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Die Gedichtesammlung "Im Immerzu Werden" präsentiert 160 Texte des Dichters Paul Schurr, die er zwischen 1980 und 2020 verfasste. Das Buch repräsentiert somit auch eine (ziemlich poetische) Autobiographie über 40 bewegte Jahre im Leben eines Menschen.
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Seitenzahl: 84
Veröffentlichungsjahr: 2020
Paul Schurr
IM IMMERZU WERDEN
40 Sommer der Poesie
© 2020 Paul Schurr
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-11120-2
Hardcover:
978-3-347-11121-9
eBook:
978-3-347-11122-6
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1. Teil
„DEINEN NAMEN FLÜSTERE ICH“
(1980 - 1991)
DIE KRÄHE
Ich ging über die Felder
Und die Natur, sie schwieg;
Da sah ich sie.
Sie saß ganz still
Und ihr Blick war starr;
Jetzt erst bemerkte ich,
Sie war tot.
Der Wind strich durch Ihre Federn
Und es schien ganz so,
Als wollt sie sich erheben.
Sie zuckte die Flügel,
Sie bäumte sich auf,
Doch der Stacheldraht,
Er ließ sie nicht los.
Des Menschen Werk!
Dann war es wieder still;
Sie hatte es aufgegeben.
Ich betrachtete sie lange Zeit,
Dann ging ich weiter;
Und die Natur, sie schwieg.
(15. Oktober 1980)
HERBSTSONETT AN ALLE MITLÄUFER
Jetzt sind die Tage wieder grau,
Reif bedeckt das kahle Land.
Das Leben wird zur Nebelwand,
Es riecht nach Tod und Kälte.
Die Zeit der Taten ist vorüber,
Mensch und Tier zieh`n sich zurück.
Die Ruh hält Einzug Stück für Stück,
Hinter Fenstern brennt das Licht.
Selbst die "Engagierten" schweigen,
Um bei verschloss`nen Türen
Recht stolz zu triumphieren.
Man war keiner von den Feigen,
Doch in dieser Jahreszeit
Ist`s gesünder, wenn man zu Hause bleibt.
(Oktober 1983)
HEY DU
Bleib niemals,
Wenn du Verlierer bist,
Resignierend unten liegen.
Vergiss niemals,
Mit geballter Faust
Dich wieder zu erheben.
Lass niemals nach,
Für deine Träume zu kämpfen,
Zu hoffen und … zu siegen.
Kurz gesagt,
Solang du bist,
Hör niemals auf zu leben!
(Juli 1984)
AM MEER
Sitz am Strand,
Lass Steine hüpfen,
Zwei-, dreimal,
Und sie versinken.
Das Wasser schweigt,
Ich denk und denke:
Sehnsucht nach dir?
Sehnsucht nach andrem?
Wie die Wellen
Immer grübeln,
Bis selbst das Leben
Zum Gedanken wird.
So verstreichen
Flut und Ebbe,
Und ich versäum`
Vor lauter Suchen
Glatt zu finden.
(Frankreich, August 1984)
DEMOKRATISCHE METAMORPHOSE
Sie proklamieren,
Es komme die ganze
Macht aus dem Volk.
Macht aus dem Volk?
Macht aus dem Volk
Nur keinen Idioten,
Wir haben euch doch
Längst durchschaut!
(November 1985)
Schweigend und bisweilen
Mit gesenktem, müdem Blick
Ging der alte Kanzler
Das graue Zimmer immer wieder
Auf und ab;
Träumte von bunten Spielplätzen,
Auf deren grünen Wiesen
Ein paar Jungen Fußball spielten,
Ungeschickt noch,
Doch in Gedanken große Stars;
So trieben sie den schweren Ball
Einander zu, hin zur Sonne …
Und dem alten Kanzler
Blieb nichts zu tun
Als immer wieder,
Schweigend und bisweilen
Mit gesenktem, müdem Blick
Das graue Zimmer auf und ab
Zu gehen.
(Januar 1985)
Sitze vor diesem Blatt
Und möchte Worte schreiben,
Durch die man niemals mich vergisst.
Sitze vor diesem Blatt
Und erkenne:
Nur Worte sind dafür zu wenig.
(Januar 1985)
DIE TAUBEN
Die Verrückte ging jeden Tag
In den Supermarkt und kaufte
Tiefgefrorene Pommes frites
In der Tüte,
Die sie dann im Städtischen Park,
Kinderaugenlächelnd
An die Tauben verfütterte
Und sich bemühte,
Dass jede Taube gleich viel Pommes bekam.
Doch obwohl kein Vogel daran starb,
Sagten die Passanten im Vorbeigehen:
Oh, du meine Güte,
Das ist ja Tierquälerei!
Jetzt ist die Verrückte in einer Anstalt.
Dachauer Straße 26,
Zwangsjacke,
Kahl geschoren,
Vergitterte Fenster,
Schalldicht,
Grau.
P.S.:
Einmal gab`s Wiener Schnitzel
Mit Pommes frites -
Da hat die Verrückte geweint.
(April 1985)
EINE ASIATISCHE REISE
Nur dasitzen
Und zuschau`n,
Wie langsam,
Ganz langsam
Die Sonne untergeht,
Farben geboren werden
Und wieder sterben,
Die Erde, alles um dich
Ständig dunkler wird,
Während gleichzeitig
Die ersten Sterne melden:
Es wird Nacht.
… und bei all dem
Nicht gestört werden,
Allein dafür
Hat es sich gelohnt.
Am Ende,
Wenn der Tag
Aus ist,
Möchtest Du
Am liebsten applaudieren,
Doch wär es sinnlos,
Die Heldin würd` sich
Nicht verbeugen,
Weil es für sie
So selbstverständlich ist.
Aber überhaupt mal
Dieses Gefühl zu haben
… und bei all dem
Nicht gestört zu werden,
Allein dafür
Hat es sich gelohnt.
(Lombok/Indonesien, August 1985)
DIE ANTWORT
Am Tag, als die Bomben
Auf die Erde fielen,
Fragte irgendwo ein
Kind seine Mutter:
"Warum hast du mich geboren?"
Und die Mutter blickte
Das Kind lange an
Und wusste keine Antwort.
(Juni 1986)
GEDICHT ZU TSCHERNOBYL
(über die Betroffenheit eineinhalb Jahre danach)
"Beim Fernsehen gibt`s mehr Kohle",
Mutter Drombusch einst rief,
"Drum bin auch ich lieber fernseh-
Als radioaktiv!"
(Oktober 1987)
GLAUBENSBEKENNTNIS
Du verhinderst die Kriege nicht,
Du lässt es geschehen,
Dass die einen verhungern,
Während die anderen
Ihr halbes Stück Erdbeerkuchen
In den Abfall kippen.
Und gerade deshalb glaube ich an Dich,
Weil Du über alles, selbst über Dich
Die Freiheit gelegt hast!
Bleib mein Freund alter Tage,
Doch egal was wird:
Ich liebe Dich, Gott!
(Dezember 1987)
ZEITGEFÜHL
So viele Minuten
So vieler Jahre,
Sie streifen das Leben nicht lang.
Selbst Wichtigkeiten
Vergangener Stunden
Verfliegen schnell im Zeitendrang.
Nur ein paar Dinge
- Geschichten und Photos -
Erinnern an Tage,
Die man niemals vergisst,
Niemals bereut.
Ansonsten beschränkt man
Sich auf das Morgen
Und höchstens die Frage:
Das aß ich gestern,
Und was esse ich heut`?
So kommt man zum Schluss,
Dass so viele Minuten
Sinnlos und kaum
Beachtenswert sind.
Bis man dann plötzlich
In irgendeiner Zeitung liest:
Jede Minute verhungert ein Kind!
(Juli 1988)
WAHRE HELDEN
Die wahren Helden gibt es oft,
Doch meist im Schatten,
Unerkannt
Und ihrer Taten nicht bewusst.
Von der Welt kaum wahrgenommen,
Wandeln sie dahin
In unbegrenzter Einfachheit.
Die wahren Helden weinen oft,
Doch meistens heimlich,
Ungespielt
Und stets darauf bedacht,
Dass die Geliebten sich nicht sorgen.
Die Blüten wilder Kirschen
Streuen sie auf unser Lager.
Die wahren Helden sterben heilig
Nach einem viel zu kurzen Leben.
Kaum eingedenk der Größe Ihrer Taten
Bleiben nur der Kirschen Blüten.
(Dezember 1988, für "Freddy")
GLAUBT MIR
Die schönsten Lieder
Singen stumme Kinder,
Doch wer daran zweifelt,
Der kann sie nicht hören.
(Februar 1989)
ENDSIEG
Hört nur, seht ihr denn nicht,
Die Ratten sind wieder hier!
Aus den feuchten Gassen
Kommen sie gekrochen,
Ihre verborgene Zeit
Ist mal wieder vorüber.
Sie haben sich
Durch die mageren Tage genagt
Mit ihrem schmierigen,
Braunen Fell,
Sie haben im Stillen
Von den Abfällen
Der Herrscher gelebt
Und wurden dabei immer fetter.
Hört nur, seht ihr denn nicht,
Die Ratten sind wieder hier!
Über unsere Füße
Fallen sie schon her,
Knabbern lautstark
An den Sohlen.
Doch unsere Köpfe
Nehmen sie nicht ernst,
Wir verschließen die Sinne
Und lassen sie walten.
Gefüttert mit unserer Gleichgültigkeit
Erobern sie langsam die Macht.
Hört nur, seht ihr denn nicht,
Die Ratten sind wieder hier!
Ihre Zähne werden schärfer
Und aus allen Winkeln
Tönt ihr Schrei
Nach dem erneuten Endsieg!
(März 1989)
NOCH IMMER
Längst aufgehört
Die Stunden zu zählen,
Schreiten wir beide
Noch immer
Gemeinsam durch die Zeit.
Oft nicht bewusst
Unserer starken Gefühle
Sind sie doch geblieben,
Noch immer,
Trotz verblasster Zärtlichkeit.
Aneinander gewöhnt
Wie an das Paar Lieblingsschuhe,
Bleibt uns jedenfalls
Noch immer
Ein großer Vorrat an Liebe.
(September 1989, für Trici)
DER FREIHEIT
Links von mir tot gewalzt,
Verprügelt und gefoltert
Von den Schwertern
Aufgeschwemmter Admirale.
Rechts von mir eingezäunt,
Belogen und verraten
Von den Wächtern
Ausgebrannter Ideale.
Hinter mir versteigert,
Verstümmelt und erschlagen
Von den Gegnern
Einer allzu schwarzen Schale.
Und doch:
So hart geschmiedet
Kann keine Kette sein,
So dick gemauert
Kein kalter Kerker,
Dass sie nicht doch
Alle Fesseln irgendwann sprengt
In ihrem eigenen Namen.
(9. November 1989 - Abend des Mauerfalls)
WESHALB
Wozu glauben
An Gutes und Liebe
Unwichtige Gefühle
Wozu
Warum behüten
Tot gesprochene Dinge
Umweltfreundlichen Frieden
Warum
Wofür leben
Wenn nicht für sich selbst
Mächtig mit gierigem Blick
Wofür
Ich blicke in die Augen
Eines kaum geborenen Kindes
Deshalb
(Mai 1990, für meinen Neffen Anton)
MODERNE NÄCHSTENLIEBE
Zu Dutzenden
Standen sie
An der Unfallstelle
Und bemitleideten
Das sich im eigenen Blut
Windende Opfer.
Mein Gott,
Wie ist das schrecklich,
Hörte man
Immer wieder sagen,
Und mein Gott,
Es war schrecklich,
Denn niemand
Der Dutzenden
Half.
(Oktober 1990)
FRÜHLINGSFRAGE
Des Winters Weiße geht in Tropfen,
Die blauen Himmel sind nun öfter,
Alte Sonne spendet neue Wärme,
Bananenduft durchzieht die Stadt.
Der Bäume Blüten erobern die Zweige,
Eisbuden locken aus dem Winterschlaf,
Mädchen zeigen wieder Beine,
Waffeleis klatscht auf die Straße.
Die Dichter denken frische Verse,
Kinder spielen Ringeltänze.
Was wird wohl, wenn die Blätter fallen,
Außer Frühlingsversen bleiben?
(Mai 1990)
SATT
Völlig nackt,
Weil aufgewärmt
Von Wohlstandskälte,
Saß ich in der Ecke
Meines Zimmers,
Die Ohren lagen
Abgeschnitten
Zwischen meinen Beinen,
Und ich verschlang
Die fetten Zeiten:
Kinderrassel
Spielzeugwaffe
Fahrrad
Walkman
Comicheft
Tennisschläger
Zigarette
Zeugnis
Mofa
Video
…und am Teppich
Kratzte eine Stimme
Lautlos.
Viel gesagt,
Weil weit entfernt
Von wirklich großen Taten,
Hielt ich das Fernsehgerät
In meinen Armen,
Die Augen hingen
Ausgestochen
Im prall gefüllten Kleiderschrank,
Und ich fraß mich
Durch die Jahre:
Waschmaschine
Heimcomputer
Surfbrett
Auto
Ehering
Mikrowelle
Lufterfrischer
Kühlschrank
Mixer
Gartengrill
…und von der Decke
Grinste ein Licht
Unsichtbar.
Nichts gewagt,
Weil im Nichts
Recht gut geborgen,
Bohrte ich ein Loch
In meinen Schädel,
Das Gehirn schmückte
Ausgeschält
Die lustlosen Wände,
Und ich füllte weiter
Den nimmersatten Magen:
Rasenmäher
Kegelschuhe
Haustier
Sparbuch
Zahnersatz
Urlaubskoffer
Münzensammlung
Rollstuhl
Grabstein
Nussbaumsarg
…und auf den Schultern
Trommelte das Leben
Unbemerkt.
(November 1990)
CARPE DIEM
Kommt, Brüder,
Lasst uns nun verweilen,
Wie schnell ist doch
Der Tag vertan;
Wonach es unsren Sinnen trachtet,
Kommt, Brüder,
Lasst es widerfahr`n!
Wie unnütz,
Mit der Zeit zu hadern -
Wird ihrer deshalb niemals mehr.
Dem Lebensschmaus
Sich zu verwehren,
Hält einzig uns
Das Dasein leer.
Allein,
Wenn wir an wilden Flüssen
Uns betten auf
Der Wälder Moos,
Wird, Brüder, uns
Einst nichts entbehren,
Sind wir zurück im Erdenschoß.
(Neuseeland, März 1991)
ERKLÄRUNG DES BLÖDSINNS(DER AUFRÜSTUNGSPHILOSOPHIE)
Gegeben sind
Ein Apfel
Und ZEHN Messer,
Ihn in der
Mitte
Zu zerteilen!
(Juli 1991)
BÜRGER KRIEG KEHRT HEIM
Als der Ritt zu Ende war,