12,00 €
Der junge, aber einsame Arthur Rast fristet sein Dasein in einem abgelegenen Anwesen, dessen Größe und Leere seinem eigenen Inneren immer ähnlicher zu werden scheint. Bitter, aber mit beharrlichem Forschergeist arbeitet er an seinen akademischem Bemühungen, bis eines Tages unerwartete Umstände eintreten. Was hat es mit dem düsteren Wald vor seiner Haustür auf sich? Welches Spiel treibt seine Bekannte, Astrid, mit ihm? Welche Bedeutung hat das Erscheinen einer für ihn scheinbar unermesslich wichtigen Person auf sich? Und wohin sollen alle diese sich überschlagenden Ereignisse bloß führen? Ein dunkler Atem durchströmt diese für ihn verworrenen Zeiten, und scheint aus uraltem Wortsinn zu seinem Innersten vorzudringen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 213
Veröffentlichungsjahr: 2023
Die Erde wälzt sich vom Tage in die Nacht; das Individuum stirbt: aber die Sonne selbst brennt ohne Unterlass ewigen Mittag.
Der Tod ist ein Schlaf, in welchem die Individualität vergessen wird:
alles andere erwacht wieder oder vielmehr ist wach geblieben.
– Arthur Schopenhauer
Ich, immer liebend, will nicht folgen
dem Jahreszeitenwechsel
nach Art der Tiere.
– Carmina Burana
Talon
Im Herzen Sommer
Ein Mythos
© 2022 Talon
Verlagslabel: Wovon
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback
978-3-347-86528-0
Hardcover
978-3-347-86529-7
e-Book
978-3-347-86530-3
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors , zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Kapitel 1
Das größte Glück, das einem Menschen wohl widerfahren kann ist, wahrhaftige, liebevolle Freundschaft zu finden, der nichts und niemand im Wege stehen bleiben kann, und, die wahrlich herzlichste Ergötzung in ihren Bindegliedern hervorruft. Eine solche Freundschaft – ja, wahrlich –, sie ist Liebe, und einer solchen Liebe hat man bis zur unergründlichsten Tiefe der eigenen Kraft, zu empfinden, dankbar zu sein. Und ein jeder und eine jede werden reichlich anerkennen können, dass solch sonderartige Schönheit, wie sie sie füreinander empfinden und immer wieder neu aufbereiten eigentlich gar nie verwelken vermag. Die ewige Idee der Liebe, ein wahrhaftiger platonischer Begriff, wenn man nach Schopenhauer geht, vermag nicht verblühen – aber gleichermaßen kann der wirkliche Mensch von seiner eigenen Weisheit ablassen, und sich rasch zu einer ganz unerträglichen Torheit entschließen. Ein solcher Mensch darf dabei sogar noch recht modern bleiben, unbekümmert seiner alltäglichen Geschäftigkeit nacharbeiten, und müsste sich nicht einmal vorwerfen, ein absonderlich abartiger Mensch zu sein: denn, ich zumindest glaube so, es erscheint als recht fundierte Tatsache, dass der moderne Mensch ein ganz allgemein arbeitendes, und rasches Wesen ist, das doch freilich jeden überfälligen Ballast möglichst eilig abzuwerfen versuchen muss, um nicht doch noch vom bedrohlichen Geist bitterer Existenzangst eingeholt zu werden. Ja, sicher – da rennt man, und man spurtet, und man ist ja doch stets bestätigt in der Annahme, dass alles eile: denn man eilt ja stets! Aber obwohl man doch andauernd so rastlos rennt, die Dinge wie Erbe jagt, und die Menschen wie Dinge, erscheint es einem nie offensichtlich, dass ohnehin jeder Mensch und alle Dinge andauernd sich gewaltig und unbemerkt wandeln, ohne dass je ein Mensch darüber auch bloß die geringste Macht verfügen könnte, über diesen Ursprung von Sein und Werden, diesen blinden, übergöttlichen Willen. Ich möchte gar nicht arg vormachen, ich sei wer besonderes, ein hoch zu erachtendes Kulturding. Der Künstler ist bloß er selbst, und dafür kann er, ehrlich gesagt, recht wenig. Eigentlich gar nichts sogar, denn wenn am Schopenhauer'schen Wille auch nur das Geringste, das doch so überaus weise einleuchtend und wahr erscheint, wahrlich wahr sein soll, dann rühren wir alle aus der Tiefe des Jetzt – und wer nun sich zur tiefen Reflexion anhält und einige interessante Wahrheit zu erkennen vermag? Ich denke, ehrlich wissen wir es alle. Der wohlerzogene, unter Herzlichkeit der Eltern und der Freunde aufwachsende Mensch, vermag noch im Alter von allerhöchsten Jahren ein gescheiter und liebenswürdiger Kopf zu sein. Wer aber mit derberer Schwierigkeit aufwächst, der muss wohl eine teils angeborene, und teils durchs Reale der Welt weiter ausgeprägte hartgesottene Natur haben – oder vielleicht hätte man sogar zu sagen, man sei eben diese Natur. Und wenn man erst einmal von eigenen, subjektiven Wille spricht, dann, freilich, muss sich der Mensch erbarmen, eine ganze Persönlichkeit aus sich herauszuerklären. Es ist eine durchaus beachtliche Sache, dieser Mensch, und wie er so eigenartig die Natur ist, aber doch auch bloß aus ihr kommt, sie sich sogar zu unterwerfen versuchen kann. Aber ich möchte gar nicht allzu lange versuchen eine Genese der Persönlichkeit in abstracto zu entwerfen. Wie mir scheint – liest man einmal ein unter den großen Namen der Literatur ausgewähltes, wahrlich beachtliches Werk – gehört es sich freilich gar nicht, um den heißen Brei zu reden. Der Leser – pardon, mit äußerster Demut will ich anmerken, auch Leserin, oder einfach jedes nur erdenkliche, zum Interesse an den von meiner Wenigkeit hier mit Tinte aufgetragenen Zeilen befähigte, nun sogar in der Tat lesendes Wesen – wird sich gar nicht wohlgesonnen dem Tintenkleckser stellen, der wie lamentierend oder schlicht kraftlos, ohne die Liebe der Musen, hier eine verachtliche Selbstgefälligkeit nach der anderen veranlasst. Liebe Lesenden, ich möchte Ihnen garantieren: solche Abartigkeit, das wäre etwas für moderne Lichtspielhäuser und seichte, wahrlich eigentlich an Sachlichkeit wenig interessierte Gemüter; aber das Vorliegende soll unverzüglich keine weitere Selbstbeweihräucherung mit sich bringen, und in jeder erdenklichen Art und Weise auch rasch, gleich, jetzt sofort anfangen, mit der Farce, der Tragödie, dem Tumult, der beschaulichen Verunglückung, ja mit der Lieblichkeit des Herzens doch gleich – ich sage es nunfort nimmermehr – beginnen.
Kapitel 2
Wir haben nun vor uns also einen…Helden. Haben wir in der Tat nun einen Helden vor uns? Sieht man ihn schon? Mit stolzer Brust und straffer Haltung? Nein? Nun, aber… Dann wird es wohl eine Heldin sein, eine Sie? Wollen wir es ganz rasch machen, und sagen, es sei eine Sie, ja? Aber… Nein, nicht doch, wie wollen wir das denn sonst machen? Ich meine, erst soll er ein Er sein, dann soll sie eine Sie sein – ganz und gar unzeitgemäß, wahrlich schnöde, einfallslos, uninklusiv, aber billig. Also gut. Er ist ein Er, und wenn er eine Sie ist, dann ist er auch eine Sie, oder nicht zugleich beides? Jedenfalls etwas, zu wem er sich bestimmt, sagen wir einmal, ein junger Kerl, der aber doch jedenfalls stark von den durchschnittlichen Reizen einer, den äußerlichen Eindrücken nach biologischen Frau, angetan ist, mithin aber sich zu philosophieren versucht, wie er wohl über dieselben Reize hinwegkommen könnte. So also, ja, er heißt noch gar nicht irgendwie, und erst einmal soll's ja freilich dabei belassen bleiben. Der Kerl ist ein Kopfzerbrecher, ein sich Zugrunderichtendes, ein Grübler, mal ein herzlicher Geselle dann wieder arg stolz, vorurteilend, oft wirklich dumm, und trotzdem sehr stark gebildet. Bildung muss ja eben nicht heißen, dass wer ein heller Kopf ist, bloß dann und wann bringt auch der erbittertste Denker mal's Oberstübchen zum Erhellen, Leuchten, ja bei einigen flackert's vielleicht bloß, andere arbeiten noch am bisher dysfunktionalen Glühdraht. Der wahre Grund aber, dies alles nun bereits vorwegzunehmen, es so unverfroren preis zu geben – der wahre Grund, darf weder direkt voll ersichtlich sein, noch muss irgendwer sich im Laufe der Buchstaben zu arg langweilen. Der wahre Grund, warum der Kerl nun schon mit allerlei Namen behaftet werden soll, reicht hinab in die Gründe unserer Anschauung selbst. Wir – oder eben zumindest mancherlei von uns – denken doch gern viel, tief, desöfteren sogar mit größerem Erfolg über die Dinge, die uns geschehen und Initiative zur Tat ergreifen lassen, nach. Aber was wohl gar niemand zu tun scheint – Verzeihung, der Gefahr, selbst vorschnell zu urteilen wegen – ist, einmal übers eigene Denken so unerbittlich, lang und beharrlich nachzudenken, dass man zu denken hat, am Ende hätte ja freilich ein übersinnliches philosophisches Wesen 'bei herauszukommen. Der erste Fehler! Denn wir sagen uns, der Denker habe fremd zu sein, ja, dass die Denkerin eben eine ganz übernatürliche Form dabei erlange, und für sonstige, sich selbst als niveaugering einordnende sogenannte Normalbürger, eine derartige Verwandlung ohnehin unmöglich sei. Aber man irrt ja! Der Denker reflektiert wie ein Gott über sich, ja, aber dabei versenkt er sich bloß immer weiter in sich selbst, in seiner positiven Natur. Er meditiert gar, ganz selbstversichernd, und er preist die Liebe, die Wahrheit, überdies die Möglichkeit, über all dies zu reflektieren: Er dankt sich also selbst, und er dankt der Welt für seinen Frieden. Doch sein Frieden ist keine unüberlegte, oder sogar gemeingefährliche Kindischheit. Nein, sein Friede ist Reflexion über die Hintergedanken, um sich keiner Hintergedanken mehr schuldig zu machen. Da er sich andauernd im Lauf der Zeit, und in der Ungnade des Fortlaufs alles sich entwickelnden Seienden befangen sieht, rührt der Denker immer wieder an seine eigene Natur, an die Frage: Wer will ich sein? Frei ist er ja doch irgendwie, ja irgendwie, aber doch freilich auch nicht ganz. Und weil der ganze Verlauf der Geschichte auch ihn, und sonst alles Gegenwärtige hervorgebracht hat, muss der Denker bedenken, dass seine Gedanken Erinnerungen sind. Er denkt nicht ohne Bedingung, sein Seelenfrieden wächst freilich auch als Versuch, heilsame Wiese über vergangenen wie realen Schrecken zu sein, über alles Vorherige. Wie ein Teppich voller Liebe erstreckt sich nun eine innere, seelische Gerechtigkeit über den Verirrungen der ihm bekannten und sehr innig geliebten Menschen, die er so liebend gern vor ihren Stürzen und ruhmlosen Niedergängen bewahren möchte. Er weiß aber, in seiner klaren und göttlichen Reflexion, dass der Friede niemals von außen her gezaubert wird. Er wird bereitet und vielleicht offenen Herzens hingereicht – aber der einzelne Mensch ist immer noch selbst zur Liebe verantwortlich. Erst, kann er lieben, vermag er genügend weise, ja dann sogar wahrlich heilsam fürs Sein zu sein. Wir wissen also nun auch, dass der wahre Philosoph, welchen Geschlechtes er nun auch sei, ganz unbrauchbar von welcher Hautfarbe auch, und auch unwichtig wie er sonst ist oder sich zu fühlen gedrängt fühlt: Wir wissen, der wahre Philosoph ist zur ärgsten Liebe fähig, und er greift sich damit am Leben fest, welches sonst gar rasch ihn in einsamer Gedankenleere zurückließe. Er ist aber eben, in dieser Veranlagung und Ausprägung, zu lieben, ja wahrlich innerlich zu lieben, bloß ein Natürliches. Er ist bloß eine Objektität des Willens, ein Hervorbringnis kosmischer Unität, reife Frucht der Meditation, eine sich selbst erbringende Urteilskraft. Ich führte all dies nun also aus, und der nun weniger nahe Startpunkt ist der Kerl gewesen, den man mit allerlei Namen behaftet hatte. Bloß zu dem Zwecke, erklärlich zu machen, oder – sagen wir – leichter begreiflich zu machen, wieso denn nun ein Fremder, eine ungeahnte, noch völlig blinde Romanfigur, so allerlei Namen brauche: Eigentlich eben bloß, um vorzuführen, wieso Vorurteil und Meditation einander ganz zuwider sind, die letztere das vordere aufzuheben hat.
Wir wollen nun also weiter, mit dieser einmal gemachten Feststellung, und schauen, wie der gute Kerl sich denn entwickeln wird, denn mit all seiner Kopfzerbrecherei, mit seinem sich zugrunderichtenden Habitus, ja auch mit seinem Grübeln, seiner dennoch außerordentlichen Herzlichkeit, seinem Stolz, seiner unweisen Vorurteilshaftigkeit, Dummheit trotz starker Bildung – mit all diesen Attributen soll er uns doch ein vorzüglicher Wegesgenosse werden, dieser Kerl, und ich glaube, er soll heißen: Arthur.
Kapitel 3
,,Wärme und Licht", dachte sich Arthur Rast, wohl ruhend, Gesäßknochen auf Eisen, dasselbe zu allerlei feinen Mustern verschnörkelt, durch die ganz leicht ein jeder Sonnenstrahl hindurch kommen konnte. Eine feine eiserne Bank hatte er sich hier herausgesucht, ja geradezu wie ein spirituelles Totem auserkoren. Sie war gar etwas wie ein heiliger Ort der Reflexion führ ihn, ein stiller, seliger Hain. Hier schaut er sich alles an, ruht über den Eindrücken seines Tages, erbietet der fürchterlichen Übermacht der Natur seine Untertänigkeit, seine beruhigende Erkenntnis, dass – wahrlich – sie, die Natur, an sich doch allerherrlichst erhaben und als über alles erhoben zu gelten habe. Welch unendliches Wunder! Das dachte er sich und faltete dabei wie ein alter Weiser die Hände zum tiefenseelischen Gebet. Er saß dort in aller alleinigen Ruhe, spürte den flüsternden, weichen Wind auf sich zudrängen, kostete genüsslich die herrlichen Sonnenstrahlen aus, ergötzte sich in aller Ruhe an ihrer wohligen Wärme, die in ihrer Begegnung mit Arthurs Haut schon den Versuch wagten, zur Empfindung von Hitze überzugehen. Er nahm das stille, in der Ferne liegende Tosen der Küste mit philosophischer Reserviertheit innig zur Kenntnis, richtete sich von seiner Bank im Grünen auf und schlug seine auf dem vorherigen Hinweg gelegte Fährte, zurück, in Richtung Wald, ein. Er dachte über vieles nach, wie zum Beispiel über seine große, erhabene Einsamkeit, die Kameradinnen und Kumpels seiner Vergangenheit, denen er sich gerne wie ein plötzlicher Sonnenstrahl von Herzen auftun würde. Er gedachte dieser Menschen seiner Erinnerung und er liebte sie, ja er verherrlichte sich diese Menschen und freundlichen Liebschaften geradezu, als wäre von nichts anderem zu denken es wert, als von der Herrlichkeit jugendlicher und freundschaftlicher Liebe. ,,Wahrlich! Die Jugend! Braver, eifriger Sonnenstrahl der schattigen Welt, Ursprung der Zukunft, und Quelle aller vollkommensten Reinheit!" Dem Arthur gefielen seine Gedanken, und er trat voller Wohlgefühl in seinen friedlichen Nadelwald, hier, an seinem ganz persönlichen Ende der Welt, und kehrte sich im Geiste bereits seiner ihn erwartenden Stube zu. Da empfand er Glück, und für einen Moment war alles wahrhaftig.
Zuhause angekommen setzte er sich auf einen seiner gepolsterten Holzstühle und warf einen Blick in die Zeitung von heute. Da gab es so mancherlei Ärgernis kund zu tun, ja, voll wissenschaftlich extrapolierte er die ärgerlichen Details im ermüdenden literarischen Stil der Artikel, fragte sich, ob denn wohl in der Tat das stimme, was man ihm in journalistischer Manier der Druckschrift symbolisch vortrug, hielt einen Moment lang an einer tatsächlich sehr leidlichen fundamentalen Skepsis fest, und kehrte sodann wieder zurück zum Schriftlichen, auf das sein Interesse bereits gefallen war. ,,Da!", dachte er sich. ,,Armut an Objektivität!
Tollkühne Phrasen! Hab ich es ja doch bereits gewusst! Auf's Journalistische ist dieser Tage ja doch bloß recht wenig zu geben; macht sich überall breit, lockt mit eifrig blenderischen Überschriften, macht sich der Kulturindustrie anheischig!" Ja, in der Tat – der Rast war ein wohl sehr mitgerissener Gelehrter marxistischer Kapitalismuskritik, und dass er sich also denn hin und wieder an einer, oder sogleich vielen Sachen ärgerlich stoßen konnte, das verbitterte oftmals schon recht leicht seinen allnachmittaglichen Genuss der traditionellen
Informationsgewinnung – Lesen in der Zeitung! Da fühlte er sich schnell wie ein geheimer Agent, wagte sich noch mit eifriger Rasanz an jederlei theoretische Möglichkeit, das Missfallen, das der vorliegende Gegenstand in ihm zu wecken vermochte, durch kritische Reflexion in eine Barbarei der Kultur hin zu entschlüsseln. Ärgerlich! Ja doch! Äußerst ärgerlich, dass ihm der eigene mächtige Wissensstand mit derartiger Leichtigkeit seelische Friedlichkeit und herzliche Wohlgesinnung nahm. Erst noch war er entspannt von seiner Gedankenidylle hinterm Wald zurückgekommen, mit der schillerndsten Güldenheit in Brust und Kopf – nun aber, wo seine Kritik sich auf allerlei wirkliche, aber doch so ferne Dinge, auswälzte, musste er sich zugestehen: er könnte ja doch irgendwie glücklicher sein. Weit gefehlt aber: die Dinge sind ja nicht trivial, ganz und gar nicht ohne Bedeutung, und für den Arthur Rast schon gar nicht ohne sinnhaften Wert. Sein allseitiges literarisches Schaffen; seine Dichtungen, die Lieder, das Musizieren sogar, die philosophischen Aufsätze, allerlei Romanversuche, und, ja, doch gar nicht uninteressante Kurzgeschichten – all diese Desiderate und Artefakte seines Schaffens waren von einer solchen Allreflektiertheit hervorgekrochen, dass nirgends sich auch nur ein einzelner schändlicher Funke der kreativen Verantwortungslosigkeit finden ließe. Er schuf, immerzu mit der Welt im Hintergedanken, dann wieder mit tunnelhafter Wahnsinnigkeit; immer bereit, willentlich hier und dort auch einmal einige Fehler zu säen – inspirierende, transzendierende Fehler! Vertiefte sich Stunde um Stunde, war nicht fertig bevor er fertig war, konnt' sich in der Tat kaum mehr losreißen – so wie er einmal anfing –, bis wahrlich das Ganze, und wahrlich das Ganze, rettenden Glanz von Vollkommenheit an sich trug. Wenn's auch nie ein ganzes Werk war, so war's doch ein erachtliches Tageswerk, welches er zu vollbringen vermochte, und er wurde ganz lieblich, herzlich, und weltoffen darin. Dann, freilich, an zweiter Stelle, ertränkte er sich zur rechten Zeit in allerlei magischen Werken fremder Provenienz, und ließ all die meisterhaften Qualitäten der Menschen, die vor ihm kamen, über sich ergießen. Da empfand er eitle, stille Erbostheit gegen Elizabeth Bennets Mutter, und dankte der Autorin Austen für ihren unängstlichen Argwohn gegen das lang verbackene Frauenbild patriarchalischen Bürgertums. Da ergötzte er sich am Genie des Thomas Mann, der mit fürchterlich herausragender Perfektion den halb liebenswürdigen, volkstümelnden Dozenten Kumpf auf die Seiten bringt, und wie er erzählt, wie derselbe mit unglaublicher Komik beim Essen den ,,Deixel" in der Ecke verdächtigte! Da beruhigte sich der Arthur auch gern am Chopin von Zimerman oder Argerich, und erträumte sich zur sanftesten Musik aus seelischer Seide ein Bett zur Pforte ewiger Himmel. Ja, der Arthur war ein feinfühliger, spitzfindiger, aber eben nicht minder gefährlicher Kerl. Ein Mensch, der sich wahrlich, zum Wohle beider Seiten – zum Wohle der Menschen und seiner selbst – von der Restlichkeit der für ihn schwer bloß erträglichen Industriewelt abzuriegeln begriff. Hin und wieder rieselte mal ein Funke der technologischen Fortschritte herein; etwa wenn er ganz selten einmal ins TV sich einschaltete, oder – häufiger – zur Aktualisierung seines auch politischen Weltwissens das Internet verwendete. Telefonieren duldete er eigentlich gar nicht – seiner Seele ,,bekommt es nicht", meinte er immer zu sich selbst – und Fortgehen, etwa ins Städtle oder auf ferneres Land: ja, Fortgehen war ihm ohnehin eine arg zwiespältige Angelegenheit, und er wusste gar nicht so recht, ob solche Sachen denn überhaupt sein sollen. Insgesamt darf man sich ja doch nicht über Arhurs Wesen zu dieser Zeit täuschen, denn er war doch recht schnell bitter über allerlei Dinge, sofern er nicht gerade in seiner Einsamkeit diversen Genüssen nachzugehen vermochte, oder die eigentliche Haushälterin einmal zur Überprüfung der Lage auf ein paar Tage vorbeikam.
Alle paar Wochen tat sie dies, immer unter der schleierhaften Aussage, sie brauche Auszeit vom Stadtleben. Aber – so sehr, wie sie den Arthur damit auch nicht in ein Gefühl von übermäßiger Befürsorglichkeit versetzen wollte – es war doch immer auch in ihren Worten reine, herzliche Ehrlichkeit, und so liebte Arthur die Freundin seiner Eltern sehr, und genauso aufrichtig. Diese stadtliche, kultivierte Frau (– so drückt man doch seine gerechte Gesinnung gegen das ,,andere" Geschlecht aus, nicht wahr?) – Diese Frau trug gern sommerlichen Stoff, leichte, beblumte, herrlich farbenfrohe Kleider, die ihre 50 Jahre-aufwärts eher wie 30-abwärts erschienen ließen, und ihr geradezu eine himmlische Aura verliehen, der schon so allerlei Männer und Frauen mit starker Hingerissenheit verfielen. Ja, diese Frau war wahrlich ein Geschenk an zarte Seelen, und sie drückte diese ihr zueigene Zärtlichkeit mit den liebsten Aufmerksamkeiten aus. Einmal war Arthur in der Gefahr, für Wochen allein zu sein, auch ohne jeden Freundesbesuch, aber die werte Haushälterin Astrid erkundigte sich in einer solchen Vorahnung noch einmal genauer bei Arthur, als sie eine alleinige Urlaubsreise vorhatte, und verlegte sie auf drei Wochen später, als sie sich bewusst wurde, wie sehr Arthur doch zumindest den ihren sozialen Verbindungspunkt brauchen würde.
Zwar sind diese durch grobe 30 Jahre voneinander getrennten Menschen mehr Freunde als Pflichtgemeinschaft, aber der Arthur hatte gern von ihr als ,,Die Haushälterin" gedacht, und hatte sich damit den Gefallen getan, ihre fürsorgliche und erwachsene Figur zu einer sexuell interessanten Abziehkarikatur zu stilisieren, durch die er die wahre Astrid aber keineswegs auch nur einen Deut weniger aufrichtig, oder mit weniger gleicher Bemühung geliebt hätte. Er war ihr existenziell verschrieben, respektierte sie als fühlendes und denkendes Wesen, und sie erachtete ihn seines außergewöhnlichen Talents und seiner Veranlagung zur philosophischen Einsamkeit wegen – nicht minder wegen ihres Privileges, eine wohlhabende Gönnerin sein zu können, der es wichtig war, mit geerbtem Vermögen einen wichtigen, sozialen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung des demokratischen deutschen Staates beizutragen. Sicher, mit einem geerbten Adelshaus ließen sich etliche verschiedene Institutionen fördern, oder gar errichten, aber vorerst entschied sie sich also dazu, diesem jungen Mann, der ihr eigentlich doch wie entferntere Familie war, ein anachronistisches Stipendium zu gewähren, mit dem der auf unbefristet, und als lang wie er nur wollte, auf dem großen, abgelegenen Anwesen mit Nähe zur Küste wohnen bleiben, studieren, und erschaffen könne. Mitunter, soweit soll gedacht sein, hat es mit der sexuell aufregenden Bezeichnung Arthurs für Astrid als ,,Haushälterin" nichts willentlich Perverses an sich, sondern lediglich eine Sublimierung gehemmter, juveniler Triebe, deren Befriedigung Arthur nahezu noch gar nicht in vollem Maße für sich finden konnte. Und daher nannte er Astrid, auch immer mit dieser eben genannten Reflexion ,,Die Haushälterin", ohne ihr auch nur jemals an die Bluse und den Rock zu wollen, oder dergleichen, denn er neckte sich mit dieser scherzhaften Begriffstäuschung im Grunde selbst für seine Unbefriedigtheit und Unglücklichkeit. Gerne wäre er in ein geniales Mädchen seines Alters verliebt, doch bislang trug der Sturm der Welt ihm noch kein solches zu. Er war einsam jungfräulich, in zivilisatorischer Hinsicht, aber nicht minder weise, und darum wusste er auch genial und mit äußerster Raffinesse mit allerlei psychischen Niederschlägen oder Gewissensängsten zu jonglieren, ohne je vollkommener Wahnsinnigkeit und Sinnlosigkeit anheim zu fallen. Er fühlte sich etwas leer, aber darin begriff er den Anlass, ein äußerst demütiger, fast schon gläubiger Mensch zu werden. Kurz: Arthur liebte es, seine Chancen zu sehen, und zu begreifen, wie frei er eigentlich war. Außerdem hegte er bislang doch vorsichtige Liebschaften mit Frauen aus der nächsten Stadt, obwohl er ja kein Frauenheld oder dergleichen sein muss, um seinen Zielen zu folgen. Wahrlich ,,Liebe" hat er noch nicht ,,gemacht". ,,Was soll's! Ist ein Privileg, im Grunde gar doch was erkennbar Absolutes; was, das bloß der vollkommenen Reife nachfolgen darf, der Klarheit darüber, was Liebe überhaupt zwischen zwei Menschen möglich macht, und erstmal braucht's ein wahres Weib!" Scherzhaft lachte er, sich seiner Eigenironie klar bewusst, und warf sich auf's billardgrüne Sofa, dessen Rückenpolster links und rechts mit altmodischen Knöpfen das Futter in Falten klemmten. Vier harte, runde Klötze traten auf den arabischen Wunderteppich darunter, und Arthur schwebte wie ein Aladdin fort ins Reich unendlicher Möglichkeiten…
Zapp. Fernseher an. Blödsinn…
Blödsinn, Blödsinn..
Blödsinn…
,,Ah!", Nein, war doch auch nur Blödsinn…
Wahrlich! Welch Genuss! Ah, nein, kommt ja nichts rechts. ,,Kommt nix G'scheit's hat mei Großvadder immer gseit!" Da richtete Arthur sich auf, versuchte etwas ernster sich um einen seinen Ansprüchen standhaltenden Unterhaltungssender zu finden, wurde aber desweiteren bloß enttäuscht. Er saß jetzt mit grader Rückenhaltung und leicht verengter Miene vorm Fernseher, empfing Bruchstücke verschiedener Klänge, darunter Stimmen, und zappte weiter durch's Getümmel moderner Unterhaltungsmaschinerie. ,,Ich finde nichts. Hier ist nichts, gar nichts, überhaupt nichts Interessantes. Fluch darauf! Verdammte Axt, ärgerlich."
In Schlaf fiel er. Tiefer, herber, unmündiger Schlaf. Ja! Gottverlassen, fern der Welt, bloß ihrem flackernden Bild im TV gegenüber. Es rauschte ein Zug vorbei, und Arthur saß darin. Man nahm ihn mit in das entfernteste Reich, zu güldensten Reichtümern, und allesamt zerfielen sie zu Asche. Er wusste um sich selbst, ja, er war ein kühner, wohlgesonnener Recke, der sich nach Schätzen ausstreckte. Und die Träume, die in ihn brachen, ergaben eine harsche Schmach, eine dumpfsinnige Verträumtheit. Denn sein Zug war aufgelöst, in Nichts transzendiert, verwegen rüstige Bastion! Sie war doch sehr verwunschen, ja das musste sie sein, dachte sich Arthur in der Blase seines Traumes. Denn einstweilen war er ja eben noch im Zug gewesen, fortan aber erkannte er sich selbst im Traume gar nicht mehr. Wo war er? Was hat es, mit all diesem hier, also auf sich? Wohin gelangte der Träumer, sofern er nicht mehr seinen Genüssen zu folgen vermochte? Er fiel hinab, ganz gewisslich! Neue große Rüstungen der Erde türmten sich auf! Ein Berg an Eifer, goldene Spitzen, Zinnen und Mauern. Vermochte man gar es prächtig zu nennen? Er war sich nicht deutlich darüber…
Nein, es waren die stärksten Eindrücke, die ihm so arg fremd und dümmlich erschienen. Voller Irritation irrte er darin herum, erstürmte Gänge und Räume aus goldener Heiligkeit, begriff nicht ihren Schmerz. Dass diese wunderbaren Räume und Gänge gar nicht mit Leben gefüllt waren! Dass sie überhaupt so überaus reif erscheinen mussten, zugleich aber am ärgsten den Künstler im Menschen herauszufordern schienen., wo sie ja doch arg wenig bewohnbar, dafür jedoch umso kraftvoller inspirierend sein konnten. Denn all der unendliche Prunk an Artefakten und Kristallen dort war bloß Spiegelung, unendlicher Reflex aller Seienden, welche die Seienden in Betracht zu ziehen in Betracht zogen. Wer sich der Helligkeit nähern würde, der erstarre fast schon im selben Glanze – dies erfasste der Arthur im Geiste. Und der Künstler würde der Erschaffene selbst, Werk seiner Willentlichkeit, aber Kreatur der Einigkeit bleiben. ,,Veränderung heißt Wandel von Qualität und Form beim Beharren der Substanz", erschoss die Einsicht aus dem Nichts gen hellem Himmel seiner Imagination.
Sein Traum war identisch mit der Gegenwart geworden, Leben in Wirklichkeit war Eins, nichts vermochte mehr den Irrtum zu verrücken – Arthur empfand eine Erscheinung, eine transzendente Erleuchtung. Im Traum fiel jeder Stein von ihm ab, wie eine Rüstung aus Granit, bröselt hinab in das ewige Vorantreiben der Weltgeschichte. Er erkannte sich, die Welt – erfloss auf den Spuren der Unendlichkeit, gebannt in die Transzendenz der Gegenwart. Wie helles Licht schoss etwas von oben auf ihn herab. Er erwachte.
Er spürte bisher ungekannte Last. Oder hatte er sie bloß vergessen? Verdrängt, als einst sie ihm zu gefährlich nah an die Seele rückte? Hatte er eine Wahrheit entbehrt? Nein, es mussten mehrere gewesen sein, ja? Es war doch folgendermaßen: Er erinnerte sich nun, was ihn quälte. Denn ganz plötzlich erschien ihm wieder ein dumpfes, selbstdespektierliches Gefühl, ganz eben als renne er einer vergebenen Geliebten hinterher. Ja doch – es erschien kaum noch irgendetwas für ihn Sinn zu ergeben. All die philosophischen Wahrheiten, überall solch profaner Quatsch zugleich – er war keineswegs mehr erfüllt von jener die Seele auszufüllenden Kraft der mächtigen Schriften. Er war doch leer – noch voller Arbeit: Empfindung von Leere. Nichts als Gähnen. Und, wie ein lautes Bumm – da war er wieder, der Fernseher, und Arthur erfasste unmittelbar die durchdringend erlösende, doch nicht minder leicht betrübende Erkenntnis, dass er eben nichts dabei sehen konnte: die Ferne war ihm überhaupt ferner als je er sich hätte ausmalen können. Nichts als eine Mattscheibe vor ihm, ein blasse Gefühl der Virtualität. Es war also ganz so, als habe mit einem Ruck sein insgesamtes Dasein, überhaupt sein gesamtes Leben, sich plötzlicherweise zur Verschwörung gegen's Seelenheil unserer nun