffnen das Fallgitter für du Guesclin und seine Knappen, damit sie in die Stadt eindringen können, während andere von uns die Bogenschützen überfallen und die Weiber unserer Stadt den Feind mit ihren Reizen ablenken.«

Bruno glaubte, dass nun die Marktszene folgen würde, doch der Herold belehrte ihn eines Besseren. Es sei Nacht in Sarlat, und in den Tavernen, raunte er mit düsterer Stimme, belästigten englische Soldaten das Weibervolk.

»Und natürlich hat nie ein französischer Soldat eine Frau belästigt«, spottete Pamela leise und warf Bruno, dem wohl einzigen französischen Soldaten, den sie kannte, einen schelmischen Blick zu, zwinkerte und drückte kurz seine Hand.

Er bewunderte Pamelas Elan, ihre Intelligenz und ihre Liebenswürdigkeit. Für ihre Freunde hatte sie immer Zeit, und wenn sie ihm gelegentlich zu verstehen gab, dass sie Lust auf einen romantischen Abend mit ihm hatte, fand auch er immer Zeit für sie. Sie tauschten einen innigen Blick, doch ein plötzlicher Aufruhr lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Platz vor ihnen.

Englische Soldaten in Kettenhemden, ledernen Halsbergen und den charakteristischen suppentellerförmigen Helmen drängten durch eine Seitengasse. Viele hielten ein ledernes Trinkgefäß in der einen Hand und führten ein Frauenzimmer an der anderen. Es sollte sich wohl, wie Bruno vermutete, um Schankmädchen handeln. Sie trugen alle sehr tief ausgeschnittene Kleider, und die meisten schienen ihren Spaß zu haben. Nur eine junge Frau, mit flammend rotem Haar und sehr viel bescheidener gekleidet, wurde offenbar gegen ihren Willen mitgeschleift. Sie weinte und flehte einen groben, allem Anschein nach betrunkenen Kerl an, dass er sie doch bitte loslassen möge.

»Das geht aber jetzt ein bisschen weit«, murmelte der Bürgermeister. »Im Publikum sitzen Kinder.«

Während er sprach, kamen die englischen Soldaten und die Frauen unter dem Balkon vorbei, auf dem sich die Verschwörer um ihre Kerze versammelt hatten. Ein junger Mann in Strumpfhose und Wams warf einen Blick über die Balustrade, sprang ohne zu zögern darüber hinweg und landete auf den Schultern des groben Flegels, der die verängstigte Frau hinter sich herzerrte. Kaum hatte er dessen Schultern berührt, schlug der junge Mann, offenbar ein guter Turner, einen Rückwärtssalto und landete sicher und leicht auf den Pflastersteinen. Die Frau hatte die Rettungstat anscheinend erwartet, denn sie stellte dem überraschten Soldaten ein Bein und rief, als dieser vor den Füßen seiner Kameraden zu Boden ging: »Nieder mit der englischen Tyrannei!« Dann ergriff sie die Hand des jungen Turners und verschwand mit ihm im Labyrinth der Altstadtgassen.

Die Zuschauer applaudierten, viele, wie Bruno und Alain, sprangen von ihren Plätzen auf, um den gelungenen Stunt zu würdigen. Doch der Applaus verebbte, denn nun übten die englischen Soldaten Rache, traten Türen auf und zerrten Männer und Frauen in Nachthemden aus ihren Häusern, in denen der Lärm zerbrechenden Geschirrs, umgestoßener Möbel und Schreie laut wurden. Eine Patrouille nüchterner Soldaten kreuzte schließlich auf, um für Ordnung zu sorgen, die weinenden Bürger in ihre Wohnungen zurückzuführen und die betrunkenen Kameraden in ihre Unterkünfte zu eskortieren. Als wieder Ruhe einkehrte und die Gassen geräumt waren, traten die rothaarige Frau und der agile junge Mann, der sie gerettet hatte, wieder auf den Platz hinaus und sahen sich prüfend um, ob sie allein waren.

»Alles ruhig«, flüsterte der junge Mann in ein verstecktes Mikrofon. »Wir werden die Tore besetzen und morgen kurz vor Mittag angreifen, wenn die Engländer Essen fassen und der Markt geschlossen wird.«

»Die Leute von Sarlat sind bereit, mein Herr«, entgegnete sie. »Bevor Ihr kommt, werden wir die rosbifs mit Wein abgefüllt haben. Dieser Verlockung können sie nicht widerstehen.«

»So wenig wie Euch, Mademoiselle. Das haben wir heute Nacht gesehen. Aber könnten wir’s? Eure Schönheit beschämt die Sterne, und Eure Augen glänzen mir heller als der Mond.« Er kniete nieder und küsste ihre Hand. »Und ich bin kein Herr, sondern nur ein einfacher Chevalier, ein Knappe des großen Connétable du Guesclin. Sobald ich wieder aus der Stadt heraus bin, werde ich ihm sagen, dass Sarlat morgen Mittag unser ist.«

Er gab ihr einen letzten Handkuss, worauf sie einen Schal von ihrem Hals löste und ihm zusteckte.

»Mögen der Herr im Himmel und die gesegnete Jungfrau meine Gebete erhören und Euch morgen im Kampf beschützen«, sagte sie, bevor der junge Knappe davoneilte.

Es war still, bis eine Kirchenglocke einmal schlug und der Herold wieder auf‌trat mit den Worten: »Die Stadt schläft. Es ist ihre letzte Nacht unter englischer Herrschaft. Bertrand du Guesclin und seine Soldaten wachen hinter den Anhöhen im Westen. Du Guesclins getreuer Knappe Philippe de Périgueux war von seiner mutigen Mission hinter die Stadtmauern von Sarlat zurückgekehrt und hatte berichtet, dass sich das Stadtvolk bereithält. In der Dunkelheit jenseits dieser Mauern sprechen du Guesclin und seine Männer auf den Knien ihr Gebet. Die Hoffnungen von ganz Frankreich müssen darauf warten, dass es tagt.«

Es folgte eine längere Pause. Dann hörte man über die Lautsprecher einen Hahn krähen, der die Morgendämmerung begrüßte. Und plötzlich wurde es lebendig. Scheinwerfer überschwemmten die Szene mit künstlichem Tageslicht. Getrieben von jungen Mädchen und Burschen trotteten Kühe auf den Marktplatz. Junge Frauen brachten Schemel herbei, setzten sich darauf nieder und taten, als melkten sie die Kühe. Marktstände wurden geöffnet, und Hausfrauen kamen, um einzukaufen. Düfte von frischem Brot und den eingelegten Heringen, die die Engländer so gern aßen, breiteten sich aus. Aus den Lautsprechern schnatterten und gackerten zahllose Gänse und Hühner, als von Handkarren Käfige entladen wurden. Von Eseln gezogen, rollte auf quietschenden Rädern ein Wagen herbei, der Früchte und Gemüse geladen hatte.

Dann hatten die Musiker ihren Auf‌tritt, spielten auf ihren Citolen und Tamburinen und sangen alte Minnelieder dazu, während Gaukler zwei und dann drei Beile auf einmal durch die Luft wirbelten. Ein einbeiniger Mann in Lumpen bettelte um Almosen und hinkte auf einer hölzernen Krücke durch die Menge, die den Musikern zuhörte.

Englische Soldaten marschierten auf und gingen auf Patrouille, immer zu zweit, nie allein. Über das Pflaster stolzierten reiche Bürger in prächtigen Kleidern aus bestickter Seide und mit Lederstiefeln oder -schuhen an den Füßen statt hölzernen Pantinen wie die Bauern. Inzwischen herrschte großes Gedränge auf dem Markt, und alles rief durcheinander, die Kunden, Straßenhändler, Scherenschleifer, Stellmacher, Schuster und Drechsler. Mit hohen, lauten Stimmen forderten Frauen dazu auf, die Qualität ihrer selbst gesponnenen Leinenstoffe zu befühlen.

Kinder sprangen zwischen den Ständen umher und tauchten darunter hinweg auf der Suche nach Essbarem. Man sah auch kleine Hände von unten herauf‌langen, um Leckereien zu stibitzen. Hinter Holzplanken, die auf zwei aufrechten Fässern lagen und vollgestellt waren mit Kannen und tönernen Humpen, boten Weinhändler ihre Produkte an und warben damit, dass sie ihre Vorräte billig verkauf‌ten, weil sie in ihren chais Platz brauchten für die diesjährige Ernte.

»Eine Kanne für nur zwei Deniers, Milords«, rief einer den englischen Soldaten zu. »Letzte Woche hat er noch drei gekostet, heute gilt das Sonderangebot.«

Bald hatten die englischen Waffenknechte ihre Suppenschüsselhelme von den Köpfen genommen, tranken, an die Kirchenmauer gelehnt, aus ihren Kannen und schauten dabei den Gauklern zu. Dann kam ein Pferdefuhrwerk voller Feuerholz den Hügel herab, und zwei Bauern machten sich daran, es zu entladen. Bruno fiel auf, dass der Karrenboden ungewöhnlich hoch war. Eine Kirchenglocke schlug, langsam und feierlich. Die Kirchenpforte öffnete sich, und ein Priester trat hervor, gefolgt von sechs Bauern, die einen Sarg trugen. Die Hinterbliebenen schritten trauernd hinterdrein. Der Zug bewegte sich auf das Haupttor der Stadt zu und den Pfad, der zum Friedhof führte.

Der Herold klärte auf: Es gebe keine Beerdigung, es gebe keine Leiche. Die vermeintlich Trauernden würden gleich die Torwachen überrumpeln und das Gatter für du Guesclin und seine gerüsteten Ritter öffnen.

Vom Tor her waren Jubelrufe, das Klirren von Schwertern und Schmerzensschreie zu hören. Die Sargträger setzten die Last ab, öffneten den Deckel und holten Waffen hervor. Die Bauern, die mit dem Fuhrwerk voller Feuerholz gekommen waren, hebelten die Bretter des falschen Bodens ab und verteilten die Schwerter und Piken, die darin versteckt gewesen waren, an die Musiker und Gaukler, die sich sofort über die englische Patrouille hermachten. Milchmädchen, die mit den Soldaten geflirtet hatten, zogen Dolche aus ihren Kleidern und stachen auf die Waffenknechte an der Kirchenmauer ein, die gerade ihre Kannen absetzen wollten.

Dann war das Donnern von Pferdehufen auf Pflastersteinen zu hören. Die französischen Ritter rückten an, angeführt von einem großen Mann auf einem Schimmel. Er trug einen schwarzen Umhang über seiner Rüstung und sollte wohl Bertrand du Guesclin darstellen. Ihn begleiteten drei Ritter in roten Umhängen und drei in weißen. Einer von ihnen hielt ein Fleur-de-lys-Banner in die Höhe. Weitere Ritter folgten zu Pferd, und nach einem Triumphzug entlang der Tribüne hin zur Kirche Sainte-Marie wendete du Guesclin sein Pferd. »Vive la France«, rief er und befahl seinem Gefolge, die englischen Soldaten anzugreifen, die das Hôtel de Ville bewachten.

Unversehens schien du Guesclins Pferd auf Stroh auszurutschen, das über einen Haufen frischen Mists gestreut war. Es stürzte vor Schreck wiehernd zu Boden, die Hinterläufe gegrätscht. Du Guesclin sprang aus dem Sattel und folgte seinen Gefährten zu Fuß, das Breitschwert hoch erhoben. Die mittlerweile bewaffneten Markthändler und manche der Frauen eilten ihnen nach und auf die Engländer zu, die sich zu einer recht schmalen Abwehrreihe zusammengestellt hatten. Ein stämmiges Milchmädchen drosch mit einer Holzstange auf die Beine eines der Waffenknechte ein, der ganz außen in der Reihe postiert war. Auf der anderen Seite stand der Bettler wackelig auf seinem gesunden Bein und stieß mit der Krücke einen weiteren rosbif zu Boden. Schwerter schlugen an Schwerter und krachten auf Schilde, Piken und Streitäxte kamen zum Einsatz, und die französischen Ritter drängten den Feind gegen die Treppenstufen zurück, wo ein Engländer nach dem anderen eine dramatische Todesszene vollführte.

Hinter Bruno wurden wieder Trompetenstöße laut. Er drehte sich um und sah eine Abteilung französischer Soldaten aus Richtung des eroberten Torhauses herbeimarschieren. Ihnen folgten mit schleppenden Schritten englische Gefangene, die Hände auf dem Rücken gebunden. An den Weinständen beeilte man sich, den neu hinzugekommenen Franzosen einzuschenken, und das ganze Stadtvolk begann die Befreiung zu feiern. Einer der Stadtkonsuln wollte eine Rede halten und die Befreier willkommen heißen, wurde aber übertönt von den Rufen, die an den Helden des Tages adressiert waren – »Du Guesclin, du Guesclin«.

Doch eine Antwort blieb aus. Vor dem Hôtel de Ville lagen scheinbar tot die Darsteller der englischen Waffenknechte. Die französischen Ritter und das Stadtvolk wichen mit gesenkten Waffen zurück und gaben eine einzelne Gestalt zu erkennen, die bäuchlings ausgestreckt auf den Stufen lag. Sie trug einen schwarzen Umhang, unter dem sich eine dunkle Blutlache ausbreitete.

Wie alle anderen im Publikum schaute Bruno gebannt hin, und in der benommenen Stille, die sich breitmachte, rann der erste Blutstropfen von der marmornen Stufe auf die nächste darunter. Ausgerechnet im Moment seines größten Triumphs war du Guesclin gefallen.

»Noch so eine Geschichtstravestie«, murmelte der Bürgermeister. »Du Guesclin lebte noch zehn Jahre und starb an einer Krankheit.«

»Ich glaube nicht, dass das hier im Skript steht«, bemerkte Bruno.

2

Als Erster reagierte der junge Knappe mit der Tambour, der sich nicht mehr an irgendeinen Takt hielt, sondern nur noch den eindringlichen Kampf-Rhythmus, das Rat-a-tat-tat des Angriffs trommelte. Er legte seinen Schlägel ab, wandte sich dem Publikum zu und fragte laut, ob ein Arzt anwesend sei. Fabiola stand auf und hob die Hand. Gleichzeitig rief ein Mann, der in der zweiten Reihe saß und dem Darsteller am Boden sehr viel näher war: »Hier, ich bin Arzt.« Mit einem schwarzen Koffer eilte er zu dem Verwundeten auf der Treppe.

Fabiola drängte sich ans Ende ihrer Reihe. Bruno, Gilles und Alain halfen ihr durch die Menschenmenge unterhalb der Tribüne, die sich trotz Brunos Auf‌forderung aus dem Weg zu gehen, nur langsam auf‌löste. Es dauerte kaum eine Minute, den Platz zu überqueren, erschien aber sehr viel länger. Der andere Arzt beugte sich schon über du Guesclin, bedacht darauf, nicht in die Blutlache zu treten, die sich weiter ausbreitete. Er legte ihm zwei Finger an den Hals, während Bruno sich zur Menge wandte und rief: »Polizei – zurücktreten!« Er hob beide Hände und verwies die Menschen mit deutlichen Gesten der Stufen, um für Fabiola eine Schneise zu schlagen. Alain und Gilles hatten trotzdem immer noch Mühe, ihr zum Durchkommen zu verhelfen.

Die Männer, die eben noch Waffenknechte gespielt hatten, die als mörderische Milchmädchen verkleideten Frauen und die scheinbar toten englischen Soldaten, die nun wieder zum Leben erwachten, verschmolzen zu einer schockierten und dennoch neugierigen Menge, die sich nun um den Schauplatz drängte. Bruno hielt sein Handy in die Luft, damit es alle sehen konnten, und erklärte: »Ich rufe jetzt die Ambulanz. Ihr Soldaten da unten, bildet bitte eine Absperrung vor den Stufen. Lasst niemanden durch. Weiß jemand, wer dieser Mann ist?«

»Ganz in der Nähe steht ein Krankenwagen in Bereitschaft«, sagte der fremde Arzt leise, bevor jemand auf Brunos Frage antworten konnte. »Allerdings könnte auch das schon zu spät sein. Er hat zu viel Blut verloren, und ich fühle kaum noch einen Puls.«

Er fing an, dem Verletzten die Brust zu massieren, als einer der Soldaten dessen Namen nannte: Kerquelin. Ein bretonischer Name, wie Bruno wusste. Er klang fast wie die französische Aussprache von Guesclin.

»Sollten wir nicht Plasma infundieren, bevor wir mit Wiederbelebungsmaßnahmen beginnen? Er atmet ja noch«, sagte Fabiola, die neben ihm kniete.

»Der Krankenwagen ist gleich da«, erwiderte der Kollege. »Dann haben wir auch Plasma, und ich kann sofort eine Transfusion vornehmen.« Noch während er sprach, kamen zwei Sanitäter in reflektierenden Anzügen mit einer Trage um die Ecke gerannt.

»Ich bin Ärztin an der Klinik von Saint-Denis«, stellte sich Fabiola vor.

»Ich heiße Barrat, und er ist mein Patient«, sagte der Arzt, als die Sanitäter die Trage neben dem Mann am Boden abstellten. »Ich arbeite im Ärztehaus von Domme«, fügte er hinzu.

Bruno wollte gerade das Polizeikommissariat von Sarlat anrufen, als sich ein Mann im Kostüm eines französischen Waffenknechts neben ihn stellte und seinen Helm abnahm. Bruno erkannte ihn sofort als seinen Kollegen Messager, der der hiesigen Stadtpolizei vorstand. Er war ein wortkarger Mann kurz vor der Pensionierung, der einen Großteil seiner Freizeit dem Angelsport widmete. Brunos Verhältnis zu ihm war eher geschäftsmäßig als herzlich, und er wunderte sich, dass der Kollege überhaupt als Darsteller an dem Historienschauspiel teilgenommen hatte. Es passte so gar nicht zu ihm.

»Alle bleiben bitte an Ort und Stelle«, rief Messager in die Menge.

»Wir können doch Hunderte von Menschen nicht stundenlang hier festhalten«, sagte Bruno leise zu ihm, schließlich wollte er nicht öffentlich seine Autorität infrage stellen. »Dafür haben wir nicht genügend Einsatzkräfte vor Ort. Sinnvoller wäre es, so viel Videomaterial einzusammeln wie möglich. Also auch das, was mit Handys aufgenommen worden ist. Können Sie ein Megafon auf‌treiben und die Leute bitten, alle Aufnahmen im Speicher zu lassen, bis wir eine Website eingerichtet haben, auf die sie hochgeladen werden könnten? Und können Sie den Verletzten offiziell identifizieren? Er hat du Guesclin gespielt.«

»Bruno«, rief Fabiola mit zitternder Stimme, bevor Messager antworten konnte. Sie war kreidebleich und blutverschmiert. Bruno sah den Verletzten inzwischen mit einer Sauerstoffmaske vor dem Gesicht auf der Trage liegen, aber auf dem Boden war jetzt viel mehr Blut. »Es ist nur so aus ihm herausgespritzt, als wir ihn auf die Trage gehoben haben, ein ganzer Schwall … mir ins Gesicht …«

Fabiolas Stimme überschlug sich. Ihr Kollege legte einen Arm um ihre Schulter und wischte ihr mit seinem Taschentuch das Blut vom Gesicht. »Sein Herz oder die Aorta muss getroffen sein«, schrie sie.

Sie holte tief Luft, drückte für einen Moment ihr Gesicht an die Brust des Kollegen und sagte dann wieder mit normaler Stimme: »Und jetzt schau dir das hier an.«

Sie zeigte auf den Verletzten auf der Trage, die in diesem Augenblick von den Sanitätern hochgehoben wurde. Fabiola hatte ihm den schwarzen Umhang abgestreift und die Lederriemen zerschnitten, mit denen ein metallenes Bruststück befestigt worden war. Aus der linken Seite des Mannes ragte etwas hervor, das wie das Heft eines Messers aussah. Vermutlich war die Klinge zwischen zwei Rippen hindurch ins Herz eingedrungen. Konnte das nur ein Unfall gewesen sein?

»Putain de merde«, murmelte Messager. »Es scheint, wir haben’s mit Mord zu tun.«

»Nicht anfassen«, sagte Barrat, als sich Bruno über die Trage beugte, um das Heft zu inspizieren. »Könnte sein, dass die Klinge die Wunde halbwegs abdichtet.«

»Wohin wird er jetzt gebracht?«, fragte Fabiola.

»Ins Krankenhaus dort oben, nicht weit von hier, damit wir direkt Plasma transfundieren und zur Not auch reanimieren können. Im Krankenwagen ist alles, was wir brauchen«, antwortete er. »Ich versuche, wenn möglich einen Hubschrauber zu rufen. Kommen Sie nach, wenn Sie wollen. Es könnte dann allerdings zu spät sein. Und wenn er durchhält, müssen wir ihn vielleicht sogar ohne Hubschrauber nach Bergerac bringen.«

Er ging voran, die Sanitäter folgten. Als sie mit dem Verletzten auf der Trage um die Ecke verschwunden waren, schob sich die junge rothaarige Frau, die in der Nachtszene von dem Knappen verteidigt worden war, zwischen der Gruppe der Soldaten hindurch. »Papa«, ihre höher werdende Stimme machte daraus eine Frage. Beim Anblick des Blutes an Fabiolas Händen und Gesicht erschrak sie und drängte sich an Bruno vorbei.

»Tut mir leid, Mademoiselle, der Verletzte wird gerade ins Krankenhaus gebracht«, sagte Bruno und versperrte ihr den Weg.

»Ist es mein Vater?«, fragte sie. »Er hat du Guesclin gespielt. Wie schwer ist er verletzt?«

»Die Ärzte tun ihr Bestes«, antwortete Bruno. »Können Sie Ihre Mutter verständigen? Ist sie hier?«

»Meine Eltern sind geschieden. Sie lebt in Paris.« Sie schlug die Hände vor das Gesicht, wandte sich ab und sank an die Brust des jungen Mannes, der den Knappen gespielt hatte. Er war mit schockiertem Blick neben ihr aufgetaucht.

»Können Sie mich zum Krankenhaus bringen?«, fragte sie, aber schon war Fabiola an ihrer Seite, legte einen Arm um sie und führte das Mädchen weg, während sie in dringlichem Ton von einem Hubschrauber sprach.

Dem Himmel sei Dank, dachte Bruno, holte sein Handy hervor und rief seinen Freund Jean-Jacques Jalipeau an, den für das Département zuständigen Chefermittler der Policenationale. Mit gedämpf‌ter Stimme und von der Menge abgewandt, meldete Bruno einen mutmaßlichen Todesfall, womöglich ein Mord, begangen in aller Öffentlichkeit und vor gut tausend potenziellen Zeugen.

»Auf dem Marktplatz von Sarlat?«, wiederholte Jean-Jacques. »Vor laufenden Kameras und mit mittelalterlichen Kostümen?«

»Ja, und vermutlich wird davon schon im Radio berichtet. Viele der Menschen hier haben ihre Handys am Ohr«, erwiderte Bruno. »Wir haben sie gebeten zu bleiben, aber sicher sind schon welche gegangen. Für eine funktionierende Absperrung fehlt uns das Personal, aber wir versuchen die Darstellerinnen und Darsteller dafür einzuspannen.«

»Wer ist das Opfer? Sind Angehörige in der Nähe? Kann es eine Art Unfall gewesen sein?«

»Möglich, aber unwahrscheinlich. Es sieht so aus, als hätte ihm jemand ein Messer durch die Rippen gestoßen, jemand, der wusste, wo er eine Lücke im Brustpanzer finden konnte. Der Name des Opfers ist Kerquelin, seine Tochter ist hier. Weitere Einzelheiten werden wir von ihr erfahren. Er ist offenbar geschieden. Wann kannst du hier sein? An Spuren wird hier wahrscheinlich kaum etwas zu sichern sein, und der Mann dürf‌te inzwischen im Krankenhaus sein.«

»Ich werde ungefähr in vierzig Minuten bei dir sein und bringe auch die Spurensicherung mit. Lass prüfen, wem ein Dolch fehlt. Brauchst du Hilfe, um mit der Menge klarzukommen?«

»Das kommt darauf an«, antwortete Bruno. »Wenn du willst, dass das Publikum hierbleibt, damit du Handys einsammeln kannst, brauchen wir eine Menge Verstärkung. Ich fürchte allerdings, die können wir auf die Schnelle nicht zusammentrommeln. Aber mit mir und den Darstellern hast du genug Augenzeugen, ganz zu schweigen von den Aufnahmen der Fernsehkameras. Es wäre wahrscheinlich sinnvoller, die Leute aufzufordern, ihre Videos an eine spezielle Adresse zu schicken, die du auf deiner Police-Dordogne-Website einrichten könntest. Die Adresse könnten wir über die Lokalpresse und im Internet veröffentlichen.«

»Wird gemacht«, sagte Jean-Jacques. »Aber dramatisieren wir die Sache nicht zusätzlich. Wir sollten damit anfangen, eine Liste von Zeugen anzulegen, die in der Nähe des Opfers waren«, fügte er hinzu.

»Soweit ich das überblicke, kommen dann in erster Linie diejenigen infrage, die bei der Auf‌führung mitgemacht haben. Von den Organisatoren werden alle Namen zu erfahren sein«, antwortete Bruno. »Von den Zuschauern brauchen wir aber alle aufgezeichneten Videos, wir könnten einen öffentlichen Aufruf starten. Augenblick, Jean-Jacques …«

Bruno streckte den Arm aus und legte Romain, dem stellvertretenden Bürgermeister von Sarlat, eine Hand auf die Schulter. Romain, der sich bei allen Aktivitäten seiner Stadt beteiligte, war als Bauer verkleidet und hatte den Soldaten Wein eingeschenkt.

»Was wissen Sie über das Opfer, diesen Kerquelin?«, fragte Bruno. »Dem Namen nach könnte er ein Bretone sein, also eher nicht von hier. Lebt er hier in Sarlat?«

»Nein, aber ganz in der Nähe, bei Domme. Sein vollständiger Name ist Brice Kerquelin, und er behauptet, von du Guesclin abzustammen, aber es ist kompliziert«, antwortete Romain. Er zögerte und fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Bei dieser Angelegenheit gibt es einen Sicherheitsaspekt, über den wir eigentlich nicht sprechen sollen, aber ich schätze, mit Ihnen schon.«

»Okay, ich verstehe. Würden Sie sich um seine Tochter kümmern? Sie scheint unter Schock zu stehen.«

Romain nickte. Bruno hielt wieder sein Handy ans Ohr und hörte Jean-Jacques fragen, ob er noch am Apparat sei. »Ja, ich höre und habe gerade vom stellvertretenden Bürgermeister erfahren, dass der Name des Mannes Brice Kerquelin ist und es gewisse Sicherheitsaspekte gibt. Du könntest gleich mal nachsehen, ob er uns bekannt ist.«

Die Namen und Adressen aller Bewohner des Départements, die mit Geheimdiensten in Verbindung standen oder von besonderem Interesse waren, wurden auf einer gesperrten Liste geführt, auf die nur hochrangige Polizeibeamte wie Jean-Jacques Zugriff hatten. Auch Bruno konnte sie einsehen, aber nur über eine sichere Verbindung auf seinem Bürocomputer.

»Bordel de merde«, fluchte Jean-Jacques wenig später. »Er steht ganz oben auf der verdammten Liste, mit drei Sternchen und der Autorisierung, Waffen zu tragen. Er ist ein hohes Tier der DGSE, Abteilung Domme. Ich muss schnell La Piscine anrufen, dann mache ich mich auf den Weg zu dir.«

DGSE war die Abkürzung für die Direction Générale de la Sécurité Extérieure, den französischen Auslandsgeheimdienst, La Piscine der Deckname für deren Zentrale am Boulevard Mortier in Paris, benannt nach dem öffentlichen Schwimmbad in der Nähe. Sie nutzte unter anderem Frenchelon, die französische Version des weltweiten Spionagenetzes des angloamerikanischen Abhör- und Überwachungssystems Echelon. In Domme, nur zehn Kilometer südlich von Sarlat, befand sich ihr größtes Rechenzentrum.

Bekannt als eine der schönsten bastides, jene wehrhaften Städte aus dem Mittelalter, krönt Domme eine Hügelkuppe und bietet spektakuläre Ausblicke auf das Tal der Dordogne. Um diese Zeit des Jahres war der Ort normalerweise voller Touristen, von denen aber wohl nur die wenigsten wussten, welche zentrale Rolle Domme im französischen Geheimdienst spielte. Zwar waren Antennen und Radaranlagen zu sehen, aber die meisten Einrichtungen befanden sich tief unter Tage, so geschützt, dass ihnen nur der direkte Einschlag eines nuklearen Sprengkopfes gefährlich werden konnte. Wie die meisten Anwohner wusste Bruno von ihrer Existenz. Ihm war bekannt, dass die Anlage dazu bestimmt war, geheimdienstlich relevante Signale von Kommunikationssatelliten abzufangen und auszuwerten, und dass sie irgendwie mit Frankreichs Atom-U-Booten in Verbindung stand. Er hatte jedoch keine Ahnung, wie viele Menschen dort beschäftigt waren oder ob und wie sie mit den britischen und amerikanischen Alliierten in der NATO zusammenarbeiteten.

Er wusste allerdings, dass die Einrichtung mehrere Sprachschulen für ihr Personal unterhielt, denn während ihrer ersten Jahre in Frankreich hatte Pamela als Lehrerin an einer dieser Schulen gearbeitet. Sie war in einem halb verfallenen Château aus dem 19. Jahrhundert in den Hügeln westlich von Sarlat untergebracht, wo Pamela den Studierenden geholfen hatte, verschiedene Mundarten des Englischen zu entschlüsseln.

Bruno, dem nunmehr das ganze Ausmaß dieses Angriffs bewusst wurde, rief das Büro von General Lannes an, dessen Aufgabe darin bestand, die verschiedenen Aktivitäten französischer Sicherheitsorgane für das Innenministerium zu koordinieren. Brunos Anruf wurde von dem diensthabenden Offizier entgegengenommen. Das unauf‌fällige Lämpchen an seinem Diensttelefon leuchtete grün und zeigte an, dass die Verbindung sicher war. Bruno nannte seinen Namen, wo er sich befand und sagte, er habe eine dringende Nachricht für den General. Er wurde sofort weitergeleitet.

»Bonjour, Bruno, was ist da in Sarlat passiert?«, meldete sich Lannes’ vertraute Stimme.

Bruno schilderte den Vorfall und fügte hinzu, dass er Jean-Jacques informiert habe, der seinerseits La Piscine Meldung erstatte und dann nach Sarlat kommen werde.

»Brice, mon Dieu«, sagte Lannes hörbar schockiert.

»Sie kennen ihn?«, fragte Bruno.

»Kennen? Ich bin der Patenonkel seiner Tochter«, antwortete Lannes. Er beendete den Satz mit einem, wie es sich anhörte, unterdrückten Seufzer, was für diesen so ruhigen, selbstbeherrschten Mann sehr ungewöhnlich war und echten Schmerz verriet. Bruno wusste nicht, was er sagen sollte, ob er ihn um Instruktionen bitten oder zu trösten versuchen sollte. Er entschied sich zu fragen, ob noch jemand anders zu alarmieren sei.

»Mon général …«, sagte er, war sich aber nicht sicher, ob Lannes noch zuhörte. Dann hörte er ihn murmeln: »Mon Dieu, arme Nadia. Sie hängt so sehr an ihm.«

Lannes schien sich nun zu räuspern und die Nase zu putzen, und schließlich war wieder der effiziente General zu hören, den Bruno kannte.

»Sind Sie sicher, dass es sich um eine vorsätzliche Tat handelt?«, fragte der General. »Ein feindlicher Anschlag womöglich? Er ist ein wichtiger Mann, auf seine Art ein wahres Genie.«

»Wir können noch nicht sicher sein, aber als Unfall abtun kann man es nicht, so viel steht fest. Ihm wurde ein Messer ins Herz gestoßen, zielgenau durch eine Lücke im Brustpanzer. Ein Arzt, der offenbar auch für Frenchelon arbeitet, hat ihn mit einem Hubschrauber ins Krankenhaus von Sarlat bringen lassen, obwohl er selbst nicht glaubt, dass er überlebt.«

»Verstehe, ich werde mich mit Domme und La Piscine in Verbindung setzen. Bleiben Sie vor Ort, bis Jean-Jacques übernimmt. Ich werde selbst Leute losschicken und rufe Sie dann zurück. Es gibt da ein paar Dinge, bei denen Sie mir helfen können. Und bitte, Bruno, kümmern Sie sich um seine Tochter, wenn möglich.«

Als Lannes den Anruf beendet hatte, kam Romain mit drei Männern, die zwei große Klapptafeln dabeihatten, auf denen normalerweise lokale Ankündigungen angeschlagen wurden. Sie stellten diese vor der Treppe auf der Bühne auf, um die Stufen und das Blut vor neugierigen Blicken abzuschirmen.

»Wir dürfen nichts anfassen, bis Commissaire Jalipeau und die Spurensicherung hier sind«, sagte Bruno. »Wir haben es hier womöglich mit einem Tatort zu tun. Danke, dass Sie für eine Absperrung sorgen. Ich habe die Zuständigen in Paris informiert. Was ist mit seiner Tochter? Gibt es andere nahe Verwandte?«

»Das Mädchen ist bei meinem Sohn, der den Knappen gespielt hat. Sie hat einen Bruder, aber der ist gerade irgendwo im Urlaub«, antwortete Romain. »Die Gendarmerie kommt mit einem Mannschaftswagen, um die Stadtpolizei zu unterstützen.« Er wandte sich einem Neuankömmling zu, dem Bürgermeister von Saint-Denis, Gérard Mangin.

»Cher collègue«, grüßte der leise. »Es tut mir sehr leid, was für ein schrecklicher Ausgang Ihrer großartigen Veranstaltung. Hatte er einen Herzinfarkt? Ich musste soeben erfahren, dass der Mann, der du Guesclin gespielt hat, tot ist.«

»Ich erkläre Ihnen alles später, aber er ist auf dem Weg ins Krankenhaus. Ob er tot ist, wissen wir nicht«, antwortete Bruno. »Vielleicht war es ein tragischer Unfall. Jean-Jacques hat sich auf den Weg hierher gemacht. Er könnte mich also mitnehmen, wenn Sie und unsere Freunde jetzt nach Saint-Denis zurückfahren wollen. Ich glaube, Gilles hat Fotos von der Veranstaltung gemacht, vielleicht auch ein Video – sagen Sie ihm bitte, dass er nichts davon löschen soll. Vielleicht brauchen wir das Material. Gleiches gilt für Sie alle, die mit dem Handy Aufnahmen gemacht haben.«

»Philippe Delaron ist hier und wünscht ein offizielles Statement, vorzugsweise von Ihnen«, sagte Mangin. »Sein Radiosender hat eben einen Beitrag von ihm live übertragen: ›Sarlat: Historienspiel mit tragischem Ausgang‹. Er will weitere Informationen für seinen Artikel für die Sud Ouest. Und jemand von France 3 TV hat die Szene gefilmt und möchte Sie vor der Kamera interviewen.«

»Sagen Sie bitte Philippe und den Leuten vom Fernsehen, dass sie sich mit dem Bürgermeister der Stadt oder dem Kommissariat der Polizei unterhalten sollen«, entgegnete Bruno. »Ich habe keine Zeit dafür, und überhaupt, Sarlat gehört, wie Sie wissen, nicht zu meinem Revier.«

»Revier hin oder her, es sieht jedenfalls so aus, Bruno, als wären Sie hier im Einsatz. Und wenn Sie andeuten, dass vor unser aller Augen ein Verbrechen verübt wurde …«

»Tut mir leid, ich kann dazu jetzt nichts mehr sagen. Der Fall hat auch mit dem Geheimdienst zu tun. Wenn wir wieder in Saint-Denis sind, berichte ich Ihnen, was ich weiß. Einstweilen könnten Sie für Fabiola und mich vielleicht ein paar feuchte Tücher besorgen, damit wir uns das Blut abwischen können.«

»Jacqueline hat immer so was in ihrer Handtasche. Das geht also klar. Bin gleich zurück.« Mangin wandte sich ab und suchte seine Lebensgefährtin.

»Mich macht da etwas stutzig«, flüsterte Fabiola. Sie hatte Brunos Arm ergriffen und ignorierte Gilles, der unschlüssig neben ihr stand. »Ich kenne die meisten Ärzte in der Gegend, nicht aber den Kollegen, der im Krankenwagen mitgefahren ist.«

»Wir haben es hier mit einer Angelegenheit des Staatsschutzes zu tun«, entgegnete Bruno. »Der verletzte Mann ist anscheinend ein hochrangiger Mitarbeiter in Domme. Vermutlich haben die dort ihre eigenen Ärzte.«

»Davon habe ich noch nie gehört«, erwiderte Fabiola. »Außerdem würde ich einen so schwer verletzten Patienten nicht ins Krankenhaus von Sarlat bringen. Das ist für solche Fälle nicht mehr eingerichtet. Ich hätte ihn nach Bergerac gebracht und ihm noch im Krankenwagen eine Bluttransfusion gegeben.«

»Er hat gesagt, er wolle einen Hubschrauber rufen. Hat er nicht den Eindruck eines echten Arztes auf dich gemacht?«, fragte Bruno und bemühte sich, nicht ungeduldig zu klingen.

»Doch, aber …« Fabiola stockte. »Es ist nur so ein komisches Gefühl.«

Eine Gruppe von Gendarmen traf ein, angeführt von einem Sergent, den Bruno kannte und den er bat, die Stufen frei zu halten. Der Bürgermeister kehrte zurück und reichte Bruno eine Packung Feuchttücher. Er nahm zwei davon, um sich die Hände abzuwischen, und gab Fabiola den Rest. Er half ihr, sich zu säubern, und fragte, ob sie sich um Kerquelins Tochter kümmern könne. Dann machten er und Messager sich daran, die Personalien der als Soldaten verkleideten Männer, englische wie französische, aufzunehmen und sie zu befragen, insbesondere im Hinblick auf die turbulente Kampfszene, die für Kerquelin böse geendet hatte.

Der dritte Mann, den er befragte, war als englischer Soldat kostümiert, ein professioneller Schauspieler um die vierzig, der, wie er erklärte, sämtliche Kampfszenen choreografiert hatte. Er hatte eine zackige, zielgerichtete Art an sich, kurz geschorene braune Haare und wache blaue Augen mit ausgeprägten Krähenfüßen, die darauf schließen ließen, dass er viel lachte. Oder vielleicht versuchte er auch nur, einen freundlichen Eindruck zu machen.

»Sie kennen mich nicht, Monsieur Bruno«, sagte er in leutseligem, doch respektvollem Tonfall. »Ich aber kenne Sie, wie übrigens alle, die Ihren Einsatz bei Château Castelnaud miterlebt haben, als Sie die Burg vor dem Waldbrand schützen konnten. Vielen Dank dafür.«

Er stellte sich als Bernard Guyon vor, wohnhaft in Bordeaux, mit einem Sommerjob als Schwertmeister, der jedes Jahr auf Castelnaud, der Burg mit einem Museum für mittelalterliche Kriegsführung, Schaukämpfe zum Besten gab. Während der anderen Monate unterrichtete er an einer Theaterschule in Bordeaux im Fach Fechten und choreografierte Kampfszenen für Film- und Fernsehproduktionen. Er war offenbar sehr stolz auf seine professionellen Fähigkeiten und bot sich an, bei der Sichtung der Videoaufnahmen von dem tragischen Ereignis mitzuwirken, um herauszufinden, was genau falsch gelaufen war.

»Das hätte eigentlich nicht passieren dürfen. Kerquelin war in guter körperlicher Verfassung und hat alles schnell begriffen. Er sagte mir, dass er zu Hause und im Büro oft die Rüstung getragen habe, um sich an das Gewicht zu gewöhnen. Es war natürlich nicht der schwere Panzer wie im 14. Jahrhundert, mit über dreißig Kilo, aber das zeigt, wie ernst er seine Rolle genommen hat. Er hat sogar mit Hanteln gearbeitet, um seine Oberarmmuskeln zu trainieren.«

»Kommt es häufiger mal zu Unfällen bei solchen Kampfszenen?«, fragte Bruno.

Guyon schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn sie ordentlich choreografiert und die Darsteller von Spezialisten wie mir geschult wurden. Die Bewegungen sind immer die gleichen: Dachschlag rechts, Dachschlag links, Knaufschlag rechts, Knaufschlag links und natürlich die entsprechenden Paraden. Gestoßen wird nicht. Das könnte zu Unfällen führen, nicht wegen der Gefahr einer Stichwunde, sondern weil man schnell die Balance verliert und stürzt. Ich bin schon seit über zwanzig Jahren im Geschäft, und so etwas wie heute ist noch nie passiert.«

»Könnte es denn trotzdem ein Unfall gewesen sein?«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, antwortete Guyon. »Die Antwort ist Ja. Sehr unwahrscheinlich, aber immerhin möglich. Ich war gegen diesen Teil der Inszenierung, wegen der Stufen und der vielen Akteure. Normalerweise bringen wir einfache Duelle auf die Bühne, Mann gegen Mann. Gruppenszenen geraten leicht außer Kontrolle. Aber der Regisseur wollte das Gedränge auf der Treppe. Er meinte, dass der ansteigende Boden dem Publikum einen Eindruck von Perspektive bieten würde. Wie dem auch sei, ich habe als Experte meine Meinung dazu gesagt, aber die Entscheidung lag bei ihm. Also, ja, denkbar ist, dass jemand über eine Stufe stolpert und in den Dolch eines anderen stürzt. Wenn Kerquelin in einem solchen Moment einen Dachschlag ausführen wollte, könnte es zu einem Unfall gekommen sein. Auszuschließen ist das jedenfalls nicht.«

»Hätte in diesem Fall derjenige, der den Dolch geführt hat, nicht merken müssen, dass er jemanden verletzt hat?«, fragte Bruno.

»Sollte man meinen. Aber Sie waren doch beim Militär und werden wissen, dass im Kampf die seltsamsten Sachen passieren, selbst in einem inszenierten Kampf«, entgegnete Guyon. »Da rempelt Sie jemand an, Sie verlieren das Gleichgewicht, während Sie womöglich gerade mit einem anderen die Klinge kreuzen, Sie fallen und strecken instinktiv den Arm aus, um sich zu schützen. Wenn Sie dabei zufällig einen Dolch in der Hand haben … Tja, den Rest können Sie sich vorstellen. Im Eifer des Gefechts gerät man manchmal in Panik und weiß nicht, was man tut. Genauso wie im richtigen Kampf. Manche erstarren, andere werden zum Berserker und gewinnen Medaillen. Deshalb proben wir so viel.«

»Wie viele Männer waren mit einem Dolch bewaffnet?«

»Fast alle, aber die sollten in der Scheide bleiben. Die Fußsoldaten trugen Langschwerter, Zweihänder, während alle Bogenschützen ein langes Messer im Gürtel stecken hatten. In meinen Choreografien kommen Messer nicht zum Einsatz, schon gar nicht bei Gruppenszenen. Ist mir zu gefährlich. Wie dem auch sei, dass heute jemand ein Messer in der Hand gehalten hätte, ist mir nicht aufgefallen.«

»Nach den vielen Proben, die es gab, werden Sie doch bestimmt alle Mitwirkenden, die auf der Treppe waren, gekannt haben, oder?«

»Natürlich«, antwortete Guyon und nickte eifrig, um seine Hilfsbereitschaft zu unterstreichen. »Ich habe in meiner Umkleide noch meine Regieanweisungen und Zeichnungen, auf denen die Positionen jedes einzelnen Darstellers zu jeder Phase des Kampfes zu sehen sind, sowohl die der englischen Bogenschützen als auch die der französischen Ritter. Angefangen hat die Szene wie geplant, aber als dann Kerquelins Pferd stürzte, hat er offenbar spontan beschlossen, auf eigene Faust weiterzumachen und sich den Fußsoldaten anzuschließen. Damit ist alles durcheinandergeraten. Zum Zeitpunkt des Angriffs der Engländer hätte ich sechs Ritter auf den Stufen haben wollen und jeweils zwei Zivilisten, die sich von beiden Seiten nähern.«

»Kerquelin hätte also gar nicht auf den Stufen sein sollen?«, hakte Bruno nach. »Das würde wohl bedeuten, dass ein gezielter Anschlag auf ihn nicht geplant gewesen sein konnte. Vielmehr hätte jemand eine unerwartete Gelegenheit spontan für sich genutzt.« Bruno kratzte sich am Kopf. Ihm kam noch ein Gedanke. »Könnte es sein, dass der Täter jemand anderen im Visier hatte und Kerquelin ihm aus Versehen zum Opfer gefallen ist?«

»Aber er war doch mit seinem schwarzen Umhang eindeutig zu identifizieren. Wir alle erkannten ihn daran.«

»Wissen Sie, ob er Feinde hatte? Gab es Streit mit jemandem?«

»Nein, er ist mit allen gut ausgekommen. Nach den Proben haben wir meistens noch was getrunken, und dann hat er von seinen anderen Schaukämpfen erzählt. Er war begeistert von alter Kriegsführung und berichtete, dass er in England mit Waffen aus dem 17. Jahrhundert geprobt und in Amerika Szenen aus dem Bürgerkrieg nachgespielt hat – mit Frauen, verkleidet als Southern Belles. Er hat uns auch mal ein Video von Schaukämpfen irgendwo in Virginia gezeigt, toll inszeniert mit großen Zeltlagern und Kanonen. Dabei kam sogar eine Banjo-Band zum Einsatz. Besonders interessant war ein anderes Projekt von ihm, und zwar eine Nachstellung der Schlacht von Alesia, in der römische Legionäre unter Julius Caesar auf ein Heer von Galliern gestoßen waren.«

In diesem Augenblick sah Bruno Jean-Jacques’ stämmige Gestalt über den Platz auf sich zukommen, gefolgt von Yves und seinem Spurensicherungsteam. Er wandte sich wieder Guyon zu. »Könnten Sie mir bitte die Zeichnungen, von denen Sie gesprochen haben, und eine Liste der Männer, die auf den Stufen waren, bringen? Ich würde sie auch gern dem Chefermittler zeigen, der diesen Fall bearbeiten wird.«

»Es waren auch ein paar Frauen dabei«, sagte Guyon. »Eins der Milchmädchen sollte mit seinem Schemel auf einen der englischen Bogenschützen eindreschen, und da war auch eine Wäscherin mit einem Holzschwengel zum Umrühren von Leinentüchern in einem Waschzuber. So wollte es der Regisseur.«

»Den könnten Sie bitte auch zu mir schicken«, sagte Bruno und notierte sich Guyons Mobilfunknummer. »Commissaire Jalipeau ist eben eingetroffen. Er wird ein paar Fragen an Sie und den Regisseur haben. Und danke, Monsieur Guyon, Sie haben mir sehr geholfen.«

Bruno wandte sich ab, um Jean-Jacques und Yves, den Leiter der Spurensicherung, zu begrüßen. Er klärte sie mit wenigen Worten darüber auf, was er von Guyon erfahren hatte, und spürte plötzlich sein Handy am Gürtel vibrieren. Die grün leuchtende Anzeige sagte ihm, dass General Lannes ihn über die sichere Verbindung zu erreichen versuchte.

»Bruno«, meldete sich dessen Stimme. »Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass wir uns keine öffentliche Blamage leisten können; das gilt insbesondere auch für die DGSE. Deshalb möchte ich, dass nicht deren Mitarbeiter, sondern Sie Kerquelins Haus sichern. Wir wollen schließlich nicht, dass die Kollegen darin aufräumen und verschwinden lassen, was sie in Verlegenheit bringen könnte. Meine Leute aus Bordeaux werden in zwei, drei Stunden zu Ihnen stoßen. Fahren Sie schon mal zu seinem Haus und halten Sie dort die Stellung. Sie sind ab sofort dem Innenminister unterstellt. Die schriftliche Freistellungsorder ist schon auf dem Weg zu Ihrem Bürgermeister, und auf Ihrem Handy wird gleich eine SMS eingehen, die bestätigt, dass Sie mit der Vollmacht des Ministers handeln, nur für den Fall, dass Kerquelins Kollegen aufmüpfig werden.«

»Wo genau wohnt er?«, fragte Bruno.

»Auf einem Landgut bei einem lieu-dit namens Giversac am Stadtrand von Domme. Rufen Sie mich an, wenn Sie vor Ort sind.«

»Ich kenne mich in der Gegend aus, der Tennisklub ist gleich daneben. Da wäre noch ein Problem: seine Tochter, die ebenfalls dort wohnt. Sie sollte lieber nicht dabei sein, wenn wir das Haus durchsuchen.«

»Sie werden sich schon was einfallen lassen, Bruno. Sie haben das Kommando, und das Haus zu sichern hat Priorität. Schauen Sie sich darin um und achten Sie auch auf Hinweise, ob es bereits von anderen durchsucht worden ist oder ob eingebrochen wurde. Vermutlich wird kein sensibles Material zu finden sein; Brice war lange genug im Geschäft und hätte einen solchen Fehler nicht gemacht.«

Als das Gespräch mit Lannes beendet war, erklärte er Jean-Jacques, dass er einen Wagen brauche, um zu Kerquelins Haus zu fahren. Gleich darauf rief er Fabiola an, um sicherzustellen, dass für Kerquelins Tochter einstweilen gesorgt war.

»Sie ist bei mir. Ich kümmere mich um sie«, sagte sie. »Übrigens kennen wir uns aus der Frauengruppe.«

»Wusste ich doch, dass ich sie irgendwo schon einmal gesehen habe«, erwiderte Bruno. »Fabiola, versuch doch bitte auch, ihren Bruder und ihre Mutter zu kontaktieren. Die Eltern sind geschieden, und wenn ich richtig informiert bin, lebt ihre Mutter in Paris. Kann sein, dass Nadia für die nächsten Tage in Saint-Denis bleiben muss. In ihrem Haus werden sich wohl für eine Weile Mitarbeiter des Staatsschutzes die Klinke in die Hand geben.«

»Kein Problem«, sagte Fabiola. »Du wirst jetzt wahrscheinlich zu tun haben, nicht wahr? Ruf mich an, wenn du Zeit hast.«

3

Kerquelin wohnte in einer gentilhommière, einem Herrenhaus der ländlichen Bourgeoisie. Es war ansehnlich proportioniert und schien auf das 18