Wohin der Wind uns trägt - Anne McCullagh Rennie - E-Book
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Wohin der Wind uns trägt E-Book

Anne McCullagh Rennie

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Beschreibung

Die Sehnsucht nach dem roten Kontinent: Der mitreißende Australien-Roman »Wohin der Wind uns trägt« von Anne McCullagh Rennie jetzt als eBook bei dotbooks. Seit ihrer Kindheit hat die junge Joanna nur einen Traum: Sie will in die Fußstapfen ihres Vaters treten, des berühmtesten Pferdetrainers Australiens. Doch als ihr Zwillingsbruder Rick bei einem Reitunfall ums Leben kommt, scheint Jos Welt in sich zusammenzubrechen. Aus Angst, auch noch ihre Tochter zu verlieren, setzt Jos Mutter von nun alles daran, sie von ihren geliebten Pferden fernzuhalten, bringt sie sogar dazu, nach Europa zu gehen. Jo fühlt sich fremd in den kalten, anonymen Großstädten, so weit entfernt von ihrer vertrauten, wilden Heimat. Tapfer versucht sie, sich mit ihrem neuen Leben abzufinden – bis ein weiteres tragisches Ereignis sie zurück auf die Familien-Ranch ruft. Kann Jo endlich mit der Vergangenheit abschließen und ihre Träume leben? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der gefühlvolle Roman »Wohin der Wind uns trägt« von Anne McCullagh Rennie. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 712

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Über dieses Buch:

Seit ihrer Kindheit hat die junge Joanna nur einen Traum: Sie will in die Fußstapfen ihres Vaters treten, des berühmtesten Pferdetrainers Australiens. Doch als ihr Zwillingsbruder Rick bei einem Reitunfall ums Leben kommt, scheint Jos Welt in sich zusammenzubrechen. Aus Angst, auch noch ihre Tochter zu verlieren, setzt Jos Mutter von nun alles daran, sie von ihren geliebten Pferden fernzuhalten, bringt sie sogar dazu, nach Europa zu gehen. Jo fühlt sich fremd in den kalten, anonymen Großstädten, so weit entfernt von ihrer vertrauten, wilden Heimat. Tapfer versucht sie, sich mit ihrem neuen Leben abzufinden – bis ein weiteres tragisches Ereignis sie zurück auf die Familien-Ranch ruft. Kann Jo endlich mit der Vergangenheit abschließen und ihre Träume leben?

Über die Autorin:

Anne McCullagh Rennie wurde in Cambridge, England geboren und studierte in London und Wien Musik. In Österreich lernte sie ihren Ehemann Jim kennen und zog mit ihm nach Australien, wo sie zusammen eine Familie gründeten. Die Liebe zu ihrer Wahlheimat und zur Musik bringt sie in ihren Romanen zum Ausdruck.

Von Anne McCullagh Rennie erscheinen bei dotbooks die Australienromane:

»Der Himmel über Australien«

»Das Lied der Honigvögel«

»Die Sterne über Australien«

»Wohin der Wind uns trägt«

***

eBook-Neuausgabe April 2022

Die australische Originalausgabe erschien erstmals 1998 unter dem Originaltitel »Ride with the Wind« bei Simon & Schuster, Sydney

Copyright © der australischen Originalausgabe 1998 Anne McCullagh Rennie

Published by Arrangement with Anne McCullagh Rennie

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2006

by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg

Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Bohbeh, Creative Family, New Africa, doolmsch, Tyrrnnoid, Janice Chen, Enrico Della Pietra

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)

ISBN 978-3-98690-066-3

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Anne McCullagh Rennie

Wohin der Wind uns trägt

Roman

Aus dem Australischen von Karin Dufner

dotbooks.

Für Jim, Patsy und Ellie:Ihr seid der Mittelpunkt meines Lebens.

TEIL EINS

Kapitel 1

Joanna Kingsford stieg im Sattelschuppen der Royal-Randwick-Rennbahn von Sydney auf Magic Belles Rücken und verspürte ein vertrautes, aufregendes Prickeln. Es war Mittwoch, der zehnte Juli 1974, fünf Uhr zwanzig morgens. Auf den Tag genau vor fünf Monaten hatte sie angefangen, als Bereiterin für ihren Vater Charles Oliver Kingsford zu arbeiten. Er zählte zu Australiens führenden Pferdetrainern.

Trotz des frühmorgendlichen Halbdunkels ging es in den Ställen bereits geschäftig zu, und Jo liebte diese Atmosphäre. Pferde schnaubten, die Atemluft quoll ihnen in bleichen Wolken aus den geweiteten Nüstern. Hufe klapperten auf dem Pflaster, und Zaumzeug klirrte an den Eisengeländern der Boxen. Dort warteten die Pferde darauf, von den Pferdepflegern gesattelt und anschließend bewegt zu werden. Während der Stallmeister den Reitern die Anweisung zum Aufsitzen gab, waren Pferdepfleger damit beschäftigt, die von der Rennbahn zurückgekehrten Tiere mit Wasser abzuspritzen, bis dicke Dampfwolken von ihren straffen Leibern aufstiegen und sich ihr schimmerndes Fell durch die Feuchtigkeit dunkel verfärbte.

Vergnügt sog Jo den Duft frischen Heus ein, der sich mit dem warmen Pferdegeruch mischte. Dann trieb sie die nervöse kastanienbraune Vollblutstute vorwärts und redete dabei beruhigend auf sie ein. Magic Belle war das dritte von vier Pferden, die Jo an diesem Morgen bewegen musste, und außerdem ihr Liebling unter den sechsundachtzig Tieren, die die berühmte Kingsford Lodge ihr Zuhause nannten.

Die Flanken der zweijährigen Stute schimmerten geheimnisvoll in der Morgendämmerung, und dank der großen weißen Blesse und den weißen Fesseln auf der linken Seite war die Stute deutlich von ihren nur schemenhaft auszumachenden Artgenossen zu unterscheiden.

»Lässt Daddy sein Töchterlein wieder reiten?« Das höhnische Raunen kam von einem etwa zwanzigjährigen Reiter, der sich zu dicht an Magic Belle vorbeidrängte. Die junge Stute wurde unruhig. Hawk war ein schmuddeliger Gelegenheitsarbeiter und hatte schon häufiger bei Charlie ausgeholfen. Er wollte sich wohl für den Korb revanchieren, den Jo ihm gegeben hatte. Sie achtete jedoch nicht auf seine Sticheleien.

Die sechzehnjährige Jo war ein ganzes Stück größer als der zu kurz geratene, gehässig dreinblickende Bereiter und hatte noch ein bisschen Babyspeck auf den Rippen. Aus ihrem ovalen Gesicht strahlten eindringlich zwei dunkelviolette Augen, die von dunklen Schatten betont wurden. Ihren nachlässig geflochtenen aschblonden Zopf hatte sie achtlos unter die Reitkappe geschoben.

Jo strahlte – insbesondere in der Nähe von Pferden – eine überschäumende Lebensfreude aus. Das Reiten, die Pferde und die Arbeit auf der Rennbahn waren ihr Ein und Alles. Nun warf sie den Kopf zurück und lenkte Magic Belle um einen dampfenden Haufen Pferdeäpfel herum und auf Linda zu, die an diesem Morgen ihre Partnerin sein würde.

Linda hielt Jillaroo, eine sanfte braune Stute, am Zügel, und plauderte gerade angeregt mit Jos Zwillingsbruder Rick. Dieser ließ sich nicht von den Mätzchen seines Reittieres stören. Prestigee, ein aufmüpfiger Dreijähriger, tänzelte herum, warf den Kopf hin und her und kaute an der Trense. In sicherem Abstand zu dem großen schwarzen Hengst blieb Jo stehen und rief nach Linda, die rasch in den Sattel stieg und näher kam.

»Glaubst du, du kannst sie halten, Schwesterherz?«, hänselte Rick und grinste Jo frech an, ehe er sich wieder Linda zuwandte und sein Pferd mit einem Zungenschnalzen antrieb.

»Das fragst ausgerechnet du! Bella macht mir keine Probleme«, erwiderte Jo, wobei sie den Stallnamen des Pferdes benutzte. »Wenigstens geht sie nicht ständig durch und hat keine vier linken Hufe.«

Noch während sie das sagte, musste Rick Prestigee beruhigen, da der Hengst aus dem Tritt gekommen war.

Prestigee war dafür berüchtigt, dass er immer sofort losstürmte, um die Bahnarbeit so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Bei einer langsameren Gangart stolperte er hingegen gern über die eigenen Hufe. Wenn er jedoch in einem Rennen die Möglichkeit zum Galopp erhielt, war er das trittsicherste Pferd, das man sich vorstellen konnte, und ließ die Konkurrenten mühelos hinter sich zurück. Dennoch musste er stets von einem Reiter mit Begleitpony auf die Rennbahn geführt werden.

Lachend ließen Jo und Linda Rick und seinem Begleiter den Vortritt und folgten ihnen in sicherem Abstand.

Eine eiskalte Brise schlug Jo ins Gesicht, während die kleine Gruppe auf die Allwetterbahn von Randwick zusteuerte. Der Wind drang durch ihre hellgraue Trainingsjacke und zerrte an ihren Beinen, die in engen Jeans und kniehohen Lederstiefeln steckten. Gesprächsfetzen der anderen Reiter drangen Jo ans Ohr, als sie mit ihren Begleitern über die dunkle Aschenbahn ritt. Die weißen Begrenzungszäune zu beiden Seiten leuchteten ihr aus dem Halbdunkel entgegen. Der Cheftrainer brüllte eine Anweisung. Jo rief einen Gruß hinüber. Wie immer übertrug sich die Energie von Pferden und Reitern sofort auf sie.

Am anderen Ende der großen dunklen, von riesigen Stadionflutlichtern nur teilweise erleuchteten Fläche sah Jo schemenhaft ein paar sich rasch bewegende Schatten. Als Linda mit ihr die Kreuzung bei der Halbmeilen-Markierung erreichte, blieben sie stehen. Aus der Dunkelheit tauchten die Jockeys auf, tief über die Hälse ihrer Pferde gebeugt. Mit donnernden Hufen preschten sie vorbei und verschwanden wieder im Grau der Dämmerung. Die keuchenden Atemzüge der Pferde waren fast so laut wie der Rhythmus ihrer Hufschläge. Kaum waren sie vorüber, bewegten die beiden Mädchen ihre Tiere zügig über die weiche Asche und steuerten auf die Trabstrecke in der Mitte des Rennplatzes zu, wo die Pferde ihre Aufwärmübungen absolvieren sollten.

Obwohl heute eigentlich der ruhigste Tag der Woche war, herrschte ein ungewöhnlich geschäftiges Treiben. Jo und Linda trabten mit ihren Pferden gegen den Uhrzeigersinn um die Bahn, eine Übung, die Bella stets ein wenig nervös machte. Jos linke Hand umfasste die Zügel fester, als die Stute vor zwei Artgenossen scheute, die gerade dampfend von der Rennstrecke zurückkehrten. Sie beugte sich vor, tätschelte Bella mit der behandschuhten Hand und redete besänftigend auf sie ein. Die beiden Mädchen trabten nebeneinander in gleichmäßigem Tempo weiter die Bahn entlang.

Jo verliebte sich damals auf den ersten Blick in Magic Belle, die als magerer, nervöser Jährling in die Kingsford Lodge gekommen war. Schon als kleines Kind verbrachte das Mädchen viel Zeit in den weltberühmten Ställen ihres Vaters und übernahm ganz automatisch viele von Charlies Methoden im Umgang mit Pferden und ihren unterschiedlichen Eigenschaften. Ehrfürchtig und bewundernd hatte sie beobachtet, wie Charlie das verängstigte Fohlen von einer Auktion mit nach Hause brachte und dem Tier beim Eingewöhnen half. Er förderte Magic Belles Vertrauen und kümmerte sich um ihre körperlichen Belange. Nun war sie zwar noch immer ziemlich launisch, aber sonst eine gesunde, aufmerksame Zweijährige. Und als Charlie Jo vor sechs Wochen erlaubt hatte, mit Bella die langsame Bahnarbeit zu beginnen, konnte diese ihr Glück kaum fassen.

»Wenn du es schaffst, sie in einem langsamen Tempo aufzubauen, gehört sie dir«, hatte ihr Vater ihr versprochen. Jo traute ihren Ohren nicht, denn sie wussten beide, dass diesem Pferd eine große Zukunft bevorstand.

Von diesem Tag an waren das Mädchen und das Pferd ein Herz und eine Seele. Magic Belle befolgte Jos Kommandos aufs Wort, während Jo die Marotten der Fuchsstute durchschaute und mit ihrer lebhaften Art gut zurechtkam.

Sie bewegte zusammen mit Linda die Pferde weiter über die Bahn und war froh, dass man wegen des Dämmerlichts das stolze Funkeln in ihren dunkelvioletten Augen nicht sehen konnte. Die unerledigten Hausaufgaben, die schlechten Noten und das Nachsitzen, weil sie im Unterricht eingeschlafen war – das alles war schlagartig vergessen. Jo hatte ihre Bestimmung gefunden, ihre große Liebe. Es war ihr Traum, einmal Australiens berühmteste Pferdetrainerin zu werden. Die Bahnarbeit hatte sie der Erfüllung dieses Traums einen gewaltigen Schritt näher gebracht, und da Jo starrsinnig wie eine echte Kingsford war, weigerte sie sich einzusehen, dass die Rennbahn eine reine Männerwelt war, in der es für weibliche Trainer keinen Platz gab. Schließlich hatte sie seit ihrem zweiten Lebensjahr einem der besten Trainer bei der Arbeit zugesehen und den Großteil ihrer Kindheit unter den wachsamen Augen der Pferde verbracht. Bei dem Spruch, dass Frauen in der Küche besser aufgehoben seien als auf der Rennbahn, hätte sie jedes Mal aus der Haut fahren können.

Zum wohl hundertsten Mal stellte Jo sich vor, wie Magic Belle beim wichtigsten australischen Pferderennen, dem Melbourne Cup, über die Zielgerade galoppierte. Aufgeregt sah sie vor sich, wie Belle voranstürmte, ihre letzten Kräfte mobilisierte und ihren Vorsprung vor den übrigen Pferden vergrößerte. Auf dem Rücken des Jockeys leuchteten die Kingsford-Farben, und Jo spürte förmlich, wie das sanfte Pferd sich bemühte, das Letzte zu geben. Gebannt verfolgte sie, wie Bellas Schritte raumgreifender wurden, und feuerte ihr Pferd aus Leibeskräften an, das, begleitet vom donnernden Jubel der Menge, auf die Zielgerade bog. Ehrfürchtig sah das Publikum zu, wie Bella den Abstand zum Feld in den so wichtigen letzten Sekunden vergrößerte und mit einer klaren Kopflänge Vorsprung über die Ziellinie preschte. Ihren Hut in der Hand, sprang Jo von ihrem Platz auf der Teilnehmertribüne auf und griff nach Magic Belles Zügeln, um sie und ihren Jockey siegreich in die Ehrenrunde zu führen. Freudentränen liefen ihr übers Gesicht. Sie hielt den prachtvollen goldenen Pokal hoch, damit auch alle ihn sehen konnten. Und ihr Vater, Charles Oliver Kingsford, der größte aller australischen Trainer, trat mit stolzer Miene nach vorn, um ihren Triumph vor den Augen der applaudierenden Zuschauer mit ihr zu teilen.

Allein die Vorstellung ließ Jos Herz schneller schlagen. Magic Belle, die ihre Aufregung spürte, begann zu tänzeln. Mit einem Seufzer kehrte Jo in die Gegenwart zurück und widmete sich wieder den Aufwärmübungen.

»Hat Rick dich schon gefragt, ob du mit ihm ausgehen willst?«, erkundigte sie sich bei Linda.

Die Mädchen schickten sich an, die Bahn zum zweiten Mal zu umrunden. Die Steigbügel waren so hoch an Bellas Flanken gegurtet, dass Jos Knie beinahe ihre Brust berührten.

»Mehr oder weniger«, erwiderte die dunkelhaarige Siebzehnjährige mit einem verlegenen Lachen.

»Wirst du ja sagen? Du weißt doch, dass er verrückt nach dir ist.«

Der herzallerliebste Rick. Linda war das erste Mädchen, in das sich ihr eingebildeter Bruder ernsthaft verliebt hatte, und es störte ihn überhaupt nicht, dass sie fast zwei Jahre älter war und ihn um einen guten Kopf überragte. Auch Linda schien das nichts auszumachen.

Gerade in diesem Moment kam Rick vorbeigetrabt. Die Zügel spannten sich, als Prestigee den Kopf zur Seite drehte und sich gegen Ricks Kommando wehrte. Obwohl Rick nur drei Minuten älter war als Jo, war er für sie stets der große Bruder gewesen. Von Geburt an hatten sie beide genau gewusst, was der andere dachte, und so hatte Jo ihm nicht eigens zu erzählen brauchen, dass die Arbeit auf der Rennbahn ihr großer Traum war. Er verstand sie. Ganz im Gegensatz zu Bertie, dem Ältesten der drei Kingsford-Geschwister, der immer launisch und eifersüchtig war. Mit seinen neunzehn Jahren studierte er Jura an der Universität von Sydney, verspottete Jo aber weiterhin wegen ihrer Liebe zu Pferden und fand es albern, dass die Zwillinge ihrem Vater im Stall zur Hand gingen.

Jo würde nie begreifen, warum Bertie den Beruf so verachtete, dem er sein angenehmes Leben – das gesellschaftliche Ansehen, eine akademische Ausbildung und einen großzügigen Monatsscheck – verdankte. Doch am meisten erboste es sie, dass er ständig die Meinung ihrer Mutter nachbetete, Jo solle sich eine weiblichere Beschäftigung suchen. Turnierspringen oder Ponyreiten wäre ja noch akzeptabel – aber richtige Pferderennen seien doch zu viel des Guten. Jo hingegen konnte die Weiblichkeit gestohlen bleiben, denn sie liebte das geschäftige Treiben auf der Rennbahn.

Jo hatte ihren Vater angefleht, bei der Ausbildung der Pferde helfen zu dürfen, sobald sie sechzehn wurde. Der Einwand, dass es für sie auf der Rennbahn keine Zukunft gab, verhallte dabei ungehört. Und schließlich hatte es Rick – mit seinem schalkhaften Grinsen, dem blonden Haar und den dunkelvioletten Augen, die ihren glichen wie ein Ei dem anderen – geschafft, Charlie zu überreden. Rick hatte Jos angeborenes Talent im Umgang mit Pferden erkannt und wusste, dass sie die besseren Voraussetzungen zur Trainerin hatte. Obwohl die Geschwister davon ausgingen, dass Rick einmal als Chef der Kingsford Lodge in die Fußstapfen seines Vaters treten würde, war er sich darüber im Klaren, dass Jo über mehr Einfühlungsvermögen, Verständnis für die Tiere und eine größere Liebe zum Detail verfügte. Auch Charlie sah das natürliche Talent seiner Tochter, nahm es jedoch nicht wirklich ernst, da sie ein Mädchen war. Aber zu Jos großer Freude hatte er drei Wochen nach ihrem sechzehnten Geburtstag endlich nachgegeben.

Das schrille Gelächter der Kookaburras kündigte den Sonnenaufgang an, als Jo und Linda schließlich über die Sandbahn trabten. Jo hielt sich zwischen der inneren Begrenzung und Jillaroo, wo Bella sich sicherer fühlen würde, wenn andere Pferde vorbeipreschten. Sie ließ sich von den rhythmischen Bewegungen des Tieres wiegen. Ihre Wangen prickelten in der kalten Luft, und ihre Augen tränten. Wie immer, wenn ihr Ausritt mit Bella sich dem Ende zuneigte, wurde sie von einer leisen Wehmut ergriffen. Sie konnte hören, wie ihr Vater vom Beobachtungsturm Anweisungen herunterrief, einem achteckigen hohen Gebäude in der Mitte der Rennbahn, von dem aus die Trainer ihren Pferden und Reitern bei der Arbeit zusahen. Jo seufzte. Nur noch eine Runde, dann würde sie Bella an Archie übergeben müssen, den Chefjockey ihres Vaters. Dieser würde die schnelle Bahnarbeit übernehmen, denn am Freitag sollte die Stute zum ersten Mal bei einem Rennen antreten.

Langsam stieg die Sonne am Horizont auf und versuchte, sich gegen die Stadionbeleuchtung zu behaupten. Das Traben linksherum schien Bella immer noch nicht zu behagen. Dicht an der Bande ließ Jo sie langsamer gehen. Vom Boden stieg kalter Dunst empor und die daraus auftauchende riesige graue Silhouette entpuppte sich als die Tribüne von Royal Randwick. Rick stürmte auf Prestigee vorbei, den das schnellere Tempo jetzt am Durchgehen hinderte. Jo lächelte ihrem Bruder zu und achtete dabei aufmerksam auf Veränderungen in Bellas Trabrhythmus. Wenige Schritte vor ihr geriet Prestigee wieder einmal ins Straucheln.

»Dieses Pferd hat wirklich vier linke Hufe. Wer es nicht kennt, könnte glauben, es lahmt«, dachte Jo. Sie spürte, dass Rick etwas aus dem Konzept geraten war.

Plötzlich flog ein Spatz aus dem Gras auf. Bella scheute zur Seite, drängte gegen Jillaroo. Gerade noch rechtzeitig riss Linda ihr Pferd herum und vermied so eine Kollision. Im nächsten Moment machte Jos Herz einen Satz, denn aus dem Dunst kam ein reiterloses Pferd direkt auf sie zugerast. Jo bohrte Bella die Fersen in die Flanken, um sie aus der Bahn des außer Kontrolle geratenen Tieres zu bringen. Aber der Anblick des auf sie zustürmenden Pferdes war zu viel für die bereits nervöse Bella, die ängstlich die Ohren anlegte und mit einem schrillen Wiehern durchging. Nicht in der Lage, sie zurückzuhalten, klammerte Jo sich an den Rücken der Stute und krallte die Finger in die kastanienbraune Mähne, während Bella endlich einmal zeigte, was in ihr steckte. Mit wehendem Schweif galoppierte sie auf Rick und Prestigee zu, sodass sich der Abstand zwischen ihnen von Sekunde zu Sekunde verringerte.

»Rick! Pass auf«, schrie Jo, aber ihre Stimme wurde vom Wind davongetragen. Sie waren schon kurz hinter ihm.

Rick, der Jos Todesangst spürte, warf einen kurzen Blick über die Schulter und sah Bella mit weit aufgerissenen Augen auf sich zu stürmen. Wieder strauchelte Prestigee. Mit einem Fluch riss Rick den Kopf des Pferdes heftig herum, um zu verhindern, dass er abgeworfen wurde – und verlor das Gleichgewicht. Die nächsten Sekunden würden Jo für den Rest ihres Lebens im Gedächtnis bleiben und liefen ab wie in Zeitlupe. Beinahe unbeteiligt sah sie, wie der Hengst zum dritten Mal aus dem Tritt kam und Bella direkt in ihn hineinraste. Rick wurde wie eine Puppe aus dem Sattel geschleudert und stürzte mit Prestigee zu Boden, während Bella über beide hinwegstürmte. Durch den Aufprall wurde Jo in die Luft gehoben. Sie hörte Knochen splittern, als Bella auf Prestigee stürzte. Die beiden Pferde traten panisch mit den Hufen um sich. Im nächsten Moment prallte Jo gegen die Bahnbegrenzung. Ein scharfer Schmerz durchschoss ihre Schulter, und sie schmeckte Blut im Mund, bevor sie das Bewusstsein verlor.

Der berühmte Pferdetrainer Charlie Kingsford, ein gedrungener, selbstbewusst wirkender Mann, ließ Red Star vor dem Beobachtungsturm auf der Asche im Kreis gehen, während die Umrisse von Reitern, Pferdepflegern und Trainern in der Morgendämmerung allmählich Gestalt annahmen. Um Charlies Hals hing ein starkes Fernglas, und er hatte den Kragen seiner dicken Jacke gegen die Kälte hochgeklappt. Auf seinem Kopf saß ein ausgefallener Hut, eine modische Marotte, die er sich zu Beginn seiner Karriere angewöhnt hatte und die inzwischen sein Markenzeichen geworden war. Gerade rief er einem Pferdepfleger zu, er solle dem Bereiter beim Aufsteigen helfen. Nachdem er in barschem Ton einige Anweisungen gegeben hatte, ging er zu Archie hinüber, der lässig am Geländer des Beobachtungsturms lehnte und in seinem breiten schottischen Akzent mit einem anderen Reiter plauderte.

Der Vormittag entwickelte sich prächtig. Rick war beim Traben großartig mit dem störrischen Prestigee zurechtgekommen. Prestigee war zwar dafür berüchtigt, einfach loszulaufen, um die Bahnarbeit hinter sich zu bringen, aber er war ein vielversprechendes Pferd und errang bei Provinzrennen bereits einige Siege. Rick hatte mit ihm alle Hände voll zu tun, trotzdem arbeiteten Pferd und Reiter an diesem Morgen gut zusammen.

Mein Gott, wie er diesen Jungen liebte! Vor Stolz wurde Charlie ganz warm ums Herz. Er setzte große Hoffnungen in Ricks Zukunft als nächstes Oberhaupt der Kingsford-Dynastie. Wie anders war da sein älterer Bruder Bertie! Charlie zog ein Gesicht. Die Enttäuschung, dass sein ältester Sohn sich nicht für das Trainieren von Pferden interessierte, würde er wohl nie überwinden, auch wenn er sich wohl oder übel damit abfinden musste. Er war auf Berties Wünsche eingegangen und ließ ihn an der Universität studieren. Alle drei seiner Kinder sollten eine gute Schulbildung erhalten – etwas, das Charlie selbst verwehrt geblieben war. Rick erfüllte all seine Erwartungen, und seine Liebe zu den Rennpferden war nicht zu übersehen. Von plötzlicher Rührung ergriffen, nahm Charlie ein malvenfarbenes, seidenes Taschentuch heraus, putzte sich die Nase damit und steckte es wieder weg.

Auch Jo hatte sich heute Morgen als erstaunlich tüchtig im Umgang mit Magic Belle erwiesen. Obwohl das Pferd als Fohlen nicht sehr ansehnlich gewesen war, hatte Charlie es wegen seines beeindruckenden Stammbaums und aus dem instinktiven Gefühl heraus gekauft, dass es sich gewiss prächtig entwickeln würde. In den letzten sechs Wochen hatte sich Bella unter Jos Anleitung bei der langsamen Bahnarbeit wacker geschlagen. Inzwischen waren Mädchen und Pferd ein Herz und eine Seele, und Charlie konnte nicht leugnen, dass seine Tochter Talent hatte. Wenn sie doch nur ein Junge wäre! Sie würde sicher mit der Zeit zur Vernunft kommen. Nach dem Mannequinkurs, in den Nina sie unbedingt stecken wollte, würde sie bald einen netten Mann, einen Arzt, Tierarzt oder Anwalt, kennenlernen, heiraten und ihren Gatten in Kanzlei oder Praxis unterstützen.

»Jo reitet Magic Belle. Wenn sie kommt, nimm das Pferd mit zur Dreiviertelmeilen-Markierung und lass es die letzten beiden Runden bis zum Stall galoppieren«, meinte Charlie zu Archie. »Wo bleibt denn das Mädchen?«

Er hob sein Fernglas und ließ den Blick über die dunstige Bahn schweifen. Plötzlich setzte sein Herz einen Schlag aus. Das war doch Prestigee – ohne Reiter –, der da direkt auf das grasige Gelände zusteuerte.

»Haltet das Pferd auf!«, rief Charlie und wies auf das fliehende Tier. Wo zum Teufel steckte nur Rick?

Mit dem Fernglas blickte er in die andere Richtung. Keine Spur von Bella und Jo. Plötzlich schnürte es ihm die Kehle zu. Er hörte über sein Funkgerät die Stimme des Rennbahnaufsehers und sah einen Krankenwagen über die angrenzende Bahn rasen, gefolgt vom Notfallwagen für Pferde. Außer sich vor Angst rannte Charlie den Fahrzeugen nach.

Der Rennbahnaufseher verließ seinen Posten oben auf dem Hügel sofort im Eilschritt, nachdem er die Kollision von Bella und Prestigee beobachtet hatte. Der Anblick der verheerenden Folgen des Unfalls ließ ihn nach Luft schnappen. Jo lag zusammengesackt neben der Bahnbegrenzung. Sie war aschfahl, und an der Stelle, wo sie mit dem Gesicht gegen das Holz geprallt war, hatte sie einen langen Riss in der Haut. Rick lag einige Meter von ihr entfernt. Sein Arm war in einem unnatürlichen Winkel verdreht, und aus seiner gebrochenen Nase rann Blut.

Nachdem der Aufseher sich vergewissert hatte, dass beide noch atmeten, drückte er Rick ein Taschentuch an die Nase. Dabei behielt er stets Bella im Auge, die immer noch panisch mit den Beinen schlug und sich auf Jo zu wälzen drohte. Mit schmerzgeweiteten Nüstern versuchte die Stute vergeblich, sich aufzurichten. Jedes Mal, wenn ein anderes Pferd vorbeilief, rollte sie voller Angst mit den Augen, und ihre Beine mit den weißen Fesseln ruderten ohnmächtig in der Luft. Von Prestigee fehlte jede Spur.

»Hierher, er blutet sehr stark!«, rief der Aufseher den Sanitätern zu, die auf die Zwillinge zueilten. Nachdem diese das Kommando übernommen hatten, widmete er sich mit einem erleichterten Seufzer dem verletzten Pferd. Inzwischen waren zwei weitere Reiter aufgetaucht, und während einer Bella am Kopf festhielt, verständigte der Aufseher den Tierarzt.

Schließlich traf Charlie, schwer atmend vom Laufen, am Unfallort ein und sah entsetzt zu, wie der leitende Sanitäter rasch neben Rick in die Knie ging und ihn auf Lebenszeichen untersuchte. Er deckte ihn zu und begann, die Blutung zu stillen.

»Am besten kümmern wir uns zuerst um ihn«, wies er seinen Kollegen an. »Verdacht auf Kopfverletzungen.«

»Wird gemacht. Hier, nehmen Sie das und decken Sie die andere Verletzte zu«, befahl er Charlie und hielt ihm eine Decke hin. »Aber Sie dürfen sie nicht bewegen.«

Mit zitternden Händen nahm Charlie die Decke entgegen. »Passen Sie gut auf den Jungen auf. Er ist mein Sohn.«

Mitleid zeigte sich auf dem Gesicht des Sanitäters.

»Wir tun unser Bestes, Sir.«

Charlie fühlte sich wie in einem bösen Traum, als er die Decke über die zierliche Gestalt seiner Tochter breitete. Die dunkelvioletten Schatten unter den geschlossenen Lidern wirkten fast schwarz, und ihre Lippen hatten die Farbe von Pergamentpapier. Er hatte genug Reitunfälle gesehen, um zu wissen, welch schwere Verletzungen man sich bei einem solchen Sturz zuziehen konnte. Außerdem war ihm klar, dass der Schock die größte Gefahr bedeutete. Wenn man nicht sofort etwas dagegen unternahm, konnte der Verletzte sterben, bevor er das Krankenhaus erreichte. Charlie erschien ganz ruhig – so, als leiste er bei einem ganz gewöhnlichen Unfall Erste Hilfe. Sicher war alles nur ein böser Traum, und er würde jeden Moment in der Sattelkammer aufwachen, wo er alle zu ihrer fleißigen Arbeit beglückwünschte.

Nachdem der Sanitäter Rick eine Halskrause angelegt hatte, bandagierte er seine Schulter, um diese sowie seinen Hals ruhig zu stellen und so das Risiko weiterer Wirbelsäulenverletzungen zu verringern. Wegen des Verdachts auf Kopfverletzungen nahm er ihm die Reitkappe nicht ab. Dann wurde der Bewusstlose auf eine Trage gelegt und in den Krankenwagen gehoben. Möglicherweise gab es auch innere Blutungen, deshalb mussten beide Unfallopfer so schnell wie möglich ins Krankenhaus gebracht werden.

»Vielen Dank«, sagte einer der Sanitäter zu Charlie, der ihm Platz machte, damit er Jo versorgen konnte. Allerdings blieb er ängstlich in der Nähe stehen und kam sich schrecklich überflüssig vor. Die Sorge hatte tiefe Falten in seine sonnengebräunten Wangen gegraben.

»Gehen Sie, und setzen Sie sich zu Ihrem Sohn«, schlug der Sanitäter vor. Sie machten Jo transportfertig.

Das Mädchen wurde auf die Trage gebettet. Sie stöhnte leise und schlug für einen Moment die Augen auf. Für einen kurzen Augenblick war Charlie erleichtert, doch schon in der nächsten Sekunde legte sich ihm eine eiskalte Hand ums Herz, als er in den Krankenwagen stieg und Ricks graues, regloses Gesicht sah. Er schien kaum zu atmen.

»Bitte, lieber Gott, lass sie beide am Leben«, murmelte Charlie. Warum war er nur damit einverstanden gewesen, die Zwillinge auf der Rennbahn arbeiten zu lassen? Schließlich kannte er die Risiken und hatte unzählige Male miterlebt, wie schwer ein Jockey sich verletzen konnte. Er hätte auf Ninas Warnungen hören sollen.

»Mr Kingsford, ich fürchte, wir können das Pferd nicht retten.«

Verwirrt blickte Charlie in das Gesicht des Rennbahntierarztes. Vor lauter Entsetzen und Bestürzung hatte er Magic Belle völlig vergessen – das Pferd, das ihm eigentlich hätte Glück bringen sollen. Er schaute zu der Fuchsstute hinüber. Inzwischen hatte sie sich mühsam aufgerappelt und stand auf drei Beinen. Das vierte baumelte schlaff vom Rumpf. Charlie wusste genau, welche Schmerzen sie litt.

»Tu, was du tun musst, Jack«, entgegnete er dem Tierarzt mit einem traurigen Nicken, bevor sich die Türen des Krankenwagens schlossen. Pferde ließen sich ersetzen, aber nicht das eigene Fleisch und Blut. Warum war er nur so ein leichtsinniger Narr gewesen? Er warf einen kurzen Blick aus dem Fenster und sah die Stute zu Boden sinken. Jack hatte sie rasch von ihrem Leiden erlöst.

Charlie streckte die Hand nach Ricks Wange aus. Lieber Gott, mach, dass meine Kinder überleben.

Der Krankenwagen verließ die Rennbahn von Randwick, und am Horizont erschien in goldener Pracht die Morgensonne.

Kapitel 2

Nina Kingsford zog ihr rosa Bettjäckchen aus Angora fester über den Schultern zusammen. Nachdem sie ihr kastanienbraunes Haar glatt gestrichen und den Träger ihres elfenbeinfarbenen Nachthemdes aus Satin zurechtgerückt hatte, schenkte sie sich eine Tasse des frisch gebrühten Kaffees ein. Die edle Porzellankanne stand auf einem Frühstückstablett, das die Haushälterin gerade auf ihrem Schoß abgestellt hatte. Die Golduhr auf dem marmornen Kaminsims – ein relativ neues Geschenk von Charlie – schlug zehn Uhr.

Nina gab zwei Stückchen Süßstoff und einen großen Klecks Schlagsahne in ihre Tasse, rührte zweimal um, steckte den schaumigen Löffel in den Mund und leckte ihn ab. Dann tunkte sie mit einem wohligen Seufzer ein kleines Stück Toast in ihren Kaffee und verfütterte es an den wuscheligen weißen Pudel, der eifrig japsend neben ihr auf dem Doppelbett lag.

»Das ist für dich, Suzie Wong, Mamis kleiner Liebling. Sorgt Jackie nicht wundervoll für uns?«, meinte sie lächelnd, streichelte das Hündchen und spielte ein wenig an dem rosafarbenen Satinband in seinem lockigen Fell herum.

Mit einundvierzig war Nina Kingsford noch immer eine schöne Frau, deren Haut selbst ungeschminkt in jugendlichem Glanz schimmerte. Unter dunkel nachgezogenen Brauen funkelten verführerische braune Augen, und ihre hohen Wangenknochen waren zart gebräunt. Neben ihr auf dem Nachtkästchen lagen, achtlos hingeworfen, einige Schmuckstücke, unter anderem ein schwerer Ring mit Saphiren und Diamanten, eine Kette aus massivem Gold und zwei goldene Armbänder.

»Jackie, könnten Sie den Vorhang ein kleines Stück schließen? Vielen Dank, meine Liebe. Die Sonne ist uns beiden heute Morgen ein wenig zu grell«, sagte Nina zu ihrer Haushälterin, einer kleinen, dunkelhaarigen Frau Ende vierzig.

Diese hatte gerade die bunt geblümten Vorhänge zurückgezogen und war damit beschäftigt, die dicke grüne Kordel an dem vergoldeten Ring an der Wand zu befestigen.

»Ach, und suchen Sie mir bitte die Gesellschaftsseite heraus. Diese Zeitungen sind immer so schrecklich unhandlich.« Nina bestrich ein Stück Toast mit Butter und biss ein winziges Stück ab.

Jackie befolgte die Anweisungen bereitwillig, denn sie arbeitete gern bei den Kingsfords. Da Mr Kingsford die Zufriedenheit seiner Frau über alles ging, bezahlte er Jackie ein kleines Vermögen für ihre Dienste, und sie konnte in dem schönen Anwesen in Coogee, einem schicken Vorort im Osten Sydneys, nach Belieben schalten und walten. Außerdem genoss Jackie die Gesellschaft der Reichen und Berühmten, die bei den Kingsfords verkehrten.

»Wenn Sie noch etwas brauchen, Mrs Kingsford, rufen Sie mich einfach. Sie haben um Viertel nach elf einen Friseurtermin. Ihre Kleider sind gebügelt und liegen bereit. Sie brauchen nur noch einen passenden Hut auszusuchen«, ging sie lächelnd mit ihrer Arbeitgeberin den Ablauf des Vormittags durch. »Ach, und ich habe Frank gebeten, den Bentley zu waschen.«

»Sie sind ein Organisationsgenie, Jackie. Ich muss mich um überhaupt nichts kümmern«, erwiderte Nina und leckte sich die manikürte Fingerspitze. Sie war bereits in die Gesellschaftsseite des Sydney Morning Herald vertieft, auf der sie nach ihrem Foto suchte.

»Da bin ich ja«, rief sie erfreut und deutete mit einem grellroten Fingernagel auf ein Foto, während sich die Tür leise hinter Jackie schloss. »So ein Mist. Ich hätte einen größeren Hut aufsetzen sollen. Diese grässliche Angela Bagot drückt mich buchstäblich an den Rand.«

Schmollend wie ein verwöhntes Kind, lehnte sie sich wieder zurück. Doch beim Gedanken an das Mittagessen hellte sich ihre Stimmung wieder auf. Zumindest stand heute kein Krankenhausbesuch mit Blumen und Pralinen bei einem von Charlies langweiligen Jockeys auf dem Programm, denn erstaunlicherweise hatte es seit über zwei Monaten keinen Unfall mehr auf der Rennbahn gegeben.

Auf ihrem Nachttisch schrillte das Telefon mit dem goldenen und elfenbeinfarbenen Dekor.

»Hallooo«, säuselte Nina, während sie sich ausmalte, wie sie wohl in ihrer neuesten Pariser Kreation aussehen würde. Als sie die Stimme ihres Mannes hörte, wurde ihr Tonfall vorwurfvoll. »Ich dachte, wir würden zusammen frühstücken, Charlie. Warum bist du noch nicht zu Hause? Es ist schon schrecklich spät, und wir wollten doch noch ein bisschen Spaß haben, bevor ich wegmuss.«

Charlie beherrschte mühsam seine Stimme.

»Neene, ich rufe aus dem Krankenhaus an«, sagte er ruhig.

Nina stöhnte auf.

»Bitte verlange nicht von mir, dass ich wieder einen deiner Jockeys besuche. Ich bin heute zu einem wichtigen Mittagessen eingeladen. Alle werden da sein.« Sie sank zurück in die Kissen und hörte Charlie nur mit halbem Ohr zu.

Wie ärgerlich. Sicher würde Charlie darauf bestehen, sodass sie früher gehen musste. In diesem Fall würde sie die große Schmuckpräsentation verpassen.

Charlies Stimme klang gepresst und künstlich ruhig. Er legte sich seine Worte sorgfältig zurecht und machte sich auf den unvermeidlichen hysterischen Ausbruch gefasst.

»Hör mir gut zu, Neene. Es geht nicht um einen meiner Jockeys, sondern um Jo und Rick. Sie haben einen kleinen Unfall gehabt, sind aber in Ordnung«, meinte er langsam und wünschte, er hätte seiner Frau diese Mitteilung persönlich und nicht am Telefon machen können.

Nina umklammerte den Hörer und erbleichte.

»Das ist doch ein Scherz ... einer deiner schlechten Scherze«, stammelte sie und stieß Suzie Wong weg, die ihr das Gesicht ablecken wollte.

»Bitte reg dich nicht auf, Neene, mein Schatz«, flehte Charlie. »Den Zwillingen geht es gut. Während der Bahnarbeit ist eines der Pferde gestolpert. Sie sind beide untersucht worden, aber der Arzt möchte, dass sie eine Weile im Prince-of-Wales-Krankenhaus unter Beobachtung bleiben.«

Ninas Aufschrei machte weitere Erklärungen unmöglich. Ohne an das Tablett zu denken, schleuderte sie die Decke beiseite und schwang die Beine über die Bettkante. Ihr Frühstück fiel mit einem lauten Krachen zu Boden. Das rosafarbene Bettjäckchen rutschte ihr von der Schulter. Erschrocken machte Suzie Wong einen Satz vom Bett und verkroch sich unter einem Korbstuhl.

»Meine Babys, Joanna, Ricky, meine wunderschönen kleinen Babys! Wie ist es passiert? Wie konntest du das zulassen? Oh, mein Gott, ich muss zu ihnen!«

Jackie, die das Splittern des Porzellans gehört hatte, kam ins Zimmer gehastet. Nina erhob sich und brach, mitten in einem Haufen von Scherben stehend, in Tränen aus.

»Mrs Kingsford«, entsetzte sich Jackie und eilte auf Nina zu, deren Lippen eine bleiche Färbung angenommen hatten.

»Meine Babys«, schluchzte Nina, und ihre dunklen Augen füllten sich mit Tränen. Ihre schmalen Schultern bebten. Aus dem Telefonhörer in ihrer schlaffen Hand war Charlie zu hören, der verzweifelt ihren Namen rief.

Jackie bugsierte ihre Arbeitgeberin vorsichtig zurück aufs Bett und nahm ihr den Hörer aus der Hand.

»Lassen Sie mich mit Ihrem Mann sprechen, Mrs Kingsford«, meinte sie rasch. Einen Arm fest um Nina gelegt, lauschte sie Charlies Erklärung.

»Ich kümmere mich um alles, Sir«, erwiderte sie dann gelassen. »Nein, nein, sie wird sich schon wieder fangen. Ich sorge dafür, dass Mrs Kingsford sich beruhigt, und erzähle ihr alles. Dann warten wir, bis Sie einen Wagen schicken, um sie abzuholen.«

Nina riss ihrer Haushälterin den Hörer aus der Hand.

»Ich bin keine Kranke und kann selbst fahren«, sagte sie kurz angebunden und wischte sich mit einer Hand die Tränen weg. Am Steuer ihres Bentleys zu sitzen war eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen.

»Geht es den beiden wirklich gut, Charlie? Warum können sie dann nicht sofort nach Hause kommen?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

Fünf Minuten später hatte sich Nina ein wenig beruhigt, und ihre Wangen hatten wieder Farbe angenommen. Sie legte den Hörer auf. Inzwischen wagte sich auch Suzie Wong wieder aus ihrem Versteck und leckte nun die Sahne von dem zerbrochenen Porzellan. Nina nahm das kleine Fellbündel in die Arme und drückte es an sich. Erneut traten ihr Tränen in die Augen.

»Mr Kingsford hätte Ihnen niemals gesagt, dass es Miss Joanna und Mr Rick gut geht, wenn es nicht stimmen würde«, beteuerte Jackie. Sie ahnte, dass Nina im Begriff war, sich in einen hysterischen Anfall hineinzusteigern.

Manchmal fragte sie sich, ob Nina überhaupt begriff, wie sehr Mr Kingsford sie liebte und wie er sie gegen die raue Wirklichkeit des Lebens abschirmte.

»Kommen Sie, am besten Sie duschen jetzt erst einmal schön heiß.« Jackie legte Nina einen Morgenmantel aus elfenbeinfarbenem Satin um die Schultern und schob sie ins Bad.

Eine Dreiviertelstunde später entstieg Nina auf dem Gelände des Prince-of-Wales-Krankenhauses ihrem silberfarbenen Bentley. Sie war in ein elegantes, osterglockengelbes Wollkostüm gekleidet, darüber trug sie lässig einen kurzen Kunstpelzmantel mit Leopardenmuster. Ein bauschiger, gelb und elfenbein gemusterter Schal, den sie im Stil von Prinzessin Gracia von Monaco um ihr weiches braunes Haar und ihren Hals geschlungen hatte, rundete die Aufmachung ab.

Charlie kam ihr aus der Notaufnahme entgegengeeilt. Wieder einmal war er froh, dass es Jackie gab. Da er die schwankenden Stimmungen seiner Frau kannte, hatte er befürchtet, sie könnte auf der Fahrt ins Krankenhaus die Nerven verlieren und in einen Unfall verwickelt werden. Aber dank Jackies vernünftiger Art war sie viel ruhiger geworden. Wie immer sah Nina hinreißend aus. Hinreißend und hilflos. Charlie hakte seine Frau unter, begleitete sie in den Warteraum der Notaufnahme und forderte sie auf, Platz zu nehmen.

»Wir müssen abwarten, was der Arzt sagt«, begann er, streichelte sanft ihre Finger und musterte sie eindringlich. Allmählich hörte man ihm die Erschöpfung an, denn es war ein langer und von Angst und Sorge geprägter Vormittag gewesen. »Dann holen wir sie nach Hause. Jackie wird dir bei der Krankenpflege helfen, aber du schaffst das schon. Sie brauchen nur Ruhe.«

Da Nina nun Charlie endlich an ihrer Seite wusste, war es um ihre Selbstbeherrschung schlagartig geschehen, und sie wurde erneut von Furcht und Entsetzen ergriffen. Sie presste die Hände vor die Augen, um zu verhindern, dass ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen und ihr Make-up ruinierten, und sah ihren Mann an.

»Sind sie ... ich meine, wie schwer sind sie ...?«, stammelte sie mit zitternder Unterlippe.

»Sie haben ein paar Kratzer und Schrammen abgekriegt, und Jo musste sich eine Wunde an der Stirn nähen lassen. Aber das heilt wieder.«

Nina stieß einen Entsetzensschrei aus.

»Um Himmels willen, ihr Gesicht! Sie soll doch Fotomodell werden.« Ihre Angst verwandelte sich schlagartig in Wut, als sie ungläubig den Kopf schüttelte und Charlie am Ärmel packte. »Das hätte nicht passieren dürfen! Du weißt doch, wie sehr ich dagegen bin, dass die beiden sich auf dieser grässlichen Rennbahn herumtreiben. Warum hast du ihnen erlaubt zu reiten? Warum hörst du nie auf mich?«

Charlies Miene verfinsterte sich. »Darüber können wir später sprechen«, entgegnete er leise.

»Warum später und nicht jetzt?«, rief Nina laut.

Ihre Finger bohrten sich in den Stoff seiner Jacke, ihre Brust hob und senkte sich. Die Tränen strömten ihr über die Wangen.

Eine Krankenschwester blieb stehen.

»Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte sie.

Charlie bat sie mit einem Kopfschütteln zu gehen. Diese Unterbrechung war für Nina eine willkommene Ablenkung. Abrupt entriss sie Charlie ihre Hand und starrte ihn anklagend an. Ihre Wimperntusche war vom Weinen verschmiert.

»Wie konntest du nur?«, wiederholte sie. »Sind deine Kinder dir etwa gleichgültig? Oh, mein Gott. Warum sitze ich eigentlich noch hier? Wo sind sie? Ich muss zu ihnen.«

Ohne nachzudenken, sprang sie auf und hastete den Flur entlang, ihre hohen Absätze klapperten auf dem grauen Linoleum.

Mit zwei langen Schritten hatte Charlie sie eingeholt, und sie sackte gegen ihn. Er nahm sie in die Arme und liebkoste ihr weiches braunes Haar, von dem der Seidenschal heruntergerutscht war. Ihre Reaktion machte es ihm nicht leicht, Ruhe zu bewahren, denn seit dem Augenblick des Unfalls zermürbte er sich mit ganz ähnlichen Vorwürfen. Ninas Schultern bebten, und heisere Schreie stiegen aus ihrer Kehle auf. Sie zitterte am ganzen wohlgeformten Körper wie Espenlaub, und der schwere Moschusduft des teuren Parfüms, der von ihr ausging, wirkte in der sterilen Krankenhausatmosphäre völlig fehl am Platz.

»Du bist ein Kind in einem wunderschönen, erotischen Körper, der mich noch immer anzieht«, schoss es ihm durch den Kopf. Er hatte nie etwas anderes von Nina erwartet und liebte sie abgöttisch. Und er wusste von Anfang an, dass er das erwachsene Element in ihrer Ehe sein musste.

»Im Moment ruhen sie sich beide aus, Neene«, sagte er leise. Ihre Schluchzer verebbten allmählich, und sie schniefte nur noch hin und wieder. Er ließ sie los und griff nach ihren Händen. Während er diese fest umfasst hielt, schilderte er ihr in knappen Worten die Verletzungen der Zwillinge.

»Rick ist so frech wie eh und je, auch wenn er ein wenig über die Schmerzen klagt. Aber Jo fühlt sich noch leicht benommen. Sie mussten ihr unter Narkose die Schulter einrenken. Wenn die Fäden erst gezogen sind, ist sie wieder wie neu«, schloss er im Brustton der Überzeugung.

Allerdings behielt er Nina gegenüber lieber für sich, welche Sorgen er sich gemacht hatte. Er wagte erst, seine Frau anzurufen, als feststand, dass die Zwillinge nicht mehr in Lebensgefahr schwebten.

Rick hatte sich bemerkenswert schnell von seinem schweren Sturz erholt und war zu Charlies großer Erleichterung bereits im Krankenwagen wieder zu sich gekommen, obwohl er noch flach atmete und offensichtlich große Schmerzen litt. Er hatte sich nicht nur die Nase, sondern auch das Schlüsselbein und drei Rippen gebrochen. Außerdem litt er unter einer Art Schleudertrauma. Charlie empfand es immer noch als ein Wunder, dass Rick nicht von dem Pferd zerquetscht worden war.

Allerdings war Jo in den Augen der Ärzte noch nicht über den Berg. Sie hatte sich die Schulter ausgerenkt und das rechte Handgelenk verstaucht. Zudem bestand die Möglichkeit, dass die Verletzung an ihrem Kopf mit inneren Blutungen verbunden war. Die Reitkappe hatte zwar den Großteil des Aufpralls abgefangen, doch der tiefe Riss und der Bluterguss zeigten, dass sie ziemlich heftig mit dem Kopf aufgeschlagen war. Als Charlie die noch stark benommene Jo allein ließ, um sich auf die Suche nach Nina zu machen, hatte der Stationsarzt sich gerade vergewissert, dass keine Verschlechterung ihres Zustandes eingetreten war. Beide Zwillinge mussten in den nächsten Stunden aufmerksam beobachtet werden.

Nina zog ihre Hände weg und putzte sich mit einem zarten, spitzengesäumten Taschentuch die Nase. Ihre dunklen Augen funkelten Charlie wütend an.

»Immer wieder predige ich dir, dass du sie nicht auf deinen elenden Pferden reiten lassen sollst. Schließlich beschäftigen wir dazu Bereiter«, schniefte sie, wischte sich die verschmierte Wimperntusche weg und zupfte ihren Schal zurecht. Nachdem sie ihr glänzendes Haar zurückgestrichen hatte, band sie den Schal im Nacken zu einem Knoten. »Habe ich bei deinen Jockeys nicht schon genug Unfälle erlebt?«

Mit einem Seitenblick auf Charlie begann Nina, an ihren langen roten Nägeln herumzuzupfen. Ihre Hände zitterten heftig.

»Ich wusste, dass so etwas irgendwann passieren wird. Wenn sie ...« Die Worte blieben ihr im Halse stecken, und wieder traten ihr Tränen in die Augen. »... das würde ich dir nie verzeihen«, flüsterte sie mit heiserer Stimme.

Charlie strich über die Wange seiner Frau und sprach leise auf sie ein, als rede er mit einem Kind.

»Neene, mein Liebling, es geht ihnen gut. Sie werden gesund, das verspreche ich dir. Du musst dich nur beruhigen. Dann kommt alles wieder in Ordnung.«

Wenigstens war es ihm gelungen, einen hysterischen Anfall abzuwenden. Er sah auf die Uhr. Bis zu seiner Sitzung hatte er noch ein wenig Zeit.

»Und jetzt pudere dir dein hübsches kleines Näschen, damit wir hineingehen und nach ihnen schauen können. Jo und Rick brauchen ihre Mutter im Moment ganz besonders.«

Nina schnäuzte sich erneut.

»In Krankenhäusern wird mir immer ganz mulmig«, meinte sie schniefend. Rasch holte sie eine Puderdose aus ihrem winzigen henkellosen Handtäschchen und kontrollierte ihr Gesicht im Spiegel.

»Ich sehe zum Fürchten aus.«

Äußerlich gelassen, wartete Charlie ab, bis sie ihre Lippen mit Lippenstift in einem warmen Pfirsichton betupft und einen Hauch von Puder auf ihre Nase aufgetragen hatte. Zu guter Letzt besprühte sie sich mit einer großzügigen Portion Parfüm. Nachdem sie mit einem letzten Aufschluchzer ihren Mantel zusammengerafft hatte, machten sie sich auf den Weg zu den Zwillingen.

Durch einen Nebel von Betäubungsmitteln nahm Jo nur undeutlich wahr, dass sie einen Flur entlanggeschoben wurde. Es roch nach Desinfektionsmittel, sie spürte kaltes Metall auf der Haut, und dauernd stellte man ihr Fragen, während sie immer wieder wegdämmerte. Sie erinnerte sich, dass die Schmerzen plötzlich nachgelassen hatten, ehe sie erneut in einem Betäubungsschlaf versank, damit man ihr die Schulter einrenken konnte. Einmal vermeinte sie, das Parfüm ihrer Mutter zu riechen.

Als sie nun die Augen aufschlug und sich umsah, fragte sie sich zunächst, ob sie das alles nur geträumt hatte. Sie lag unter einer blauen Krankenhausdecke auf einer mit Kunststoff bezogenen Liege in einem winzigen Raum. Unter ihrem Kopf befand sich ein Kissen, und die hellgrünen Vorhänge rund um das Bett waren zugezogen. Ihr rechtes Handgelenk war fest bandagiert, ihr Arm hing in einer Schlinge. Kopf und Schulter pochten gnadenlos. Am Fußende des Bettes stand ein junger Krankenpfleger und studierte ihre Akte.

»Willkommen unter den Lebenden. Wie fühlen Sie sich?«

»Nicht gut«, murmelte Jo. »Ich glaube, mir wird schlecht.«

Der Pfleger hielt ihr eine hellgrüne, nierenförmige Schale unters Kinn, und Jo würgte, bevor sie wieder zurück aufs Kissen sank und abwartete, dass die Welt aufhörte, sich zu drehen. Ihre Schulter fühlte sich an wie mit einer rot glühenden Eisenstange durchbohrt.

»Wie geht es meinem Bruder?«, fragte sie besorgt.

»Der Arzt kommt gleich zu Ihnen«, erwiderte der Pfleger, nahm die Schale weg und strich ihre Bettdecke glatt. Im nächsten Moment teilten sich die Vorhänge, und ein Arzt in weißem Kittel erschien.

»Na, junges Fräulein, wie geht es Ihnen? Wir haben uns große Sorgen um Sie gemacht.«

»Mir tut der Kopf weh, und außerdem ist mir übel. Wie geht es Rick?«, beharrte Jo, deren Benommenheit sich allmählich legte.

»Der ist schon wieder putzmunter«, antwortete der Arzt. Er hob Jos Augenlider an, um ihre Pupillen zu begutachten. »Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?«

»Joanna Kingsford.«

»Und welchen Wochentag haben wir heute?«

»Mittwoch?«, entgegnete sie fragend.

»Gut. Und wenn Sie jetzt bitte an diesem Fuß mit den Zehen wackeln könnten.«

Jo gehorchte.

»Was ist mit meinem Bruder?«, wiederholte sie, und ihre Angst wuchs. »Warum behandeln mich alle hier wie ein Kleinkind?«

»Wir wollen uns erst vergewissern, dass Sie wieder auf dem Damm sind«, gab der Arzt ruhig zurück. »Können Sie das spüren?«

Er fuhr mit dem Daumennagel die Außenseite von Jos Fuß entlang, sodass dieser ruckartig zurückfuhr.

»Autsch! Wo ist Rick? Wird er wieder reiten können? Mein Pferd ist gestürzt ...« Die Worte blieben ihr in der Kehle stecken, und zu ihrem Ärger wurden ihr die Augen feucht, als sie den Unfall noch einmal Revue passieren ließ. Rick konnte doch unmöglich unverletzt geblieben sein!

»Tut mir leid.« Der Arzt wiederholte die Prozedur an Jos anderem Fuß. »Ihr Bruder ist schwer gestürzt und wird noch eine Weile Schmerzen beim Atmen haben, aber ich würde sagen, er ist über den Berg. Vorhin hat er sich sogar im Bett aufgesetzt und etwas zu essen verlangt«, fuhr er fort, während er die übrigen Reflexe überprüfte. »Ich weiß nicht, welcher Schutzengel ihm beigestanden hat, aber er hatte wirklich großes Glück. Vielleicht liegt es daran, dass er eine Schwester hat wie Sie, die sich Sorgen um ihn macht.« Als er Jo schmunzelnd den Puls fühlte, erwiderte diese das Lächeln. »Wir geben Ihnen etwas gegen die Kopfschmerzen.«

»Mein Genick fühlt sich auch ziemlich komisch an«, sagte Jo.

»Sie haben einen recht heftigen Schlag abgekriegt, und es wird eine Weile wehtun. Aber Sie sind jung und gut in Form. Wie alt sind Sie denn?«

»Sechzehn.«

Er nickte dem Pfleger zu, der noch immer am Fußende des Bettes wartete. Der Miene des Arztes war nichts zu entnehmen. An der Aufmerksamkeit des Mädchens gab es zwar nichts auszusetzen, doch die Schmerzen in Kopf und Nacken gefielen ihm gar nicht.

»Geben Sie ihr ein paar Schmerztabletten. Ich werde mir die Röntgenbilder noch einmal ansehen.«

Nachdem der Pfleger dem Arzt den großen ockergelben Umschlag gereicht hatte, verschwand er durch die Vorhänge.

»Nein. Sieht alles prima aus«, stellte der Arzt fest, während er die Röntgenaufnahmen betrachtete. »Ruhen Sie sich einfach aus. Wir schauen in einer Stunde wieder nach Ihnen.«

Er legte den Umschlag aufs Fußende des Bettes und ging. In diesem Moment stürmte Nina, dicht gefolgt von Charlie, durch die Vorhänge.

»Oh, Joanna, mein liebes Kind«, rief sie und stürzte auf das Bett zu. »Vorhin hast du noch geschlafen, und Daddy wollte dich nicht stören.« Sie machte Anstalten ihre Tochter an sich zu drücken, hielt aber inne, als sie sah, dass Jo den Arm in der Schlinge trug. Beim Anblick der hässlichen Beule auf Jos Stirn und der schwarzen Fäden, die sich deutlich von der mit bräunlichem Desinfektionsmittel eingepinselten Haut abhoben, traten ihr die Tränen in die Augen.

»Dein Gesicht, mein Kind! Ach, um Himmels willen! Das ist ja noch viel schlimmer, als Dad gesagt hat. Oh, du armes, armes Lämmchen.« Sie beugte sich vor und hauchte rasch einen Kuss in die Luft, dicht über Jos linker Wange. Dann drehte sie sich zu Charlie um und presste sich ihr Taschentuch an die zitternde Unterlippe. »Charlie, bist du sicher, dass keine Narbe zurückbleiben wird?«

»Was redest du da, Frau? Es ist doch nur ein Kratzerchen«, erwiderte Charlie fröhlich, da er erkannte, welche Wirkung Ninas Bemerkung auf Jo hatte. Also grinste er seiner Tochter zu und drückte ihre heile Hand. Er war nicht nur froh, dass Jo wieder bei Bewusstsein war, sondern auch erleichtert, denn die Röntgenaufnahmen waren bei beiden Geschwistern ohne Befund gewesen. Jo lächelte ihren Vater zögernd an.

»Aber eins sage ich dir: Heute war dein letzter Tag auf der Rennbahn. Du hast uns beiden einen ordentlichen Schrecken eingejagt«, fügte Charlie in gespielter Strenge hinzu.

Jos Miene verdüsterte sich.

»Das meinst du doch nicht ernst, Dad?« Ihre violetten Augen leuchteten aus dem blassen ovalen Gesicht. Ängstlich sah sie ihren Vater an.

»Nun, warten wir einfach ab«, erwiderte er, plötzlich ernüchtert.

Er hatte nicht so endgültig klingen wollen. Schließlich wusste jeder, dass es nach einem Sturz das Beste war, den Betroffenen so bald wie möglich wieder auf ein Pferd zu setzen. Doch Charlie, der an diesem Tag beinahe seine beiden Kinder verloren hatte, war sich nicht mehr so sicher. Außerdem traute er dem Frieden noch nicht ganz: Die Zwillinge machten inzwischen zwar wieder einen recht fidelen Eindruck, aber der Arzt wollte sie noch eine Weile weiter beobachten, um auf Nummer sicher zu gehen.

»Dad, ist Rick wirklich in Ordnung?«, fragte Jo, die die bedrückte Miene ihres Vaters bemerkte.

»Bis auf einen Schlüsselbeinbruch, einen Nasenbeinbruch und ein paar angeknackste Rippen ist ihm nichts passiert«, antwortete Charlie und war froh, dass das Thema Bahnarbeit für den Moment abgeschlossen zu sein schien. »Warum sprichst du nicht selbst mit ihm?«, fügte er hinzu und drehte sich um, als Rick durch den Vorhang kam.

Er hatte dunkelviolette Blutergüsse unter den Augen und ein Pflaster auf der Nase. Sein rechter Arm hing – wie der seiner Schwester – in einer Schlinge.

»Simulierst du immer noch, Schwesterherz?«, witzelte Rick, doch der Schmerz in seinen Augen strafte sein freches Grinsen Lügen. »Schließlich war ich derjenige, der die Ärzte und Sanitäter richtig auf Trab gehalten hat.«

Jo drängte die Tränen der Erleichterung zurück und schenkte ihrem Bruder ein schiefes Lächeln.

»Wenigstens hast du dir das Gesicht noch mehr verunstaltet als ich«, gab sie zurück und fühlte sich gleich besser. Wenn Rick bereits wieder in der Lage war, sie zu hänseln, konnte es nicht so schlimm um ihn stehen.

»Was ist mit Bella?«, erkundigte sich Jo mit einem Blick auf ihren Vater.

Charles schwieg zunächst.

»Wir mussten sie leider einschläfern lassen«, antwortete er dann. »Jack hat das erledigt. Es ging ganz schnell.«

Jo spürte einen Stich tief im Herzen.

»Du sollst dir dein Köpfchen nicht mehr über diese grauenhaften Rennpferde zerbrechen, Liebes«, mischte sich Nina ein.

Jo konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Wie konnte ihre Mutter nur so etwas Schreckliches sagen? Rasch wandte sie sich ab. Die arme Bella. Sie war so ein tapferes, kluges Pferd gewesen – geschickt genug, um Rick beim Sturz nicht zu zertrampeln. Jo wischte die Tränen weg, drehte sich um, schob die Decke beiseite, setzte sich auf und schwang die Beine vorsichtig über die Bettkante.

»Was sollen wir noch länger hier herumliegen? Lass uns gehen, Rick«, meinte sie mit leicht zitternder Stimme.

»Ich würde ja gern. Aber dieser Typ da erlaubt es nicht«, erwiderte Rick mit einem Grinsen und wies auf den Krankenpfleger, der hinter ihm erschienen war. Seine fröhliche Antwort hatte die Stimmung ein wenig aufgelockert.

»Ich würde euch am liebsten rausschmeißen, Leute, wenn da nicht die Oberschwester wäre«, entgegnete der Pfleger, reichte Jo zwei weiße Tabletten und zog die Vorhänge zurück. Dann lächelte er Nina und Charlie entschuldigend zu.

»Die beiden können heute am späten Nachmittag entlassen werden. Patienten mit Verdacht auf Kopfverletzungen behalten wir stets vier bis sechs Stunden auf der Station.«

»Wer spricht da von einer Kopfverletzung, Kumpel? Das da ist massives Holz«, protestierte Rick und klopfte sich mit der Faust gegen den Schädel. Im nächsten Moment verzog er das Gesicht. »Trotzdem danke für die Information«, fügte er hinzu und ließ sich schwer auf einen freien Stuhl fallen.

»Keine Ursache«, erwiderte der Pfleger und trollte sich.

Charlie warf einen Blick auf die Uhr: kurz vor eins. Er rieb sich die Hände.

»Nun denn! Wenn man vernachlässigt, dass ihr ausseht wie nach einer ordentlichen Prügelei, scheint alles noch einmal gut gegangen zu sein. Da ihr offenbar schon wieder fähig seid, Unruhe zu stiften, überlasse ich euch am besten eurer Mutter, damit sie euch die Hammelbeine langzieht.«

Die Zwillinge fingen an zu lachen, aber Nina zog die Augenbrauen hoch.

»Nun reg dich nicht gleich wieder auf, Neene. Ich habe schon seit Ewigkeiten eine Verabredung mit einem Burschen, der extra aus Brisbane angereist kommt.«

Nina wollte protestieren, denn der Zwischenfall hatte sie sehr mitgenommen. Außerdem war sie noch immer ziemlich wütend auf Charlie.

»Nein, Mum, uns geht es wirklich prima«, beteuerte Rick rasch, als er bemerkte, dass seine Eltern Blicke wechselten. »Ich fühle mich viel besser, und Jo auch, oder?«

Jo nickte. »Der Arzt sagt, mit meinen Rippen kann ich nichts weiter tun als abwarten. Und eine gebrochene Nase macht mein Gesicht nur interessanter.« Die Schmerzen in der Brust hinderten ihn am Lachen.

Nina gefiel die Vorstellung nicht, allein mit den Zwillingen im Auto nach Hause zu fahren.

»Uns geht es wirklich gut, Mum«, wiederholte Jo.

»Außerdem hat Sam bestimmt kein Frühstück bekommen«, sprach Rick weiter. »Der arme alte Junge fragt sich sicher, wo wir bleiben. Ich nehme an, du hast ihn nicht gefüttert, oder, Mum?«

Der dreizehnjährige Golden Retriever, ein Geschenk zum dritten Geburtstag der Zwillinge, war schon immer Ricks Hund gewesen. Jeden Morgen lag er, die Schnauze zwischen den Pfoten, an seinem Lieblingsplatz auf den breiten, gefliesten Verandastufen des Hauses in Cogee und beobachtete Rick mit einem seelenvollen Blick aus seinen samtig braunen Augen, wenn die Zwillinge zur Arbeit auf der Rennbahn aufbrachen. Bis zu Ricks Rückkehr konnte nichts Sam von der Veranda weglocken, und wenn sein Herrchen endlich wieder erschien, geriet der Hund vor Freude völlig außer Rand und Band. Wild mit dem Schwanz wedelnd, ließ er sich von Rick tätscheln, und jeden Morgen bestand die erste Handlung des Jungen darin, Sam zu füttern.

»Du erwartest doch nicht ernsthaft, dass ich nach allem, was euch passiert ist, an den Hund denken würde!«, rief Nina.

Charlie küsste Jo rasch auf die Wange.

»Pass auf deine Mutter auf«, flüsterte er und steuerte auf die Tür zu.

Aber Nina rannte ihm nach.

»Verdammt, du darfst jetzt nicht einfach gehen, Charlie«, zischte sie und versuchte keuchend, mit seinen langen Schritten mitzuhalten.

»Doch.« Er ging schneller. »Der Arzt sagt, dass die beiden wieder in Ordnung kommen. Der Stammbaum dieses Pferdes aus Brisbane ist es wert, sich das Tier genauer anzusehen. Insbesondere deshalb, weil ich gerade eine gute Zuchtstute verloren habe.« Auch Charlie atmete schwer. »Ich bin ohnehin schon zu spät dran. Die Oberschwester meint, du kannst die Kinder nach der nächsten Visite des Arztes mitnehmen. Sorge einfach nur dafür, dass sie sich ausruhen. Schließlich hast du Jackie. Wenn dir etwas merkwürdig vorkommt, bring sie auf dem schnellsten Weg wieder ins Krankenhaus. Und für alle Fälle gebe ich dir das hier.«

Er zog ein Bündel Banknoten aus der Tasche und drückte es Nina in die Hand. Bevor sie etwas erwidern konnte, war die Tür bereits hinter ihm zugefallen.

Zornig starrte Nina den menschenleeren Flur entlang.

»Pferde, immer nur die gottverdammten Pferde! Die kommen bei ihm an erster Stelle und das« – sie schwenkte die Geldscheine – »soll alles regeln!«, tobte sie.

Sie wusste, dass sie ungerecht war, denn schließlich verdiente Charlie mit den Pferden den Lebensunterhalt der Familie. Und Nina liebte das Luxusleben, das sie führten, und wusste, dass er ihr mit dem Geld eine Freude machen wollte. Aber der Unfall hätte nie passieren dürfen!

Sie stopfte die Geldscheine in die Handtasche und kehrte ins Krankenzimmer zurück.

»Den Laden siehst du nicht wieder«, sagte Rick, der hinten im Bentley saß, und schnippte mit dem Finger gegen die Karte, auf der die genauen Verhaltensregeln für Patienten mit einer Kopfverletzung standen.

Der Wagen verließ das Krankenhausgelände und fuhr in Richtung Cogee. Diese vorgedruckten Karten wurden vorschriftsmäßig an alle entlassenen Patienten verteilt, die einen – auch noch so leichten – Schlag auf den Schädel abbekommen hatten. Rick studierte die Hinweise und versuchte dabei, nicht auf seine schmerzenden Rippen zu achten. Kopfschmerzen, Sehstörungen, Brechreiz ... Er warf die Karte auf den Sitz neben den Mantel seiner Mutter und dachte an Sam.

Jo lehnte sich im Beifahrersitz zurück und genoss die warme Nachmittagssonne, die durch die Autoscheiben strömte.

»Sam wird sich freuen«, meinte sie, als hätte sie Ricks Gedanken gelesen.

Die Wirkung des Betäubungsmittels ließ inzwischen nach, und dank der Schmerztabletten taten Kopf und Schulter nicht mehr so weh, aber sie fühlte sich unendlich müde. Außerdem hatte sie wieder dieses merkwürdige Gefühl im Nacken.

»Ist bei dir dahinten alles in Ordnung, Rick?«, fragte Nina barsch und warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel.

Sie hatte ihren Schal wieder um den Kopf geschlungen, und ihre Hände umklammerten das Lenkrad. Immer noch war sie Charlie wegen seines abrupten Aufbruchs böse. Außerdem belastete sie plötzlich die Verantwortung, die Zwillinge ganz allein nach Hause zu bringen. Dass Jackie für sie da sein würde, sobald sie durch das schmiedeeiserne Tor fuhren, half ihr im Moment wenig.

Jos viel zu bleiches Gesicht, die eindringlichen Warnungen der Oberschwester und diese entsetzlichen Karten mit den Verhaltensregeln trugen nicht unbedingt dazu bei, Ninas Befürchtungen zu zerstreuen. Zum ersten Mal im Leben fuhr sie überaus vorsichtig und langsam, ging schon lange vor jeder Ampel vom Gas, um die Zwillinge keiner Erschütterung auszusetzen, und kroch um jede Kurve, ohne auf das Hupkonzert und die Beschimpfungen der anderen ungeduldigen Autofahrer zu achten. Allerdings war Nina trotz der geschlossenen Scheiben bald mit den Nerven am Ende.

»Blödmann«, schimpfte sie und beschleunigte, als ein Wagen versuchte, sie zu schneiden. Sie fragte sich, ob sie in diesem Tempo jemals zu Hause ankommen würden, und fuhr ein bisschen schneller.

»Du hast doch verstanden, was dein Vater vorhin gesagt hat, Joanna? Mit diesem albernen Quatsch von wegen Arbeiten auf der Rennbahn ist für dich endgültig Schluss.«

Schlaftrunken murmelte Jo eine Antwort.

»Jo! Hör mir zu, wenn ich mit dir rede. Auch wenn dein Vater das vorhin witzig gemeint hat, ist es mir ernst. Ein Glück, dass dein gutes Aussehen bei diesem Unfall nicht gelitten hat. Modelagenturen nehmen nämlich nicht einfach jede.«

Gereizt setzte sie den Blinker, um von der Hauptstraße abzubiegen, musste aber feststellen, dass der Verkehr umgeleitet wurde.

»Eine geplatzte Wasserleitung. Das hat mir gerade noch gefehlt«, rief sie, klopfte mit den Fingernägeln aufs Lenkrad und machte ihrer Ungeduld mit unablässigem Geplapper Luft. »Und auch wenn dein Vater das anders sieht, weiß ich genau, dass du von dieser genähten Wunde für den Rest deines Lebens eine Narbe zurückbehalten wirst. Zum Glück habe ich gute Beziehungen. Nein, mein Kind, ab sofort wirst du dich auf den Ponyclub und aufs Dressurreiten beschränken, wenn du von Pferden nicht die Finger lassen kannst. Du wirst dich endlich benehmen wie eine Dame.«

»Ja, Mum«, erwiderte Jo und wünschte, ihre Mutter würde endlich den Mund halten.

Das aufmerksame Zuhören verschlimmerte ihre Kopfschmerzen, und sie hatte nicht die Kraft, sich zu streiten. Stattdessen beobachtete sie, wie die weißen Schäfchenwolken über den kobaltblauen Himmel zogen. Als der Verkehr auf der anderen Fahrbahn ebenfalls ins Stocken geriet, nahm Nina ihre Tirade wieder auf.

»Ach, Mum, lass sie in Ruhe«, sagte Rick. »Schließlich war es nicht ihre Schuld, dass das Pferd durchgegangen ist.«

»Rick, du hältst dich da raus. Immerhin hast du den Unfall verursacht«, fuhr sie ihn an. »Wenn du besser aufgepasst hättest, wärst du nicht vom Pferd gefallen, und diese ganzen Scherereien wären uns erspart geblieben.«

»Oh, Mum, das ist nicht fair«, sprang Jo sofort für ihren Bruder in die Bresche. »Ricks Pferd war sehr schwierig, und er hat sich wacker geschlagen.«