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Zwischen roter Erde und weißem Schnee … Eine australische Legende besagt, wer sich unter einem Schneeeukalyptus küsst, hat die ewige Liebe gefunden … doch was, wenn man sie für immer verliert? Um sich ihren Traum von einer Ski-Karriere zu erfüllen, musste die junge Kylie Harris ihre Heimat und ihren Freund Danno hinter sich lassen– bis ein tragisches Ereignis sie wieder zurück nach Australien führt. Auf der Suche nach einem neuen Sinn im Leben, beginnt sie für eine Hilfsorganisation zu arbeiten, die Opfern von Umweltkatastrophen beisteht. Hier trifft Kylie wieder auf Danno und merkt schnell, dass ihre Gefühle noch genauso stark sind wie damals. Aber kann ihre Liebe wirklich den Schmerz heilen, den die beiden in sich tragen? »Ich konnte das Buch einfach nicht weglegen.« Amazon-Rezensentin Ein weiterer bewegender Australienroman der Bestsellerautorin – für alle Fans von Di Morrissey und Anna Jacobs.
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Seitenzahl: 457
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
Eine australische Legende besagt, wer sich unter einem Schneeeukalyptus küsst, hat die ewige Liebe gefunden … doch was, wenn man sie für immer verliert? Um sich ihren Traum von einer Ski-Karriere zu erfüllen, musste die junge Kylie Harris ihre Heimat und ihren Freund Danno hinter sich lassen– bis ein tragisches Ereignis sie wieder zurück nach Australien führt. Auf der Suche nach einem neuen Sinn im Leben, beginnt sie für eine Hilfsorganisation zu arbeiten, die Opfern von Umweltkatastrophen beisteht. Hier trifft Kylie wieder auf Danno und merkt schnell, dass ihre Gefühle noch genauso stark sind wie damals. Aber kann ihre Liebe wirklich den Schmerz heilen, den die beiden in sich tragen?
Über die Autorin:
Anne McCullagh Rennie wurde in Cambridge, England geboren und studierte in London und Wien Musik. In Österreich lernte sie ihren Ehemann Jim kennen und zog mit ihm nach Australien, wo sie zusammen eine Familie gründeten. Die Liebe zu ihrer Wahlheimat und zur Musik bringt sie in ihren Romanen zum Ausdruck.
Von Anne McCullagh Rennie erscheinen bei dotbooks die Australienromane: »Der Himmel über Australien«, »Das Lied der Honigvögel«, »Die Sterne über Australien«, »Wohin der Wind uns trägt« und »Weites Land der Träume«, »Im Land des Schneeeukalyptus« und »Jenseits der roten Sonne«.
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eBook-Neuausgabe April 2025
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2002 unter dem Originaltitel »When The Snow Gums Dance« bei Pocket Books. Die deutsche Erstausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Glühendes Land« bei Weltbild.
Copyright © der englischen Originalausgabe 2002 by Anne Rennie
Published by Arrangement with Anne McCullagh Rennie
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2006 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright © der Neuausgabe 2005 dotbooks GmbH, München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Paul Raven, Leah-Anne Thompson, MD Tanjid Hossen, Akif CUBUK
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)
ISBN 978-3-98952-939-7
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Anne McCullagh Rennie
Im Land des Schnee-Eukalyptus
Australienroman
Aus dem Englischen von Karin Dufner
dotbooks.
Widmung
Die Legende vom Schnee-Eukalyptus
Teil 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Teil 2
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Danksagung
Lesetipps
Für Jim, Patsy und Ellie, in Liebe
Die Legende besagt, dass zwei Menschen, die sich unter einem Schnee-Eukalyptusbaum küssen und sich unter seinen mit Schnee beladenen Ästen in den Armen liegen, eine Liebe erleben werden, die stärker und leidenschaftlicher ist als alles andere auf der Welt. Diese Liebe kann angesichts widriger Umstände aber in Sekundenschnelle erkalten wie die kristallklaren Eiszapfen, die an den Zweigen des Schnee-Eukalyptus hängen, oder in der Frühlingswärme schmelzen. Unter einem Schnee-Eukalyptus geküsst zu werden verheißt eine Liebe in ihrer reinsten und schmerzlichsten Form zugleich. Nur durch unbeschreibliche Opfer werden die Liebenden gemeinsam ihren Frieden finden.
Die siebzehnjährige Kylie Harris wusste genau, dass die Zeit eigentlich nicht mehr für eine weitere Abfahrt reichte, bevor an diesem klarkalten Wintermorgen der Schulbus kam. Außerdem würde ihre Mutter ihr sicher verbieten, morgen am Lyrebird Cup teilzunehmen – einem Skirennen, das Kylie unbedingt gewinnen wollte –, wenn sie hörte, dass ihre Tochter zu den Jahresabschlussprüfungen zu spät gekommen war. Doch Kylie konnte einfach nicht anders. Dreimal war sie nun schon an Murphy’s Turn, der letzten scharfen Kurve der Strecke, gestürzt. Sie musste einfach noch üben.
Gerade lugte die Sonne über die schneebedeckten Gipfel von Victorias Snowy Mountains, als Kylie, mit Skiern, Stöcken und Schultasche bewaffnet, aus dem Umkleideraum der Sunburst Lodge schlich. Zitternd schloss sie den Reißverschluss ihrer lila und weiß gemusterten Skijacke, eines Erbstücks ihrer älteren Schwester Gwyneth. Dann zupfte sie die enganliegende schwarze Skihose zurecht, auf die sie sechs Monate lang gespart hatte und die ihre Mutter viel zu gewagt fand, und machte sich mit leise knirschenden Schritten auf den Weg die Straße hinunter. Mit schuldbewusst klopfendem Herzen schnallte sie die Skier an, schlüpfte in ihre Handschuhe, stülpte das Stirnband über ihren wilden, leuchtend roten Lockenschopf und schulterte die Schultasche. Dann vergewisserte sie sich mit einem raschen Blick rückwärts, dass alle im Haus noch schliefen, griff nach ihren Skistöcken und machte sich auf den Weg zum Sessellift, der sie den Koala Bowl hinauf zur Piste bringen würde.
Mit zwei Jahren hatte Kylie zum ersten Mal auf Skiern gestanden, doch ihre wahre Leidenschaft für diesen Sport hatte sich erst gezeigt, als Geoff und Susan Harris vor acht Jahren die Sunburst Lodge im Herzen des Skigebiets Lyrebird Falls gekauft hatten. Angefeuert von ihren Eltern, beide selbst gute Skifahrer, hatte sie ihr Naturtalent entdeckt und rasch die ersten Preise gewonnen. Der prestigeträchtige Lyrebird Cup war die einzige Trophäe ihrer Altersklasse, die Kylie noch nicht im Regal stehen hatte.
Dieses Jahr war ihre letzte Gelegenheit, sich an diesem Wettkampf zu beteiligen, und sie war überzeugt, dass dieser international anerkannte Preis ihr die Türen zu den besten ausländischen Skikaderschmieden öffnen würde. Sobald sie genug Geld für das Flugticket gespart hatte, wollte sie sich bewerben. Für die begeisterungsfähige Kylie, die keine falsche Scheu kannte, bedeutete der Lyrebird Cup den ersten Schritt hin zur Verwirklichung ihres Traums, einmal als Skilehrerin die Reichen und Berühmten zu unterrichten.
Als Kylie den Sessellift erreichte, hatte sie sich erfolgreich eingeredet, dass es ihr gelingen würde, ihren Dad um den Finger zu wickeln, falls es wirklich zum Schlimmsten kam und sie den Bus verpasste. Sie hatte nicht nur die Abenteuerlust und die Furchtlosigkeit auf der Piste von ihm geerbt, sondern wusste auch, wie stolz er auf ihre Leistungen im Skisport war. Dad verstand, wie viel es ihr bedeutete, den Lyrebird Cup zu gewinnen. Außerdem hatte sie von ihm gelernt, dass man im Leben manchmal auch ein Risiko eingehen musste. Und heute war eben so ein Tag.
In letzter Zeit war ihre Mutter ohnehin viel zu sehr mit den Vorbereitungen für Gwyneths Hochzeit beschäftigt, um zu bemerken, was Kylie trieb. Gestern Abend zum Beispiel war über nichts anderes gesprochen worden. Während ihr Dad überlegte, wo man die vielen Autos der Gäste unterbringen sollte, hatten Gwyn und Susan die Feier so lange in sämtlichen langweiligen Einzelheiten durchgekaut, bis Kylie am liebsten losgeschrien hätte, denn Spaß und Romantik würden bei dieser Hochzeit offenbar auf der Strecke bleiben.
Aber sie hatte geschwiegen, weil sie ihrer Schwester den großen Tag nicht verderben wollte. Zudem hatte sie gehofft, dass es über der Erörterung der Hochzeitspläne sehr spät werden würde. Wenn am nächsten Morgen alle tief und fest schliefen, würde nämlich niemand bemerken, dass sie sich vor der Schule aus dem Haus schlich. Als sie sich vorhin am Schlafzimmer ihrer Eltern vorbeigepirscht hatte, war kein Mucks zu hören gewesen.
Tom Wickham, der Skiliftmechaniker, war schon auf den Beinen, um die Lifts wie jeden Tag auf Eisablagerungen und technische Probleme zu untersuchen. Er begrüßte Kylie mit einem fröhlichen Grinsen.
»Ein bisschen früh, um die Milchkannen einzusammeln«, meinte er lachend.
»Ich weiß. Ich habe nur gehofft... Bitte, Tom, darf ich jetzt gleich rauffahren? Ich möchte noch einmal auf der Slalomstrecke trainieren und weiß wegen der Prüfungen nicht, ob ich es heute Nachmittag noch schaffe.« Sie schenkte ihm einen schmachtenden Blick aus grünen Augen.
Tom überlegte. Er wusste, wie verzweifelt Kylie den Lyrebird Cup gewinnen wollte.
»Also los«, erwiderte er schmunzelnd.
Er gab seinen Kollegen oben am Gipfel per Funk Bescheid und drückte dann auf einen Knopf, sodass sich die Gondeln langsam in Bewegung setzten.
»Sei aber vorsichtig da oben. Die Piste ist ziemlich vereist.« »Du bist der Größte!«, rief Kylie lächelnd aus.
Rasch nahm sie ihre Schultasche ab und reichte sie Tom mit dankbarer Miene. Dann glitt sie auf Skiern durch die Schranke und nahm im Sessellift Platz.
»Das werde ich dir nie vergessen«, sagte sie, während sie den Sicherheitsbügel vorlegte.
Kylies schlechtes Gewissen war wie weggeblasen, und Begeisterung ergriff sie, als der Sessellift sie rasch den Berghang hinauftrug. Der Weg zum Gipfel dauerte zehn Minuten.
Wenn sie sofort losfuhr, würde sie die Abfahrt zweimal zurücklegen können und den Schulbus trotzdem noch erwischen. Wie immer von Ehrfurcht ergriffen, ließ sie die Schönheit der schneebedeckten Berge auf sich wirken.
Unter ihr kam die große Bergstation von Lyrebird Falls in Sicht. Die Skiständer waren noch leer, die Gebäude lagen schweigend da. Auf der anderen Seite erkannte sie die verkrüppelten Eukalyptusbäume, die, in zarten Dunst gehüllt und die gefrorenen Äste von einer dünnen Schneeschicht überzuckert, die breiten Pisten säumten. Sie warfen lange blaue Schattenfinger über die jungfräulichen Pisten, wo nur hin und wieder ein Felsbrocken durch die Schneedecke ragte. Unten am Hang standen Schneekanonen bereit, um auf Knopfdruck Schneefontänen zu produzieren.
Kylies Augen funkelten vor Vorfreude, als der Sessellift den Gipfel erreichte. Hier war der Schnee in die rosigen Strahlen der ersten Morgensonne getaucht, und der Zauber von Lyrebird Falls war überall zu spüren: das Schweigen, die Einsamkeit, die frische Brise, die ihr die Wangen rötete, und die Herausforderung, welche die Piste für sie bedeutete.
Nachdem Kylie ihre Skibrille aufgesetzt hatte, glitt sie hinüber zum Koala Bowl, wo die Slalomstrecke begann. Die Piste war windgeschützt, wurde den größten Teil des Tages über von der Sonne beschienen und bedeutete gleichzeitig ein Vergnügen und eine Herausforderung, da sich hier häufig Eisplatten bildeten, wenn der angetaute Schnee nachts wieder gefror. Heute war die Piste ausgesprochen gut gepflegt, allerdings nach der kalten Nacht mit einer gefrorenen Kruste bedeckt und von vereisten Stellen durchzogen.
Ein junger Mann, der die lila und grüne Uniform der Pistenmitarbeiter trug, war gerade dabei, Slalomstangen einzustecken, und winkte Kylie zu. Sie erwiderte den Gruß und fuhr hinüber zum Start, einem aufgeschütteten Schneehügel. Oben am steilen Hang stehend, blickte sie den Berg hinunter, und ihr Herz begann zu schlagen. Dann stellte sie die Stoppuhr ein und fuhr los. Mit gebeugten Knien und parallel stehenden Skiern raste sie im Zickzackkurs den Hang hinab und hinterließ dabei die erste Spur des Tages im Schnee. Sie wurde schneller, grub beim Fahren die Kanten in den Hang und genoss den Rausch von Rhythmus und Geschwindigkeit.
Die ersten beiden Kurven bedeuteten keine Schwierigkeit, und der Schnee lag knirschend und fest unter ihren Skiern. Bei der nächsten Kurve jedoch hätte sie fast das Gleichgewicht verloren, da die Skier auf einer Eisplatte ins Rutschen gerieten. Erschrocken nahm sie die nächste Kurve ein wenig langsamer, legte dann eine steile, aber ziemlich einfache Strecke auf einem breiteren Stück Piste zurück, überwand mühelos die folgende Kurve und steuerte dann auf Murphy’s Turn zu.
Kylie zwang sich zur Ruhe, als sie ihre Strategie noch einmal in Gedanken durchging, das Gewicht verlagerte und die Knie tiefer beugte. Fast hatte sie es geschafft. Ihr Herz klopfte vor Begeisterung, und all ihre Aufmerksamkeit galt der Strecke. Diesmal würde es klappen! Gerade als sie schon dachte, die heikle Kurve überwunden zu haben, spürte sie, wie ihr der äußere Ski wegrutschte und sie das Gleichgewicht verlor. Kylie kippte zur Seite, schlitterte über die vereiste Fläche und verlor den linken Ski. In beängstigender Geschwindigkeit rutschte sie bergab. Verzweifelt versuchte sie, sich an den Aufschüttungen am Pistenrand festzuhalten. Doch ihre behandschuhten Hände griffen ins Leere, als sie schneller und schneller die Piste hinabglitt. Auch der zweite Ski wurde ihr vom Stiefel gerissen, und die Skistöcke rissen ihr im Fallen von den Handgelenken.
Kylie wurde von Panik ergriffen; sie konnte nichts tun, um ihrer rasenden Fahrt Einhalt zu gebieten. Eine schiere Ewigkeit purzelte sie den Berg hinunter. Dann endlich wurde der Schnee weicher. Gerade war ihr klar geworden, dass sie nun doch nicht würde sterben müssen, als sie in einen gewaltigen Schneehaufen geschleudert wurde und den Stamm eines hohen Eukalyptusbaums nur knapp verfehlte. Ein stechender Schmerz fuhr ihr durchs rechte Knie.
Eine Weile lag sie, reglos und zitternd vor Erleichterung, da. Sie versuchte vorsichtig aufzustehen, musste sich aber wegen der Schmerzen sofort wieder unfreiwillig hinsetzen. Sie rieb sich das Knie und unternahm einen zweiten Anlauf. Diesmal tat es nicht ganz so weh. Kylie drängte die Tränen der Wut und Enttäuschung zurück und klopfte sich den Schnee von der Jacke. Dann blickte sie den Hang hinauf. Ihre Skier und Stöcke waren als dunkle Flecke auf der Piste zu erkennen.
Langsam und unter Schmerzen trottete sie den Berg hinauf, um ihre Ausrüstung einzusammeln, und wischte sich dabei immer wieder die Tränen weg. Wenn sie morgen auch so miserabel fuhr, brauchte sie gar nicht erst anzutreten – sofern sie überhaupt fahren konnte! Sie hätte sich ohrfeigen können, als sie wieder die Skier umschnallte und nach den Stöcken griff. Nach dem Sturz steckte ihr der Schreck noch in den Gliedern.
Noch nie hatte Kylie sich so hilflos gefühlt; ihr Selbstbewusstsein hatte einen herben Schlag erlitten. Vorsichtig fuhr sie zwischen den Bäumen hindurch zurück zum Sessellift. Sie fragte sich, ob sie die Strecke überhaupt ein zweites Mal fahren wollte. Wenigstens ließen die Schmerzen in ihrem Knie allmählich nach. Als sie bemerkte, dass die Zeit allmählich knapp wurde, beschleunigte sie und fuhr weiter, das Gewicht auf das unversehrte Knie verlagert. Die Bäume warfen bläuliche Schatten in den Schnee und die sand- und orangefarbene Rinde der knorrigen Äste schien ihr zuzuwinken.
Gerade setzte sie zur letzten Abfahrt an, als ein anderer Skifahrer, eine Schneewolke aufwirbelnd, von der Seite herangeschossen kam. Fast wäre er ihr über die Skier gefahren, und Kylie staubte der Schnee ins Gesicht.
»Pass doch auf, du Idiot!«, schrie sie und wich ihm aus.
»Wie geht es der Königin der Berge denn heute?«, erwiderte eine Stimme.
Kylies Herz setzte einen Schlag aus. Sie drehte sich um und blickte in die warmen blauen Augen von Danno O’Keefe, dem dreiundzwanzigjährigen Sohn von Norman und Molly. Die O’Keefes besaßen die größte Pension in Lyrebird Falls, zwei weitere, gut gelegene Lokale im Tal und außerdem noch ein florierendes Hotel in einem beliebten Badeort im Süden.
»Wolltest du mich umfahren, Danno?«, schimpfte Kylie und errötete. Sie hoffte inständig, dass er ihren Sturz von vorhin nicht beobachtet hatte.
»Das war nur die Rache«, gab Danno zurück, womit er auf einen Zwischenfall vor zwei Tagen anspielte, als Kylie in ihn und eine Gruppe von Freunden hineingefahren war, die vor einem der Sessellifte Schlange standen.
Kylie errötete noch heftiger.
»Das war doch keine Absicht. Außerdem war es als Kunststück ziemlich beachtlich«, entgegnete sie.
Das Herz klopfte ihr immer noch bis zum Hals, und sie wünschte, sie hätte sich in Dannos Gegenwart nicht immer wie ein kleines Mädchen gefühlt.
»Ich würde an deiner Stelle heute einen Bogen um mich machen. Es hat mich nämlich gerade draußen auf der Slalomstrecke zerlegt.«
Als sie ihn ansah, war sie zwischen dem Wunsch, in seiner Nähe zu bleiben, und dem Wissen, dass sie sich beeilen musste, um den Schulbus zu erwischen, hin und her gerissen.
»Ich habe noch Zeit für eine Abfahrt. Kommst du mit?«, fragte sie und bereute schon im nächsten Moment ihre Voreiligkeit. Schließlich sollte Danno – in ihren Augen der bestaussehende Mann der Gegend – nicht Zeuge werden, wie sie sich erneut blamierte.
»Ich würde gern, aber eigentlich werde ich auf der anderen Seite des Berges erwartet«, antwortete Danno. »Wer zuerst am Sessellift ist!« – »Die Wette gilt!«
Kylie raste den Hang hinunter. Der Fahrtwind und Dannos Gegenwart erfüllten sie mit wilder Freude. Sie hörte dicht hinter sich, wie seine Skier über die Eiskruste schabten. Fest entschlossen, sich nicht einholen zu lassen, beugte sie die Knie, ohne auf die Schmerzen zu achten, und setzte die rasche Talfahrt fort. Als sie in raschen Schwüngen über die Bodenwellen preschte, konnte sie fast seinen Atem im Ohr hören.
Im nächsten Moment sah sie aus dem Augenwinkel, wie er an ihr vorbeizischte. Das wirkliche Rennen begann, und sie sausten Kopf an Kopf dahin. Einmal gewann der eine, dann wieder der andere einen geringen Vorsprung. Tief vornübergebeugt, suchte Kylie sich die steilsten Stellen aus, um noch schneller zu werden.
Die Talstation des Sessellifts kam in Sicht. In letzter Sekunde schwang Kylie nach rechts, wobei sie fast mit dem Ski an einem hervorstehenden Felsen hängen blieb, duckte sich unter einigen überhängenden Zweigen durch und flitzte durch ein kleines Wäldchen. Als sie, überzeugt, das Rennen gewonnen zu haben, auf der anderen Seite herauskam, hatte Danno zu ihrer Überraschung das Ziel fast erreicht. Lachend vor Begeisterung und ganz im Geschwindigkeitsrausch versunken, legte Kylie den Rest der Strecke zurück, schwang herum und blieb dicht vor Danno stehen, sodass der Schnee hochspritzte.
»Das war Spitze!«, rief sie aus. Ihre Wangen waren gerötet, ihre grünen Augen funkelten.
»Nicht schlecht. Wenn du so weitermachst, wirst du morgen ganz bestimmt die Königin der Berge«, erwiderte Danno, dessen Gesicht ebenso gerötet war.
Kylie streckte ihm die Zunge heraus und versetzte ihm einen Schubs.
»Hey, das war ernst gemeint!«, rief Danno, der beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.
Kurz trafen sich ihre Blicke, und ein ernster Ausdruck trat in seine Augen. Er fragte sich, ob sich wohl jeder in ihrer Gegenwart so wohl fühlte, wie er es tat. Er sah auf die Uhr. »Jetzt muss ich aber los, bevor ich gefeuert werde. Bis morgen.« Er winkte ihr zu und war verschwunden.
Kylie blickte ihm nach, wie er auf seinen Skiern davonfuhr, und bemerkte plötzlich, dass ihr die Beine zitterten. Mehr denn je fest dazu entschlossen, sich nicht vom Berg kleinkriegen zu lassen, betrachtete sie lächelnd die menschenleere Piste.
Inzwischen erwachte der Berg. Leute schlenderten umher. Der Sessellift brachte Lebensmittel hinauf zu den Restaurants am Hang, und Pistenraupen, beladen mit orangefarbenen Transportcontainern, sausten über den Schnee. Tom war nirgendwo zu sehen, doch der Mann am Lift kannte Kylie und ließ sie, auf einer Palette mit Brot sitzend, mitfahren. Nachdem sie es sich bequem gemacht hatte, versuchte sie, nur ans Skifahren zu denken. Doch Danno wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf.
Danno war in der fünften Klasse gewesen, als die damals erst neunjährige Kylie nach Lyrebird Falls gekommen war. Deswegen hatten sich ihre Wege erst vor zwei Sommern zum ersten Mal gekreuzt. Kylie hatte einen Spaziergang gemacht, während er damit beschäftigt gewesen war, umgestürzte Baumstümpfe und abgefallene Äste zu Brennholz zu zerhacken. Nie würde sie den Blick aus seinen mittsommernachtsblauen Augen vergessen, der sich kurz auf sie gerichtet hatte – genauso wie heute. Zu ihrer Überraschung hatte sie ein angenehmes Prickeln überlaufen, und ihr war ganz flau im Magen geworden. Als er sie angrinste, hätte sie alles für ihn getan.
Noch gut erinnerte sie sich daran, wie schön es gewesen war, auf einem alten Baumstumpf zu sitzen und ihm zuzusehen, wie er die Axt schwang. Die Muskeln seiner nackten Brust spielten, als er die dicken Holzscheite zerkleinerte. Während sie ihm geholfen hatte, das Holz auf seinen Pickup zu laden, hatte er sie gelobt, was für eine gute Skifahrerin sie sei.
Für Kylie glich dieser Nachmittag einem Rendezvous. Eigentlich hatte sie immer auf diejenigen unter ihren Schulfreundinnen herabgesehen, die sich in ältere Jungen verliebten, doch nach diesem einen Blick war es um sie geschehen gewesen.
Noch immer hätte sie vor Scham im Boden versinken können, wenn sie daran dachte, wie sie in jenem Sommer und Herbst jede Gelegenheit ergriffen hatte, um sich an Dannos Fersen zu heften. Sie hatte sich erboten, ihm Erledigungen abzunehmen, und dabei die ganze Zeit gehofft, er würde auch nur einen winzigen Funken Interesse an ihr zeigen. Überzeugt, dass ihre Gefühle für ihn ihr im Gesicht geschrieben standen, war Kylie erstaunt, dass ihre Freundinnen nicht nur darauf verzichteten, sie damit aufzuziehen, sondern ihre Schwärmerei überhaupt nicht zu bemerken schienen.
Der Schock kam, als Danno schließlich mit Gwyneth ausging, der zierlichen, blonden, spießigen Gwyneth, die immer wieder unverschämt gutaussehende Männer anzog. Kylie war sicher, an gebrochenem Herzen und Eifersucht sterben zu müssen, doch zu ihrer großen Erleichterung war schon nach drei Monaten Schluss zwischen den beiden gewesen. Währenddessen traf Kylie sich mit einem anderen Jungen, der dem Alter nach besser zu ihr passte. Allerdings ließ die Anziehungskraft, die Danno auf sie ausübte, einfach nicht nach, sosehr Kylie sich auch Mühe gab, einfach nicht mehr an ihn zu denken.
Erstaunlicherweise hatte die Liebesbeziehung zwischen Gwyn und Danno Kylies Verhältnis zu ihrer Schwester nicht trüben können. Erstens standen sie sich ohnehin nicht sehr nah, und zweitens war Kylie Realistin genug, um zu wissen, dass Danno sie nie in die engere Wahl gezogen hatte. Niemals hatte er ihr Grund zu der Annahme gegeben, dass er mehr in ihr sah als eine gute Skifahrerin und Gwyns kleine Schwester. Vermutlich hätte er sie ohne ihr Talent auf der Piste gar nicht wahrgenommen.
Danno hatte ein Lächeln, das die Welt erhellte. Außerdem konnte er inzwischen eine ganze Reihe von Exfreundinnen vorweisen, mit denen er nach der Trennung zumeist ein kumpelhaftes Verhältnis pflegte. Ein geflügeltes Wort im Tal besagte, dass ein Mädchen entweder Dannos aktuelle Flamme war oder zum Fanclub seiner Verflossenen gehörte.
»Mit mir nicht, mein Junge«, murmelte Kylie entschlossen, als sie oben am Gipfel ankam.
Sie versuchte, Danno aus ihren Gedanken zu verbannen, und sagte sich, dass sie es schon schaffen würde, wenn sie den Slalom diesmal langsamer anging. Das Knie zwickte nur noch hin und wieder. Kylie überquerte ihre alte Spur, und ihr war beim Gedanken, die Strecke noch einmal zu fahren, schon weit weniger mulmig.
Dem Zauber der gefrorenen Welt rings um sich erlegen, blickte sie sich um. Eukalyptusbäume wölbten sich über ihr. Das Sonnenlicht strömte gefiltert durch ihre Blätter und tanzte auf dem Schnee zu ihren Wurzeln. Kylie spähte hinauf zu zwei knorrigen alten Bäumen, die in den Himmel ragten, sodass sich ihre Äste sanft berührten. Versunken in das tiefe Schweigen, lauschte sie der Stille. Dann ließ sie die behandschuhte Hand sanft über die seidig schimmernde Rinde eines dicken Astes gleiten und dachte an die Legende vom Schnee-Eukalyptus, die ihre Großmutter ihr einmal erzählt hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war.
Natürlich waren solche Geschichten, wenn man ihrer Mutter glauben konnte, blanker Unsinn. Und trotzdem malte Kylie sich aus, wie es wohl war, unter den Ästen dieser alten Bäume geküsst zu werden. Geliebt zu werden und diese Liebe so leidenschaftlich zu erwidern, dass man bereit war, alles für einen Menschen zu tun ... Ein Schauder durchlief sie, während sie sich vorstellte, wie es wohl sein mochte, Danno zu küssen. Der Gedanke schnürte ihr die Kehle zu.
»Bäume tanzen nicht«, sagte sie streng und riss sich, peinlich berührt von ihrer eigenen Sentimentalität, aus ihren Tagträumen. Sie vergeudete wertvolle Zeit, obwohl sie doch eigentlich trainieren sollte. Dennoch blieb die Sehnsucht, als sie hinaus ins Sonnenlicht und in Richtung Piste fuhr.
Nach einem schnellen Start setzte Kylie die Abfahrt in gemächlicherem Tempo fort, nahm die Kurven langsamer und hielt dabei stets Ausschau nach Eisplatten. Sie bremste ab, wo sie vorher beschleunigt hätte, denn das Wichtigste war, ohne Sturz die Ziellinie zu überqueren. Inzwischen begann das Eis allmählich in der Sonne zu tauen, und mit jeder Kurve wuchs Kylies Zuversicht.
Mühelos überwand sie die breite Piste und schaffte auch Murphy’s Turn ohne Zwischenfall. Obwohl sie bei ihrer Ankunft an der Ziellinie am ganzen Leibe zitterte, war sie froh, sich selbst bewiesen zu haben, dass sie die Abfahrt problemlos meistern konnte. Allerdings bereitete ihr der Lyrebird Cup weiterhin Kopfzerbrechen. Ihr Knie meldete sich schmerzhaft, und ihre Zeit war eine Katastrophe gewesen.
Kylie hastete zum Sessellift, nahm rasch die Skier ab, schlüpfte eilig aus den Skisachen und zog den Schulpullover über das Trikot. Nachdem sie ihre Ausrüstung wie üblich in der Werkstatt abgestellt hatte, rannte sie zum Parkplatz, so schnell ihr Knie es gestattete.
Der letzte Bus fuhr gerade ab. Winkend und rufend lief sie ihm nach und schaffte es in letzter Minute, an Bord zu springen. Hochrot im Gesicht, ihre Tasche umklammernd und mit wild zerzaustem Haar, ließ sie sich mit einem erleichterten Aufseufzen auf ihren Platz fallen. Plötzlich war ihr schrecklich heiß.
Am Samstagmorgen war es sonnig und kalt. Gegen zehn Uhr zogen tiefhängende Schneewolken über die Berggipfel heran, und der Wind frischte auf. Wegen der ungewöhnlichen Wärme am Vortag war der Schnee angetaut und hatte sich vielerorts in Matsch verwandelt. Über Nacht war er wieder gefroren und bildete nun eine harte, verkrustete Fläche. Die Pisten waren an manchen Stellen gefährlich, denn häufig bedeckten Eisplatten die dünne Schneeschicht, unter der sich hin und wieder Felsbrocken verbargen. Die Slalomstrecke bedeutete heute eine sicher noch größere Herausforderung als am Tag zuvor.
Im warmen Umkleideraum der Pension zog Kylie die Skisachen an. Ihr Knie brannte von der Sportsalbe, die sie einmassiert hatte, und außerdem hatte sie Schmetterlinge im Bauch. Als sie vor das Gebäude trat, wehte ihr zu ihrem Entsetzen ein eisiger Wind ins Gesicht. Das waren absolut nicht die Bedingungen, die sie sich für dieses Rennen gewünscht hatte. Dennoch war sie wenigstens in der Lage, daran teilzunehmen.
Nach einem heißen Bad, einer Dosis Sportsalbe und einer geruhsamen Nacht schmerzte ihr Knie heute schon viel weniger als gestern. Den Kopf gegen den Wind gesenkt, machte Kylie sich auf den Weg, um sich auf einem flachen Hang ein bisschen aufzuwärmen. Sie war froh, draußen im Freien und so den Spannungen im Haus entronnen zu sein.
Der Tag von Gwyns Hochzeit näherte sich mit beängstigender Geschwindigkeit, und ihre Mutter hatte für nichts anderes mehr Augen. Außerdem hatte sie, wie Kylie vermutete, inzwischen erfahren, dass sie gestern zwanzig Minuten zu spät zur ersten Prüfung gekommen war, auch wenn sie kein Wort darüber verlor.
Der Startschuss zum Lyrebird Cup sollte um zwölf Uhr mittags fallen. Um elf Uhr hatten sich die fünfzig Teilnehmer, die aus dem gesamten Bezirk stammten, im eisigen Wind versammelt und warteten mit blaugefrorenen Gesichtern, bis sie an der Reihe waren. Ihre Startnummern flatterten im Wind.
Kylie trug die Nummer 48. Sie spürte den Blick von Dave Jenson auf sich, dem einzigen Teilnehmer, den sie als ernsthafte Konkurrenz empfand. Dave war ein gefährlicher und nicht aus der Ruhe zu bringender Gegner und hatte den Lyrebird Cup die letzten drei Jahre in Folge gewonnen, obwohl er Kylie in anderen Jugendwettbewerben bereits unterlegen war. Auch ein verrenktes Knie in der letzten Saison hatte ihn nicht aufhalten können.
Fröhlich winkte Kylie ihm zu, um ihre eigene Nervosität zu verbergen. Das Rumoren in ihrem Magen steigerte sich, während sie sich bemühte, nicht auf die innere Stimme zu hören, die ihr zurief, besser umzukehren und davonzulaufen, anstatt sich mit einem pochenden Knie auf dieses Rennen einzulassen, die Erinnerung an den gestrigen Sturz noch so frisch im Gedächtnis. Sie hielt sich stattdessen entschlossen vor Augen, dass sie es schaffen würde, während die übrigen Teilnehmer, einer nach dem anderen, die Piste hinunterrasten.
»Wie geht es dir, Kleines? Was macht das Knie?«
Kylie zuckte zusammen, als ihr Vater, ein Walkie-Talkie in der Hand, auf sie zukam.
»Gut«, log sie tapfer und lächelte ihn an. »Schön, dass du gekommen bist, Dad.«
»Hast du geglaubt, ich lasse mir dieses Ereignis entgehen? Deine Mum wollte eigentlich auch hier sein, aber dann gab es ein Problem wegen der Reservierungen.« Geoff tätschelte ihr den Arm.
Während er in sein Funkgerät sprach, bemerkte er, wie ein enttäuschter Ausdruck über Kylies Gesicht huschte, als er ihre Mutter erwähnte. Er wünschte, Susan hätte versucht, sich die Zeit zu nehmen und den Streit wegen Kylies Teilnahme am Rennen zu vergessen. So überreizt war sie wegen Gwyn und dieser albernen Hochzeit, dass sie außer sich geraten war, als sie von Kylies Zuspätkommen zur Prüfung erfuhr. Geoff hatte seine ganzen Überredungskünste aufbringen müssen, um zu verhindern, dass sie ihrer Tochter verbot, überhaupt anzutreten. Obwohl Geoff froh war, sich durchgesetzt zu haben, fand er, dass man sich diese Debatte auch hätte sparen können.
In den letzten Monaten war es ohnehin zu vielen Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen gekommen, und zwar meistens wegen der Sunburst Lodge. Geoff liebte das Haus ebenso wie Kylie, wusste jedoch, dass es ein finanzielles Risiko gewesen war, es zu kaufen. Inzwischen schmolzen die finanziellen Rücklagen der Familie in beängstigender Geschwindigkeit dahin. Und da Gwyns Hochzeit weitere Kosten verursachen würde, fragte Geoff sich inzwischen, wie sie die Schulden je abtragen sollten.
»Nein, das würde ich mir nie entgehen lassen«, wiederholte er und zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder seiner Tochter zu schenken. »Mach sie alle fertig, Kleines. Du schaffst es.«
Nachdem er Kylie noch einmal liebevoll zugelächelt hatte, kehrte er an seinen Posten an der Rennstrecke zurück.
Kylie bückte sich, um zum letzten Mal ihren Skistiefel zu überprüfen. Sie wünschte sich, sie hätte seine Zuversicht teilen können. Als sie sich wieder aufrichtete, nahm das verkrampfte Gefühl in ihrem Magen zu. Um das Maß vollzumachen, wurde die Nummer 44 mit Verdacht auf Schlüsselbeinbruch in einem Rettungsschlitten abtransportiert. Außerdem hatte es zu schneien begonnen.
Die Sicht nahm rapide ab, und die Veranstalter spielten mit dem Gedanken, das Rennen abzubrechen. Als die Nummer 45 von der Startrampe ging, bekam Kylie weiche Knie, und ihr ohnehin schon wackeliges Selbstbewusstsein schwand vollends. Sie rückte ihre Skibrille zurecht und hätte sich fast den Kopf an Danno O’Keefes Klemmbrett gestoßen.
»Entschuldige«, stammelte sie und blickte auf. Warum musste sie nur jedes Mal rot anlaufen, wenn sie ihm begegnete?
»Nummer 48, Kylie Harris. Ach, da bist du ja!«, neckte er sie und inspizierte sein Klemmbrett auf Beschädigungen. »Viel Glück«, fügte er leise hinzu. »Und pass auf die fiesen vereisten Stellen auf.«
Kylie nickte steif und versuchte, sich auf das Rennen zu konzentrieren. Mit zitternden Fingern umklammerte sie ihre Stöcke, während Danno ihren Namen auf seiner Liste ankreuzte. Ihr Mund war ganz trocken. Als die Nummer 46 den Hang hinunterraste, ging sie zum Start. Die Piste wirkte auf einmal unbeschreiblich steil, und der Starthügel hatte sich seit gestern bestimmt einen guten Meter erhöht. Die Nummer 47 trat vor und war sofort den Blicken entschwunden. Kylie hörte das Blut in ihren Ohren brausen. Und dann war sie an der Reihe. Der Starter rief »Los!«.
Kylie machte einen Satz auf die Piste, lenkte ihre Skier an den Stangen vorbei und nahm das Rennen gegen die Uhr auf. Beinahe hätte sie das zweite Stangenpaar verpasst und dadurch wertvolle Sekunden verloren. Die Sicht wurde immer schlechter. Inzwischen peitschte der Schnee gegen ihre Schutzbrille, sodass sie bei der dritten Kurve nur noch eine weiße Masse vor Augen hatte. Kylie hatte keine Ahnung, wohin sie fuhr. Die verdankte es nur den grell orangefarbenen Stangen und der Tatsache, dass sie die Piste gut kannte, dass sie nicht die Orientierung verlor. Der starke Gegenwind bremste sie, und ihre Fingerspitzen in den Handschuhen waren steif vor Kälte. Vornübergebeugt fuhr sie weiter. Da sie ihr unversehrtes Bein stärker belastete, hatte sie Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten.
Plötzlich rutschte ihr der Ski weg, sodass sie gezwungen war, ihr ganzes Gewicht auf das verletzte Knie zu verlagern. Kylie biss die Zähne zusammen und unterdrückte die Schmerzen, als sie geradewegs auf Murphy’s Turn zusteuerte. Wegen ihrer Angst vor einem erneuten Sturz verlangsamte sie das Tempo und war überzeugt, wertvolle Sekunden an Dave Jenson verloren zu haben, während sie weiter durch den Schnee flitzte.
Im nächsten Moment befand sie sich im Windschatten des Berges, der Gegenwind hörte auf, und ein paar Sekunden lang ging sie völlig im magischen Rhythmus des Skifahrens auf. Am liebsten hätte sie laut aufgelacht. War sie eigentlich von allen guten Geistern verlassen, bei diesem Wetter, unter solchen Bedingungen und während eines Schneesturms einen Berg hinunterzusausen? Ach, zum Teufel. Das Rennen war ohnehin verloren, also konnte sie es wenigstens genießen!
Wieder auf der Spur und die Skier parallel gestellt, beschleunigte sie, schwang im Rhythmus, bewegte Hüften und Knie, ohne nachzudenken und fühlte sich, als wären die Bretter eine Verlängerung ihres Körpers. Die gefürchtete Kurve war überwunden, bevor sie selbst es bemerkte. In der Zielgeraden fuhr sie Schuss, raste über die kleinen Bodenwellen, die ihre Vorgänger hinterlassen hatten, sprang hoch, vollführte eine Scherenbewegung mit ihren Skiern und beendete das Ganze mit einer formvollendeten Landung.
Die Zuschauer, die tapfer den Elementen getrotzt hatten, begrüßten sie mit Jubelrufen. An der Ziellinie bremste Kylie ab, verließ schwer atmend und rasch den eingezäunten Bereich und nahm die Skier ab.
»Das war ja ein tolles Kunststück!«, gratulierte eine Freundin.
Kylie nickte. Trotz des eindeutig verlorenen Rennens hatte sie sich auf Skiern schon lange nicht mehr so wohl gefühlt. Sie drehte sich um und wurde Zeugin, wie die Nummer 49 kurz vor der Ziellinie einen spektakulären Sturz hinlegte. Der Mut verließ sie, als sie den selbstbewussten Dave Jenson auf dem letzten Hang beobachtete.
»Arroganter Mistkerl«, murmelte sie.
So gerne hätte sie ihn besiegt, auch um ihrem Vater eine Freude zu machen. Der zweite Platz genügte ihr einfach nicht. Und zu allem Überfluss hatte es – nun, da es ihr nichts mehr nützte – wieder zu schneien aufgehört, und die Sichtverhältnisse besserten sich.
Da alle sich vordrängten, um die Ergebnisse in Erfahrung zu bringen, verstand Kylie ihren eigenen Namen zunächst nicht. Im nächsten Moment jedoch hörte sie ungläubig und erstaunt, wie sie zur Siegerin des Lyrebird Cup erklärt wurde. Auf unerklärliche Weise hatte sie es geschafft, das Rennen zu gewinnen, und zwar mit einer halben Sekunde Vorsprung. Nachdem sie lockerer geworden war und nicht mehr ständig an den Sieg gedacht hatte, hatte sie die verlorene Zeit offenbar aufgeholt.
Über das ganze Gesicht strahlend, ließ sie sich von Norman O’Keefe den großen Silberpokal überreichen und hielt ihn hoch über den Kopf, damit alle Umstehenden ihn deutlich sehen konnten. Die Zuschauer jubelten, und Kylie spürte einen Kloß im Hals, als sie den stolzen Blick ihres Vaters bemerkte.
Das schmerzende Knie war vergessen. Sie wusste, diesen Moment würde sie für immer im Gedächtnis behalten.
Als sie vom Podium trat, drückte ihr Vater sie fest an sich.
»Prima gemacht, Kleines. Ich wusste immer, dass du das Zeug dazu hast.«
Kylie erwiderte die Umarmung und stellte erstaunt fest, dass ihr Vater Tränen in den Augen hatte. Und dabei weinte er sonst nie.
»Dad!«, rief sie, und dann kamen auch ihr die Tränen.
»Ich wollte unbedingt gewinnen, um dir eine Freude zu machen«, murmelte sie, das Gesicht an seine Jacke geschmiegt.
»Na ja, und das hast du auch geschafft«, erwiderte Geoff knapp, um seine Gefühle zu verbergen.
Danno kam auf sie zu.
»Glückwunsch. Offenbar bist du jetzt wirklich die Königin der Berge.» Aufrichtige Bewunderung stand in seinen Augen.
»Offenbar«, wiederholte sie, immer noch mit den Tränen kämpfend.
»Du hast es dir verdient. Was macht das Knie?«
»Woher weißt du das?«, fragte sie überrascht.
»Weil ich gestern bei unserem Wettrennen den Eindruck hatte, dass du die eine Seite stärker belastest. Habe ich Recht?«
Kylie nickte.
»Ich bin, kurz bevor du kamst, am Murphy’s Turn gestürzt. Ich dachte schon, es wäre aus mit dem Rennen und ich müsste meine Anmeldung zurückziehen.«
»Eine ganz tolle kleine Skifahrerin ist sie«, unterbrach Geoff und strahlte Kylie an.
»Das ist sie wirklich, Sir«, stimmte Danno zu.
Um ihre Verwirrung zu verbergen, versetzte Kylie ihrem Vater einen spielerischen Schubs und grinste Danno an.
»Jetzt gehe ich am besten nach Hause zu deiner Mutter«, meinte Geoff. »Trink nicht zu viel Limonade.«
Noch einmal fiel Kylie ihm um den Hals und küsste ihn auf die Wange.
»Danke, dass du gekommen bist, Dad.«
»Er ist sehr stolz auf dich«, stellte Danno fest, als Geoff davoneilte.
»Ich weiß«, sagte Kylie. Sie war überglücklich.
Im nächsten Moment wurde sie von ihren Freundinnen und vielen Fremden umringt, die ihr gratulieren wollten. Inzwischen hatte es wieder zu schneien begonnen, und dichte, weiche Flocken landeten auf ihren Haaren und Wimpern. Schöner, lockerer Pulverschnee. Als Kylie sich nach Danno umsah, war dieser verschwunden. Sie unterdrückte den Anflug von Enttäuschung und ließ sich ins Lyrebird Restaurant schleppen, wo sie sich fröhlich lachend in die Feierlichkeiten stürzte.
Alle prosteten Kylie laut mit Bier und Champagner zu, und sie genoss ihren Triumph. Selbst Dave Jenson kam auf sie zu, um sie zu beglückwünschen. Ein wenig beschwipst und ihren kostbaren Pokal umklammernd, machte sie sich schließlich auf den Heimweg, um sich für die abendlichen Festivitäten umzuziehen.
Übersprudelnd vor Begeisterung, schleuderte Kylie ihre Skisachen in die Ecke und eilte barfuß ins Wohnzimmer. Doch schon im nächsten Moment blieb sie ruckartig stehen, als hätte ihr jemand einen Eimer kaltes Wasser übergeschüttet: Ihre Mutter saß mit kreidebleichem Gesicht da und wiegte eine schluchzende Gwyn in den Armen.
»Wie war es, Liebes?«, fragte Susan mit einem gezwungenen Lächeln.
Dann bemerkte sie den Pokal.
»Ach, du hast gewonnen. Gut gemacht!«
Aber selbst in ihren eigenen Ohren klang das ziemlich gekünstelt.
»Was ist denn passiert?«, fragte Kylie, stellte die Trophäe weg und lief auf Mutter und Schwester zu.
»Deine Schwester ...«, begann Susan, wischte die Tränen weg, die ihr die Wangen hinunterliefen, und drückte Gwyn fester an sich.
Gwyn hob den Kopf. Ihr Gesicht war fleckig, ihr Haar zerzaust. Kylie starrte sie entgeistert an. Gwyn war doch sonst immer so ordentlich und gepflegt und ließ sich ihre Gefühle nie anmerken.
»Es ist vorbei«, schluchzte sie. »Die Hochzeit fällt aus.«
Mit zuckenden Schultern vergrub sie das Gesicht wieder an der Brust ihrer Mutter. Doch zwei Sekunden später hob sie wieder den Kopf, und ihre Augen blitzten zornig.
»Er hat eine Affäre. Welcher Mensch fängt einen Monat vor der Hochzeit eine Affäre mit der besten Freundin seiner Verlobten an? Wie kann man nur so gemein sein?«
Gwyn bekam Schluckauf, als sie von weiteren Schluchzern geschüttelt wurde.
Susan, die Lippen finster zusammengepresst, drückte ihre weinende Tochter an sich. Schließlich machte sie sich los und zwang Gwyn, sich aufzurichten.
»Liebes, du musst jetzt ganz tapfer sein. Sei froh, dass du schon vor der Hochzeit dahintergekommen bist und nicht erst danach.«
Mit einem lauten Aufseufzen tupfte sie Gwyn die Augen ab. Musste in dieser Familie denn immer ein Problem das andere jagen? Dass Kylie den Pokal gewonnen hatte, war der einzige Lichtblick in dieser Woche. Und sie, Susan, hatte nicht nur durch Abwesenheit geglänzt, sondern den Triumph in ihrer Wut über die fast versäumte Prüfung sogar beinahe verhindert. Nun bereute sie es bitterlich, nicht beim Rennen gewesen zu sein.
»Hast du deinen Namen eingravieren lassen, Liebes?«, fragte sie, stand auf und wendete sich kurz von Gwyn ab, um die Trophäe zu besichtigen.
»Ja«, antwortete Kylie leise.
»Ich glaube, ich nehme ein Bad«, meinte Gwyn und zog die Nase hoch.
Dann wischte sie sich die kornblumenblauen Augen, die groß in ihrem hübschen zarten Gesichtchen leuchteten. Sie war zierlich, hatte kurzes, gewelltes blondes Haar und sah sogar in ihrem Unglück wunderschön aus. Ihr hellblauer, figurbetont geschnittener Pullover passte zu ihrer Augenfarbe, und die enge Jeans brachte ihre Schlankheit ausgezeichnet zur Geltung. Auf einmal fühlte Kylie sich dick und hässlich.
»Ich weiß nicht«, seufzte Susan, nachdem Gwyn hinausgegangen war. Dann drehte sie sich zu Kylie um. »Erzähl mir von dem Rennen.«
Kylie nützte die Gelegenheit, endlich ungestört von ihrem Sieg berichten zu können, und schilderte ihrer Mutter aufgeregt sämtliche Einzelheiten. Zu guter Letzt gab sie sogar verlegen zu, zu spät zur Prüfung gekommen zu sein.
»Das hast du gewusst, richtig?«, fragte sie.
Susan nickte. Schließlich entging ihr in dieser Familie kaum etwas. Allerdings war sie froh, Kylie nicht den Triumph verdorben zu haben, denn das Mädchen strahlte wirklich vor Begeisterung.
»Warum versuchst du nicht, deine Schwester ein bisschen aufzuheitern? Vielleicht lenkt es sie ja ab, wenn du sie heute Abend zur Feier mitnimmst.«
Nachdem Kylie aus dem Zimmer gehüpft war, betrachtete Susan noch einmal den Pokal. Sie beneidete ihre Tochter um ihre Sorglosigkeit und kam sich schäbig vor, weil es ihr einfach nicht gelingen wollte, sich von Herzen mit ihr zu freuen. Während sie die Finger über die eingravierten Namen gleiten ließ, dachte sie an die viele Arbeit, die es bedeutete, die Hochzeit abzusagen.
Sie fragte sich, wie sie nur so leichtsinnig hatte sein können, sich von Geoff zum Kauf der Sunburst Lodge überreden zu lassen. Seit acht Jahren bereitete die Pension nichts als Schwierigkeiten, und Susan war am Ende ihrer Kräfte angelangt.
Kylie trat in Gwyns Zimmer, setzte sich an den hübschen Frisiertisch ihrer Schwester und fing an, mit der Puderquaste herumzuspielen und die ordentlich aufgereihten Lippenstifte in einem Kreis aufzustellen. Gwyn lag bäuchlings auf dem Bett, ohne sich zu rühren. Als ihr schließlich klar wurde, dass ihre Schwester vorhatte zu bleiben, setzte sie sich auf.
»Ich bin froh, dass zwischen euch Schluss ist«, meinte Kylie und sah Gwyn geradewegs ins Gesicht. »Paul ist ein langweiliger, klein karierter und geiziger Spießer und hat eine Frau wie dich nicht verdient.«
Gwyn wurde erst rot und dann leichenblass. »Tja, das ist er, Gwynny. Außerdem ist er ein fieser Mistkerl.«
Sie schlenderte zum Fenster und blickte in den leise rieselnden Schnee hinaus. Morgen würde er weiche zehn bis zwölf Zentimeter tief liegen, optimale Skibedingungen also.
»Wann habt ihr das letzte Mal richtig Spaß miteinander gehabt? Du arbeitest in dieser öden Bank und tust so, als gefiele es dir. Ansonsten sitzt du mit Paul zu Hause und redest über nichts anderes als über Geld und über Banken. Nie unternehmt ihr etwas Interessantes ...«
»Sprich seinen Namen nicht aus«, schluchzte Gwyn und fing wieder an zu weinen. »Wie kannst du so hässliche und gemeine Dinge über ihn sagen?«
»Gwynny, ich habe dich lieb, aber ... Bist du ... warst du glücklich, bevor es passiert ist?«
Sie legte den Arm um ihre Schwester.
»Weißt du noch, wie wir damals auf den Berg gestiegen sind und darüber geredet haben, was für Männer wir einmal heiraten wollen? Du hast dir einen edlen Ritter in einer schimmernden Rüstung gewünscht, ich mir einen, bei dem die Rüstung schon ein bisschen Rost ansetzt.« Kylie lachte auf.
Damals waren sie neun und zwölf Jahre alt gewesen und hatten zusammen Ketten aus Gänseblümchen geflochten. An diesem Tag hatte Kylie ihre Schwester endlich einmal lachen sehen, was sonst nur selten vorkam. Und danach, im Laufe der Jahre, hatten sie sich immer mehr voneinander entfernt.
Kylie sprach weiter, um ihre Schwester von ihrer Trauer abzulenken, und lud sie zu der Feier ein.
»Vielleicht gefällt es dir sogar«, meinte sie abschließend.
Es kam ihr seltsam und irgendwie unpassend vor, dass sie plötzlich die Überlegene war. Offenbar empfand Gwyn es genauso, denn sie wischte sich die Augen ab, ging zum Frisiertisch und begann, sich zu kämmen.
»Danke, dass du so lieb zu mir bist, doch ich muss das Problem selbst lösen. Ich schaffe es schon und möchte dir den Tag nicht verderben. Ich weiß, wie viel es dir bedeutet, den Lyrebird Cup gewonnen zu haben. Es wäre nur lästig für dich, wenn ich mitkäme. Aber trotzdem danke.« Sie stellte die Lippenstifte wieder in Reih und Glied auf.
Kylie beobachtete, wie Gwyn sich allmählich von dem Schrecken erholte, und fragte sich, warum ein Mann nur so dumm sein konnte, ihr den Laufpass zu geben.
»V. P. – vor Paul – hast du dir die halbe männliche Bevölkerung im Tal vom Hals halten müssen. Komm mit, Gwynny. Lass dir von diesem Schwachkopf nicht die Laune verderben.«
»Nein, es geht mir wirklich schon wieder besser.« Mit einem gezwungenen Lächeln scheuchte Gwyn Kylie zur Tür hinaus.
Als Kylie zwanzig Minuten später das Haus verließ, hallte ihr noch die Mahnung ihrer Mutter in den Ohren, bis Mitternacht zurück zu sein.
Es wurde bereits heftig gefeiert, und der Lärm hallte in die Nacht hinaus. Jeder wollte mit der Siegerin tanzen oder die Königin der Berge auf einen Drink einladen. Nach der emotional aufgewühlten Stimmung zu Hause war die Ausgelassenheit genau, was Kylie brauchte, und sie stürzte sich erleichtert ins Getümmel. Sie flirtete, was das Zeug hielt, trank Champagner und tanzte mit den meisten der anwesenden jungen Männer. Sie legte gerade mit Glen eine Sohle aufs Parkett, einem Jungen, mit dem sie in den letzten Monaten ein paar Mal ausgegangen war, da erschien zu ihrem Erstaunen plötzlich Danno auf der Tanzfläche, um die Siegerin des Tages abzuklatschen. Mit einem entschuldigenden Lächeln in Richtung Glen ließ Kylie sich von Danno wegziehen. Im Getümmel wurden sie zusammengedrängt und Kylie spürte, wie sie wieder heftig errötete.
Da die laute Musik ein Gespräch unmöglich machte, gab Kylie das Reden bald auf und genoss, lockerer geworden vom Champagner, den Tanz.
Selbst im zuckenden Licht sah Danno hinreißend aus. Kein Wunder, dass alle Mädchen verrückt nach ihm waren. Beim Tanzen fragte sich Kylie, was für ein Mensch er wohl in Wirklichkeit sein mochte. Natürlich kannte sie alle Gerüchte über seinen Frauenverschleiß und wusste, dass sein Leben bereits als Juniorchef der Hotels seines Vaters in Lyrebird Falls und am Meer verplant war. Doch sie bemerkte immer wieder einen nachdenklichen, vielleicht sogar wehmütigen Ausdruck in seinen Augen, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Sie hatte den Verdacht, dass sich hinter der Fassade des Playboys – als der Danno offenbar gern gesehen werden wollte – viel mehr verbarg.
»Hast du Lust auf etwas Schnelleres?«, schrie Danno ihr ins Ohr, als die Musik wechselte und ein flotterer Rhythmus erklang.
»Klar«, erwiderte Kylie.
Danno wirbelte sie herum, schob sie weg, zog sie wieder an sich und drehte sie anschließend erneut in dem schnellen neuen Tanz, der momentan rasch das Land eroberte. Mit leuchtenden Augen ahmte Kylie jeden von Dannos Tanzschritten nach, und allmählich legte sich ihre innere Anspannung. Sie musste kaum nachdenken, so gut führte er sie. Obwohl sie wusste, dass dieser Tanz nur ein harmloser Spaß war, genoss sie es gewaltig. Plötzlich bemerkte sie, dass die anderen Gäste sie beobachteten. Sie warf den Kopf zurück und tanzte noch leidenschaftlicher, wobei sich ein spitzbübisches Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreitete. Was machte es schon, dass Danno ein berüchtigter Playboy war? Schließlich war es nicht verboten, sich einen Abend lang so richtig zu amüsieren!
Nach einer Weile verstummte die Musik. Sofort ließ Danno Kylie los, und alle applaudierten. Atemlos lächelte sie Danno an und verbeugte sich vor dem Publikum, während jemand eine andere CD auflegte. Dannos Hand lag noch immer auf ihrem Rücken.
»Applaus für die Königin der Berge!«, rief er, und alle jubelten.
Kylie lächelte Danno zu und zögerte – unsicher, wie sie sich nun verhalten sollte. Mit seinem sonnengebräunten Gesicht und dem dichten schwarzen Haaren sah er einfach hinreißend aus. Wie sehr wünschte sie sich, dass er in ihr nicht nur den Kumpel sähe.
Sie standen mitten auf der Tanzfläche und plauderten mit einigen seiner Freunde, die sich inzwischen versammelt hatten. Ein langsames Lied ertönte, und Danno nahm Kylie wieder in die Arme. Sie wiegten sich ganz im Einklang mit der Musik.
Kylie klopfte das Herz bis zum Hals. Immer dichter zog Danno sie an sich, bis sie eng aneinandergeschmiegt tanzten und nur noch wenige Zentimeter ihre Wangen trennten. Sie spürte die Hitze seines Körpers, und eine brennende Sehnsucht stieg in ihr hoch. Als seine Wange ihre streifte, bekam sie weiche Knie.
Doch schon im nächsten Moment wurde sie jäh aus ihrer Hochstimmung gerissen, denn Sophie Wickham, Dannos neueste Flamme, tippte ihr auf die Schulter. Kylie fühlte sich in flagranti ertappt und errötete heftig.
»Tut mir leid, dass ich nicht früher kommen konnte, Danno. Ich möchte das Fest nicht stören, aber wir müssen los.« Sie sah Danno ins Gesicht.
»Sophie! Ich wusste gar nicht, dass es schon so spät ist. Entschuldige, ich muss gehen«, stammelte Danno an Kylie gewandt und blickte gleichzeitig auf die Uhr. »Tut mir echt leid. Bis vielleicht auf ein andermal. Danke, es war wirklich nett. Nochmals herzlichen Glückwunsch, Königin der Berge!«
Er beugte sich vor und hauchte ihr einen raschen Kuss auf die Wange.
»Es hat mir Spaß gemacht, mit dir zu tanzen«, flüsterte er, und Kylie fragte sich, ob sie sich den Anflug von Sehnsucht in seinem Blick nur eingebildet hatte.
Die Situation war Kylie auf einmal entsetzlich peinlich. Alle wussten, dass Danno eine Nummer zu groß für sie war. Das Ganze, sogar der Kuss, war einfach nur ein Spiel gewesen. Und sie selbst war, wie er es selbst ausgedrückt hatte, nur die Siegerin für heute Nacht. Glen packte sie am Arm.
»Da der Großkotz jetzt weg ist, legst du dein verzücktes Grinsen besser ab, damit wir weitertanzen können.«
Kylie schüttelte die leichte Benommenheit ab und grinste Glen zu. Er war ein netter, unkomplizierter Junge und küsste gut. Sie beschloss, nicht mehr an Danno zu denken, und verbrachte den restlichen Abend an Glen geschmiegt. Seinen Gutenachtkuss in der eisigen Nachtluft erwiderte sie leidenschaftlich.
Fünf Minuten nach Mitternacht schlich sie sich in die Sunburst Lodge und ging zu Bett. Sie fühlte sich richtig gut. In ihrem beschwipsten Zustand hatte sie mit Glen verabredet, am nächsten Morgen mit ihm die Abfahrt auf der Milchpiste zu machen.
Am Mittag wurde Kylie von der hellen Wintersonne geweckt. Als sie im Pyjama schlaftrunken hinunterkam, steckte ihr die Nacht noch in den Knochen. Ihre Eltern und Gwyn, die wie gestern bleich und verhärmt wirkte, saßen bei einem späten Frühstück am Küchentisch.
»Wie geht es unserer Königin der Berge denn heute?«, fragte Geoff, ein wenig zu leutselig, und trank einen großen Schluck von seinem eisgekühlten Bier.
»Ich glaube, ich werde heute zum ersten Mal im Leben das Skifahren sausen lassen«, entgegnete Kylie lachend, während sie im Schrank nach dem Müsli kramte. Die Hand nach der Schachtel ausgestreckt, drehte sie sich herum.
»Habe ich etwas verpasst?«, fragte sie, plötzlich die angespannte Stimmung im Raum bemerkend.
Susan stand auf, um noch Milch aus dem Kühlschrank zu holen. Gwyn nahm die Zeitschrift, in der sie geblättert hatte, von Kylies Platz.
»Wir müssen uns alle unterhalten«, begann Geoff bemüht gelassen.
Kylie griff nach Milch und Zucker. Ihr wurde immer mulmiger.
»Wir verkaufen das Haus und ziehen aus Lyrebird Falls weg«, platzte Gwyn heraus, die die Anspannung nicht mehr ertragen konnte.
Verständnislos starrte Kylie erst Gwyn und dann ihre Eltern an und glaubte zunächst, sich verhört zu haben. Dann fing sie an zu lachen.
»Das ist doch wohl ein Witz. Oder meint ihr das etwa ernst? Dad? Mum?«
»Erklär du es ihr, Geoff«, forderte Susan ihren Mann widerstrebend auf.
Ein Wutanfall von Kylie hatte ihr an diesem Tag gerade noch gefehlt. Sie und Geoff waren die halbe Nacht wach gewesen und hatten das Thema ausführlich besprochen. Es gab keine andere Lösung.
»Ich denke, ihr beide wisst, welche Sorgen eure Mutter und ich uns machen, weil die Reservierungen in den letzten Jahren zurückgegangen sind. Unser Geld hat nicht für die geplanten Umbauten gereicht, und deshalb haben wir beschlossen, uns nicht noch mehr Schulden aufzubürden und das Haus zu verkaufen. Auf diese Weise wären wir eine Menge Probleme mit einem Schlag los, und wir alle wären zufriedener. Man hat mir einen Posten als Leiter einer Ferienanlage auf Dunk Island oben bei Cairns angeboten, und ich habe entschieden anzunehmen. Sobald wir unseren Hausstand hier aufgelöst haben, ziehen wir um.« Er sah seine Töchter eine nach der anderen an.
Gwyns Blick war gleichgültig. Doch zu seinem Bedauern musste er feststellen, dass Kylie ihn weiter ungläubig anstarrte.
»Soll das heißen, ihr wollt unser Zuhause verkaufen und für immer wegziehen?«, rief sie entsetzt aus.
»›Für immer‹ klingt vielleicht ein bisschen melodramatisch«, wandte Susan rasch ein.
»Aber genau darauf läuft es doch hinaus«, gab Kylie zurück und ließ den Löffel klappernd in die Müslischüssel fallen.
Sie war wütend auf ihre Mutter, die einfach Entscheidungen von dieser Tragweite traf, ohne sie mit ihr abzusprechen.
»Habt ihr Gwyn von diesem Entschluss erzählt?«
»Kann sein, dass ich etwas erwähnt habe. Gwyn und ich bereden viele Dinge miteinander. Hör zu, Kylie, bevor du dich weiter aufregst, musst du wissen, dass dein Vater und ich uns alles gründlich überlegt haben. Uns ist klar, wie sehr du den Schnee liebst, aber im Leben läuft eben nicht alles nach Wunsch. Für unsere Familie ist es nun einmal das Beste, wenn wir diese Chance nutzen.«
»Ach, das freut mich aber, dass ihr die ganze Familie in eure Planung einbezogen habt! Ich zähle ja offenbar nicht dazu.« Kylie schob die Schale weg und erhob sich.
»Natürlich tust du das. Setz dich und spiel dich nicht so auf«, schalt Susan und warf Geoff einen verzweifelten Blick zu.
Kylie drehte sich zu ihrer Mutter um.
»Nein, tue ich anscheinend nicht. Denn sonst hättet ihr mit mir darüber gesprochen! Und verdreh nicht so die Augen, als würde ich nur stören. Es interessiert dich ohnehin nicht, was ich will. Das war schon immer so. Du warst dagegen, dass ich beim Lyrebird Cup antrete. Und es ist dir auch egal, dass ich das einzige Mädchen bin, das schon seit zehn Jahren sämtliche Skirennen in der Umgebung gewinnt. Es war dir ja sogar zu viel, zu kommen und zuzuschauen. Und jetzt sagst du mir einfach ...« Sie verstummte wütend und gekränkt.
»Du brauchst doch nicht mit dem Skifahren aufzuhören, Liebes.« Susan war fest entschlossen, sich nicht von Kylie aus der Ruhe bringen zu lassen.
»Als ob es auf Dunk Island Schnee geben würde! Ich fasse es nicht, dass ihr mir so etwas antut. Und Gwyn habt ihr vorgewarnt.« Tränen des Zorns und der Enttäuschung traten Kylie in die Augen und strömten ihr die Wangen hinab. »Darf ich noch meine Abschlussprüfung machen, oder soll ich die Schule etwa auch hinschmeißen?« Katzenjammer und Schlafmangel führten dazu, dass sie wahllos um sich schlug.
»Kylie, es reicht«, sagte ihr Vater streng. »Du hörst sofort mit diesem überkandidelten Theater auf. Wenn du dich beruhigt hast, können wir alles vernünftig besprechen. Schließlich brauchen wir noch die Zeit, um das Haus zu verkaufen. Du kannst in Ruhe deine Prüfungen ablegen.«
»Beruhigen?«, schrie Kylie. »Nein, ich will mich nicht beruhigen. Immer heißt es nur: ›Beruhige dich, Kylie, hab Geduld, Kylie.‹ Warum hast du mich nicht gefragt, Dad? Jetzt habe ich endlich etwas ganz Besonderes geleistet und dachte, dass du wirklich stolz auf mich bist. Und du machst alles wieder kaputt. Ich liebe Skifahren. Skifahren ist mein Leben und das, was ich auch in Zukunft tun möchte. Und du ziehst mit uns auf irgendeine Insel in Queensland! Warum musst du mir ausgerechnet das Einzige wegnehmen, was mir wirklich etwas bedeutet? Ich hasse euch! Ich hasse euch beide. Und dich hasse ich auch, Gwyn, weil du mir nichts verraten hast, obwohl du es die ganze Zeit wusstest.«
Sie sprang auf und stürmte mit tränenüberströmtem Gesicht hinaus. Der Verlust der Sunburst Lodge bedeutete für sie das Ende all ihrer Träume.
Gwyn fand Kylie auf der Steinbrücke, etwa einen Kilometer vom Haus entfernt, wo sie Stöckchen hinunter ins eiskalte Wasser warf und zusah, wie sie in dem reißenden Rinnsal, das zwischen den Schneebänken dahinströmte, davongetragen wurden. Auch Gwyn liebte diesen Platz mit der zauberhaften Winterstimmung, der sogar im heißen Sommer erfrischenden Schatten bot.