Im Falle eines Unfalls - Georges Simenon - E-Book

Im Falle eines Unfalls E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Yvette weiß, wie sie sich mit Hilfe der ihr verfallenen Männer im Leben gut einrichten kann – aber ihre Liebe macht sie verletzlich. Die junge Yvette schlägt sich mehr schlecht als recht durchs Leben, vor allem die Männer geben ihr zu tun. Aber sie weiß, die Waffen, die ihr als Frau gegeben sind, geschickt einzusetzen. Nach einem missglückten Raubüberfall bittet sie einen Anwalt um Hilfe, der ihr vollkommen verfällt und um ihren Freispruch kämpft. Während er seine Ehe und sein Ansehen zunehmend für Yvette aufs Spiel setzt, wird die Affäre nicht nur ihm gefährlich – denn es gibt da einen weiteren Mann, der Yvette leidenschaftlich verfallen ist.

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Georges Simenon

Im Falle eines Unfalls

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille und Barbara Klau

Atlantik

1

Sonntag, den 6. November

Vor kaum zwei Stunden, als wir nach dem Essen in den Salon gegangen waren, um dort unseren Kaffee zu trinken, und ich so dicht am Fenster stand, dass ich die kalte Feuchtigkeit der Scheibe spürte, hörte ich meine Frau hinter mir sagen:

»Hast du vor, heute Nachmittag auszugehen?«

Und diese schlichten, gewöhnlichen Worte erschienen mir so bedeutungsschwer, als würden sich in ihren Silben Gedanken verbergen, die weder Viviane noch ich auszusprechen wagten. Ich habe nicht gleich geantwortet – nicht weil ich unschlüssig war, sondern weil mich einen Augenblick lang jene etwas beklemmende Welt gefangen hielt, die im Grunde wirklicher ist als die alltägliche und in der man die Kehrseite des Lebens zu entdecken glaubt.

Ich habe schließlich gemurmelt:

»Nein. Heute nicht.«

Sie weiß, dass ich keinen Grund habe auszugehen. Sie hat es erraten wie alles andere. Außerdem spioniert sie mir vielleicht nach. Ich nehme ihr das ebenso wenig übel, wie sie mir irgendetwas übelnimmt.

In dem Augenblick, als sie mir die Frage stellte, sah ich draußen in dem kalten, trüben Regen, der schon seit Allerheiligen fällt, einen Clochard unter dem Brückenbogen des Pont-Marie hin und her gehen. Er schlug sich die Arme um den Körper, um warm zu werden. Vor allem fiel mir ein Haufen dunkler Lumpen an der Steinmauer auf, und ich fragte mich, ob der Haufen sich wirklich bewegte oder ob das nur eine optische Täuschung war.

Er bewegte sich tatsächlich, merkte ich bald. Ein Arm tauchte aus den Lumpen auf und dann das aufgedunsene Gesicht einer Frau, das von wirrem Haar umrahmt war. Der Mann blieb plötzlich stehen und wandte sich zu seiner Gefährtin, um ihr irgendetwas zu sagen. Dann holte er, während sie sich aufsetzte, zwischen zwei Steinen eine halbvolle Flasche hervor, reichte sie ihr, und sie führte sie an den Mund und trank.

In den zehn Jahren, die wir am Quai d’Anjou, auf der Île Saint-Louis, wohnen, habe ich oft Clochards beobachtet. Ich habe alle Arten gesehen, auch Frauen, aber dies war das erste Mal, dass ich zwei sah, die sich wie ein Ehepaar verhielten. Warum hat mich das so bewegt, warum musste ich dabei an zwei Tiere, ein Männchen und ein Weibchen, denken, die sich in ihrem Schlupfwinkel im Wald verstecken?

Wenn von Viviane und mir die Rede ist, vergleichen uns die Leute manchmal, wie mir hinterbracht wurde, mit einem Raubtierpärchen. Und bestimmt hebt dann jemand auch noch hervor, dass bei Raubtieren das Weibchen wilder ist.

Bevor ich mich umdrehte und zu dem kleinen Tisch ging, auf dem der Kaffee bereitstand, nahm ich gerade noch wahr, wie ein riesengroßer Mann mit gerötetem Gesicht aus der Kajüte eines vor unserem Haus festgemachten Lastkahns herauskam. Er hatte sich die schwarze Kapuze seines Regenmantels über den Kopf gezogen, ehe er sich in die nasse Welt hinauswagte, trug in jeder Hand eine leere Flasche und schritt nun über das schwankende Brett, das das Schiff mit dem Quai verband. Er und die beiden Clochards sowie ein schmutzig gelber Hund, der unter einem schwarzen Baum kauerte, waren in diesem Augenblick die einzigen Lebewesen dort draußen.

»Gehst du ins Büro hinunter?«, hat mich meine Frau gefragt, als ich im Stehen meinen Kaffee trank.

Ich habe genickt. Sonntage sind mir stets ein Greuel gewesen, vor allem Pariser Sonntage, die mir eine fast panische Angst einflößten. Die Aussicht, unter Regenschirmen vor irgendeinem Kino Schlange zu stehen, verursacht mir Übelkeit. Ebenso ist es mir zuwider, die Champs-Élysées entlangzuschlendern, in den Tuilerien spazieren zu gehen oder in der langen Autokolonne auf der Straße nach Fontainebleau zu fahren.

Wir sind letzte Nacht spät nach Hause gekommen. Nachdem wir uns im Théâtre de la Michodière eine Generalprobe angeschaut hatten, haben wir im Maxim’s gegessen und sind dann gegen drei Uhr früh in einer Kellerbar in der Nähe des Rond-Point gelandet, wo sich Schauspieler und Filmleute treffen.

Der Schlafmangel macht mir mehr zu schaffen als früher. Viviane dagegen scheint nie die geringste Müdigkeit zu spüren.

Wie lange wir wohl noch im Salon geblieben sind, ohne ein Wort zu wechseln? Fünf Minuten mindestens, könnte ich schwören, und fünf Minuten solchen Schweigens sind lang. Ich habe meine Frau kaum angesehen. Schon seit mehreren Wochen vermeide ich es, ihr ins Gesicht zu blicken, und bin darauf bedacht, immer nur kurz mit ihr allein zu sein. Vielleicht hätte sie gerne mit mir gesprochen? Für einen Moment hatte ich den Eindruck, sie wollte etwas Bestimmtes sagen, als ich ihr halb den Rücken kehrte, doch dann hat sie nach kurzem Zögern nur erklärt:

»Ich werde gleich zu Corine gehen. Wenn du Lust hast, kannst du ja gegen Abend nachkommen.«

Corine de Langelle ist eine Freundin meiner Frau, die viel von sich reden macht und in der Rue Saint-Dominique eines der schönsten Häuser von Paris besitzt. Zu ihren vielen originellen Ideen gehört es, jeden Sonntagnachmittag Besuch zu empfangen.

»Es stimmt gar nicht, dass alle Welt zum Rennen geht«, pflegt sie zu sagen, »und nur wenige Frauen begleiten ihre Männer auf die Jagd. Sollen wir uns denn langweilen, bloß weil Sonntag ist?«

Ich bin im Salon auf und ab gegangen und habe dann gemurmelt:

»Bis nachher.«

Ich habe mich in mein Arbeitszimmer begeben. Nach all den Jahren ist es für mich immer noch ein merkwürdiges Gefühl, über die Galerie dorthin zu gelangen. Die Idee stammt von Viviane. Als die Wohnung unter uns frei wurde, hat sie mir geraten, sie zu kaufen, um dort meine Kanzlei einzurichten. Oben wurde es allmählich zu eng, besonders um Gäste zu empfangen. Wir haben die Decke des größten Zimmers entfernen und durch eine Galerie in Höhe der oberen Etage ersetzen lassen.

Dadurch ist ein sehr hohes Zimmer mit zwei Reihen Fenstern entstanden, an dessen Wänden sich von unten bis oben Bücherregale entlangziehen, wodurch der Raum einer öffentlichen Bibliothek ähnelt. Es hat eine ganze Zeit gedauert, bis ich mich daran gewöhnt habe, dort zu arbeiten und meine Mandanten zu empfangen.

In einem der ehemaligen Schlafzimmer habe ich mir außerdem einen gemütlichen Winkel eingerichtet, in dem ich meine Plädoyers vorbereite und auf einem Lederdiwan meinen Mittagsschlaf halte.

So auch heute. Aber habe ich wirklich geschlafen? Ich weiß es nicht. Ich habe im Halbdunkel zwar die Augen geschlossen, glaube jedoch, dass ich die ganze Zeit dem Regen in der Dachrinne gelauscht habe. Viviane hat sich in ihrem mit roter Seide ausgeschlagenen Boudoir, das sich neben unserem Schlafzimmer befindet, wahrscheinlich ebenfalls ausgeruht.

Es ist jetzt kurz nach vier. Bestimmt zieht sie sich gerade an, und vermutlich wird sie noch einmal bei mir vorbeischauen und mir einen Kuss geben, bevor sie sich zu Corine begibt.

Meine Augen fühlen sich geschwollen an. Schon seit langem sehe ich schlecht aus, und die Medikamente, die Doktor Pémal mir verschrieben hat, vermögen nichts dagegen. Dennoch schlucke ich gewissenhaft weiter Tropfen und Tabletten, von denen ein ganzes Arsenal auf dem Esstisch für mich bereitsteht.

Ich habe schon immer hervorquellende Augen und einen dicken Kopf gehabt. Er ist so dick, dass ich nur in zwei oder drei Pariser Geschäften einen passenden Hut finde. In der Schule nannten sie mich »Kröte«.

Manchmal höre ich ein Knacken, weil das Holz der Galerie bei feuchtem Wetter arbeitet, und ich hebe dann jedes Mal wie ein ertappter Sünder den Kopf, in der Annahme, dass Viviane herunterkommt.

Ich habe ihr nie etwas verheimlicht, und dennoch werde ich ihr diese Aufzeichnungen verheimlichen und sie in dem Renaissance-Schrank in meinem kleinen Winkel einschließen. Bevor ich mit dem Schreiben begann, habe ich mich vergewissert, dass der Schlüssel nicht verlorengegangen ist und dass das Schloss funktioniert. Ich werde auch für den Schlüssel ein Versteck finden müssen – hinter den Büchern in der Bibliothek zum Beispiel, denn er ist so riesig, dass ich ihn nicht in die Tasche stecken kann.

Aus meiner Schreibtischschublade habe ich einen beigefarbenen Aktenhefter genommen, auf den mein Name und meine Adresse gedruckt sind:

Lucien Gobillot

Rechtsanwalt

Paris, Quai d’Anjou 17

Hunderte solcher Hefter, die mehr oder weniger prall mit den Fällen meiner Mandanten gefüllt sind, stehen in einem Metallschrank, den Mademoiselle Bordenave in Ordnung hält. Ich habe gezögert, meinen Namen dorthin zu schreiben, wo sonst der des Mandanten steht. Schließlich habe ich ironisch lächelnd mit Rotstift ein einziges Wort hingemalt: Ich.

Es ist im Grunde meine eigene Akte, die ich hier anlege, und es ist durchaus möglich, dass sie eines Tages von Nutzen sein wird. Zehn Minuten hat es gedauert, bis ich es gewagt habe, den ersten Satz niederzuschreiben. Fast war ich versucht, wie bei der Abfassung eines Testaments zu beginnen:

Ich, UnterzeichnetIer, im Vollbesitz meiner körperlichen und geistigen Kräfte …

Denn es ist so etwas wie ein Testament. Genauer gesagt, ich weiß noch nicht recht, was es sein wird, und ich frage mich, ob dereinst am Rande dieses Schriftstücks dieselben unleserlichen Zeichen stehen werden, die ich bei meinen Mandanten verwende.

Ich habe nämlich die Angewohnheit, in ihrer Gegenwart das Wesentliche dessen, was sie sagen, zu notieren, das Wahre und das Falsche, das Halbwahre und das Halbfalsche, die Übertreibungen und die Lügen, und zugleich in Zeichen, die nur ich verstehe, meinen eigenen Eindruck festzuhalten. Ein paar dieser Zeichen sind seltsam verschnörkelt, ähneln jenen Männchen oder Figuren, die manche Richter während eines langen Plädoyers auf ihre Schreibunterlage malen.

Ich versuche, mich über mich selbst lustig zu machen, mich nicht ernst zu nehmen. Dennoch – ist das nicht schon ein Symptom, dass ich das Bedürfnis habe, meine Gedanken niederzuschreiben? Für wen? Warum? Ich weiß es nicht. Für einen Notfall, wie jene braven Leute sagen, die Geld zurücklegen. Für den Fall, dass die Dinge eine schlechte Wendung nehmen.

Können sie denn anders als schlecht ausgehen? Selbst bei Viviane nehme ich ein Gefühl wahr, das ihr immer fremd gewesen ist und das man doch tatsächlich für Mitleid halten könnte. Sie weiß nicht, weiß noch nicht, was uns erwartet. Trotzdem fühlt sie, dass es nicht mehr lange so weitergehen kann, dass etwas geschehen muss.

Auch Pémal, bei dem ich seit fünfzehn Jahren in Behandlung bin, ahnt es, und wenn er mir Medikamente verschreibt, dann tut er es bestimmt ohne Überzeugung. Wenn er mich besucht, verstellt er sich, gibt sich harmlos und heiter.

»Wo fehlt’s denn heute?«

Nirgends. Nirgends und überall. Dann erinnert er mich an meine immerhin fünfundvierzig Jahre und an die viele Arbeit, die ich stets geleistet habe und weiterhin leiste. Scherzhaft sagt er:

»Es kommt der Augenblick, da die stärkste und vollkommenste Maschine kleine Reparaturen braucht …«

Hat er von Yvette gehört? Pémal verkehrt nicht in denselben Kreisen wie wir, wo man wohl alles über mein Privatleben weiß. Vermutlich hat er in den Illustrierten manches gelesen, was nur die Eingeweihten verstehen können.

Übrigens handelt es sich nicht nur um Yvette. Es ist die ganze Maschine, um seinen Ausdruck zu benutzen, die nicht mehr funktioniert, und das nicht erst seit heute oder seit einigen Wochen oder Monaten.

Will ich behaupten, ich wüsste schon seit zwanzig Jahren, dass es ein schlimmes Ende nehmen wird? Das wäre übertrieben, aber ebenso übertrieben wäre es, wenn ich sagen würde, es habe vor einem Jahr mit Yvette begonnen.

Ich möchte …

 

Meine Frau ist eben heruntergekommen. Sie trägt unter ihrem Nerzmantel ein schwarzes Kostüm, ein Halbschleier bedeckt die obere Hälfte ihres schon ein wenig welken Gesichts und gibt ihm etwas Geheimnisvolles. Als sie auf mich zukam, habe ich ihr Parfüm gerochen.

»Glaubst du, dass du nachkommen wirst?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wir könnten dann irgendwo in der Stadt zu Abend essen.«

»Ich werde dich bei Corine anrufen.«

Im Augenblick habe ich nur den Wunsch, in meinem Winkel allein zu sein.

Sie hat mich auf die Stirn geküsst und ist dann mit eiligen Schritten zur Tür gegangen.

»Bis nachher.«

Sie hat mich nicht gefragt, woran ich arbeite. Sie ist hinausgegangen, und ich bin aufgestanden, um aus dem Fenster zu schauen.

Das Clochard-Paar ist immer noch unter der Brücke. Die beiden sitzen jetzt nebeneinander, angelehnt an die Quaimauer, und blicken auf das unter dem Bogen durchfließende Wasser. Aus der Ferne kann man nicht sehen, ob sich ihre Lippen bewegen und sie miteinander sprechen. Sie haben sich bis zu den Hüften in eine durchlöcherte Decke gehüllt. Falls sie miteinander reden, was mögen sie sich wohl zu sagen haben?

Der Schiffer ist offenbar mit seiner Weinration zurückgekommen, in der Kajüte sieht man den rötlichen Schein einer Petroleumlampe.

Es regnet immer noch und ist inzwischen fast dunkel geworden.

Bevor ich weiterschreibe, wähle ich die Telefonnummer der Wohnung in der Rue de Ponthieu, und es versetzt mir einen Stich, es läuten zu hören, ohne selbst dort in dem Zimmer zu sein. Es ist ein Gefühl, das mir allmählich vertraut wird, eine Art Druck oder Krampf, bei dem ich mir wie ein Herzkranker unwillkürlich an die Brust fasse.

Das Telefon hat lange geklingelt, wie in einer leeren Wohnung, und ich glaubte schon, es würde sich niemand melden, als plötzlich eine verschlafene, mürrische Stimme sagte:

»Wer ist da?«

Ich hätte beinahe den Hörer wieder aufgelegt. Ohne meinen Namen zu nennen, habe ich gefragt:

»Hast du gerade geschlafen?«

»Ach, du bist es! Ja, ich habe geschlafen.«

Dann schwiegen wir beide. Was hatte es für einen Zweck, mich zu erkundigen, was sie gestern Abend gemacht hat und wann sie nach Hause gekommen ist?

»Hast du ein bisschen viel getrunken?«

Sie hat ihr Bett verlassen müssen, um ans Telefon zu gehen, denn der Apparat befindet sich nicht im Schlafzimmer, sondern im Salon. Sie schläft nackt. Wenn sie aufwacht, hat ihre Haut einen besonderen Geruch, ihren eigenen Frauengeruch, vermischt mit dem von Nikotin und Alkohol. Sie trinkt in letzter Zeit viel mehr als früher, als ob auch sie ahnte, dass etwas geschehen wird.

Ich habe nicht gewagt, sie zu fragen, ob er da sei. Wozu? Warum sollte er nicht da sein, da ich ihm sozusagen das Feld geräumt habe? Er hört sicher vom Schlafzimmer aus zu, hat einen Ellbogen aufgestützt und tastet im Halbdunkel des Zimmers nach den Zigaretten.

Auf dem Teppich und auf den Stühlen liegen Kleidungsstücke verstreut, Gläser und Flaschen stehen herum, und sobald ich den Hörer aufgelegt habe, wird sie an den Kühlschrank gehen und sich ein Bier holen.

Sie gibt sich einen Ruck, um zu fragen, als ob sie das interessierte:

»Arbeitest du?«

Und dann fügt sie hinzu, woraus ich schließe, dass die Vorhänge zugezogen sind:

»Regnet es immer noch?«

»Ja.«

Das ist alles. Ich überlege, was ich noch sagen könnte, und vielleicht tut sie es ebenfalls. Alles, was mir einfällt, ist die lächerliche Ermahnung:

»Mach keine Dummheiten.«

Ich sehe sie vor mir, wie sie auf der Lehne des grünen Sessels hockt, sehe ihre birnenförmigen Brüste, ihren mageren Kinderrücken, das dunkle Dreieck ihrer Scham, das ich, ich weiß nicht, warum, immer rührend finde.

»Bis morgen.«

»Ja, bis morgen.«

Ich bin wieder ans Fenster gegangen, man sieht nur noch die Lichter der Straßenlaternen entlang der Seine, ihren Widerschein auf dem Wasser und hier und dort im Schwarz der feuchten Fassaden das helle Rechteck eines erleuchteten Fensters.

Ich lese noch einmal den Anfang des Satzes, den ich gerade schreiben wollte, als meine Frau mich unterbrochen hat.

 

Ich möchte …

Mir fällt nicht mehr ein, wie der Satz weitergehen sollte. Wenn ich wirklich mit dieser Niederschrift, die ich schon jetzt meine Akte nenne, fortfahren will, dann wird es wohl klüger sein, nichts noch einmal zu lesen, auch nicht einen einzigen Satz.

Ich möchte …

Ja, ich muss mit mir umgehen wie mit meinen Klienten. Im Palais de Justice heißt es immer, ich würde einen höchst gefürchteten Untersuchungsrichter abgeben, weil es mir gelänge, selbst den Verstocktesten die Würmer aus der Nase zu ziehen. Mein Verhalten ist immer ungefähr dasselbe, und ich gestehe, dass ich mir mein Äußeres zunutze mache – meinen berühmten Krötenkopf, meine hervorquellenden Augen, mit denen ich die Leute so einschüchternd anstarre. Meine Hässlichkeit ist mir nützlich, weil sie mir das geheimnisvolle Aussehen einer chinesischen Porzellanfigur gibt.

Ich lasse sie eine Weile reden, lasse sie die Sätze herunterleiern, die sie sich zurechtgelegt haben, bevor sie zu mir gekommen sind, und schreibe nebenher ein paar lockere Notizen hin. Wenn sie dann am wenigsten darauf gefasst sind, unterbreche ich sie und sage, das Kinn weiterhin in die linke Hand gestützt:

»Nein!«

Dieses Wörtchen, das ich ausspreche, ohne die Stimme zu heben, bringt sie fast immer aus der Fassung.

»Ich versichere Ihnen …«, versuchen sie, sich zu rechtfertigen.

»Nein.«

»Wollen Sie behaupten, dass ich lüge?«

»Es hat sich nicht so abgespielt, wie Sie es schildern.«

Bei manchen, vor allem bei Frauen, genügt das bereits, und dann huscht ein komplizenhaftes Lächeln über ihre Züge. Andere winden sich noch.

»Ich schwöre Ihnen …«

Bei denen stehe ich auf, als ob die Unterhaltung beendet wäre, und wende mich zur Tür.

»Ich will es Ihnen erklären«, stammeln sie beunruhigt.

»Ich brauche keine Erklärung, ich brauche die Wahrheit. Erklärungen zu finden ist nicht Ihre, sondern meine Sache. Wenn Sie es allerdings vorziehen zu lügen …«

Es kommt selten vor, dass ich die Hand auf den Türknauf legen muss.

Mir selbst kann ich diese Komödie natürlich nicht vorspielen. Aber wenn ich zum Beispiel schreibe:

Es hat vor einem Jahr begonnen, als …

Mir ist es erlaubt, mir selbst, wie ich es bei anderen auch tue, mit einem einfachen und kategorischen Nein! ins Wort zu fallen.

Dieses Nein verwirrt sie vollends, und sie verstehen dann überhaupt nichts mehr.

»Aber«, beteuern sie, »als ich sie kennengelernt habe, da …«

»Nein.«

»Warum behaupten Sie, dass das nicht wahr ist?«

»Weil man weiter zurückgehen muss.«

»Wie weit zurück?«

»Das weiß ich nicht. Forschen Sie in Ihrem Gedächtnis nach.«

Sie suchen und finden fast immer ein weiter zurückliegendes Ereignis, das ihren Fall erklärt. Ich habe vielen auf diese Weise aus der Patsche geholfen – nicht, wie man im Palais de Justice behauptet, mit juristischen Kniffen oder anderen Tricks, sondern weil ich sie dazu gebracht habe, die Ursache ihres Verhaltens zu entdecken.

So, wie sie sagen, müsste ich schreiben:

Es hat begonnen mit …

Womit? Mit jenem Abend, als ich vom Gericht zurückkam und Yvette allein in meinem Wartezimmer vorfand? Das ist die einfache Lösung, die ich die romantische nennen möchte. Wenn nicht Yvette, wäre es wahrscheinlich eine andere gewesen. Wer weiß, ob nicht das Eindringen eines neuen Elements in mein Leben einfach unvermeidlich war?

Ich habe leider nicht wie meine Mandanten, wenn sie sich in das setzen, was wir den Beichtstuhl nennen, jemanden vor mir, der mir meine eigene Wahrheit zu erkennen hilft, und sei es nur durch ein banales:

Nein!

Ich erlaube ihnen nicht, mit dem Schluss oder in der Mitte zu beginnen, aber ich für meinen Teil werde es dennoch tun, weil mich das Problem Yvette quält und ich mich davon befreien will. Wenn ich danach noch die Lust und den Mut dazu habe, werde ich mich bemühen, weiter zurückzugehen.

Es war ein Freitag, vor etwas mehr als einem Jahr, Mitte Oktober. Ich hatte in einem Erpressungsfall mein Plädoyer gehalten, die Urteilsverkündung war um acht Tage verschoben worden, und ich erinnere mich, dass meine Frau und ich in einem Restaurant in der Avenue du Président Roosevelt mit dem Polizeipräsidenten und ein paar anderen Leuten zu Abend essen wollten. Ich ging vom Palais de Justice, der nur wenige Schritte von hier entfernt ist, zu Fuß nach Hause. Es fiel ein feiner, fast warmer Regen, ganz anders als der heute.

Mademoiselle Bordenave, meine Sekretärin, die mit ihrem Vornamen anzureden mir nie in den Sinn gekommen ist und die ich wie einen Mann »Bordenave« nenne, war noch im Büro. Der junge Duret, der schon seit mehr als vier Jahren bei mir arbeitet, war bereits nach Hause gegangen.

»Im Wartezimmer sitzt noch jemand«, sagte Bordenave und hob den Kopf hinter ihrem grünen Lampenschirm.

Sie ist blond, aber ihr Schweiß riecht eindeutig wie der einer Rothaarigen.

»Wer?«

»Ein junges Mädchen. Sie hat ihren Namen und den Grund ihres Besuchs nicht sagen wollen. Sie will Sie unbedingt persönlich sprechen.«

»In welchem Wartezimmer sitzt sie?«

Wir haben zwei Wartezimmer, das große und das kleine, und ich wusste von vornherein, dass meine Sekretärin antworten würde:

»Im kleinen.«

Frauen, die mich unbedingt persönlich sprechen wollen, sind ihr ein Gräuel.

Ich hatte noch meine Aktentasche unter dem Arm, den Hut auf dem Kopf und den feuchten Mantel an, als ich die Tür aufstieß und sie dort im Sessel sitzen sah. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, las ein Filmmagazin und rauchte eine Zigarette.

Bei meinem Eintreten sprang sie sofort auf und blickte mich an, als ob sie den Schauspieler, dessen Bild auf der Titelseite der Zeitschrift prangte, plötzlich leibhaftig vor sich hätte.

»Kommen Sie mit.«

Mir waren sofort ihr billiger Mantel, ihre Schuhe mit den abgetretenen Absätzen und vor allem ihre Pferdeschwanzfrisur aufgefallen, die gerade bei Tänzerinnen in Mode war oder bei gewissen Mädchen vom linken Seine-Ufer.

In meinem Büro legte ich Mantel und Hut ab, setzte mich an meinen Schreibtisch und bat sie, auf dem Sessel mir gegenüber Platz zu nehmen.

»Hat Sie jemand hergeschickt?«, fragte ich.

»Nein. Ich bin aus eigenem Entschluss gekommen.«

»Wieso sind Sie gerade zu mir gekommen?«

Ich stelle diese Frage oft, obwohl die Antwort für mich nicht immer schmeichelhaft ist.

»Können Sie es sich nicht denken?«

»Ich spiele schon lange keine Ratespielchen mehr.«

»Nun, vielleicht – weil man weiß, dass Sie Ihre Klienten meist herauspauken.«

Ein Journalist hat das Gleiche kürzlich anders formuliert, und seitdem geht seine witzige Bemerkung durch alle Zeitungen:

Sind Sie unschuldig, nehmen Sie sich irgendeinen guten Anwalt. Sind Sie schuldig, wenden Sie sich an Monsieur Gobillot.

Der Schein der Lampe fiel grell auf das Gesicht meiner Besucherin, und ich erinnere mich, dass ich bei ihrem Anblick ein gewisses Unbehagen empfand. Sie hatte das Gesicht eines Kindes und zugleich das einer alten Frau – eine Mischung von Naivität und Verschlagenheit. Von Unschuld und Laster, würde ich am liebsten sagen, aber ich schätze diese Worte nicht und wende sie nur den Geschworenen gegenüber an.

Sie war mager und sah ungesund aus, wie alle Mädchen ihres Alters, die in Paris leben und sich nicht richtig pflegen können. Wie kam ich auf den Gedanken, dass sie bestimmt schmutzige Füße hatte?

»Haben Sie eine gerichtliche Vorladung?«

»Ich werde sie bestimmt bekommen.«

Sie wollte auf mich Eindruck machen. Ich bin sicher, dass sie die Beine absichtlich so übereinanderschlug, dass ich ihre Schenkel sehen konnte. Sie hatte sich im Wartezimmer frisch geschminkt, und es sah unbeholfen und übertrieben aus, wie bei einer Prostituierten von der billigsten Sorte oder einer kleinen Landpomeranze, die erst vor kurzem in Paris gelandet ist.

»Sobald ich in mein Hotel zurückkehre, werde ich sicher verhaftet, und wahrscheinlich haben schon alle Polizisten auf Streife meine Personenbeschreibung.«

»Und da wollten Sie mich lieber vorher sprechen?«

»Natürlich! Hinterher wäre es zu spät.«

Ich begriff nicht, wie sie das meinte, und begann neugierig zu werden. Aber gerade das wollte sie wohl, und ich sah ein verstohlenes Lächeln über ihre schmalen Lippen huschen.

Ich ging es auf gut Glück an.

»Ich nehme an, Sie sind unschuldig?«

Sie hatte jene Bemerkung über mich gelesen, denn wie aus der Pistole geschossen, kam die Antwort:

»Wenn ich unschuldig wäre, so wäre ich nicht hier.«

»Weshalb sucht man Sie?«

»Raubüberfall.«

Sie sagte es, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Bewaffnet?«

»Wie denn sonst?«

Ich habe mich daraufhin etwas bequemer in meinen Sessel gesetzt, so wie immer das Kinn in die linke Hand gestützt und, während ich mit der rechten auf einen Block Worte und Figuren kritzelte, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt und sie prüfend angeblickt.

»Erzählen Sie.«

»Was?«

»Alles.«

»Ich bin neunzehn Jahre alt.«

»Ich hätte Sie gerade mal für siebzehn gehalten.«

Ich wollte sie absichtlich kränken, ich weiß selbst nicht, warum. Schon bei dieser ersten Begegnung standen wir uns wie Gegner gegenüber. Sie forderte mich heraus, und ich forderte sie heraus. In diesem Augenblick waren unsere Chancen noch ungefähr gleich.

»Ich bin in Lyon geboren.«

»Und weiter?«

»Meine Mutter ist weder Putzfrau noch Fabrikarbeiterin, noch Prostituierte.«

»Warum sagen Sie das?«

»Weil das doch gewöhnlich der Fall ist, oder?«

»Sie lesen Schundromane?«

»Ich lese nur Zeitung. Mein Vater ist Lehrer, und meine Mutter war vor ihrer Heirat bei der Post angestellt.«

Sie schien auf eine Entgegnung zu warten und war einen Augenblick verwirrt, dass sie ausblieb.

»Ich habe bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr die Schule besucht, meine Abschlussprüfung bestanden und dann ein Jahr lang als Stenotypistin bei einer Transportfirma in Lyon gearbeitet.«

Ich hatte mich entschieden, sie nicht zu unterbrechen.

»Eines Tages habe ich beschlossen, mein Glück in Paris zu versuchen. Meinen Eltern gegenüber habe ich behauptet, dass ich auf eine schriftliche Bewerbung hin in Paris eine Stellung gefunden hätte.«

Ich schwieg weiter.

»Interessiert Sie das nicht?«

»Fahren Sie fort.«

»Ich hatte keine Arbeit, habe mich aber trotzdem durchgeschlagen, da ich, wie Sie sehen, ja noch lebe. Möchten Sie wissen, wie?«

»Nein.«

»Ich will es Ihnen trotzdem sagen. Auf jede Art, mit allen Mitteln.«

Ich blieb stumm, und sie wiederholte:

»Mit allen Mitteln! Verstehen Sie?«

»Und weiter?«

»Dann habe ich Noémie kennengelernt, die sich jetzt irgendwo hat schnappen lassen und im Augenblick wohl noch verhört wird. Da die Polizei weiß, dass wir beide an dem Überfall beteiligt waren, und auch herausbekommen wird, wenn es nicht schon jemand verraten hat, dass wir ein Hotelzimmer geteilt haben, werden sie dort auf mich warten. Kennen Sie das Hôtel Alberti in der Rue Vavin?«

»Nein.«

»Dort haben wir gewohnt.«

Mein Verhalten begann sie so nervös zu machen, dass sie allmählich ihre Sicherheit verlor. Ich gab mich absichtlich behäbig und gleichgültig.

»Sind Sie immer so?«, bemerkte sie ärgerlich. »Ich dachte, es ist Ihre Aufgabe, Ihren Klienten zu helfen.«

»Dazu muss ich erst wissen, wie ich Ihnen helfen kann.«

»Ich denke, indem Sie uns beide herauspauken!«

»Sprechen Sie weiter.«

Sie zögerte, zuckte mit den Schultern und fuhr dann fort:

»Ich will’s versuchen. Wir hatten es schließlich beide satt.«

»Was?«

»Wollen Sie Einzelheiten hören? Mir macht es nichts aus, und wenn Sie widerliche Geschichten mögen …«

Verachtung und Enttäuschung klangen aus ihrer Stimme. Da kam ich ihr zum ersten Mal entgegen, weil ich mich ihr gegenüber doch etwas zu hart fand.

»Wer hat die Idee mit dem Raubüberfall ausgeheckt?«

»Ich. Noémie ist zu dumm, um auf Ideen zu kommen. Sie ist ein liebes Mädchen, aber sie hat das Gehirn eines Spatzen. Beim Zeitunglesen ist mir der Gedanke gekommen, dass wir mit etwas Glück auf einen Schlag für Wochen, ja, vielleicht für Monate aus unserer Misere herauskommen könnten. Ich bummle oft abends in der Nähe der Gare Montparnasse herum, und so kenne ich das Viertel allmählich. In der Rue de l’Abbé-Grégoire ist mir ein Uhrmachergeschäft aufgefallen, das jeden Abend bis neun oder zehn geöffnet hat.

Es ist ein schlecht beleuchteter, enger Laden. Im Hintergrund sieht man eine Küche, in der eine alte Frau strickt oder Gemüse putzt und dabei Radio hört.

Der Uhrmacher, ebenso alt wie sie und kahlköpfig, arbeitet dicht am Schaufenster mit einer schwarz eingefassten Lupe vor dem Auge, und ich bin unzählige Male dort vorbeigegangen, um die beiden zu beobachten.

Die Straße selbst ist ebenfalls schlecht beleuchtet, und in der Nähe sind keine weiteren Geschäfte …«

»Womit waren Sie bewaffnet?«

»Ich habe mir eine Spielzeugpistole gekauft, die einer richtigen aufs Haar gleicht.«

»War das gestern Abend?«

»Vorgestern. Mittwoch.«

»Erzählen Sie weiter.«