Im Herzen des Kometen - David Brin - E-Book

Im Herzen des Kometen E-Book

David Brin

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Beschreibung

Leben auf dem Kometen

Als im Jahr 2062 der Halleysche Komet erneut wiederkehrt, fliegen ihm nicht nur ein paar Robotsonden entgegen, sondern eine gut ausgerüstete bemannte Expedition. Ihre Aufgabe ist es, den zehn Kilometer durchmessenden Kometenkern zu einer Art „Raumschiff“ umzubauen, um ihn während der nächsten 76 Jahre auf seiner Reise in die fernen Regionen des äußeren Sonnensystems zu begleiten, seine Zusammensetzung und seinen Aufbau zu studieren und Beobachtungen und Messungen an den äußeren Planeten durchzuführen. Sowie der Photonensturm der Sonne nachlässt, werden die ersten Bauwerke auf der Oberfläche errichtet und die ersten Tunnel ins Eis gegraben. Da machen die Expeditionsteilnehmer eine ebenso wunderbare wie fatale Entdeckung: Auf Halley gibt es Leben! Niederes, aber uraltes Leben, das in Jahrmillionen gelernt hat, die kurzen Sommer zu nutzen und auf jeden Wärmekontakt mit explosionsartiger Vermehrung zu reagieren. Es ist zu spät: Eine Rückkehr zur Erde ist nicht mehr möglich – und auch alles andere als wünschenswert. Die Forscher sind auf sich allein gestellt …

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Seitenzahl: 945

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DAVID BRIN

&

GREGORY BENFORD

IM HERZEN

DES KOMETEN

Roman

Das Buch

Als im Jahr 2062 der Halleysche Komet erneut wiederkehrt, fliegen ihm nicht nur ein paar Robotsonden entgegen, sondern eine gut ausgerüstete bemannte Expedition. Ihre Aufgabe ist es, den zehn Kilometer durchmessenden Kometenkern zu einer Art »Raumschiff« umzubauen, um ihn während der nächsten 76 Jahre auf seiner Reise in die fernen Regionen des äußeren Sonnensystems zu begleiten, seine Zusammensetzung und seinen Aufbau zu studieren und Beobachtungen und Messungen an den äußeren Planeten durchzuführen. Sowie der Photonensturm der Sonne nachlässt, werden die ersten Bauwerke auf der Oberfläche errichtet und die ersten Tunnel ins Eis gegraben. Da machen die Expeditionsteilnehmer eine ebenso wunderbare wie fatale Entdeckung: Auf Halley gibt es Leben! Niederes, aber uraltes Leben, das in Jahrmillionen gelernt hat, die kurzen Sommer zu nutzen und auf jeden Wärmekontakt mit explosionsartiger Vermehrung zu reagieren. Es ist zu spät: Eine Rückkehr zur Erde ist nicht mehr möglich – und auch alles andere als wünschenswert. Die Forscher sind auf sich allein gestellt …

Die Autoren

David Brin, 1950 im amerikanischen Glendale geboren, studierte Astronomie und Physik und arbeitete lange als Wissenschaftler und Dozent, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Mittlerweile gehört er zu den bedeutendsten amerikanischen Science-Fiction-Autoren der Gegenwart und erobert regelmäßig die Bestsellerlisten. Besonders mit seinem Roman »Existenz« ist ihm eine der eindrucksvollsten Zukunftsvisionen der Science Fiction gelungen. David Brin lebt in Südkalifornien.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Titel der Originalausgabe

IN THE HEART OF THE COMET

Aus dem Amerikanischen von Walter Brumm

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1985 by David Brin & Gregory Benford

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Das Illustrat, München

INHALT

Erstes Buch – Engelsbanner: Oktober 2061

1. Carl

2. Saul

3. Virginia

4. Carl

5. Saul

6. Virginia

7. Carl

8. Saul

Zweites Buch – Im heißen Atem jener Tage: November, Dezember 2061

1. Virginia

2. Carl

3. Saul

4. Virginia

5. Carl

6. Saul

7. Virginia

8. Carl

9. Saul

10. Virginia

11. Carl

12. Saul

Drittes Buch – Als es im Höllenpfuhl endlich Frühling wurde: Januar 2062

1. Virginia

2. Carl

3. Saul

4. Virginia

5. Carl

6. Saul

7. Virginia

8. Carl

9. Saul

10. Virginia

11. Carl

12. April 2062: Saul

13. Juni 2062: Virginia

Viertes Buch – Der Fels in der Wüste: 2092

1. Saul

2. Carl

3. Virginia

4. Saul

5. Carl

6. Virginia

7. Saul

8. Carl

9. Virginia

Fünftes Buch – Mit dem Strich einer Feder: 2094

1. Saul

2. Carl

3. Virginia

4. Saul

5. Carl

6. Virginia

7. Saul

8. Carl

Sechstes Buch – Mit der Wucht eines Steins: 2100

1. Saul

2. Virginia

3. Carl

4. Virginia

5. Carl

6. Saul

7. Virginia

8. Carl

Siebtes Buch – Das Herz des Kometen: 2133

1. Saul

2. Carl

3. Virginia

4. Carl

5. 2144: Saul

6. Virginia

ERSTES BUCH

Engelsbanner:

Oktober 2061

Teurer als die bittere Wahrheit

Für

Poul und Robert

Greg und Carolyn

Larry und Jerry

Charles und Harry

1. Carl

Kato starb als erster.

Er hatte die Baumaschinen gewartet – selbststeuernde Roboter, die auf der staubigen grauen Eisdecke des Kometen Gittermasten errichteten.

Von Carls Standort auf einer ungefähr einen Kilometer entfernten Anhöhe war Katos Schutzanzug ein orangefarbener Punkt inmitten der schwerfälligen grauen Geräte.

Nicht weit von Kato und dem Nordpol des Kometen standen bereits acht dünne Gittermasten, die zusammen eine Art Zeltdach oder Pyramide bildeten. Wo ihre Spitzen sich vereinten, ruhte die Parabolantenne des Mikrowellenbohrers wie eine umgestülpte Schüssel. Kato arbeitete hundert Meter entfernt, unbekümmert um die wütende Energie, die sich dort in das Eis fraß.

Carl hatte oft gedacht, dass der Bohrer in seinem Gestell einer grotesken, langbeinigen Spinne gleiche. Aus dem Bohrloch darunter schossen in kurzen Abständen Dampfausbrüche.

Als grübe sie geduldig nach Beute, spie die Spinne unsichtbare Mikrowellen in Abständen von fünf Sekunden in den Schacht. Augenblicke nach jedem Energiestoß schoss ein Dampfstrahl aus dem Loch, vermischt mit der gelblichblauen Flamme erhitzter Gase. Der Dampfstrahl wurde von Abweisblechen in sechs weißen Fahnen seitwärts abgelenkt, bevor er den Mikrowellensender erreichen konnte.

Dieser war seit Tagen am Werk und bohrte mit elektromagnetischen Zentimeterwellen einer Frequenz, die Kohlendioxidmoleküle zerlegte, geduldig Schächte in den Kometenkern.

Bei jedem Impulsstoß spürte Carl ein leises Zittern unter den Füßen. Der Horizont aus altem grauen Eis krümmte sich in alle Richtungen. Zutageliegende Schichtenköpfe aus Clathratschnee verschiedener Einschlussverbindungen erhoben sich reinweiß aus der grauen, rostfleckigen Oberfläche.

Kato und seine Maschinen waren durch im Eis verankerte Leinen gesichert. Die geringe Schwerkraft des Kometenkopfes vermochte sie nicht am Boden zu halten, wenn sie sich bewegten. Am schwarzen Himmel über ihnen wehten dünne Fahnen von Eiskristallen und gefrorenen Gasen, Kato überwachte die gefährliche Arbeit seiner Robotermaschinen aus Stahl und Keramik. Er hatte dem Bohrgestell den Rücken zugekehrt.

Carl blickte gerade von seiner eigenen Arbeit auf, als es geschah.

Der Bohrer verrichtete methodisch seine Arbeit und verwandelte Eis in Dampf, der bald nach dem Austritt ins Vakuum zu Eiskristallen gefror. Plötzlich löste sich einer der tragenden Gittermasten in einer lautlos aufstiebenden Schneewolke aus seiner Verankerung, der Einfallswinkel der Mikrowellen veränderte sich und brachte Kato für eine Sekunde in den Wirkungsbereich. Das war genug.

Ehe Carl zu einer Reaktion fähig war, sah er Kato eine ruckartige Wendung machen, als wollte er davonlaufen. Später wurde ihm klar, dass es des Mannes kurzer Todeskampf gewesen sein musste.

Der Strahl des Bohrers riss das Oberflächeneis auf, und leuchtende gelbe und orangenfarbene Gas- und Dampfschleier stoben in den schwarzen Himmel. Geräuschlos.

Der unsichtbare Strahl wanderte in unregelmäßiger Bahn weiter über die Eisfläche und tastete mit dem Nachgeben eines weiteren Trägers auf den nahen Horizont zu. Carl tastete nach der Fernbedienung, zog die Schutzkappe ab und drückte den Notschalter. Alle Maschinen und Geräte auf dieser Seite des Kometenkerns wurden abgeschaltet. Der Mikrowellenfinger hörte auf, seine Spur auf das Eis zu schreiben.

Das Bohrgerüst begann zusammenzubrechen. Der Halleysche Komet, auf dem jeder Körper, bedingt durch die vergleichsweise geringe Masse, nur ein Zehntausendstel dessen wiegt, was er auf der Erdoberfläche wiegen würde, hätte den Rückstoßeffekt des arbeitenden Mikrowellengenerators nicht ausgleichen können, aber ohne den Strahlungsdruck machte sich die schwache Anziehungskraft des Kometenkerns bemerkbar. Das Gerüst wankte und fiel wie in Zeitlupe beklemmend langsam in sich zusammen.

»Was ist los?«, dröhnte eine Stimme aus dem integrierten Funksprechgerät im Helm. »Ich hab keinen Saft mehr.«

Das musste Jeffers sein. Andere Stimmen plapperten dazwischen.

»Helft mir! Kato ist verletzt.«

Carl schoss über das schmutziggraue Eis dahin. Seine Impulsdüsen zündeten sicher und rasch, als er zur Unfallstelle startete. Jahrelange Übung verlieh seinen Bewegungen im Zustand annähernder Schwerelosigkeit eine natürliche Anmut, die unbewusst jede Vergeudung von Energie vermied. Die Überquerung von Halleys runzligem Gesicht war ein Dahinsegeln über eine gefrorene graue See unter schwarzem Himmel.

Als er an der Unfallstelle eintraf, fand Carl etwas, was weniger einem Menschen als vielmehr einem geschwärzten, verzerrten, schlecht gebratenen Huhn ähnelte.

Umolanda war die zweite.

Der Zeitplan ließ nicht viel Raum, Kato zu betrauern. Ein Arzt und ein Sanitäter kamen vom Flaggschiff, der Edmund Halley, zur Oberfläche herab, um Katos Leichnam zur Obduktion mitzunehmen, aber dann hieß es zurück an die Arbeit.

Carl hatte schon vor Jahren gelernt, trotz beunruhigender Nachrichten, Unfälle, Verwirrungen weiterzuarbeiten. Den Tod eines Kollegen mit einem Achselzucken abzutun, war weniger leicht. Er hatte Katos Energie, seinen schlagfertigen Humor und seine Zuversicht gemocht. Das Versprechen, dem Andenken des Freundes wenigstens eine gründlich betrunkene Gedächtnisfeier zu widmen, blieb ein unvollkommener Trost.

Carl und Jeffers richteten das Bohrgerüst wieder auf, Carl schnitt den verbogenen Abschnitt des Gittermasts heraus, und gemeinsam setzten sie ein neues Stück ein. Während Carl es hielt, ließ Jeffers die Flamme des Schweißbrenners über die Nahtstellen züngeln. Die selbstschweißende Legierung verband sich in orangegelber Glut. Die Reparatur war erledigt, bevor Katos Leichnam an Bord der Edmund Halley eintraf.

Über der nahen Krümmung des Horizonts erschien Umolanda. Die blassblauen Stichflammen ihrer Impulsdüsen trieben sie das Äquatorialkabel entlang. Die einfachste Art und Weise, den unregelmäßigen Eisball des Kometenkerns zu umkreisen, bestand darin, dass man sich am Äquatorialkabel oder dem rechtwinklig dazu verlaufenden Polarkabel einhängte und die Impulsdüsen betätigte. Das Kabel hielt einen wenige Meter über der Oberfläche und seine magnetischen Verankerungen klinkten im Augenblick des Durchgangs automatisch aus, um den Reibungsverlust so gering wie möglich zu halten.

Umolanda war für den Innenausbau verantwortlich, die Ausformung der unregelmäßigen Bohrschächte zu geraden Stollen und Räumen. Sie traf Carl beim Eingang zu Schacht 3, etwa einen Kilometer vom Schauplatz des Unfalls entfernt. Das Bohrgerüst hatte die Arbeit schon wieder aufgenommen.

»Eine dumme Geschichte«, sagte sie in das helmintegrierte Funksprechgerät.

»Ja.« Die Erinnerung an den Anblick des Toten verdüsterte Carls Miene. »Ein netter Kerl, obwohl er die ganze Zeit diese alten Videofilme laufen ließ.«

»Wenigstens war es ein rascher Tod.«

Dazu hatte er nichts zu sagen, wollte hier draußen ohnehin nicht lange darüber reden. Wer wollte, konnte mithören, und es hielt die Arbeit auf.

Umolandas sanfte Augen musterten ihn durch die schmutzbespritzte Scheibe des Helmes. Der Halsring verbarg ihr gespaltenes Kinn. Er war überrascht, dass dieser Umstand sie als eine auffallend schöne Frau erscheinen ließ, deren ebenholzfarbene Haut durch die hohen Backenknochen einen Ausdruck ironischer Verschmitztheit erhielt. Seltsam, dass es ihm vorher nie aufgefallen war.

»Haben Sie die Ursache festgestellt?«, fragte sie.

»Ich habe die Stelle überprüft, wo der Gittermast sich aus der Verankerung löste«, sagte Carl. »Anscheinend hat ein darunterliegender Hohlraum nachgegeben.«

Sie nickte. »Nicht überraschend. Ich habe unten immer wieder solche Hohlräume gefunden, die sich bildeten, als radioaktive Kerne in ferner Vorzeit das Eis erwärmten. Wenn heiße Gase und Wasserdampf von den Bohrarbeiten durch einen dieser Hohlräume zur Oberfläche entweichen, können sie weiteres Abschmelzen und Einbrüche verursachen.«

Carl blinzelte zum Horizont und stellte sich den ganzen Kometenkopf von gewundenen Stollen und Schächten durchlöchert vor. »Das wird es sein.«

»Hätte der Bohrer nicht ausgeschaltet werden sollen, sobald er aus der Richtung kam?«

»Doch.«

»Und der Schalter?«

»Der Sicherheitsschalter war defekt«, sagte Carl verdrießlich. »Funktionierte nicht, das verdammte Ding.«

Sie zog die Brauen zusammen. »Wieder fehlerhaftes Material!«

»Ja. Irgendein Unternehmen hat seine Gewinnspanne ein wenig verbessert.«

»Haben Sie es gemeldet?«

»Selbstverständlich. Aber die Lieferung von Ersatzteilen ist ein Kapitel für sich.« Er lächelte ironisch.

»Es wird immer Unfälle geben. Auch auf Encke haben wir Leute verloren.«

»Das macht es nicht leichter.«

»Gewiss nicht.«

»Übrigens war Encke ein Muster von einem Kometen. Alt. Ausgegast. Jede Menge fester, sicherer Fels.«

Sie lächelte. »Vielleicht kann dieses Eis uns langfristig am Leben erhalten, aber kurzfristig bringt es uns um.«

Carl deutete zu drei Maschinen, die auf Arbeitsanweisungen warteten. Staub, Gesteinsbrocken und Schlamm hatten ihnen bereits eine Schmutzschicht und die ersten Narben beigebracht. »Das sind Ihre Maschinen. Kato hat sie bereitgestellt.«

»Sie sehen einwandfrei aus.« Umolanda besah die farbkodierte Ablesung auf der Oberseite des nächsten Geräts und nickte. »Ein Glück, dass der Mikrowellenstrahl sie nicht getroffen hat. Ich werde sie mit hinunter nehmen und in Schacht 3 einsetzen.«

Sie hängte die Sicherheitsleinen der gedrungenen, mehrarmigen Roboter ein und zog sie im Schlepptau zum Schachteingang. Carl sah ihr nach, bis sie in der Öffnung verschwand, die Maschinen wie Kälber am Strick führend, obwohl die Maschinen in manchen Dingen so klug wie Zehnjährige waren, und viel koordinierter.

Er ging weiter, die von der Edmund Halley mit Raumfähren gelandeten Ersatzteile, Maschinen und Materialien zu kontrollieren und mit den Listen zu vergleichen. Es war langweilige Arbeit, doch hatte er seit Tagen in den Schächten gearbeitet und brauchte eine Abwechslung von den endlosen Wänden aus Eis und Trümmergestein.

Am schwarzen Himmel über ihm wehten florartige Lichterscheinungen in gemessenem Reigen. Der doppelte Kometenschweif schimmerte wie durchscheinende blaugrüne Seide. Er verblasste jetzt allmählich, Monate nach dem sommerlichen Sonnenumlauf, der sich für den Kometen alle sechsundsiebzig Jahre wiederholte. Aber noch waren die Banner entfaltet und das leuchtende Gas wehte wie in einer trägen Brise, die Fahnen mächtiger Engelsheere.

Die Expedition hatte für ihre Landung auf dem Halleyschen Kometen einen Zeitpunkt nach dem Sonnenumlauf im Perihel seiner elliptischen Bahn gewählt, als er wieder unterwegs in die äußeren Bereiche des Sonnensystems war. Hier, jenseits der Umlaufbahn des Mars, hatte die starke Aufheizung durch die Sonneneinstrahlung mit ihrer Ausgasung von Kohlendioxid, Wassermolekülen und Staub, die den Kometen während seines kurzen Sommers zu so einer aufsehenerregenden Erscheinung machte, erheblich nachgelassen.

Aber die Wärme hielt sich. Monatelang, während der Komet sich der wilden, alles verzehrenden Glut der Sonne angenähert und sie umkreist hatte, war die Strahlungshitze durch Eis und Staub eingedrungen, hatte sich in Höhlen und Felsgestein konzentriert. Noch jetzt, als der Komet wieder in die Dunkelheit des äußeren Sonnensystems zurückkehrte, gab es in seinem Innern gespeicherte Wärme.

Der sandige graue Ball war ein gefrorenes Gemisch aus Wasser, Kohlendioxid, Methan, Ammoniak und Cyanwasserstoff. Jeder dieser zu Schnee gefrorenen Stoffe verdampfte bei einer anderen Temperatur. So war es unvermeidlich, dass die eingedrungene und konservierte Wärme an verschiedenen Stellen Eisbestandteile schmolz oder verdampfte. Die Hohlräume, wo sich solche erwärmten Bestandteile sammelten, standen gegenüber dem Vakuum des umgebenden Weltraumes unter Überdruck.

Carl war mit dem Zusammenbau eines chemischen Filtersystems beschäftigt, als er über das Funksprechgerät einen scharfen, hohen Aufschrei hörte, dem unheilverkündende Stille folgte. Der Signalgeber an seinem Handgelenk blinkte gelb und blau, gelb und blau: Umolandas Kode.

Verdammt. Zweimal in einer Schicht?

»Umolanda!«

Keine Antwort. Er hakte sich an das Äquatorialkabel und zog sich Hand über Hand zur Öffnung von Schacht 3.

Maschinen arbeiteten an einer Einsturzstelle und räumten inmitten von Nebelschwaden Eisbrocken und Schutt beiseite. Von Umolanda kam kein Signal. Er ließ die Maschinen arbeiten, nahm aber ihre Bildaufzeichnungen an sich, um sie durchzusehen, während er arbeitete. Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, was geschehen war.

Tief im Eis des Kometenkerns hatten die Maschinen an der Erweiterung der ersten Kaverne gearbeitet. Umolanda blieb aus Sicherheitsgründen im Hauptstollen und lenkte sie durch Fernsteuerung. Die Fernsehübertragung sagte ihr, wann die Maschinen einer neuen Arbeit zugeteilt werden konnten, wann Einzelheiten nachzuarbeiten waren, wo zu bohren und zu sprengen war. Sie war angeschnallt und überwachte die Arbeiten am tragbaren Ablesegerät. Hin und wieder schaltete sie sich selbst in die Steuerung einer Maschine ein, um besonders knifflige Arbeiten auszuführen.

Bei der Arbeit war eine der Maschinen auf einen mächtigen Block aus dunklem Meteoreisen gestoßen, dessen Durchmesser mehr als zwei Meter betrug. Weil dieser Block eine brauchbare Rohstoffquelle sein mochte, setzte Umolanda alle drei Maschinen zu seiner Bergung ein. Unter ihrer Anleitung versuchten sie den Block mittels Hebelstangen aus dem umgebenden Material zu lösen. Aber er rührte sich nicht von der Stelle.

Darauf war Umolanda zur Arbeitsstelle gekommen, um die Sache in Augenschein zu nehmen. Carl konnte es nachempfinden; Maschinen waren gut, oft aber war es schwierig zu sehen, ob sie den besten Ansatzwinkel gefunden hatten.

Carl hatte ein dunkles Vorgefühl. Der Block hatte seit Monaten Wärme absorbiert und in einen hinter ihm liegenden Hohlraum weitergegeben, der sich mit einem schlammigen Gemisch aus Gesteinsbrocken, verflüssigtem Kohlendioxid und Methan angefüllt hatte. Diese Suppe war dem kritischen Punkt nahe und bedurfte nur einer geringfügigen Temperaturerhöhung oder eines nachlassenden Drucks von außen, um in Dampf überzugehen und explosionsartig hervorzubrechen.

Eine der Maschinen hatte ihre Hebelstange am Block vorbei in dieses Reservoir gestoßen. Umolanda sah die Eisenstange plötzlich nachgeben und wies den Roboter über das Programm der Fernsteuerung an, es noch einmal zu versuchen, diesmal aber vorsichtiger.

Die Maschine gehorchte. Ihre Aluminiumverkleidung war von mehrtägiger Arbeit im Eis bespritzt und verfärbt, doch zeigten ihre Ablesungen, dass sie in einwandfreiem Zustand war. Sie benutzte ihre eigene Verankerung in der Wand als Angelpunkt, setzte die Stange neben dem Block ein, bediente sich ihrer Hebelwirkung, und der Eisenblock brach aus der Wand.

Das Nachlassen des Druckes setzte die Verdampfungsenergie frei, riss die Eisenstange aus dem Griff der Maschine und schleuderte sie wie einen Ladestock durch den Lauf einer Kanone.

Umolanda war nur zwei Meter entfernt. Die Stange durchbohrte ihren Leib.

Carl wartete geduldig, während die Maschinen den Weg freimachten. Es bestand kein Anlass zur Eile.

Expeditionsleiter Miguel Cruz sagte alle Arbeiten für die nächsten zwei Schichten ab. Die Bautrupps hatten seit einer Woche beinahe ununterbrochen gearbeitet. Zwei tödliche Unglücksfälle an einem Tag ließen den Schluss zu, dass die Leute aus schierer Übermüdung Fehler begingen.

Carl nahm die letzte Fähre hinauf. Der Kometenkern schrumpfte zu einem grauen Punkt, der in einer leuchtenden orangegelben Wolke schwamm. Obwohl die verwischte, langgestreckte Wolke des Schweifs mit einem kleinen Teleskop von der Erde aus immer noch beobachtet werden konnte, waren die schimmernden Ionenschleier vom Kometenkopf selbst kaum erkennbar. Gas und Staub wurden nach wie vor durch die Oberfläche des Kometenkerns ausgestoßen und erschwerten das Manövrieren mit Ladungen. Dieses Ausgasen rührte jetzt nicht mehr so sehr von der nachlassenden Sonneneinstrahlung her als vielmehr von der Wärme, die Menschen und ihre Arbeitsprozesse erzeugten.

Nach Umolandas Unfall war der Schlammausbruch in den Stollen gedrungen und hatte einen perligen Nebel erzeugt, der sich eine Stunde lang hielt. Außerdem hatte er die Maschinen in den Stollen hinausgetragen und Umolanda unter einem Strom aus Schlamm und Eis begraben. Dadurch waren Carl und andere Helfer von außen so lange aufgehalten, dass es für eine Bergung und mögliche Wiederbelebung zu spät war. Umolanda war verloren.

Als die Fähre sich weiter vom Kometen entfernte, zeigte sich in verkürzter Perspektive der doppelte Schweif, ein blasses Überbleibsel der Pracht, die noch vor zwei Monaten die Betrachter auf der Erde bezaubert hatte. Unregelmäßige Lichtströme wehten wie die zerfaserten Enden eines Doppelwimpels hinaus zu Jupiters strahlendem Lichtpunkt. Carl achtete nicht darauf, streckte sich aus und döste, während die Fähre auf das Mutterschiff zuhielt.

Als sie mit metallischem Schlagen gegen die Schleuseneinfassung andockten, schälte er sich aus seinem Schutzanzug und schwebte zum Schwerkraftrad im Bug. Er stieg eine der Speichenleitern hinab und stolperte hinaus in den unvertrauten Zug eines Achtels der Erdschwere. Mit der Wiederkehr des Gewichts senkte sich bleierne Müdigkeit auf ihn herab.

Ja, Schlaf brauchte er, um sein inneres Gleichgewicht wiederherzustellen. Zuerst aber kam Virginia. Er hatte sie eine Ewigkeit nicht gesehen. Sie war in ihrem Arbeitsraum auf der anderen Seite des Rades. Heutzutage verließ sie ihn kaum noch. Die Tür öffnete sich seufzend. Der Raum war ein aus dem Rad geschnittenes Kreissegment, und zwischen den mit Speichereinheiten bedeckten Wänden herrschte eine Stille, die fast an eine Kathedrale gemahnte, das Bewusstsein einer Gegenwart und ein Summen undeutlicher Geräusche an der Grenze der Hörbarkeit. Er setzte sich still neben ihrem zurückgekippten Stuhl und wartete, bis sie für ihn Zeit hätte. Durch neurale Verbindungen und am Handgelenk befestigte Fernbedienungen an mehrere Kommunikationskanäle angeschlossen, bewegte sie sich kaum. Sie musste wissen, dass er da war, gab es aber durch kein Zeichen zu erkennen.

Von Zeit zu Zeit regte sich ihr schlanker Körper unruhig, und die Hände und Füße zuckten wie bei einem träumenden Hund, der imaginären Kaninchen nachstellte.

Ihr langes, halb polynesisches Gesicht war den Reihen der über ihr aufgehängten holographischen Darstellungen zugekehrt, und der Blick ihrer Augen ging in seiner unbedingten Konzentration nicht ein einziges Mal in seine Richtung. Selbstvergessen und zugleich angespannt blickte sie zu den vielfältigen Szenen bewegter Information auf, zu den flackernden Mengen sich stets erneuernder Daten, veränderlichen und sich fortentwickelnden geometrischen Diagrammen, die ihr neue Einsichten bescherten.

Er wartete geduldig, während sie irgendein unentzifferbares Problem durcharbeitete. Sie verzog das Gesicht zu einer angestrengten Grimasse und entspannte sich wieder, als die Hürde genommen war. Auch sie hatte feine, hohe Backenknochen, wie Umolanda. Sie, Umolanda und er selbst gehörten dem Drittel der Expeditionsteilnehmer an, die Percelle waren, Produkte von Simon Percells Programm zur genetischen Korrektur von Erbkrankheiten und negativen Merkmalen. Carl fragte sich, ob feinknochige, aristokratische Züge zu den erwünschten Merkmalen zählten, die der DNS-Zauberer anstelle des üblichen rundköpfigen Mischtyps eingeführt hatte. Möglich war es; der Mann war ein Genie in der Manipulation von Erbanlagen gewesen. Carls eigenes Gesicht war allerdings breit und gewöhnlich, dabei war er kaum ein Jahr vor Virginia ›entwickelt‹ worden, wie es in der antiseptischen Fachsprache hieß. Vielleicht hatte Percell solche Fürsorge nur den Frauen angedeihen lassen. Wollte man den Anekdoten Glauben schenken, die über Percell im Umlauf waren, so konnte man die Möglichkeit nicht ausschließen.

Wie man es auch sehen mochte, Virginia Kaninamanu Herbert war ein erfolgreiches Experiment. Äußerlich ein manipulativ verfeinertes Mischprodukt pazifischer Rassen, verfügte sie über eine rasch zupackende Intelligenz, die sich in einer angenehm menschlichen Weise mit Sinn für Humor und einem Schuss Unberechenbarkeit verband. Die schnellen, konzentrierten Blicke, mit denen sie den Wust von Informationen im Auge behielt, verrieten rastlose Energie, doch der Mund darunter sprach von kritischer Distanz und abwägender Nachdenklichkeit. Sie war im üblichen Sinne vielleicht nicht sehr attraktiv, denn ihr Gesicht war ein wenig zu lang, der Mund zu voll, das Kinn zu stumpf und nicht so gerundet, wie das derzeitige Schönheitsideal es verlangte.

Carl war das alles gleich. In ihr war ein Schwung, den er bewunderte, und er träumte davon, die Frau in ihr zu erreichen. Aber seit er sie kannte, war sie in ihrem höflichen Kokon geblieben, stets freundlich, aber kaum mehr. Er war entschlossen, das zu ändern.

Die zentrale Darstellung zeigte in schräger Draufsicht zwei präzise ineinandergreifende Fassungen. Das Bild kam zum Stillstand.

Plötzlich wurde Virginia lebendig, als wäre ein belebender Funke aus den Labyrinthen ihrer elektronischen Ergänzung zu ihr zurückgekehrt. Sie entledigte sich der Fernbedienung, und die weiße Fassung ihres neuralen Anschlusses glänzte einen Augenblick auf, als sie mit den Fingern durch die Haare fuhr und ihre Frisur ordnete.

»Carl! Nett, dass du gewartet hast, bis ich fertig war.«

»Wollte dich nicht bei der Arbeit stören.«

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nur Aufräumungsarbeiten. Ich musste noch die Simulationen des Andockens und Überführens prüfen, wenn wir alle hinunterbringen. Durch die Ausgasung des Kerns kann es zu Unregelmäßigkeiten kommen, die von den Fähren ausgeglichen werden müssen. Die Programme sind jetzt fertig.«

»Es wird noch eine Weile dauern.«

»Nun ja, ein paar Tage noch.« Sie schlug den Blick nieder. »Ich habe davon gehört.«

»Verdammtes Pech.« Er verzog verdrießlich den Mund.

»Übermüdung?«

»Das auch.«

Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Du konntest nichts dafür.«

»Wahrscheinlich nicht. Aber vielleicht hätte ich sie nicht gleich nachdem es Kato erwischt hatte, in den Schacht gehen lassen dürfen. Solche Dinge bringen einen aus dem Gleichgewicht und beeinträchtigen das Urteilsvermögen. Die Unfallgefahr wächst.«

»Du warst nicht ihr Vorgesetzter.«

»Richtig, aber …«

»Es war nicht deine Schuld. Wenn es eine Ursache gibt, die nicht in der Natur der Dinge selbst liegt, dann sind es einfach die Zwänge, unter denen wir arbeiten müssen. Der Zeitplan …«

»Ja, ich weiß.«

»Komm mit, wir trinken eine Tasse Kaffee!«

»Was ich nötig habe, ist Schlaf.«

»Nein, du musst dich aussprechen. Mit Leuten reden.«

Er machte ein Gesicht. »Mit deinen Computerleuten Witze reißen? Das liegt mir nicht; in solcher Gesellschaft bin ich ein Langweiler.«

Sie erhob sich mit einer fließenden, geschmeidigen Bewegung, und nutzte die geringe Schwerkraft, um sich gleichzeitig ihm zuzuwenden. »Überhaupt nicht!« Etwas in ihrer jähen, elektrisierenden Munterkeit machte, dass ihm leichter ums Herz wurde. »Du heiteres Gemüt bist nie ein Langweiler gewesen.«

»Heiteres Gemüt, Gott, das hat noch gefehlt.«

2. Saul

Die meisten Leute hätten das Geschöpf abscheulich gefunden. Von rundlicher Gestalt, gelb und ockerfarben gefleckt und am ganzen Körper mit dornigen Auswüchsen besetzt, war seine äußere Erscheinung von einer Art, die nur in einer überaus nachsichtigen Mutter liebevolle Empfindungen wachrufen konnte.

Oder in einem Stiefvater, dachte Saul Lintz.

Tausende der winzigen hässlichen Tierchen schossen im beengten Raum eines einzigen glänzenden Tropfens Salzwasser herum, den die Oberflächenspannung in einem flachen runden Hügel auf dem gläsernen Objektträger des Mikroskops zusammenhielt.

Saul drehte an der Optik, bis die Vergrößerung einen einzelnen Cyanuten heranholte. »Da haben wir ihn«, murmelte er. »Du taugst zum Versuchsobjekt, mein Junge.«

Er drückte einen Auslöser, und das zytologische Instrument übernahm die Verfolgung der winzigen Mikrobe in ihrem kleinen Universum.

Stärkere Vergrößerung zeigte, dass der Einzeller sich durch rasch pulsierende Bewegungen winziger gelber Flimmerhärchen fortbewegte, aber das war Saul nicht neu. Er kannte das Lebewesen bis in seine kleinsten Bestandteile, selbst dort noch, wo das Mikroskop versagte – auf der Ebene der Säuren und Basen, der Zucker und fein ausbalancierten Lipoide.

Es sauste zwischen Tausenden von anderen pulsierenden Einzellern hin und her und suchte, was es zum Überleben brauchte.

Nicht anders als wir, dachte Saul. Nur hat unsere Suche uns eineinhalb Milliarden Kilometer von der Heimat entfernt.

Er rieb sich die Augen und beugte sich vor, einer alten Gewohnheit aus längst vergangenen Tagen folgend, als man noch durch Okulare gespäht hatte, ehe er sich wieder entspannte. In einer Zeit, da derlei Mühseligkeiten von der Elektronik übernommen wurden, genügte es, vor dem Bildschirm zu sitzen.

Selbst hier, im langsam rotierenden Gravitationsrad der Edmund Halley, war die Anziehungskraft nicht stark genug, dass man gegen sie ankämpfen musste. Es kam darauf an, locker zu bleiben, oder es kostete einen unverhältnismäßigen hohen Energieaufwand, einfach stillzuhalten.

Nur die Hälfte der Bildschirme und Hologramme in der biologischen Abteilung waren eingeschaltet. In einem Dutzend anderer dunkler Oberflächen spiegelte sich Sauls eigenes blasses Ebenbild: dichte Augenbrauen über einer fleischigen Nase, gelichtetes Scheitelhaar und Falten, deren Herkunft die meisten Leute, die ihn kennenlernten, eher im Lachen als in Trübsal vermuteten.

Nur jene, die Saul gut kannten – und ihrer waren in diesen Tagen wenige –, kannten den wahren Ursprung dieser tiefen Furchen: einen Stoizismus, der den Schmerz vieler Verluste abwehrte.

Die Furchen vertieften sich jetzt, als Sauls schwarze Augen sich in angestrengter Konzentration verengten. Die Fingerspitzen am Steuergerät, senkte er eine Hohlnadel in den Salzwassertropfen auf dem Glas des Mikroskops. In der holographischen Bildwiedergabe erschien die winzige Nadel wie eine Lanze, als der Computer ihre Spitze zum auserwählten Versuchsobjekt führte.

»Komm schon!«, murmelte Saul, als die Mikrobe ihr Heil in der Flucht suchte. »Halt still für Papa!«

Der Cyanut hatte einen Durchmesser von weniger als fünfzig Mikron und war damit so winzig und unauffällig, dass seine Vorfahren in stiller Symbiose seit Jahrmillionen friedlich in menschlichen Körpern gelebt hatten, bis sie vor einer Generation entdeckt worden waren. Für Saul enthielt die winzige Kreatur so viele Wunder wie der riesige Komet, der draußen so viel Aufmerksamkeit auf sich lenkte.

Die Bildwand des Laboratoriums war auf eine Ansicht des Halleyschen Kometen eingestellt, zeigte diesen aber nicht, wie er jetzt war – eine allmählich abnehmende Wolke von diffusen Lichterscheinungen um einen zehn Kilometer dicken Kern aus Eisen, Gesteinen und schmutzigem Schnee –, sondern wie er noch vor Monaten gewesen war, auf dem Höhepunkt seiner kurzen Prachtentfaltung, als er im halben Orbitalabstand der Erde die Sonne umkreist hatte und sein doppelter Schweif im protonischen Sonnenwind die größte Ausdehnung erreicht hatte.

Sie standen einander an Schönheit nicht nach, der gigantische kosmische Bote, der für den größten Teil eines Jahrhunderts ihre Heimat sein sollte, und das mikroskopische Wunder, das den Aufenthalt möglich gemacht hatte. Dennoch war es kein Wunder, dass Saul sich statt auf den Kometen auf das winzige Lebewesen konzentrierte, das im Wassertropfen schwamm.

Schließlich hatte er es gemacht.

Aber nein, sagte er sich. Es gibt nur einen Gott – selbst wenn er seine Werkzeuge zur Gestaltung des Lebens in unsere Hände legt. Er tut es nur, um zu sehen, was wir damit anfangen werden.

Wer in seinem Fach arbeitete, tat gut daran, sich dies von Zeit zu Zeit zu vergegenwärtigen.

Als die Nadelspitze sich dem Versuchsobjekt bis auf eine Zellenbreite angenähert hatte, löste Saul die Versuchsabfolge aus. Ein winziger, undeutlicher Flüssigkeitsaustritt trübte das Wasser in unmittelbarer Nähe der Nadelspitze, wo Spuren von Cyanwasserstoff-Lösung ausgestoßen wurden.

Es handelte sich nur um wenige Moleküle, doch der kleine Organismus reagierte fast augenblicklich. Seine Flimmerhärchen gerieten in heftig pulsierende Bewegung, und der Cyanut sprang vorwärts …

Vorwärts, auf die Nadelspitze zu. Er umkreiste und berührte sie wiederholt in eifriger Aktivität.

So weit, so gut. Saul wäre überrascht gewesen, wenn die Mikrobe sich anders verhalten hätte. Die Cyanuten waren schon auf der Erde gründlich untersucht worden, bevor die Expedition zum Halleyschen Kometen hatte genehmigt werden können. Kein Faktor war für den Erfolg und die Gesundheit von vierhundertzehn mutigen Männern und Frauen wichtiger als diese kleinen Lebewesen.

Er war zuversichtlich. Aber das Leben – und das galt selbst für genetisch maßgeschneidertes Leben – hatte die Gewohnheit, sich zu verändern, wenn man es am wenigsten erwartete. Das Überleben aller Expeditionsteilnehmer hing von der planmäßigen Arbeit der winzigen Cyanuten ab. Er hatte die Forschungsgruppe geleitet, die sie entwickelt hatte, und er konnte sich keine Misserfolge leisten. Es gab in seinem Leben schon so mehr als genug Schatten. Miriam, die Kinder, das Land und das Volk seiner Jugendzeit … und natürlich Simon Percell.

Der arme Simon. Nur zu gut erinnerte er sich, wie ein Fehler das Leben des Freundes und nahezu alles, was zu erreichen ihm höchstes Ziel gewesen war, ruiniert hatte. Es war gefährlich, Gott zu spielen.

Bald zeigten die Instrumente an, dass alles HCN verschwunden war, absorbiert von dem hungrigen Organismus. Saul nickte befriedigt. Jeder an dieser Expedition beteiligte Mensch hatte Millionen Cyanuten in seinem Blutkreislauf und in den Lungenbläschen. Diese Probe – willkürlich einem der Besatzungsmitglieder entnommen – hatte gerade demonstriert, dass sie ihrer Hauptaufgabe gerecht wurde, nämlich der Absorption jeder Spur des tödlichen, gelösten Blausäuregases, bevor dieses die roten Blutkörperchen des Wirts erreichen konnte. Die Zufuhr gelösten Kohlenmonoxids erwies die Fähigkeit der Mikrobe, auch dieses Gas zu absorbieren, ehe es sich dem Hämoglobin anschließen konnte.

Nun löste Saul den nächsten Schritt des Versuchs aus. Winzige Spuren einer neuen Lösung wurden dem Salzwassertropfen zugeführt. Diesmal zog sich die kleine Mikrobe auf dem Bildschirm eilig von der Nadel zurück, krümmte sich beinahe, als ob sie gestochen worden wäre. Blausäure und Kohlenmonoxid waren fette Weide für dieses Geschöpf, aber die Bestandteile menschlichen Zellgewebes schienen es abzustoßen.

Auch das war gute Nachricht. Der zweite Test bestätigte, dass der Cyanut völlig abgeneigt war, menschliche Zellen als Nahrung anzusehen.

Dies waren jedoch nur die Grundlagen. Es gab zahlreiche andere Punkte, die der Überprüfung bedurften und mit denen die automatische Phase der Testreihe programmiert war. Zu diesen gehörte eine Reproduktionsrate, die sich selbst in Grenzen hielt, Akzeptanz durch das menschliche Immunsystem, pH-Empfindlichkeit, ein gefräßiger Appetit auf andere mögliche Gifte …

Es war nicht so sehr ein Katalog von Eigenschaften als vielmehr eine Litanei von Herausforderungen, denen man sich stellen und die bestanden werden mussten. Saul verspürte berechtigten Stolz auf seine kleine Gruppe zu Haus auf der Erde, die Vorurteile, bürokratische Hindernisse und abergläubische Vorstellungen hatte überwinden müssen, um diese Arbeit zu leisten. Am Ende aber hatten sie ein Wunderding geschaffen – einen neuen menschlichen Symbionten.

Cyanuten sollten von nun an bleibende Bestandteile aller Expeditionsteilnehmer für den Rest ihres Lebens sein … und vielleicht, so wagte er sich vorzustellen, aller Menschen, nicht anders als die Darmflora, die dem Menschen von jeher geholfen hatte, seine Nahrung zu verwerten, und wie die Mitochondrien in seinen Zellen, die Zucker für ihn verbrannten und in nutzbringende Energie umwandelten.

»Wer kann sich mit dir vergleichen, o Herr …«, flüsterte er in schiefmäuliger Verspottung seiner unausrottbaren Neigung zu allzu menschlicher Hybris. Vor langer Zeit schon war er zu dem Schluss gelangt, dass Gott und er Geduld miteinander haben mussten. Vielleicht war das Universum für keinen von ihnen zweckdienlich eingerichtet.

Er beobachtete die Versuchsergebnisse am Bildschirm – alle wie erwartet und nahezu vollkommen –, bis ein leises Quietschen hinter ihm verriet, dass jemand die Tür zum Labor öffnete.

»Ah! Soso! Wir ärgern wieder unsere Haustiere, wie? Können Sie die armen Dinger nicht in Ruhe lassen, Saul?«

Er brauchte nicht aufzusehen, um die Stimme Akio Matsudos zu erkennen. »Hallo, Akio.« Er hob die Hand, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. »Nur eine Überprüfung. Und alles sieht gut aus, danke. Sind es nicht liebenswerte Tierchen?«

Er musste lächeln, als der hagere japanische Arzt mit raschen Bewegungen an seine Seite kam und ihm einen säuerlichen Blick zuwarf. Der Chef der biologisch-medizinischen Abteilung hatte aus seiner wahren Meinung von Sauls Geschöpfen niemals einen Hehl gemacht. Sie waren notwendig, für den Erfolg ihrer achtundsiebzigjährigen Reise sogar lebenswichtig. Aber dem armen Akio war es nie gelungen, ihre ästhetische Seite zu sehen.

Matsudo winkte ab. »Bitte erinnern Sie mich nicht an die Infektion, die meine Körperflüssigkeiten durchschwärmt. Wenn Sie mir nächstes Mal Parasiten injizieren wollen …«

»Symbionten«, berichtigte Saul eilig.

»… gegen die mein Körper keine Immunreaktion mobilisieren kann, werde ich es vorziehen, den Einschnitt selbst zu machen – von links nach rechts!« Und er machte die Bewegung des Harakiri.

Saul grinste, als Matsudos strenge Maske in kichernder Heiterkeit aufbrach. Es klang wie »Chi-chi-chi« und wurde von der Besatzung unter Deck bereits als eine Art Signal imitiert. Akio machte häufig solche lockeren Scherze über die Traditionen des alten Japan.

Vielleicht war es vergleichbar mit Sauls Neigung, jiddische Brocken in seine Sprache einzustreuen, obwohl er sich erst seit einem Jahrzehnt mit dem Idiom beschäftigte – weil er fand, dass es die rechte Sprache für Verbannte sei.

»Was haben Sie mir gebracht, Akio?«, fragte er mit einer Kopfbewegung zu dem dünnen Blatt in der Hand seines Besuchers.

»Ach ja. Weil wir gerade vom Immunsystem sprachen: Ich bin gekommen, Sie zu bitten, mit mir die Liste der Reizmittel durchzugehen, Saul. Ich glaube, es ist an der Zeit, eine abgeschwächte Krankheit in das Ventilationssystem einzugeben.«

Saul machte ein Gesicht. Solche Aktionen waren ihm verhasst.

»So frühzeitig? Sind Sie sicher? Vier Fünftel der Expeditionsteilnehmer liegen doch noch gefroren an Bord der Sekanina und der anderen Transporter. Wach sind gegenwärtig nur die Besatzung der Edmund Halley und die Mitglieder der Arbeitstrupps.«

»Ein Grund mehr«, erwiderte Matsudo. »Seit mehr als einem Jahr leben dreißig Raumfahrer zusammen in der Enge dieses Schiffs. Weitere vierzig sind seit zwei oder mehr Monaten aus den Kühlfächern. Alle Erkältungen und kleineren Viruserkrankungen, die sie von der Erde mitbrachten, haben inzwischen ihren Gang genommen. Ich habe eine Inventur der Erkrankungen und ihrer Erreger vorgenommen und festgestellt, dass mehr als drei Viertel der zum menschlichen Umkreis gehörenden pathogenen Organismen bereits ausgestorben sind. Höchste Zeit, die Immunsysteme der Leute mit einer neuen Herausforderung wachzurütteln.«

Saul seufzte. »Sie sind der Chef.« Tatsächlich sollte das gesamte wissenschaftliche Personal der biomedizinischen Abteilung über Maßnahmen zur Kräftigung des Immunsystems beschließen, aber wenn er Akio daran erinnerte, würde es den Mann nur beleidigen. Das Verfahren war ohnehin eine Routineangelegenheit.

Aber Sauls Nase juckte bereits in unfroher Erwartung.

Er wandte sich zur Bibliothekskonsole und gab die Kodenummer ein. Auf dem Bildschirm erschien eine Seite voller Daten vor schwarzem Hintergrund.

Saul deutete mit einem Kopfnicken zu der grün leuchtenden Beschriftung. »Da steht Ihnen eine hübsche Auswahl bösartiger Erreger zur Verfügung, Doktor. Mit welcher Seuche möchten Sie Ihre Patienten infizieren? Wir haben Windpocken, Masern, Röteln, Mumps …«

Matsudo winkte ab. »Nichts Drastisches. Wenigstens nicht so frühzeitig.«

»Nein? Nun, dann gibt es Blasengrind, Fußpilz …«

»Um Himmels willen, Saul! In dieser Feuchtigkeit? Bevor das Stollensystem im Kometenkern fertig gestellt und die Lufttrocknungsanlage installiert ist? Sie wissen, wie sehr man Pilzbefall an Bord eines Raumschiffs fürchtet. Cruz würde uns die Hammelbeine langziehen …«

Er brach ab und lächelte pikiert. »Ha ha. Sehr komisch, Saul. Sie wollen mich nur zum Besten haben.«

Saul kannte Matsudo seit vielen Jahren von wissenschaftlichen Kongressen und durch Veröffentlichungen, doch war ihre Bekanntschaft in früherer Zeit eher flüchtig gewesen, und noch immer war ihm manches an dem Mann rätselhaft. Warum, zum Beispiel, hatte er sich zur Teilnahme an dieser Expedition freiwillig gemeldet? Welchem der Typen, die bereit waren, Heimat, Familie und Karriere aufzugeben, dreiundsiebzig von den achtundsiebzig Jahren der Expeditionsdauer im gekühlten Tiefschlaf zuzubringen und schließlich in eine fremd gewordene Welt zurückzukehren, konnte man Akio zuordnen? War er ein Idealist, der Kapitän Miguel Cruz' Traum von einer für die ganze Menschheit wichtigen Mission folgte? Oder war er ein Verbannter, ein Flüchtling, wie so viele Teilnehmer an diesem Unternehmen?

Vielleicht ist er, wie ich, ein wenig von beidem, dachte Saul.

Matsudo fuhr sich durch das glänzende schwarze Haar, das dicht wie das Haar eines Jungen war. »Suchen Sie mir einen Schnupfenvirus aus, seien Sie so gut, Saul. Etwas, was die Immunsysteme der Leute hinreichend herausfordern kann, um ihre Antikörperproduktion in Gang zu halten. Sie brauchen es nicht einmal zu merken, wenn es nach mir geht.«

Saul gab eine Kodenummer ein, und eine neue Seite erschien auf dem Bildschirm. »Der Kunde hat immer recht«, antwortete er. »Und Sie haben Glück! Wie es scheint, haben wir achtzig Varietäten von grippalen Infekten auf Lager.«

»Na, ich lasse mich überraschen«, sagte Matsudo. Dann aber zog er die Stirn in Falten und hob beide Hände. »Nein! Wenn ich es genau bedenke, wähle ich lieber selbst! Ich möchte nicht, dass Sie welche von Ihren experimentellen Ungeheuern loslassen, ganz gleich, was Sie über die Wunder der Symbiose sagen!«

Saul machte ihm Platz, und Akio beugte sich vor und überflog die Liste der verfügbaren Viren, wobei er kaum hörbar vor sich hin murmelte. Offenbar hatte er wieder seine Kontaktlinsen vergessen.

Er mochte zwanzig Zentimeter größer sein als sein Großvater, dachte Saul, und doch war ihm Veränderung suspekt. Ein Wissenschaftler, dabei aber zu konservativ, um sich durch eine Hornhautoperation von seinem Sehfehler befreien zu lassen. Was war denn aus den innovationsfreudigen, zukunftshungrigen Japanern früherer Zeiten geworden?

Was das anbelangte, konnte man geradeso gut fragen, was aus Israel geworden war, seinem eigenen Heimatland. Wie hatten die Abkömmlinge der Negev-Pioniere, deren Militärmaschine jahrzehntelang den Nahen Osten in Atem gehalten hatte, so tief in Aberglauben und Borniertheit versinken können? Was hatte nüchterne Sabras in verwirrte Schafe verwandelt, die sich von fanatischen Leviten und Salawiten vor den Karren spannen ließen?

Vielleicht waren diese Rätsel Teil eines anderen, dem Saul auf der Spur zu sein glaubte: der Ausbreitung einer allgemeinen Hoffnungslosigkeit unter der Menschheit, obwohl nach dem Ende eines Jahrhunderts der Verwüstungen und des Kulturverfalls bessere Zeiten nahe schienen.

Es war kein beruhigender Gedankengang. Auch die biologischen Wissenschaften befanden sich in schlechter Verfassung. Die großen Hoffnungen, die Simon Percell und andere Gentechniker zu Beginn des Jahrhunderts beflügelt hatten, waren vor mehr als einem Jahrzehnt in einer Serie von Skandalen zusammengebrochen, aus der nur eine gleichmütige pharmazeutische Industrie und ein paar kleine Außenseiter wie Saul halbwegs ungeschoren hervorgegangen waren.

Und auf Erden machten verschärfte Bestimmungen und verstärkte Überwachung diesen Außenseitern das Leben zunehmend schwer – einer der Gründe, dass er an dieser Expedition teilnahm. Ein Exil in Raum und Zeit war zweifellos einigen der Alternativen vorzuziehen, die er hatte auf sich zukommen sehen.

»Wir werden den Virus TR-3-APZX-471 nehmen«, erklärte Matsudo selbstzufrieden. »Sind Sie einverstanden, Saul?«

Saul glaubte bereits einen Niesreiz zu verspüren. »Eine harmlose kleine Varietät, deren Anmaßung jedoch nicht verfehlen wird, Sie zu erheitern«, murmelte er.

»Wie bitte?«

»Hat nichts zu sagen«, sagte er verdrießlich. »Als offizieller Hüter kleiner Tiere werde ich Sorge tragen, dass Sie bis morgen eine frisch ausgebrütete Kultur dieses lästigen Ungeziefers erhalten.« Er drückte eine Taste, und das Verzeichnis verschwand vom Bildschirm.

Unterstützt durch die minimale Schwerkraft, schwang sich Matsudo mühelos auf den Tisch und blickte seufzend auf seine Hände. Saul sah ihm an, dass er im Begriff war, sich in Erörterungen allgemeiner Lebensphilosophie zu ergehen. Im Laufe ihrer langen gemeinsamen Reise hatten sie ungezählte Schachpartien gespielt und ihre Ansichten über die Welt ausgetauscht, aber keinem von ihnen war es je gelungen, den anderen in irgendeiner Frage zur eigenen Ansicht zu bekehren.

»Was hat sich nicht alles geändert, seit wir Medizin studierten! Wir wurden dazu erzogen, alle Krankheitserreger zu bekämpfen und wenn möglich vom Angesicht der Erde zu tilgen. Heutzutage kultivieren und gebrauchen wir sie. Sie sind unsere Werkzeuge.«

Saul nickte. Heutzutage war es nicht die geringste unter den Pflichten eines Arztes, durch die sorgfältige Verabreichung eben dieser Krankheitserreger Herausforderungen der körpereigenen Abwehr zu schaffen.

»Das Immunsystem des Patienten wird gekräftigt und geübt, damit es die Aufgaben erfüllen kann, denen die Medizin nicht gewachsen ist. Es ist ohne Zweifel eine bessere Methode, Akio, als an Symptomen herumzukurieren, wie wir es mit unseren Medikamenten meist getan haben. Ich wünschte nur, Sie würden einsehen, dass meine Cyanuten Teil des gleichen Fortschritts sind.«

Matsudo verdrehte die Augen zum Himmel. Sie hatten dieses Thema viele Male erörtert.

»Ich bedaure, dass ich nicht zustimmen kann, Saul. In einem Fall lehren wir den Körper, seine eigenen Abwehrkräfte zu gebrauchen und abzustoßen, was fremd ist. Sie aber beschwatzen ihn, einen Eindringling aufzunehmen, für alle Zeit!«

»Eine ungeheuer große Zahl der in einem menschlichen Körper lebenden Zellen gehört zu symbiotischen Lebensformen – Darmbakterien, Follikelreiniger. Sie helfen uns, wir helfen ihnen.«

Matsudo wedelte abwehrend mit der Hand. »Ja, ja, das kennen wir. Ich weiß, Sie sehen uns nicht als Individuen, Saul, sondern als große, zusammenwirkende Ameisenhaufen verschiedener Arten.« Seine Stimme hatte eine gewisse Schärfe, die Saul früher nicht herausgehört zu haben glaubte. Und Übertreibung war gewöhnlich nicht Matsudos Stil.

»Akio …«

Aber der andere ließ sich nicht unterbrechen. »Aber nehmen wir ruhig einmal an, Sie hätten recht, Saul. All diese Organismen, die unsere Körper mit uns teilen und mehr oder weniger nützliche Funktionen darin erfüllen, sind im Laufe von Jahrmillionen zu Symbionten geworden. Das ist etwas völlig anderes als praktisch von heute auf morgen gentechnisch zusammengeschusterte Mikroben, über deren langfristige Mutationsfähigkeit nichts bekannt ist, in ein so fein ausbalanciertes Gleichgewicht einzuführen.«

Saul errötete ein wenig. Er überlegte, ob er noch einmal erklären solle, dass die Cyanuten Abkömmlinge von Einzellern waren, die seit Urzeiten friedlich im Menschen gelebt hatten. Aber er wusste nur zu gut, was Akio antworten würde. Nach allen Veränderungen, die durch gentechnische Manipulation an der Lebensform vorgenommen worden waren, handelte es sich bei den Cyanuten um ein neues Lebewesen, das von seinen natürlichen Vettern so verschieden war wie der Mensch vom Affen.

»Saul, die Bewegung für Rückbesinnung und Erneuerung lehrt uns, dass wir sorgfältig überlegen müssen, bevor wir in natürliche Abläufe eingreifen. Die Fehler der Vergangenheit haben gezeigt, wie gefährlich das sein kann.«

Saul blickte zum Hologramm des Mikroskops auf, wo sein winziges Versuchstier noch immer durch das Versuchsprogramm gejagt wurde. Es pulsierte nach wie vor nahe der Nadelspitze – gequält aber wohlauf.

»Ich …« Dann schüttelte er den Kopf und verstummte. Er konnte sich denken, was seinen Freund beunruhigte.

»Noch kein Zeichen von der Newburn?«

Matsudo schüttelte den Kopf. »Kapitän Cruz und seine Offiziere halten noch Ausschau. Vielleicht, wenn der Komet sich weiter beruhigt, wenn der Schweif sich weiter zurückbildet und die Ionisierung geringere Störungen verursacht … Glücklicherweise waren dort nur vierzig Leute an Bord. Wäre es einer der anderen Transporter, die Sekanina, oder die Whipple, oder die Delsemme …« Er zuckte die Achseln.

Saul nickte. Kein Wunder, dass Matsudo reizbar war. Mehr als dreihundert Männer und Frauen waren vier Jahre vor der Edmund Halley ausgesandt worden, zusammen mit dem größten Teil des schweren Materials. Sie befanden sich – bei herabgesetzten Lebensfunktionen bis nahe an den Gefrierpunkt abgekühlt – an Bord von vier selbststeuernden Raumsonden, deren viele Kilometer weit ausladende Gazesegel den Strahlungsdruck des Sonnenwindes als Antriebskraft nutzten.

Nur die ›Gründermannschaft‹ nahm den schnellen, energiewirtschaftlich kostspieligen Weg an Bord der alten Edmund Halley. Nach ihrem Eintreffen – sie hatten ihren Treibstoff bei der Angleichung an die beschleunigte rückläufige Bahnbewegung des Kometen nahezu aufgebraucht – war es die erste Aufgabe der Gründungsmannschaft, die nötigen Vorbereitungen zur Bergung der zylindrischen Raumsonden zu treffen, in denen die Masse der Expeditionsteilnehmer in Tiefschlaf lag.

Beide Reisearten hatten ihre Nachteile. Die Leute an Bord der Edmund Halley hatten während der mehr als einjährigen Reise durch den Raum beengte Lebensumstände und Langeweile zu ertragen. Außerdem teilten sie die in letzter Zeit offenbar gewordenen Gefahren, die mit der Errichtung eines Stützpunktes verbunden waren.

Auf der anderen Seite hatten sie eine gewisse Möglichkeit, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Es war nicht ihr Los, jahrelang im Kälteschlaf dahinzutreiben und sich darauf verlassen zu müssen, dass andere sie einholten, ihr Fahrzeug bargen und sie schließlich weckten.

Würden die Männer und Frauen der Newburn für alle Zeit durch den Raum treiben? Wenn Cruz und seine Mannschaft die Sonde nicht entdeckten, würde sie vielleicht nie, vielleicht erst in einem fernen Zeitalter von anderen gefunden werden. In welch einer Welt mochten sie nach so langer Fahrt auf dem Strom der Zeit erwachen? Falls sie jemals wieder erwachten …

»Es werden lange achtzig Jahre sein, Saul.« Matsudo schüttelte nachdenklich den Kopf und betrachtete die Bildwand, die den Halleyschen Kometen in seiner vollen Prachtentfaltung vor dem Hintergrund des Sternhimmels zeigte. Der lange Schweif aus Plasma und Staub schimmerte wie phosphoreszierendes Plankton in nächtlicher See. »Eine lange Zeit wird verstreichen, bis wir die Heimat wiedersehen.«

Saul verbarg das eigene bange Vorgefühl dem Freund zuliebe hinter einem Lächeln. »Wir werden den größten Teil davon verschlafen, Akio. Und wenn wir dann heimkehren, werden wir reich und berühmt sein.«

Matsudo schnaufte skeptisch, anerkannte aber Sauls gute Absicht mit einem Lächeln. Ironie war der gemeinsame Wesenszug, der sie zu Freunden machte, waren sie auch sonst oft verschiedener Meinung.

Ein Glockensignal ertönte, und Saul blickte auf, als die Nadel der Sonde sich aus dem Salzwassertropfen zurückzog. Das kleine Versuchstier trieb jetzt grau und leblos. Der letzte Versuch der Testreihe hatte den Beweis zu erbringen, dass die Cyanuten noch immer leicht abgetötet werden konnten, sollte es jemals notwendig werden.

Er fragte sich, ob es das Vorrecht eines Schöpfers sei. Oder beugten sich seine Schultern kaum merklich unter einer weiteren kleinen Schuld?

Schon näherten sich beutesuchende Einzeller dem mikroskopischen Leichnam. Saul streckte die Hand aus und schaltete die Bildübertragung ab.

3. Virginia

Es roch ranzig nach ungewaschenem Mensch. Virginia rümpfte die Nase, als sie den Gymnastikraum betrat, um ihr vorgeschriebenes Training zu absolvieren. Seltsame Geschöpfe sind wir, dachte sie bei sich. Säugetiere entwickeln Gerüche, die aggressiv und nervös machen, wenn eine größere Zahl zusammenkommt, und dann stecken wir eine Menge Leute für ein Jahr oder mehr zusammen in eine Blechdose und erwarten von ihnen, dass sie nett zueinander sind.

Tatsächlich machte ihr der Geruch nicht allzu viel aus. Nicht einmal Männer machten ihr etwas aus. Andererseits waren sie auch nicht der Grund, dass sie dieses Exil auf sich genommen hatte und auf einem Brocken Meteorgestein und Eis in die große Nacht hinausflog.

Virginia hatte ihre eigenen Gründe. Ihre freiwillige Meldung für das Halley-Projekt hatte mit dem Gedanken der wirtschaftlichen Nutzung von Kometenkernen wenig zu tun.

Sie legte ihr Turnzeug an, bestieg einen Fahrrad-Ergometer und legte die Klebekontakte und Manschetten des Biomonitors an. Darauf legte sie sich ins Zeug und beschleunigte, bis die Ablesung zeigte, dass sie Dr. van Zoons Anforderung genügte.

Der Gymnastikraum war im Gravitationsrad der Edmund Halley untergebracht, wo auch die Schlafräume der Mannschaft lagen und den Leuten ermöglichten, ihre Schlafperioden unter Gewicht zuzubringen. Virginia verstand das Bedürfnis, den Körper hin und wieder die alte Anziehungskraft fühlen zu lassen und ihn so in Form zu halten. Aber diese dreimal wöchentlich angesetzten Übungsstunden mit Expandern, Gewichten und Ergometern waren ihr verhasst.

Sie hatte schon daran gedacht, das medizinische Datenmaterial zu manipulieren und von allen Übungsgeräten simulierte Rückkopplungen einzuschieben. Sie traute es sich zu. Virginia kannte keine falsche Bescheidenheit, wenn es um ihre Fähigkeit in der Datenverarbeitung ging. Lon d'Amaria mochte Abteilungsleiter sein, aber sie war die Beste.

Immerhin gestand sie sich ein, dass sie die Übungen wahrscheinlich brauchte, und so strengte sie sich an, bis ihr der Schweiß ausbrach und auf ihrer olivbraunen Haut glänzte.

Außerdem legte sie Wert auf ihre Figur. Zu Hause in Hawaii war sie jeden zweiten Tag surfen gegangen. Nun aber schien es, dass sie gegen eine Trägheit ankämpfen musste, die ihr nach einem Jahr Kälteschlaf noch anhaftete. Bis vor drei Wochen hatte sie mit auf ein Minimum herabgesetzten Lebensfunktionen im Tiefschlaf gelegen. Vielleicht war die Trägheit eine Nachwirkung der Medikamente, die sie als vorbereitende Behandlung vor dem ›Winterschlaf‹ hatte schlucken müssen.

Nun, wenn es sich so verhielt, kam es jetzt darauf an, die Trägheit zu überwinden.

Mit erneuerter Willensanstrengung trat sie in die Pedale und stellte sich vor, sie fahre mit dem Rad über die Brücke zwischen Lanai und Maui. Das allgegenwärtige Rollen des Gravitationsrades wurde zur eingebildeten Geräuschkulisse brausenden Windes und rauschender Brandung. Virginia stellte sich vor, dass die Tür vor ihr aufgehen und sie in strahlenden Sonnenschein und den Duft von Salzwasser, blühenden Sträuchern und Ananaspflanzungen entlassen würde.

Nach dem Übungspensum waren ihre Muskeln warm und elastisch, und es war tatsächlich ein gutes Gefühl, verschwitzt unter die Dusche zu treten und sich hinterher das lange schwarze Haar zu bürsten. Die Rückkehr in den mausgrauen Overall war jedoch Erinnerung genug, dass Maui hundertfünfzig Millionen Kilometer von ihr entfernt lag.

Sie hatte es sich selbst zuzuschreiben. Die Wahl war getroffen, und hier draußen gab es Arbeit zu tun … wichtigere Arbeit als ihr im heimatlichen Südseeparadies offen gestanden hätte.

Sie entschloss sich zu einem Spaziergang um das Gravitationsrad, bevor sie zum schwerelosen Teil des Schiffs zurückkehrte, und nahm die Richtung, die der Rotation entgegengesetzt war.

Niemand war zu sehen. Dr. Marguerite van Zoon drängte die Raumfahrer nicht zum Besuch des Gymnastikraumes. Diese armen Leute hatten zur Zeit schon so genug zu schwitzen und waren von den gesundheitlichen Bestrebungen der flämischen Ärztin ausgenommen.

Virginias Rundgang durch den Korridor, der dem äußeren Perimeter des Rades folgte, führte sie an einer der Leitern vorbei, die zum Laboratoriumsteil des Rades führten. Die Türen in Sichtweite waren alle geschlossen, also vermochte sie nicht zu beurteilen, ob die biologisch-medizinische Abteilung zur Zeit besetzt war. Sie machte vor einer bestimmten Tür halt und hob die Hand halb zum Klingelknopf.

Sie schalt sich wegen ihres Zögerns. Schließlich war nicht zu erwarten, dass Saul Lintz sie beißen würde. Warum also dieses backfischhafte Herzklopfen?

Der Mann übte einen Zauber auf sie aus, den sie sich selbst nicht erklären konnte. Sie empfand mehr für ihn, als sie seit Jahren für jemand empfunden hatte. Lag es an seiner Welterfahrenheit? Oder am Ausdruck seiner dunklen Augen, in denen sie Beharrlichkeit und ruhige Stärke zu sehen glaubte? Sie wusste es nicht.

Seit sie aus dem Kühlfach gekommen war, hatte sie gehofft, dass er etwas sagen, einen ersten Schritt tun werde. Um so frustrierender war die bald darauf folgende Erkenntnis gewesen, dass er einfach anzunehmen schien, eine Art Vaterfigur für sie zu sein. Damit erhob sich für Virginia die Frage, ob sie den ersten Schritt tun sollte.

Das Zögern vor der Tür dauerte an, bis sie sich lächerlich vorkam. Es würde so berechnend und abgeschmackt aussehen, wenn sie jetzt bei ihm hineinplatzte. Und was sollte sie sagen?

Später würden sich noch genug Gelegenheiten bieten, etwas zu arrangieren, was weniger beabsichtigt wirken würde. Schließlich hatten sie genug Zeit.

Das war ein überzeugendes Argument. Sie machte kehrt und ging, ohne den Summerknopf berührt zu haben. Wenn sie sich auf Menschen doch nur halb so gut verstünde wie auf Maschinen!

Als sie durch den Korridor weiterging, fiel ihr an verschiedenen Einzelheiten auf, wie sehr die Edmund Halley während des vergangenen Jahres gealtert war. Die Korridore glänzten nicht mehr. Die farbkoordinierten Wandverkleidungen hatten ihre Frische verloren und sich stellenweise gelöst, zeigten da und dort sogar blasige Aufwerfungen. Das Schiff hatte diese Reise nicht gerade in der Blüte seiner Jugend angetreten, und kein Raumschiff seiner Größe hatte jemals so lange beschleunigen müssen. Die Anforderungen an das Material waren allenthalben sichtbar.

Virginia redete sich gern ein, dass nichts sie überraschen könne, doch als sie sich der nächsten Leiter näherte, blieb sie stehen und sperrte die Augen auf. Konnte es sein, dass es schon so schlimm war?

Aus einer Belüftungsöffnung tropfte Kondenswasser und rann die Wand herab bis zum Boden, wo es sich unter der Einwirkung der Corioliskraft seitwärts verteilte. An den nassen Stellen hatte sich schleimiger dunkelgrüner Algenbewuchs ausgebreitet.

Missbilligend schürzte sie die ein wenig wulstig geratenen Lippen, ging an der moderig riechenden Stelle vorbei und erstieg eine feuchte Leiter zur Nabe. Sie beschloss der Instandhaltungsabteilung von ihrer Beobachtung Meldung zu machen. Es war freilich schwer zu glauben, dass sie die Stelle als erste entdeckt hatte.

Die Leitersprossen drückten sich gegen sie, als sie sich rechtwinklig zum rotierenden Rad bewegte. Der wie eine Speiche angelegte Durchgang war trübe erhellt, feucht und ziemlich übelriechend. Nur die Hälfte der in die Decke eingelassenen Lichtquellen war hier in Betrieb, und der Aufstieg gemahnte an die Inspektion einer städtischen Abwasserbeseitigung.

Es war gut, dass die Wohnbereiche im Inneren des Kometenkerns vor der Fertigstellung standen, dachte sie. Dieser knarrende Seelenverkäufer hatte eine gründliche Überholung nötig.

Für die vierhundert Expeditionsmitglieder würde es während der nächsten fünfundsiebzig Jahre wenig genug zu tun geben. Die Erforschung der Geheimnisse eines größeren Kometenkerns; die Erprobung der Geräte, vor allem der großen Rückstoßgeräte zur Kursbeeinflussung. Danach stand erst wieder in dreißig Jahren eine arbeitsreiche Zeit bevor, wenn der Halleysche Komet sich dem sonnenfernsten Punkt seiner Bahn näherte und Virginia helfen würde, die Berechnungen für das wichtige Große Manöver vorzubereiten; dann die lange Rückreise zum Jupiter und dann heimwärts.

Die Zwischenzeit würden fast alle Expeditionsteilnehmer in totenähnlichem Kältetiefschlaf verbringen, während sich daheim die Gehälter auf den Konten ansammelten. Zur gleichen Zeit konnten die kleinen, abwechselnd diensttuenden Notbesatzungen nach und nach das Schiff überholen.

Sieben Jahrzehnte sollten reichen. Bis zum nächsten feurigen Sturz des Kometen ins innere Sonnensystem musste dieser alte Kahn soweit hergerichtet sein, dass er sie wieder zur Erde zurückbringen konnte.

Als sie Hand über Hand weiterstieg, fühlte Virginia ihr Gewicht schwinden, je näher sie den kollernden Lagern kam, wo wieder die Schwerelosigkeit des Weltraums herrschte. Die vier Speichen-Tunnels trafen in einem kleinen, rotierenden, achteckigen Raum zusammen.

Kurz bevor sie die Nabe jedoch erreichte, bemerkte sie zu ihrer Verblüffung ein kleines Leck, aus dem ein feiner, fettiger Nebel aus Schmiermitteln in den Gang sprühte.

Sie wusste, dass die meisten Leute der Schiffsbesatzung abgerufen worden waren, um auf dem Kometenkern zu arbeiten, dennoch schien ihr diese Vernachlässigung unentschuldbar. Schließlich wurde das Rad noch lange benötigt.

»Abscheulich«, murmelte sie. »Einfach schauderhaft!«

Sie schrak zusammen, als jenseits des öligen Sprühnebels eine Stimme sagte: »Ganz meiner Meinung, Virginia.«

Ihr suchender Blick fiel auf einen dicklichen Mann in grauer Arbeitskleidung, der bei einem der Ausgänge in der Schwerelosigkeit schwebte. Sein breites Gesicht zeigte einen missmutigen Ausdruck. Er hatte eine Wollmütze über das spärliche, graumelierte Haar gezogen. Seine Arme waren lang und sahen enorm muskulös aus, ein Eindruck, der vielleicht durch den Umstand, dass er keine Beine hatte, verstärkt wurde.

Seine Behinderung schien den Astronauten Otis Sergejow niemals ernstlich beeinträchtigt zu haben. Im Gegenteil, sie schien ihn in der Schwerelosigkeit gewandter und schneller zu machen.

Sie hatte gehört, dass Sergejow den Astronomen unter Joao Quiverian zugeteilt war, die den Kometen studierten. Er war außerdem der älteste Percell, den Virginia kannte.

Zu den ersten einer neuen Rasse zu zählen, hatte seine Nachteile. Simon Percells bahnbrechende frühen Arbeiten auf dem Gebiet der Gentechnologie hatten kinderlosen Freiwilligen wie den Sergejows zu einer besonderen Art von Nachwuchs verholfen. Aber ein Mosaikfehler hatte ihm statt der Beine nur kurze Stummel beschert.

»Oh, hallo, Otis«, begrüßte sie ihn. »Etwas muss geschehen, nicht? Ist der Schaden noch nicht gemeldet worden?«

Der Astronaut zuckte die Achseln. »Wozu so etwas melden, zum Teufel? Kein Mensch unternimmt etwas, soviel ist sicher. Diese verdammten Kretins!«

Virginia war verblüfft. Selbstverständlich würde Kapitän Cruz sofort Reparaturarbeiten veranlassen, wenn jemand ihm den Schaden meldete …

Dann bemerkte sie, dass Sergejow überhaupt nicht in die Richtung blickte, wo das Leck war. Sie ließ sich durch die langsam rotierende Nabe tragen, bis sie auf gleicher Höhe mit Sergejow war, dann duckte sie sich unter den Sprühnebel und stieß sich von der Wand ab.

Der achteckige Raum schien um sie zu wirbeln. Zweimal musste sie zugreifen, um einen der gummiüberzogenen Handgriffe zu fassen zu kriegen, und trotzdem schlug ihr Körper plump gegen die gepolsterte Wand. Ärgerlich über ihre Ungeschicklichkeit, versuchte sie, sich genau zu orientieren.

Sergejow machte eine Kopfbewegung. »Sie glauben, die Ortho-Bürokraten werden etwas unternehmen?«, sagte er mit hartem Auflachen. »Deswegen?«

Virginia zwinkerte verwirrt. Dann bemerkte sie, dass er eine Wandschmiererei meinte, die nahe den rumpelnden Achsenlagern auf die Wandverkleidung gemalt war. Sie stellte in grob symbolischer Form eine hinter der Erdkrümmung aufgehende Sonne dar.

»Der Sonnenbogen«, sagte er beißend. »Die verfluchten Kakashkias sind uns gefolgt, bis hier heraus.«

»Ich kenne das Zeichen«, sagte Virginia nach einer Pause. Der unerwartete Anblick des Zeichens hatte ihr die Sprache verschlagen. »Sogar in Hawaii …«

»So?«, unterbrach er sie rau. »Selbst im Land der Goldenen Menschen? In Ihrem techno-humanistischen Paradies?«

Virginia zog die Brauen zusammen. Schon in der Ausbildungszeit hatte sie eine Abneigung gegen Sergejow gefasst, Percell-Gefährte oder nicht. Er hatte die meiste Zeit seines Lebens im Weltraum verbracht, wo es ihm gelungen war, seine körperliche Benachteiligung in der Schwerelosigkeit zum Vorteil zu wenden, und doch verspürte sie bei jeder Begegnung mit ihm ein Unbehagen, als ob eine allzu lang unterdrückte Bitterkeit von dem Mann ausginge.

Sie beschloss, mit Hilfe ihres Computers in das gespeicherte Programm der Personalplanung einzudringen und notfalls durch heimlich vorzunehmende Änderungen dafür zu sorgen, dass sie während der nächsten sieben Jahrzehnte niemals eine Arbeitsperiode außerhalb der Kühlfächer miteinander teilten.

»Auf Wiedersehen, Otis. Ich habe zu tun.« Aber er hielt sie am Arm zurück.

»Sie müssen wissen, dass dies nicht der erste Vorfall ist«, sagte er. »Nur der auffallendste. Einige von diesen Sonnenkreisern lehnen es sogar ab, mit uns Percellen zu sprechen. Sie meiden uns, als ob wir unrein wären!«

Virginia zuckte die Achseln. »Alle haben in letzter Zeit unter Stress gestanden. Es wird sich ändern, sobald die Wohnräume und Stollen im Kometenkern fertig gestellt sind und die Leute wieder Raum haben, sich frei zu bewegen. Sobald wir ein paar Leute aus den Transportsonden aufgetaut haben und zur Abwechslung ein paar neue Gesichter zu sehen bekommen …«

Jahrelanger Umgang mit schwerem Gerät hatte Sergejows Griff eisenhart gemacht. »Das könnte helfen, die Symptome zu mildern«, räumte er ein, »aber die Krankheit geht weiter. Sie sahen selbst, wie es auf der Erde war, als wir abreisten. In der Dritten Welt nimmt die Zahl der Länder, die Gesetze zur Einschränkung unserer Rechte einführen – der Rechte aller genetisch vervollkommneten Menschen –, ständig zu!«

Virginia wollte nur, dass der Mann ihren Arm losließ. Sie versuchte es mit gutem Zureden.

»Die Nationen Afrikas und Lateinamerikas haben ein schlimmes Jahrhundert hinter sich, Otis. Mir gefällt die Wendung, die ihre Ideologie in den vergangen Jahren genommen hat, auch nicht, aber wenigstens sind sie heutzutage umweltbewusst. Wenn sie in dieser Richtung ein wenig fanatisch geworden sind, dann ist es eine Reaktion auf die unbekümmerte Umweltzerstörung, die ihre Großväter mit Hilfe der Industrienationen betrieben haben. Jeder wird zugeben, dass der Bewusstseinswandel eine große Verbesserung ist, wenn er auch – wie gewöhnlich – vielfach zu spät kommt, um zu retten, was schon vertan worden ist. Es scheint eine Eigenart der Menschheit zu sein, ständig von einem Extrem ins andere zu fallen. Das Pendel wird wieder zurückschwingen.«

Sergejow sah sie an, als fände er sie bemitleidenswert, sogar sträflich naiv. »Meinen Sie? Nein, mein liebes Kind, so rasch wird das nicht geschehen, denken Sie an meine Worte. Wir beide werden kaum erleben, dass das Pendel zurückschwingt. Was hier geschieht, ist erst der Anfang! Sie befinden sich bereits im Krieg mit uns!«

Sein schlecht rasiertes Gesicht schob sich näher heran. »Und wer kann es ihnen verdenken? Wenn der Homo sapiens erst merkt, was gespielt wird, werden wir, die Nachfolgerasse, mehr und mehr Unterdrückung zu spüren bekommen. Hier geht es um nichts Geringeres als um das Gesicht zukünftiger Generationen!«

»Na, kommen Sie, Otis!« Virginia lachte unbehaglich, bemüht, einen leichteren Ton anzuschlagen. »Es ist nicht so, als ob wir paar Percelle der nächste Schritt in der Evolution wären.«

Sergejows Augen verengten sich. »Nein, hören Sie zu! Dies ist der Hauptgrund all solcher paranoider Reaktionen und Verfolgungen! Man kann den Neandertalern nicht verdenken, dass sie versuchen, ihre obsolet gewordene, entwicklungsgeschichtlich überholte Rasse zu erhalten. Jede Art bemüht sich um Selbsterhaltung.«