Im Nebel dein Name - Svenja Reichel - E-Book

Im Nebel dein Name E-Book

Svenja Reichel

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Beschreibung

Seitdem Elaria etwas Mysteriöses im Nebel beobachtet hat, ist sie nicht mehr dieselbe. Niemand weiß, was geschehen ist und sie selbst spricht nicht darüber. Was sie mit sich trägt, ist mehr als ein Geheimnis. Es ist der Beginn eines neuen Lebens. Doch während das Dorf sie mit Argwohn betrachtet und der Mann, der sie retten wollte, nicht loslassen kann, wächst in ihr eine unbändige Sehnsucht. Nach der Wahrheit. Nach dem, was jenseits des Nebels liegt. Nach ihm. Ein stiller Aufbruch. Ein Wald, der Geheimnisse bewahrt. Und ein Name, der in ihr weiterlebt. Auch wenn alles andere längst verblasst.

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Seitenzahl: 380

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Svenja ReichelIm Nebel dein NameWo sich unsere Welten trafen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über https://dnb.dnb.de abrufbar.

Impressum:

Texte: © 2025 Copyright by Svenja Reichel

Cover: © 2025 Copyright by Svenja Reichel

Verantwortlich für den Inhalt:

Svenja Reichel

c/o Autorenglück #69434

Albert-Einstein-Straße 47, 02977 Hoyerswerda

[email protected]

https://svenja-reichel-buecher.info

Herstellung: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten:

Unbefugte Nutzung, etwa wie die Vervielfältigung, Verbreitung, Übertragung oder Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Über die Autorin:

Svenja wurde 1989 in Dortmund geboren und lebt heute mit ihrem Lebensgefährten, einem eigensinnigen Kater und einer treuen Hündin im grünen Herzen Nordrhein-Westfalens. Schon seit ihrer Kindheit schlägt ihr Herz für Bücher, besonders die fantastischen Welten der Fantasy-Literatur haben es ihr angetan.

Mit großer Leidenschaft verliert sie sich in Geschichten voller Magie, fremder Welten und außergewöhnlicher Charaktere. Als bekennender „Stranger Things“-Fan der ersten Stunde, liebt sie auch düstere Atmosphären und geheimnisvolle Erzählungen mit Gänsehautgarantie.

Was lange nur in ihrem Kopf lebte, durfte nun das Licht der Welt erblicken. Ihre erste selbstgeschriebene Geschichte ist entstanden – Im Nebel dein Name – Vielleicht auch bald eine Fortsetzung.

Abseits von Büchern zieht es Svenja immer in die Berge. Gemeinsam mit ihrem Freund schnürt sie gerne die Wanderschuhe. Ihr bisher größtes Abenteuer: Der ‘Lechweg‘, den sie auf 125 Kilometern durch beeindruckende Natur und Stille gemeistert haben.

Inhaltsübersicht

Widmung

Kapitel 1

Vaelric

Kapitel 2

Elaria

Kapitel 3

Elaria

Kapitel 4

Vaelric

Kapitel 5

Elaria

Kapitel 6

Vaelric

Kapitel 7

Elaria

Kapitel 8

Vaelric

Kapitel 9

Elaria

Kapitel 10

Vaelric

Kapitel 11

Elaria

Kapitel 12

Vaelric

Kapitel 13

Elaria

Kapitel 14

Vaelric

Kapitel 15

Elaria

Kapitel 16

Vaelric

Kapitel 17

Elaria

Kapitel 18

Vaelric

Kapitel 19

Elaria

Kapitel 20

Vaelric

Kapitel 21

Elaria

Kapitel 22

Vaelric

Kapitel 23

Elaria

Kapitel 24

Vaelric

Kapitel 25

Jorre

Kapitel 26

Elaria

Kapitel 27

Vaelric

Kapitel 28

Elaria

Kapitel 29

Vaelric

Kapitel 30

Jorre

Kapitel 31

Vaelric

Kapitel 32

Elaria

Kapitel 33

Vaelric

Kapitel 34

Jorre

Kapitel 35

Elaria

Kapitel 36

Vaelric

Kapitel 37

Elaria

Kapitel 38

Jorre

Kapitel 39

Vaelric

Kapitel 40

Elaria

Kapitel 41

Vaelric

Kapitel 42

Elaria

Kapitel 43

Vaelric

Kapitel 44

Elaria

Kapitel 45

Vaelric

Kapitel 46

Elaria

Kapitel 47

Elaria

Kapitel 48

Vaelric

Kapitel 49

Elaria

Kapitel 50

Vaelric

Kapitel 51

Elaria

Kapitel 52

Vaelric

Kapitel 53

Elaria

Kapitel 54

Vaelric

Kapitel 55

Jorre

Kapitel 56

Elaria

Kapitel 57

Elaria

Kapitel 58

Elaria

Kapitel 59

Vaelric

Kapitel 60

Elaria

Kapitel 61

Jorre

Kapitel 62

Elaria

Kapitel 63

Vaelric

Kapitel 64

Elaria

Kapitel 65

Vaelric

Kapitel 66

Elaria

Kapitel 67

Jorre

Kapitel 68

Elaria

Kapitel 69

Elaria

Kapitel 70

Vaelric

Widmung

Für alle die sich im Nebel verirren

und genau dort gefunden werden!

Kapitel 1

Vaelric

Der Nebel war alt an diesem Abend. Älter als die Steine von Calven, älter als die Geschichten, die sich die Dörfler am Herd erzählten, wenn der Wind durch die Balken klagte und die Flammen im Kamin flackernd vor der Dunkelheit zurückwichen. Er wuchs aus dem Boden wie ein hungriges Tier, geduldig und unaufhaltsam und schlich durch enge Gassen, kroch lautlos über die Felder, umschlang die Zäune wie gläserne Schlangen und verschluckte die Konturen der Welt, bis selbst vertraute Formen fremd und fern wirkten.

Er war kein Wetter.

Er war ein Zustand

Ein Wille.

Vaelric stand reglos am Rand der Schatten, dort, wo der Wald wie ein stummes Meer an das Dorf stieß. Sein Mantel war von einer asymmetrischen Schwärze, die nicht bloß Licht verschluckte, sondern sich in der Bewegung des Nebels verlor, als sei er aus dem gleichen Stoff gewebt. Rauch, der sich weigert zu vergehen. Die Ränder seiner Gestalt verschwammen mit der Nacht und doch haftete ihm eine Schärfe an, die alles um ihn herum matt erscheinen ließ. Haut bleich wie Mondasche, glatt und fremd. Augen von einem Blau, das nichts zurückwarf, keine Glut des Feuers, kein Glanz des Sternlichts. In diesem Blau gab es kein Will-kommen.

Keine Wärme.

Kein Licht.

Keine Menschlichkeit.

Er war ein Veyra und seine Zeit war gekommen.

Calven selbst war ein armseliges Nest, ein Flickwerk aus grobem Stein, morschem Holz und Seelen, die zu klein dachten, um das Dunkel jenseits ihrer Öllampen zu begreifen. Doch nicht der Ort hatte Vaelric hergerufen.

Sie war es.

Elaria.

Ihr Name war ihm nicht gesagt, sondern zugeflüstert worden. Nicht von einer Stimme im üblichen Sinn, sondern von einer Strömung im Nebel, einem Laut jenseits der Sprache.

Die Veyra wussten, wann ein Blut sich eignete.

Wann ein Mensch empfänglich war.

Wann ein Opfer bereit war.

Sie hatte es nicht gewählt, aber das war ohne Belang. Ihre Gestalt war zart, aber nicht schwach. Die dunklen Haare trug sie lose, und manchmal, wenn der Wind sie streifte, schien sie mit ihm zu sprechen, leise, ohne Worte, als hörte sie Dinge, die anderen verborgen blieben.

Das war ausreichend.

Seit vier Nächten beobachtete er sie. Immer dieselbe Stunde, wenn der Nebel am dichtesten stand. Sie verließ das Haus, den Blick geradeaus, ging zum Brunnen, ohne sich umzusehen. Ihr Atem dampfte in der kalten Luft, Schritte vorsichtig, aber nicht furchtsam.

Noch nicht.

Sie war jung, vielleicht achtzehn Winter alt. Reine Linien im Gesicht, eine unberührte Anmut, die kein Schmuck und kein Spiegel verbessern konnte.

Ihre Augen… verletzlich, wie Glas, das jeden Augenblick zerspringen könnte. Ein Ausdruck, den Vaelric nicht verstand.

Nicht spürte.

Nur analysierte.

Gefühle waren ihm fremd.

Er kannte nur Muster.

Verhalten.

Schwächen.

Er trat einen Schritt näher. Der Nebel nahm ihn gierig in sich auf, zog seine Konturen in Fetzen und formte sie neu.

Für sie war er nicht sichtbar.

Noch nicht.

Die Grenze zwischen den Welten war dünn wie altes Papier, aber nicht durchbrochen.

Noch nicht.

Seine Zeit war bald.

Vaelric legte eine Hand an den Stamm einer Eiche, deren Wurzeln tief in Erde und Erinnerung griffen. Die Rinde zerbröselte unter seinen Fingern wie Staub aus einem Grab. Ein leises, bröckelndes Geräusch, das von keinem Ohr vernommen werden sollte.

Seine Gedanken flackerten durch fremde Ebenen. Er sah Runen, die von keinem menschlichen Alphabet träumten, hörte Stimmen, die in Sprachen sangen, die nie erfunden worden waren. Er sah Gesichter, die nie geboren worden waren und Orte, die nur existierten, wenn die Schwelle zwischen Traum und Tod geöffnet war.

Elaria war keine Trägerin alten Wissens, kein Kind vergessener Linien. Sie war nur das, was Vaelric wollte.

Er musste sie nicht verführen.

Nicht überzeugen.

Nur beobachten, lenken, formen.

Sie war Ton in den Händen eines Bildhauers, der nicht an Schönheit glaubte, nur an Zweck.

Wenn der richtige Moment kam, wenn der Nebel rief und das Gleichgewicht zwischen den Welten kippte, würde er durch die Schwelle treten.

Dann würde sie ihn sehen.

Und in diesem Augenblick würde etwas in ihr zerbrechen. Etwas, das nicht wieder ganz werden konnte.

Es gab kein Zurück.

Vaelric wandte sich ab, als Elaria den Eimer aus dem Brunnen zog, das Wasser im Mondlicht schwappen ließ und mit ruhigen Schritten verschwand. Ihr Schatten glitt über die Pflastersteine, bis der Nebel ihn verschluckte.

Er hatte genug gesehen.

Für heute.

Noch ein paar Nächte, vielleicht. Ein Ritual webte sich im Verborgenen, Stück für Stück, als würde unsichtbare Tinte in die Luft geschrieben. Unter seinen Fingern formten sich Zeichen, deren Namen selbst der Wind nicht wagte zu flüstern.

Die Zeit der Träume war vorbei.

Die Zeit der Auswahl begann.

Kapitel 2

Elaria

Calven kam nie wirklich zur Ruhe. Selbst wenn der Abend hereinfiel, knackten irgendwo die Balken der alten Häuser, winselte der Wind an den scharfkantigen Dachrändern, klirrte das müde Metall der Wetterhähne. Doch in den letzten Tagen war es anders gewesen. Nicht wirklich leiser, eher… zurückhaltend. Als würde selbst das Dorf den Atem anhalten, als traue sich die Luft nicht mehr frei zu strömen. Das Licht des Abends fiel länger, zögerte, den Tag zu verlassen und warf fahle, fast kränkliche Schatten auf den Pflastersteinen.

Elaria zog das Tuch fester um ihre Schultern als sie die Haustür hinter sich zuzog. Die Klinke gab ein leises Knacken von sich und das Geräusch schien sich zu weit im Nebel zu verlieren, als hätte es der Abend verschluckt. Die Luft war feucht, schwer und der Nebel lag wie nasses Leinen auf der Welt, schwer genug, um die Schultern zu drücken. Der Weg zum Brunnen war nicht weit, dreißig Schritte, vielleicht etwas mehr, wenn man bedächtig ging. Früher hatte sie ihn oft in halber Gedankenlosigkeit zurückgelegt, barfuß manchmal, den Blick gen Himmel gerichtet. Jetzt war jeder Schritt ein bewusstes Tun, wie das vorsichtige Betreten eines unbekannten Raums.

Seit einigen Abenden kostete es sie Überwindung, das Haus nach Sonnenuntergang zu verlassen. Nicht, weil sie etwas sah. Es war vielmehr das, was sie spürte, unter der Haut, in den Knochen, im Raum zwischen Herzschlag und Atemzug. Wie ein Zittern, das nicht aus ihrem Körper kam. Als würde etwas hinter ihr hergehen, ohne je einen Schritt zu tun. Sie hatte sich nie umgedreht. Nicht aus Furcht vor dem, was sie sehen könnte, sondern aus dem sicheren Wissen, dass da nichts zu sehen sein würde. Und genau darin lag der eigentliche Schrecken.

Der Nebel schien dichter, je näher sie dem Brunnen kam. Er tanzte nicht spielerisch im Wind, wie er es an manchen Herbstabenden tat. Er lauerte. Schlängelte sich in jede Ritze, füllte jede Lücke. Sogar das leise Tropfen von Tau von den Dachrinnen schien gedämpft. Sie zwang sich, weiterzugehen. Die Schritte vorsichtig, der Griff um den Krug fest, beinahe verkrampft. Er schien schwerer als sonst, als hätte das Gefäß selbst die träge Schwere der Luft angenommen.

Elaria war keine mutige Frau. Aber sie hatte gelernt, still zu sein. Zu lächeln, wenn andere redeten. Zu hören, was nicht gesagt wurde. Und mehr als einmal hatte sie Dinge gespürt, die andere nicht bemerkten, kleine Risse im Gefüge der Welt. Manchmal zu viele. In den letzten Tagen war dieses Gespür zu einer Last geworden. Es war, als würde etwas in ihre Wirklichkeit hineinsehen, ohne je sichtbar zu werden. Wie ein Blick, der durch Wände ging. Wie ein Hauch in ihrem Nacken, obwohl kein Wind wehte.

Am Tag verschwand es fast, löste sich auf in der Wärme und den Stimmen des Dorfes. Aber mit dem Abend, wenn der Nebel aus den Senken kroch, kehrte es zurück. Dieses… Etwas. Sie hatte es keinem erzählt. Was hätte sie sagen sollen? Dass der Nebel sie ansah? Dass das Rascheln der Bäume manchmal klang wie ein Name, den sie nie zuvor gehört hatte und doch zu kennen schien? Dass der Raum um sie herum in solchen Momenten zu eng wurde, wie ein Kleid, das man nicht abstreifen konnte?

Sie stellte den Krug am Brunnenrand ab, das dumpfe Aufsetzen klang seltsam fern. Langsam, mit angehaltenem Atem, drehte sie sich um.

Nichts.

Nur die verschwommenen Konturen der Häuser, weichgezeichnet von Nebelschleiern. Der Wald in der Ferne, schwarz wie ein ausgebrannter Himmel.

Über den Dächern hing eine Stille, so vollständig, dass ihr eigener Herzschlag wie ein fremder Klang in ihrer Brust pochte.

Ihre Finger glitten über das raue Seil des Brunnens. Es war feucht und aufgequollen, der Hanf faserig wie altes Haar. Als sie den Eimer heraufzog, perlten Wassertropfen über ihre Haut. Kalt. Kälter als das Wasser hätte sein dürfen, als hätte es einen Blick in sich gespeichert. Sie hielt inne. Lauschte. Hörte nichts außer dem leisen, gleichmäßigen Tropfen, wenn der Eimer über den Brunnenrand kam.

„Du bildest dir das ein“, flüsterte sie. Doch die Worte waren nicht tröstlich. Sie klangen wie eine Bitte und eine Bitte war etwas, das man nicht immer erfüllt bekam.

Als sie sich aufrichtete, spürte sie ein Zittern in ihren Händen. Vielleicht war es die Kälte. Vielleicht nicht. Ihre Augen suchten den Nebel ab, diesmal länger. Nicht aus Neugier, aus einer seltsamen Hoffnung, dass dort etwas wäre, etwas, das dem Gefühl endlich einen Körper gab. Etwas, das man greifen, benennen, fürchten konnte.

Aber der Nebel blieb leer. Und genau das ließ sie schneller gehen, zurück ins Haus, den Krug fest an sich gedrückt. Hinter ihr schloss sich der Nebel wieder, lautlos. Der Krug war voll. Aber ihre Gedanken, schwerer, dunkler, füllten mehr Raum als das Wasser jemals konnte.

Kapitel 3

Elaria

Das Wasser aus dem Brunnen war längst verstaut, sauber abgefüllt in den bauchigen Tonkrügen, die sie mit einem Tuch abgedeckt in der Ecke aufgereiht hatte. Die Tür war verriegelt, der Riegel schob sich mit einem dumpfen, beruhigenden Klick in die Führung und der Vorhang vor dem kleinen Fenster hing glatt und dicht, sodass kein Streifen der fahlen Abendluft hineindringen konnte.

Und doch hielt Elaria inne. Sie stand still, den Kopf leicht zur Seite geneigt, als könnte sie so die Geräusche der Dämmerung besser einfangen. Ein letzter, suchender Blick glitt über den Raum, bevor sie langsam zur Kerze trat. Die Flamme flackerte träge, als wüsste sie schon, dass ihr bald das Ende bevorstand. Elaria umschloss das warme Metall des Kerzenhalters mit den Fingerspitzen, spürte das kaum wahrnehmbare Zittern des Wachses unter der Hitze und blies dann die Kerze aus. Der Rauch kringelte sich wie ein schmaler Finger nach oben, bevor er in der Stille zerrann.

Sie liebte diese Abendrituale. Das langsame Auskämmen ihres dunklen, schweren Haars, bei dem der Kamm mit seinen hölzernen Zinken erst stockte und sich dann gleichmäßig durch die Längen arbeitete. Das vertraute Kratzen über ihre Kopfhaut, ein kleines, beruhigendes Geräusch, begleitet vom sanften Knacken der Haarsträhnen, die sich entwirrten. Im Hintergrund das leise, stetige Knistern des Holzofens, der noch eine schwache Wärme in den Raum abgab, als würde er selbst in einen trägen Schlaf sinken. Der feine Geruch von getrocknetem Lavendel, der unaufdringlich, aber beständig aus dem Leinenbeutel in ihrer Truhe stieg, mischte sich mit der Wärme des Ofens und legte sich wie ein Schleier über den Raum.

Doch heute war es anders. Alles wirkte… nicht fremd im Sinn von unbekannt, sondern fremd im Sinn von verschoben. Wie ein vertrautes Lied, dessen Melodie plötzlich in einer anderen Tonart gespielt wird. Sie konnte nicht sagen, was sich verändert hatte, nur dass die vertraute Sanftheit einen kaum merklichen Riss bekommen hatte.

Das Mieder löste sich unter ihren Fingern, die Schnüre glitten lautlos durch die Ösen und das schwere Rascheln des Stoffs, als sie es auf den Stuhl legte, schien lauter als sonst. Sie schlüpfte in ihr einfaches Nachthemd aus grauer Baumwolle. Die Nähte waren an manchen Stellen leicht ausgefranst, ein Zeichen, wie oft es schon gewaschen und getragen worden war. Doch der Stoff war weich, warm vom Körper, vertraut wie ein altes Versprechen.

Sie ließ ihre Finger über die Bettkante gleiten, die raue Holzmaserung fühlte sich fest und geerdet an, fast so, als könnte sie sie in der Gegenwart verankern, wenn ihre Gedanken zu weit in das Ungewisse hinausdriften wollten.

Dann kroch sie unter die Decke. Das Laken fühlte sich kühl an, so wie es an feuchten Abenden oft war, wenn der Nebel schon früh über die Felder kroch. Sie zog die Knie leicht an, um die Kälte zu vertreiben und legte sich auf die Seite. Das Gesicht zum Fenster gerichtet, obwohl der Vorhang längst geschlossen war.

Etwas in ihr lauschte. Nicht auf ein bestimmtes Geräusch, eher auf die Möglichkeit von Geräuschen. Auf ein unbestimmtes Etwas, das vielleicht gar nicht da war. Oder doch? Das Dorf war stiller geworden in den letzten Nächten, als hätte es selbst das Atmen vergessen. Selbst die Zikaden, die sonst nicht zu ermüden schienen, hatten geschwiegen. Der Nebel war heute dichter gewesen, milchig und schwer, ein Gewicht in der Luft. Oder bildete sie sich das nur ein?

Langsam zog sie die Decke bis zum Kinn, um sich noch ein wenig tiefer in ihre kleine Festung aus Stoff und Wärme zurückzuziehen. Sie schloss die Augen und versuchte, den Gedanken abzuschütteln.

„Nur Müdigkeit“, flüsterte sie in die Kissen hinein, als müsste sie sich selbst überzeugen.

Aber der Schlaf blieb fern.

Noch nicht.

Nur der Nebel draußen, der an der Fensterscheibe klebte, träge und un-nachgiebig.

Wie ein Atem, der nicht ihrer war.

Kapitel 4

Vaelric

Die Schwelle war dünn in dieser Nacht.

Dünner als sonst.

Sie spannte sich wie ein hauchfeiner Faden zwischen den Welten, durchlässig, verletzlich, kaum mehr als ein Atemzug, der die Grenze markierte.

Der Nebel hatte sich erhoben, dicht und doch nicht schwer und lag über dieser Schwelle wie ein durchsichtiger Schleier, der von etwas Unsichtbarem gehalten wurde. Kein Laut war zu hören, nicht einmal das ferne Rauschen, das sonst in Träumen wie ein Echo der Wirklichkeit wabert. Nur die lautlose, geduldige Stille, die vor dem Übertritt herrscht.

Vaelric trat hindurch.

Er glitt. Ohne Bewegung, ohne Gewicht, ohne die geringste Erschütterung.

Nicht in Fleisch.

Nicht in Form.

Nicht in der Welt der Hände und Augen.

Aber dort, wo die Wahrnehmung am schwächsten verteidigt ist, wo der Mensch nackt und offen liegt, in den Tiefen des Schlafs.

Elaria lag unter ihrer Decke, in einem Zimmer, das sich in weiches Dämmerlicht tauchte. Nicht das Licht einer Lampe, sondern jenes, dass der Traum erfindet, um Sicherheit zu versprechen. Ihr Atem war ruhig, aber nicht gleichmäßig tief. Er verriet das zarte Schwanken zwischen Wachsein und Schlaf, das langsame Loslassen.

Noch hielt sie sich an der Welt fest. Nicht mit den Händen, sondern mit einem Restbewusstsein, wie ein Kind an der Hand einer vertrauten Stimme, das den Schritt ins Unbekannte scheut.

Vaelric legte keinen Druck auf diesen letzten Halt. Er brauchte keinen Zwang, keine Gewalt.

Er berührte sie nicht einmal.

Er lenkte nur.

Wie ein unsichtbarer Wind, der an einer Flamme zupft.

Nicht direkt, niemals frontal, sondern in kleinen, unvermeidlichen Strömungen, bis das Licht sich neigt.

Zuerst ließ er das Bild entstehen.

Zwei Augen.

Kalt und blau wie gefrorenes Wasser, in dem ein Himmel ertrunken ist.

Keine Wut darin.

Keine Wärme.

Nur eine unbewegte Gegenwart, die nichts verspricht und nichts verwehrt.

Sie tauchten aus dem Nebel auf, schwebend, ohne Körper, ohne Form und richteten sich auf sie. Nicht wie ein Mann eine Frau ansieht, mit Erwartung oder mit Absicht, sondern wie ein Jäger ein Ziel beobachtet, nüchtern, präzise, ohne Regung.

Elaria spürte keine Angst.

Noch nicht.

Nur dieses unruhige, wachsende Gefühl, dass sie nicht allein war.

Dass sie gesehen wurde.

Nicht oberflächlich, sondern bis in die Schichten, die sie selbst kaum kannte.

Dann ließ Vaelric den Wald um sie wachsen.

Nicht plötzlich, sondern langsam, als ob der Nebel die Umrisse nach und nach freigäbe. Nadelbäume erschienen, hoch, gerade und still, ihre Stämme wie uralte Pfeiler, deren Wurzeln tiefer reichten, als der Traum erlauben wollte. Dunkelgrün das Kleid ihrer Nadeln, schwer vom Gewicht von Jahrhunderten.

Zwischen ihnen zog der Nebel weiter, kroch über den Waldboden, tastete mit bleichen Fingern über Wurzeln und Steine. Das Moos darunter schimmerte feucht, beinahe lebendig. Kein Laut regte sich, kein Vogel, kein Rascheln, nur das langsame, beinahe hörbare Atmen der Stille.

Und dann, zwischen den Bäumen, stand er.

Ein schwarzer Hirsch.

Groß, größer, als ein Tier sein durfte. Seine Schultern ragten wie eine dunkle Wand auf und sein Geweih stieg in verdorrten, knorrigen Linien in den bleichen Himmel. Jeder Ast des Geweihs war wie eine Hand, die den Himmel aufriss.

Seine Augen waren dieselben wie zuvor.

Blau.

Tief.

Unbeweglich.

Er trat nicht auf sie zu.

Er wartete.

Und sie, ohne darüber nachzudenken, setzte einen Fuß vor den anderen. Nicht aus Neugier, nicht aus Angst, sondern aus einer wortlosen Notwendigkeit. Immer tiefer führte er sie in den Wald, als sei die Richtung längst in ihr verankert.

Vaelric sah zu.

Nicht ihr Gesicht, nicht ihre Gestalt, sondern das Muster ihrer Reaktion.

Die unsichtbare Architektur ihres Geistes.

Wie sie träumte. Wie ihr Inneres sich beugte, wenn er die Strömung änderte.

Er spürte ihre Empfänglichkeit. Sensibel. Offen.

Nicht schwach, niemals schwach, aber ohne die Mauern, die andere unwillkürlich errichten.

Das war gut.

Er sprach kein Wort.

Er nahm keine Gestalt an, die sie hätte benennen können.

Er suchte nicht nach Vertrauen, nicht nach Nähe.

Nur nach einer Verbindung.

Einem hauchfeinen Faden, tief im Inneren.

Eine Spur, die bleiben würde, auch wenn der Traum versank.

Wie ein Abdruck im weichen Ton, den die Sonne nicht mehr löscht.

Wenn sie morgen erwachte, würde sie den Traum nicht deuten können.

Aber er würde bleiben.

In ihr arbeiten.

Langsam, stetig, wie eine Wurzel, die Stein spaltet.

Vaelric war zufrieden.

Noch würde er sich nicht zeigen.

Noch war nicht Zeit.

Der Nebel zog sich zurück, als zöge jemand den Vorhang von einer Bühne, auf der das Stück noch nicht zu Ende war.

Und Vaelric glitt mit ihm davon.

Lautlos.

Kapitel 5

Elaria

Der Morgen kam langsam, als wolle er selbst nicht recht eintreten. Er schob sich in dünnen, zögernden Strahlen durch die Ritzen der Fensterläden, als prüfe er, ob er willkommen war. Das Licht war schwach, fast tastend und vermochte den Nebel nicht zu vertreiben, der draußen träge zwischen den kahlen Bäumen hing. Die Fensterscheiben glänzten von Feuchtigkeit und an manchen Stellen rann ein Tropfen träge die Scheibe hinab, als habe selbst er keine Eile. In der Luft hing noch immer dieser Geruch. Kühl, feucht, wie von nassem Stein. Doch darunter lag etwas anderes, kaum fassbar, kaum zu benennen. Es war ein Hauch, der nicht zu diesem Haus gehörte. Nicht zu diesem Raum. Nicht zu dieser Welt.

Elaria lag im Bett, die Augen weit geöffnet, als habe sie überhaupt nicht geschlafen. Sie war nicht wirklich erwacht, sondern gefallen. Gefallen aus einem Traum, der nicht loslassen wollte. Er hing noch immer an ihr, wie eine Hand, die ihr Herz zu fest umklammerte, als könne er sie zurückziehen. Sie zog die Decke bis an die Nasenspitze, als könnte der Stoff sie vor dem Gefühl schützen und starrte an die Decke über sich. Ihre Finger zitterten leicht. Nicht vor Kälte. Nicht wirklich. Es war… zu viel. Alles war zu viel.

Die Augen.

Diese Augen.

So fremd. So unnatürlich blau, dass es fast schmerzte, hinzusehen. So eindringlich, dass ihr Blick selbst im Traum nicht entkommen konnte. Sie hatten sie nicht verletzt, nicht bedroht. Und doch war da etwas in diesem Sehen gewesen, eine Prüfung, ein Abwägen. Nicht wie jemand, der Schönheit betrachtet. Sondern wie jemand, der entscheiden muss, was mit dem Betrachteten geschehen soll. Sie wusste nicht, woher sie das Gefühl nahm und dennoch war es in ihr wie ein unausweichliches Wissen.

Und dann der Wald. Er war wunderschön gewesen. Perfekt, beinahe. Doch in dieser Schönheit lag etwas Falsches. Zu still, zu gleichmäßig. Kein Rascheln von Vögeln, ein Bruch in der Ordnung. Die Bäume standen wie aufgereiht, als habe jemand sie absichtlich so platziert. Selbst der Nebel schien nicht dem Wind zu folgen, sondern einer eigenen Absicht. Er glitt zwischen den Stämmen hindurch, wie etwas, das Sehen konnte.

Und dann war er da gewesen.

Der Hirsch.

Nicht braun, nicht golden schimmernd wie die Tiere aus den Geschichten, sondern schwarz. Schwarz wie eine Nacht ohne Sterne und aus der Dunkelheit seines Antlitzes leuchteten Augen, die… Die Augen.

Waren es dieselben wie zuvor? Dieselbe Tiefe, dieselbe Kälte, dasselbe prüfende Sehen? Sie wusste es nicht und doch schlug ihr Herz schneller, als sie sich erinnerte.

Sie presste eine Hand gegen ihre Brust. Ihr Herz pochte noch immer zu schnell, zu laut, als wolle es sich Gehör verschaffen. Es war nur ein Traum, sagte sie sich. Immer wieder. Doch er löste sich nicht auf, wie Träume es sonst taten. Er zerfiel nicht in Fragmente, er war noch da, ganz und klar. Er saß in ihr, wie eine zweite Haut, wie ein Klang, der sich weigerte zu verklingen.

Warum war sie ihm gefolgt?

Dem Hirsch.

Den Augen.

Dem Nebel.

Sie hätte Angst haben sollen. Jeder Gedanke, jeder Instinkt in ihr hätte sie zurückhalten müssen. Doch sie war gegangen. Tiefer in den Wald. Weiter, Schritt um Schritt, ohne den Blick abzuwenden. Und es hatte sich… richtig angefühlt. Richtig und zugleich so unbegreiflich, dass der Gedanke daran ihr nun den Atem nahm.

Langsam setzte sie sich auf. Ihre Glieder fühlten sich schwer an, als hätten sie die Nacht hindurch eine Last getragen. Strähnen feuchter Haare klebten ihr an Stirn und Schläfen, sie wischte sie fort, ohne zu merken, dass ihre Hand noch immer leicht zitterte. Sie atmete tief durch, doch das Zittern blieb. In ihrem Inneren wirbelte alles durcheinander. Angst, Faszination, etwas wie Schmerz und etwas, das ihr näher war als all das.

Es war, als hätte etwas sie berührt. Ohne sie zu berühren. Als sei eine unsichtbare Spur in ihr hinterlassen worden und je mehr sie versuchte, sie zu ignorieren, desto deutlicher spürte sie sie. Tränen stiegen in ihre Augen, ungerufen und sie konnte nicht sagen, warum. Sie wusste nur eines mit völliger Gewissheit.

Etwas hatte sich verändert.

In ihr.

Um sie herum.

Und nichts daran fühlte sich wie Zufall an.

***

Die Sonne war nur ein matter Schimmer hinter den dichten, bleigrauen Wolken, als Elaria das Haus verließ. Der Morgen trug noch die Kühle der Nacht in sich und die feuchte Luft klebte sanft auf ihrer Haut. Über den Dächern treib ein träger Windfaden, kaum mehr als ein Hauch, der den Geruch von Rauch und feuchtem Stroh in die Straßen trug. Sie hatte das Haar zu einem lockeren Zopf geflochten, aus dem sich einzelne Strähnen gelöst hatten und im leisen Wind bewegten. Über ihrem Unterarm hing ein geflochtener Korb, dessen Henkel sich glatt und vertraut in ihre Hand schmiegte. Noch war er leer, doch schon bald würde er sich füllen, mit den Dingen, die sie für den Tag brauchte. Kräutern, etwas Wurzelgemüse, ein paar Scheiben getrockneten Brot. Dinge, die unauffällig waren. Dinge, die nicht auffielen, so wie sie selbst nicht auffallen wollte.

Der Traum hing ihr noch nach, wie Nebel, der sich in den Falten der Gedanken festsetzt. Kein Bild war klar und doch war alles zu nah. Sie zwang sich, den Blick auf den steinernen Weg zu richten, auf das Jetzt, auf das, was greifbar war. In Calven war es besser, nicht zu sehr in den eigenen Gedanken zu versinken. Zu viele Fragen folgten, wenn man nicht im Hier blieb. Und Fragen führten zu Gerede. Und Gerede... war das Letzte, was sie wollte.

Die steinernen Wege zwischen den schmalen Häusern glänzten vom Tau. In den Ritzen wuchsen feine Moosstreifen und winzige Wasserperlen schimmerten darauf. Zwei Kinder rannten lachend an ihr vorbei, barfuß, die Stimmen schrill und frei, als wäre der Tag schon längst wach. Aus einer Scheune rumpelte der erste Karren, die Räder knirschten über den Kies und ein alter Mann trieb zwei Ziegen hinaus, deren Glöckchen leise klimperten. Über allem lag der schwere, süßliche Geruch von altem Stroh, vermischt mit dem beißenden Hauch von Rauch aus den frühen Kochfeuern.

Am Rand des kleinen Marktes traf sie auf Tomar, die Kräuterfrau, die alle kannten und deren Augen niemand gern zu lange begegnete. Sie war klein, fast schmal, mit Fingern, so drahtig wie die Stiele der Pflanzen, die sie verkaufte und einem Rücken, der sich vom jahrelangen Bücken unter Last leicht gekrümmt hatte. Ihre grauen Augen hatten etwas Durchdringendes. Wenn sie jemanden ansah, war es, als würde sie nicht nur das Gesicht, sondern auch den unausgesprochenen Gedanken dahinter sehen.

„Du siehst blass aus, Mädchen“, sagte Tomar ohne jede Begrüßung, während sie ein Bündel Salbei vom Tuch vor sich nahm und prüfend zwischen den Fingern drehte. Die Kräuter knisterten leise.

Elaria zwang ihre Lippen zu einem schwachen Lächeln. „Nur zu viel gedacht.“

„Hm“, brummte Tomar, ohne den Blick von den Blättern zu heben. „Gedanken machen die Haut dünn. Hier.“ Sie griff nach einem weiteren Bündel, diesmal ein sanftes Grün durchsetzt mit zarten, verblassenden Rosenblättern. „Frauenminze. Gut gegen Herzunruhe. Und gegen Träume, die nicht verschwinden wollen.“

Elaria nahm es behutsam entgegen, als könnte ein zu fester Griff den Duft zerbrechen. Ein weicher, warmer Geruch stieg ihr in die Nase, ein Hauch von Sommer, der sich zwischen ihre Anspannung drängte. „Danke, Tomar.“

Die Alte nickte nur, zufrieden, aber nicht weich. „Du hast ein Gespür. Spür’s auch in dir selbst.“

Wie so oft sprach sie in Sätzen, die mehr Rätsel waren als Ratschläge. Und vielleicht war es genau das, was Elaria an ihr mochte, dass sie nicht fragte, nicht drängte, nur andeutete.

Elaria wollte sich gerade verabschieden, als sie ihn sah.

Jorre.

Groß, breitschultrig, seine Haut von Wind und Sonne gegerbt, das Haar ein unruhiges Braun, das in Strähnen fiel. Einer von denen, die zu laut lachten, wenn andere zuhörten und deren Blicke zu lange blieben, wenn niemand sie bemerkte.

„Elaria!“, rief er und das Grinsen, das er zeigte, war zu breit, zu offen. Ein Lächeln, das mehr Zähne zeigte, als sie sehen wollte. „Du bringst den Frühling, selbst wenn’s Nebel regnet.“

Sie blieb stehen, so wie es Höflichkeit verlangte und zwang ihren Mund zu einem Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. „Guten Morgen, Jorre.“

„Morgen? Bei dir ist’s ein Segen. Ich hab heut früh an dich gedacht. Beim Melken.“ Er lachte, als wäre das ein Scherz, den sie mitlachen sollte.

Sie tat es, ein kurzer, unsicherer Laut, mehr aus Gewohnheit als Freude. Ihre Finger umschlossen den Korbgriff fester.

„Wie nett von dir. Ich sollte wirklich weiter… Tomar wartet bestimmt noch auf Hilfe beim Einsortieren. Und ich muss danach noch die Wäsche… und… die Ziege ist gestern wieder aus dem Stall…“

„Ach komm schon, bleib noch ein Weilchen. Vielleicht komm ich heut Abend vorbei. Magst du süßen Met?“

„Oh… ich… ich vertrage keinen Met. Und heute Abend… ich habe wirklich viel zu tun. Vielleicht ein andermal.“

„Das sagst du jedes Mal.“

„Weil es jedes Mal stimmt.“ Sie versuchte, die Worte weich klingen zu lassen, doch ihre Stimme verriet ein feines Zittern. Sie wich seinem Blick aus, als wäre er zu hell, zu nah. Eine warme, unangenehme Hitze kroch ihr in den Nacken.

Jorre trat einen Schritt näher. Es war nur ein Schritt.

Und zu viel.

„Ich muss wirklich los! Entschuldige!“ Die Worte kamen schneller, als sie wollte. Sie wandte sich ab, murmelte etwas von Kräutern, Wäsche und einer kranken Nachbarin. Genug, um eine Barriere aus Pflicht zwischen sich und ihm zu schieben. Er rief ihr noch etwas hinterher, doch sie hörte es nicht mehr. Sie war schon unterwegs, weg von den Gassen, weg vom Stimmengewirr, weg von den Blicken.

Der Rand des Waldes war wie eine Grenze zu einer anderen Welt. Dort, wo die Bäume alt waren und ihre Schatten das Gras wie ein Netz überzogen, stand eine kleine, verwitterte Bank. Halb überwachsen von Gras und Moos, halb vergessen von denen, die den Wald mieden. Elaria setzte sich, stellte den Korb neben sich ab und atmete tief durch.

Endlich.

Ruhe.

Nur das Flüstern der Blätter, das ferne Rufen eines Vogels und das pochende Gefühl in ihrer Brust, das nicht allein von Jorre kam.

Nicht von der Furcht vor ihm.

Es war… das Andere.

Die Augen.

Der Hirsch.

Der Nebel.

Sie legte eine Hand auf ihren Bauch, als könne sie den Traum dort greifen, bevor er ihr entglitt. Aber er war nicht fort. Er wartete. Still.

Die Bank unter ihr fühlte sich kühl an, das Holz noch feucht vom Schatten der Bäume. Elaria strich sich eine widerspenstige Haarsträhne hinter das Ohr, atmete ein letztes Mal tief durch und stand dann langsam auf. Ihre Finger schlossen sich wieder fester um den Henkel des Korbes, als könnte er sie ins Hier zurückholen.

Sie musste zurück ins Dorf. Die Arbeit wartete. Und wenn sie zu lange fortblieb, würden die Leute reden. Trotzdem ging sie nicht hastig, sondern bedacht. Ihre Augen glitten prüfend über die Ecken, die Karren, die offenen Türen.

Keine Spur von Jorre.

Gut.

Er war nicht böse. Nicht grob. Nur zu viel. Zu direkt. Zu sicher. Und jedes seiner Komplimente fühlte sich an wie ein Kleid, das ihr nicht passte. Sie mochte nicht, wie er sie ansah, als wäre sie etwas, das man haben könnte. Bei ihm war dieses Gefühl immer da. Sein Lächeln lag auf ihr wie warmer, dicker Staub, der sich nicht abschütteln ließ.

Sie bog in den hinteren Weg ein, wo die Hühner frei scharrten und das Wasser in den Brunnen leise gluckerte. Einige Frauen standen dort, wuschen Kräuterbündel und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Elaria fand rasch wieder ihre gewohnte Arbeit. Blätter nach Farbe und Wirkung sortieren, den Duft prüfen, ein paar Stängel zerreiben, um die Frische zu spüren. Die wiederholten Bewegungen glätteten etwas in ihr.

Fast.

Ein leiser Ruf ließ sie aufblicken.

Ein kleiner Junge, kaum älter als sechs, lief über den Platz, seine Füße schlugen in unregelmäßigem Rhythmus auf den Stein. Er zerrte am Gewand des alten Sornar, der gerade eine Kiste mit Rinde abgestellt hatte. „Erzähl uns was! Eine Geschichte, Sornar! Bitte!“

Schon sammelten sich weitere Kinder um ihn, die Augen hell und erwartungsvoll.

Sornar lächelte, nicht breit, sondern mit der stillen Geduld eines Mannes, der schon viele solcher Bitten gehört hatte. Langsam ließ er sich auf einen niedrigen Stein nieder, strich sich mit der Hand über den weißen Bart und blickte in die Runde. Elaria blieb stehen, auf Abstand, halb hinter einem Torpfosten verborgen. Ihre Hände ruhten noch auf den Kräutern im Korb, doch ihr Blick haftete an dem Alten, als hätte ein unsichtbarer Faden ihn dort festgehalten.

„Hört gut zu, ihr kleinen Narren aus Nebel und Erde“, begann Sornar und seine Stimme war rau wie altes Holz, aber ruhig. „Denn das, was ich euch erzähle, ist älter als eure Namen.“ Die Kinder kicherten, einige tuschelten. Einer hob einen Kiesel und warf ihn halb spielerisch, doch Sornar hob die Hand.

„Still. Denn das ist keine Geschichte für Lärm.“

Ein Windstoß kam, kalt und schmal, strich wie eine Antwort durch die Gasse. Dann begann er.

„Es war einmal eine junge Frau. Hübsch wie das erste Licht im Herbst. Ihr Haar so dunkel wie das Wasser eines stillen Brunnens. Sie lebte nah am Wald, wo die Bäume alt sind und das Schweigen tief. Eines Abends sah sie ihn, den schwarzen Hirsch. Groß war er, stolz, und seine Augen leuchteten wie zwei Stücke Himmel nach einem Sturm. Sie sah ihn, und sie wusste nicht, warum sie ihm folgte. Aber sie folgte. Immer tiefer in den Wald. Bis der Nebel kam.“

Elaria spürte, wie ihr Atem stockte. Ihre Hand glitt unbewusst an ihre Brust.

„Dicht wie Milch war er, und weiß wie Schweigen. Und sie ging hinein. Wohin? Das fragt ihr? Das fragt man nicht. Man fragt nicht, wohin der Nebel führt.“

Ein Mädchen hob die Hand. „Und? Kam sie zurück?“

Sornar schüttelte den Kopf, langsam, als müsse er den Gedanken selbst erst tragen. Seine Augen wirkten plötzlich weit weg, als blickten sie nicht auf die Kinder, sondern durch Schichten von Zeit.

„Sie wurde nie wiedergesehen. Und wenn ihr eines Tages dem Hirsch begegnet, fragt ihn nicht nach ihr. Denn wer dem Nebel folgt… kehrt nicht wieder zurück.“

Die Kinder wurden still. Selbst die, die sonst nicht schweigen konnten. In Sornar´s Stimme lag etwas, das nicht nur für sie bestimmt war.

Elaria stand noch immer dort. Starr. Ihr Mund war trocken und in ihrem Brustkorb pochte etwas Unruhiges. Sie hatte den Hirsch gesehen. In ihrem Traum. Er hatte sie angesehen. Sie war ihm gefolgt. Und der Nebel… war gekommen.

Es war nur eine Geschichte.

Nur Worte.

Und doch war es, als hätte jemand in ihr Innerstes gegriffen und dort etwas aufgedeckt, das nicht für andere bestimmt war.

Sie wusste nicht, wie lange sie so stand. Erst als die Kinder klatschten, löste sich etwas in ihr und sie atmete wieder. Sornar blickte kurz zu ihr. Kein langes Sehen, nur ein Hauch von Begegnung. Aber in diesem einen Blick lag kein Lächeln. Nur ein stilles Wissen.

Kapitel 6

Vaelric

Der Nebel war zurückgekehrt.

Nicht wie ein Zufall, der sich aus Wind und Wetter ergab. Nicht wie ein flüchtiger Hauch, der zufällig aus den Tälern kroch. Nein, er war gekommen wie eine bewusste Entscheidung. Wie ein Schritt, der mit Absicht gesetzt wird.

Vaelric stand unbewegt am Rand der sichtbaren Welt, dort, wo die letzten Schatten der Bäume in das allumhüllende Grau übergingen. Er war Teil dieser Grenze. Nicht ganz hier, nicht ganz dort und so reglos, dass selbst die Luft um ihn herum zu zögern schien. Der Abend war noch jung, doch in der Luft lag bereits der Geschmack des Übergangs. Dieses flüchtige, kaum greifbare Aroma zwischen dem letzten Hauch des Tages und der ersten Kälte der Nacht. Es war der Geruch des Wandels, nicht nur zwischen Licht und Dunkelheit, sondern zwischen dem Diesseits und dem, was darunter lag.

Er beobachtete.

Nicht mit der kindlichen Neugier eines Suchenden. Nicht mit der gespannten Erwartung eines Jägers. Nur mit reiner, ungetrübter Aufmerksamkeit. So, wie ein Schreiber das Pergament betrachtet, auf dem er seine Arbeit längst vollendet hat, wissend, dass jeder Strich nun unauslöschlich ist.

Es lief alles nach Plan.

Elaria hatte den Traum gesehen. Das Bild der blauen Augen, so tief, dass man nicht wusste, ob sie das Licht speicherten oder verschlangen. Den schwarzen Hirsch, dessen Geweih wie in den Himmel geritzte Schatten ragte. Und den Nebel, der alles umhüllte, als gäbe es dahinter keine Welt mehr. Sie hatte den Traum empfangen, wie vorgesehen. Nicht mit Abwehr, nicht mit laut gestellten Fragen. Nur mit einem stillen, inneren Beben, das selbst sie nicht benennen konnte.

Und heute hatte sie die Geschichte gehört.

Seine Geschichte.

Vaelric hatte sie nicht nur ihr gegeben. Auch dem Alten hatte er sie in der Nacht eingepflanzt. Nicht mit der plumpen Gewalt gesprochener Worte, sondern wie man einen Tropfen in eine Schale gleiten lässt, leise, unsichtbar und doch unwiderruflich. Der Geist des Alten war bereits weich geworden, mürbe von den vielen Jahren. Für jemanden wie Vaelric war ein solcher Verstand keine Festung, sondern fruchtbarer Boden. Der Veyra musste ihn nicht überzeugen. Er brauchte nur säen.

Ein Bild.

Ein Fragment.

Eine Stimme, die nicht von außen kam.

Der Rest fügte sich von selbst. Menschen waren Konstrukte aus Erinnerung und Wunsch, brüchige Muster, die auf der Suche nach Bedeutung waren. Wenn man den richtigen Faden zog, webten sie sich die Erzählung, die man wollte und hielten sie für ihre eigenen.

So hatte der Alte gesprochen.

Und Elaria hatte zugehört.

Der Same war gesät.

Sie würde sich fragen, wie es möglich war. Wie jemand, der nie ein Wort mit ihr gewechselt hatte, den Traum kennen konnte, den sie selbst kaum zu fassen wusste. Und sie würde keine Antworten finden. Nur mehr Fragen. Fragen, die bohren. Fragen, die nicht schweigen. Und wo Fragen wachsen, beginnt die Suche.

Das war alles, was Vaelric wollte.

Nicht überzeugen. Nicht locken. Nur lenken. Wie Wasser, das einen Hang hinabfließt, ohne zu wissen, dass der Hang geschaffen wurde.

Elaria war empfänglich. Ihre Neugier, wach und lauernd wie ein Tier im Halbdunkel. Ihr Traum, präzise gelenkt. Ihre Emotionen, für ihn unbedeutend. Er betrachtete sie nicht als Frau. Nicht einmal als Mensch. Sie war ein Schlüssel. Ein Übergang. In ihrem Blut würde die alte Linie erneut Gestalt annehmen, gereinigt, verdichtet, vorbereitet.

Sie war nicht die Erste. Und sie würde nicht die Letzte sein.

Aber sie war die jetzige. Und nur das Jetzt zählte.

Ein Windzug bewegte die Äste über ihm, ließ sie leise knarren, als ob sie sich unter dem Gewicht unsichtbarer Hände streckten. Kein Tier rührte sich. Kein Laut kam aus dem Dorf. Nur das feine, fast unhörbare Wispern des Nebels, der sich um seine Schultern legte wie ein uraltes Gewand, schwer von Geschichten, die niemand mehr erzählte.

Vaelric schloss die Augen. Nicht, um zu ruhen. Nur, um zu spüren.

Elaria war wach. Unruhig. Noch nicht bereit, aber auf dem Weg.

Er musste nur warten.

Die nächsten Schritte waren längst vorgesehen.

Die Zeichen gesetzt.

Der Nebel würde dichter werden.

Und sie würde folgen.

Wie alle, die glauben, ihre Entscheidungen selbst zu treffen.

***

Der Nebel hatte sich verdichtet.

Nicht zufällig.

Seine Schwaden woben sich ineinander, verdrehten, verdichteten sich in langsamen, spiralförmigen Bewegungen, wie in einem Atem, der nicht der Welt gehörte. Vaelric lenkte ihn mit kaum wahrnehmbaren Regungen seines Willens, feinen Impulsen, die nicht in Muskeln oder Sehnen zu sehen waren. Ein Gedanke und der Nebel floss. Ein Hauch und er blieb stehen. Er war mehr als nur Feuchtigkeit in der Luft. Er war ein Schleier, sorgfältig gezogen, Schicht über Schicht, bis er wie eine Haut über dem Ritual lag, das er vorbereitete.

Er stand reglos, nicht mehr als eine Silhouette im grauen Dunst, kaum unterscheidbar von einem Baumstamm, einer schiefen Wurzel, einem verzerrten Schatten, der aus der Tiefe des Nebels blickte. Die Welt außerhalb war dumpf geworden. Geräusche, die sonst klar getragen wurden, kamen gedämpft an, als würden sie durch dickes Tuch dringen. Bewegungen jenseits der Nebelgrenze wirkten langsamer, unbedeutender.

Nur an einem Punkt war seine Aufmerksamkeit scharf wie eine Klinge.

Dort, wo das Haus stand.

Elaria war darin.

Der Raum um sie war warm, das Licht gedämpft, wie flüssiges Gold in stillen Wassern. Ihre Bewegungen folgten einem vertrauten Rhythmus, weich, gleichmäßig, fast schon meditativ. Sie war ruhig. Noch. Ihre Hände glitten über einfache Gegenstände, ohne Hast, ohne Zögern.

Doch er spürte das, was in ihr arbeitete. Das Echo der Geschichte, die er ihr gegeben hatte, trug sich weiter in ihrem Inneren, bohrte sich wie ein feiner, unsichtbarer Dorn in ihre Gedanken. Nicht schmerzhaft, aber beharrlich. Genau wie beabsichtigt.

Der Plan war aufgegangen.

Er spürte das leise Zittern in der Verbindung zwischen ihnen. Kein Gefühl, nichts Warmes, nichts, das menschliche Worte wie Sehnsucht oder Sorge verdienten. Es war ein strukturelles Beben, ein Signal im Geflecht. Der Faden war gelegt. Der Kontakt vorbereitet. Die Umstände optimiert, wie in einem alten Diagramm, dessen Linien nicht zufällig gezogen waren.

Zufriedenheit.

Ein Wort ohne Herz, nur die präzise Feststellung, dass der Ablauf der Vorgabe entsprach. Alles im Rahmen. Alles an seinem Platz.

Doch dann.

Eine Veränderung.

Aus dem Nebel stach eine Bewegung hervor. Zuerst schwach, ein Schatten, kaum zu unterscheiden vom Flirren der feuchten Luft. Aber sie wiederholte sich, kam näher, gewann Konturen. Eine Gestalt. Männlich. Breitschultrig. Das Muster seines Schrittes war zu geordnet für ein Tier, zu fest für einen verirrten Wanderer. Kein Schatten, kein flüchtiger Zufall.

Kein Teil des Plans.

Vaelric veränderte seine Haltung nicht. Seine Gestalt blieb unbewegt wie ein Stein in einer Strömung. Aber seine Wahrnehmung schärfte sich, schob sich nach vorn, wurde zu einer Klinge, bereit, jede Bewegung des Mannes zu zerlegen.

Der Fremde war nicht zufällig hier. Nicht zu dieser Stunde. Nicht an dieser Tür.

Vaelric kannte seinen Namen nicht und brauchte ihn nicht. Namen waren Hüllen, sie zählten nicht. Was zählte, war allein, dass er sich näherte. Und nicht irgendwem, sondern Elaria.

Nicht im menschlichen Sinn. Nicht aus Eifersucht, nicht aus Besitzgier. Solche Worte waren zu klein, zu schwach. Die Zeichen hatten gesprochen. Die alten Runen, die jenseits von Schrift und Sprache existierten, hatten Elaria markiert. Sie war ein Bindungspunkt geworden. Und die Veyra kannten keine Zweifel in diesen Dingen.

Wer einmal gewählt war, war gesetzt.

Unumkehrbar.Ein anderer durfte sie nicht berühren. Nicht in Gedanken. Nicht mit Blicken. Nicht mit Absicht.

Vaelric beobachtete.

Der Mann war stehen geblieben, nur wenige Schritte vom Haus entfernt. Seine Schultern waren angespannt, als ob er einen Entschluss suchte, der sich ihm entzog. Unsicherheit hing an ihm wie ein zweiter Mantel. Zweifel. Schwäche. Menschlich.

Doch wenn er jetzt den nächsten Schritt machte, wenn seine Hand sich nach dem Türgriff streckte, dann würde Vaelric handeln.

Nicht offen.

Nicht mit Gewalt.

Nicht mit Blut.

Nicht mit Lärm.

Aber mit Ziel.

Mit Präzision.

Denn der Nebel war mehr als ein Schleier. Er war Grenze. Er war Werkzeug. Er war Waffe.

Und er musste den Mann nicht kennen.

Er musste ihn nur entfernen.

Kapitel 7

Elaria

Es war spät geworden, viel später, als sie es beabsichtigt hatte. Der Tag war schon lange verklungen und der Abend hatte das Dorf fest in seinem Griff. Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Elaria saß auf der kleinen Holzbank neben dem Ofen, die Beine angewinkelt, die Zehen in den Saum ihres langen Wollrocks gekrallt. Die Bank knarrte leise, wenn sie ihr Gewicht verlagerte. Vor ihr glimmten die letzten Flammen träge im Ofen, nur noch rote Glut, die sich in den Vertiefungen des Lehmsteins sammelte und die Wärme wie einen flachen, sanften Atem abgab.

Ihr Haar war gelöst, Strähnen fielen über ihre Schultern und kitzelten die Haut ihres Halses. Die Finger umschlossen eine Tasse, deren Rand sich bereits kühl anfühlte. Darin der Kräutertee, den Tomar ihr am Nachmittag mit einem wissenden Nicken gegeben hatte. Der Geschmack war bitter und ein wenig erdig, wie immer. Er sollte beruhigen, den Kopf schwer machen, den Körper willig dem Schlaf übergeben. Doch stattdessen hielt er sie nur wach, als würde jeder Schluck die Gedanken schärfen.

Der Traum.

Er hing ihr noch immer nach wie ein unsichtbares Netz, das sich um Herz und Atem schlang. So fremd und doch so klar. Diese Augen. Unwirklich und doch so nah, als stünden sie nur einen Schritt entfernt. Die endlose Stille im Nebel, so vollkommen, dass sie beinahe selbst darin versank. Und dann der Hirsch… ein Wesen aus Schatten und Licht zugleich, majestätisch und still. Ein Teil von ihr wollte das Ganze einfach als Traum abtun, als wirres Spiel eines müden Geistes. Aber der andere Teil, der, den sie nicht zum Schweigen bringen konnte, wusste, dass es mehr war. Etwas, das nicht in der Nacht geboren und mit dem Morgen vergehen würde.

Und dann war da Sornar´s Geschichte.

Sie konnte jedes Wort noch hören, als hätte er sie erst vor wenigen Augenblicken gesprochen. Der Nebel. Der Hirsch. Das Mädchen. Jedes Detail hatte er genannt, als sähe er dieselben Bilder wie sie. Aber das konnte nicht sein. Er hatte es niemals… sie hatte es niemandem erzählt. Niemandem. Und doch hatte er gesprochen, als wäre er dabei gewesen. Als hätte er im selben Nebel gestanden.

Etwas in der Welt hatte sich verschoben. Nicht mit einem Knall, nicht mit Donner oder Sturm. Sondern leise. Still. Lautlos, aber unaufhaltsam.

Ein Klopfen riss sie aus den Gedanken.

Drei Schläge. Dumpf. Nah.