Im Dunkel der Tiefe - Sina Blackwood - E-Book

Im Dunkel der Tiefe E-Book

Sina Blackwood

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Beschreibung

Wasser hat viele Gesichter. Genau wie die Wesen, die es bevölkern. Man weiß nie, ob das Grauen aus der Tiefe herauf steigt, oder das ganz große Glück. In diesem Büchlein finden Sie einige meiner Geschichten, die im und am Wasser spielen. Tauchen Sie beim Lesen in fremde Welten ein und lassen Sie sich treiben.

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Inhaltsverzeichnis

Mikro-Strömungen

Titus Nervianus

Die Nixe aus dem Zeisigwald

Müllquallenteppiche und Hartschalenkofferfische

Das Grauen aus der Tiefe

Das Telefonat

In einem Meer vor unserer Zeit

Der Ausflug

Pferde stehlen

Mikro-Strömungen

Silberne Lichtreflexe tanzten übers leicht gekräuselte Wasser, blitzten auf, erloschen wieder und ließen ganze Areale wie mit Diamantsplittern übersät funkeln. Postkartenblauer Himmel, Sonnenschein pur und der salzige Hauch, den er von Kindesbeinen an liebte. Sam seufzte gequält. Er hatte sich auf den Urlaub mit Linda gefreut, auch wenn er den nur am heimatlichen Strand genau vor der Haustür verbringen konnte. In diesem Jahr musste er für das Institut direkt erreichbar bleiben. Das Forschungsprogramm ließ es nicht anders zu. Ein Wunder, dass man ihm die Tage überhaupt genehmigte.

Freudestrahlend hatte er sich eine Stunde eher auf dem Heimweg begeben, um Linda im Garten ihrer Eltern mit der guten Nachricht zu überraschen. Sein plötzliches Erscheinen war zwar für beide eine riesengroße Überraschung geworden, nur keine gute – er hatte Linda mit einem anderen Mann im Bett erwischt. Sam war wie vor eine Wand gelaufen stehengeblieben, hatte das abgrundtiefe Erschrecken der in flagranti Ertappten registriert, sich wie in Zeitlupe umgedreht und das Gartenhaus verlassen.

Nun saß er schon drei Stunden hier, in den Gedanken gähnende Leere, starrte ins Wasser, ohne die kleinen Lichtwunder überhaupt zu bemerken. Erst als die Sonne langsam ihre Bahn beendete, sich das silberne Schimmern goldrot färbte und ganze Heerscharen von Mücken über ihn herfielen, schreckte er auf.

Im Laufschritt eilte er zu seinem reetgedeckten Häuschen, das im Abendlicht mit den hohen Stockrosen hinterm Gartenzaun einladend und trostspendend zugleich wirkte. Sams Denkapparat begann erst wieder wirklich zu arbeiten, als er die Haustür hinter sich schloss.

Er folgte wie ein Traumwandler seiner inneren Stimme, was schon immer das Beste gewesen war, obwohl sich sein Kopf manchmal dagegen auflehnte. Dieses Bauchgefühl hatte auch zaghaft Bedenken gegen Linda angemeldet, als sie sich ihm vor rund einem halben Jahr an den Hals geworfen hatte. Es hatte recht behalten. Wie so oft.

Nun befahl es Sam, sämtliche persönliche Dinge Lindas in einem großen Beutel zu verstauen und direkt neben der Haustür zu deponieren, was er ohne Zögern in die Tat umsetzte. Erst dann kümmerte er sich um sein Abendbrot.

Gegen 22 Uhr klingelte es. Sam spähte durch das kleine Seitenfenster. Linda. Auf der schmalen Straße ein Taxi. Sam öffnete, drückte Linda wortlos den vollen Beutel in die Hand, schloss die Tür und betrachtete sich zeitgleich als Single.

Das Bauchgefühl klatschte Beifall. Erst recht, als er gleich noch Lindas Nummer in seinem Telefon auf die Sperrliste setzte. Dass Linda der Unterkiefer bis auf die Sandalen klappte, sah er nicht. Es hätte ihn auch nicht interessiert, dass es ihr nur mit Müh‘ und Not gelang, das Taxi anzuhalten, das bereits am Abfahren war.

„Was machen wir morgen Schönes?“, fragte Sams innere Stimme stattdessen. „Immerhin hast du eine ganze Woche Urlaub.“

„Mal schauen“, antwortete Sam laut, eine Seekarte aus der Schublade ziehend. In Gedanken fügte er hinzu: „Ich könnte ja da tauchen, wo es das Institut für zu gefährlich hält. Privat können sie es mir nicht verbieten.“

„War ja klar“, lachte das Bauchgefühl, seinen Tatendrang diesmal nicht bremsend. Es mischte sich auch nicht ein, als Sam bereits am ganz frühen Morgen seinen Rucksack mit Proviant bestückte, die komplette Tauchausrüstung an Bord seines kleinen Motorbootes brachte und wirklich blendend gelaunt in See stach.

Das Wetter hatte genau so gute Laune. Sam wäre aber auch losgefahren, wenn es Bindfäden geregnet hätte. Solange sich Wind und Wellen in vertretbaren Grenzen hielten, war ihm Nässe so ziemlich egal.

Nach einer halben Stunde erreichte er das Areal, das ihnen neulich bei der Arbeit durch unberechenbare Mikro-Strömungen aufgefallen war, wie sie die für Sekunden auftretenden Strudel genannt hatten. Sam setzte eine Boje und streifte den Tauchanzug über. Ein letzter Check der Pressluftflaschen und der Sicherheitsleine, ohne die er nie allein sein Boot verließ, dann rollte er sich rücklings ins Wasser. Auf dem ersten halben Meter Tiefe, gegen den Himmel betrachtet, hatte es diesmal sogar fast dessen Farbe, wie Sam überrascht feststellte.

„Heute kann nur ein affengeiler Tag werden“, huschte es durch seine Gedanken, als er sich an der Leine am ausgeworfenen Grundgewicht in die Tiefe gleiten ließ.

Mit Blick nach unten und den Seiten, war die Sicht nicht sonderlich berauschend, wie eben in der Ostsee üblich. Sam erreichte den mit Tang bewachsenen Grund, schaltete seine Lampe ein und begann, den Boden abzusuchen. Vielleicht hatte er ja das Quäntchen Glück, auf Teile des vermuteten Schiffswracks zu stoßen. Da erfasste ihn aus fast ruhigem Wasser von hinten ein Sog, der ihn beinahe zwei Meter mitriss.

„Beim Klabautermann!“, dachte Sam erschrocken, mit der Taschenlampe rundum ins Wasser leuchtend, das völlig friedlich wirkte.

Er schwamm auf die alte Position zurück, wo es ihn nach wenigen Wimpernschlägen wieder zurückriss. Sam konnte sich keinen Reim darauf machen. Es gab keine Felsen, Spalten, Risse oder andere Dinge, deretwegen sich hätten Strudel bilden können. Nicht einmal eine nennenswerte Strömung zeigte sein kleines Messgerät an.

„Irre. Völlig irre“, stellte Sam fest, sich, weil es das Bauchgefühl so verlangte, am neuen Standort dem Boden widmend. Eine Stelle war weniger dicht bewachsen, womit sie die Aufmerksamkeit des jungen Archäologen erregte. Er stocherte mit dem Klappspaten vorsichtig herum und stieß auf Widerstand. Ehe er herausfinden konnte, um was es sich dabei handelte, musste er auftauchen. Ein ziemlich großes Tier schwamm im trüben Blaugrün der Tiefe ausgesprochen nah vorüber. Für einen Schweinswal war es zu schlank.

„Bestimmt ein Seehund“, schoss es Sam durch den Kopf. Die verirrten sich zwar selten hierher, warum also nicht auch heute. Sam erreichte die kleine Leiter und kletterte an Bord. Er stellte die neue Pressluftflasche bereit, füllte mit dem Kompressor die leere Flasche wieder auf und notierte sich akribisch die Begebenheit mit den beiden Mikro-Sogen, die er gefühlt hatte. Das Boot dümpelte träge auf dem ruhigen Wasser, weit, weit in der Ferne ging das Blau des Meeres nahtlos in das Azur des Himmels über, was Sam ein zufriedenes Lächeln ins Gesicht zauberte. Urlaub. Tun und lassen können, wie es ihm beliebte, ohne Boutiquen und Nobelrestaurants aufsuchen zu müssen. „Danke, liebes Schicksal!“, murmelte Sam.

Und weil sich heute alles gut anfühlte, war er wenig später wieder auf dem Weg in die Tiefe, um zu ergründen, was dem Spaten Widerstand geboten hatte. Das große Tier schien noch immer da zu sein, denn er glaubte, im Trüben einen Schatten gesehen zu haben.

„Es wird mich schon nicht auffressen“, dachte er belustigt und begann zu graben.

Nach wenigen Sekunden ließ er den Spaten achtlos fallen und griff mit klopfendem Herzen zur Taschenlampe, um im aufgewirbelten Boden überhaupt etwas zu erkennen. Das Fundstück war ein Eisenkessel von fast 30 Zentimetern Durchmesser, auf dessen Boden eine Handvoll Münzen lag. Dass ihn gerade wieder etwas streifte, was er an Land als Lufthauch bezeichnet hätte, registrierte er nur ganz tief im Unterbewusstsein. Blindlings tastete Sam nach dem Spaten, den er schließlich fast in Kniehöhe überm Boden in die Finger bekam.

In Kniehöhe?

Sam wandte sich äußerst vorsichtig um, blickte in ein vergnügt grinsendes Gesicht und wurde im selben Moment von einem Sog umgerissen, den eine riesige, fast anderthalb Meter breite, Schwanzflosse erzeugte. Sich mehrmals überschlagend, sank er neben seinem entdeckten Schatz zwischen die Tangstängel, wo er mit weit aufgerissenen Augen auf dem Rücken liegenblieb. Dann gingen ihm buchstäblich alle Lichter aus.

Als es wieder hell wurde, lag er völlig verkrümmt in seinem Boot, die Sauerstoffflasche auf dem Rücken, Maske, Mundstück, Spaten und die eingeschaltete Lampe neben sich. Und noch etwas entdeckte er – den umgekippten kleinen Kessel, inmitten eines ganzen Teppichs aus Münzen, der auf den Planken verteilt lag. Im Wasser, direkt neben dem Boot plätscherte es merkwürdig. Ganz anders als Wellenschlag.

„Ein Leck?!“, war Sams erster Gedanke.

Er befreite sich ächzend von der schweren Pressluftflasche, lugte über die Bordwand und wäre beinahe wieder ohnmächtig geworden. Was da im Wasser trieb, gab es eigentlich nicht: Ein schlanker Frauenkörper, der in einem silbrig-blauen Fischschwanz endet. Riesige dunkelblaue Augen, die neugierig unter einer goldgelockten Mähne aus hüftlangem Haar hervorschauten.

„Eine Nixe?! Oh, mein Gott! Ich habe Halluzinationen! Nein, ich will nicht in die Klapsmühle!“, stöhnte Sam, sich entsetzt an den Kopf fassend.

„Dann solltest du unser kleines Geheimnis ganz einfach gut bewahren“, tönte es aus dem Wasser.

„Du bist echt?“, stammelte Sam, endgültig an seiner geistigen Verfassung zweifelnd.

„Sieht so aus“, lachte die Fremde. „Wenn du mir ins Boot hilfst, können wir uns sogar vernünftig miteinander bekannt machen.“

Sam dirigierte die Fremde auf die andere Seite, wo die kleine Leiter hing. Er stieg die paar Sprossen hinab, die Schöne aus dem Meer legte ihm ihre Arme um den Nacken und er trug sie an Deck.

Sie deutete auf die verstreuten Münzen. „Eine kleine Wiedergutmachung, weil ich dich der Schreck fast getötet hätte, als ich mich zeigte. Du bist einer der ganz wenigen Menschen, die Besseres verdient haben, als ausgelöscht zu werden.“

Als er völlig verdattert die Augen aufriss, lachte sie: „Ich beobachte dich schon seit Monaten und lese deine Gedanken. Und die haben mich neugierig gemacht. Zudem brauche ich deine Hilfe. Ich möchte da, wo du den Topf gefunden hast, einfach in Ruhe gelassen werden. Wenn ihr den Tang zerstört, habe ich nichts mehr zu essen und muss mich mit anderen herumprügeln, um überleben zu können.“

„Meine Kollegen halten es eh für zu gefährlich, genau hier zu tauchen. Und ich werde sie darin bestärken“, blinzelte Sam. „Erst recht, weil ich jetzt ahne, dass du die vielen kleinen Strudel verursachst, die wir gemessen haben. Ich muss mir nur etwas ausdenken, wo ich den Topf sonst noch gefunden haben könnte.“

„Das zeige ich dir morgen. Du kommst doch morgen wieder?“, fragte die Nixe, auf der Unterlippe kauend.

„Wenn du das wirklich möchtest, werde ich pünktlich hier sein“, versprach Sam lächelnd.

„Oh ja! Bitte! Ich verspreche auch, dich nie wieder zu erschrecken und dir nichts anderes Böses anzutun!“, rief die Nixe sofort.

Sam blinzelte vergnügt: „Abgemacht!“ Dabei war ihm durchaus bewusst, dass sie ihn mit den unübersehbaren Reißzähnen im Kiefer in sekundenschnelle erlegen konnte.

Als er zurückfuhr, begleitete ihn Wari, die Nixe, noch ein Stück und schaute anschließend hinterher, bis er im Haus verschwand.