Im Netz der NSA - Kerstin Rachfahl - E-Book

Im Netz der NSA E-Book

Kerstin Rachfahl

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Beschreibung

Wer schützt uns vor dem eigenen Staat? Sie ist eine der gefragtesten Sicherheitsexpertinnen für die Informationstechnologie (IT). Ihr Talent sich durch die Firewalls zu hacken ist in der Branche gefürchtet. Früh muss Tamara erkennen, dass Talent auch tödlich sein kann. Tamara nimmt einen Auftrag an, der sie an die Grenze ihres Wissens bringt. Je mehr sie sich in das Problem vertieft, je mehr wird ihr klar, dass sie es mit einer ganz neuen Intelligenz von Computervirus zu tun hat und dass sie das Konzept dahinter kennt. Ihr Wissen wird für sie zu einer tödlichen Gefahr, denn ohne es zu wissen, klebt sie bereits im Netz der NSA. Um das Geheimnis zu wahren, schreckt die NSA vor nichts zurück. Kann Tamaras Bruder Sam und Tobias, sie retten?

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Im Netz der NSA

Kerstin Rachfahl

Inhalt

1. Pakistan 2008

2. Kamal

3. Rückzug

4. Lager

5. Deutschland 2012

6. Pläne

7. Geburtstag

8. Abschied

9. Samuel

10. Zeki al Shaar

11. InterCorp

12. Deutschland 2013

13. Auftrag

14. Calw

15. Trojaner

16. Entscheidung

17. Verhör

18. Jessica

19. California

20. Erwachen

21. Tobias

22. Ermittlung

23. Spuren

24. Niemandsland

25. Feindesland

26. Berge

27. Lager

Epilog

Nachwort

Bücher von Kerstin Rachfahl

Über die Autorin

Impressum

Deutsche Erstausgabe August 2015

Copyright © 2015 Kerstin Rachfahl, Hallenberg

Lektorat: Martina Takacs

Korrektorat: Sarina Stützer

Umschlaggestaltung: @sirjotajota über 99 Designs

Kerstin Rachfahl

Heiligenhaus 21

59969 Hallenberg

E-Mail: [email protected]

Webseite: www.kerstinrachfahl.de

Alle Rechte einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Für Papa

der immer für uns da ist, egal was wir in unserem Leben anstellen.

1

Pakistan 2008

»Was haltet ihr von einer Pause?«

»Jetzt sag nicht, die knallharte Tami macht schlapp!«

Tamara ignorierte den Spott in Jess‘ Stimme. Wann und wie ihre Freundschaft begonnen hatte, die Erinnerung war ihr verloren gegangen. Ewig. Ein Leben ohne sie war unvorstellbar. Nichts, nicht einmal der ständige Konkurrenzkampf bei allen sportlichen Wettbewerben, der sie beide früher regelmäßig zu Höchstleistungen angetrieben hatte, konnte dieser Freundschaft je etwas anhaben.

Die Hightech-Kleidung hielt, was der Hersteller versprochen hatte. Der Schweiß dampfte von innen heraus, sodass Tamaras Haut sich weiterhin trocken anfühlte. Keine Stellen, die rieben, die Sachen waren leicht, wärmten gegen den Wind und boten den bestmöglichen Schutz in der Region. Mit fünfundvierzig Kilo hatte sie den Rucksack optimal gepackt, Zelt und Schlafsack inklusive. Sie warf einen Blick zu Kamal, der sie angrinste und mit den Schultern zuckte. Er war der Dolmetscher zwischen den Einheimischen und ihnen. Der Ausflug nach Besham war auf seinem Mist gewachsen, im Anschluss an die beeindruckende zwanzigtägige Trekkingtour mit Start in Islamabad. Ihre Eltern hatten ihr die Reise zu ihrem Master of Science geschenkt, Jess hatte das Geld von ihren Sponsoren aufgebracht, indem sie es als Vorbereitung für die Olympischen Spiele verkaufte, und Kamal bekam sowieso immer alles, was er sich wünschte, der verzogene pakistanische Sohn reicher Eltern. Er lebte seit fünfzehn Jahren in Deutschland. Sein Vater, Professor Durrani, lehrte an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.

Gemeinsam waren sie von Deutschland nach Islamabad geflogen, zu der geführten Trekkingtour Im Angesicht des K2 nur für Reisende mit Klettererfahrung im Gebirge. Insgesamt hatte die Gruppe aus 15 Mitgliedern plus den drei Reiseführern bestanden sowie einer variierenden Anzahl von einheimischen Helfern für die Organisation der Lager, für die Zwischentransporte und die Verpflegung.

Zuerst waren sie zu dem Ort Chilas gefahren, der Märchenwiese am Nanga-Parbat-Basecamp, es folgten Tarshing, das Herrligkoffer-Basecamp, Shaigiri, Mazeno Basecamp, Highcamp und der Mazeno-Pass mit 5.377 Metern die höchste Stelle der Tour. Es ging weiter zum Upper Loiba – da hatte sich Tamaras Vorbereitungstraining voll bezahlt gemacht. Mit Steigeisen und Eispickel mussten sie den Abstieg über die Diamir-Seite bewältigen. Der letzte Teil der Strecke führte über Loiba, Ariel und Sair die Diamirflanke zurück durch das an der Stelle schluchtartig eingeschnittene Diamir-Tal zum Ort Diamaroi und weiter talauswärts. Erst da waren sie auf den Jeep getroffen, der sie nach Chilas brachte.

Es war ein Ausflug in eine andere Welt, umgeben von den mächtigen Gebirgen, die viele Menschenleben gefordert hatten. Alfred Drexlers Grab erinnerte an die zahlreichen Opfer des »Deutschen Schicksalsberges«. Ja, der Nanga Parbat war ein respekteinflößender und doch faszinierender Berg, der ihr offenbarte, wie klein und unbedeutend sie selbst für die Welt war.

Tamara liebte das Klettern in den Alpen. Die Zugspitze hatte sie in allen Varianten bestiegen, aber hier wurden ihr Grenzen aufgezeigt, die sie anerkannte und respektierte.

»In einer halben Stunde erreichen wir den Naltar-See, ideal für eine Mittagspause. Schaffst du das noch?«

»Klar!«

Kamal wechselte ein paar Worte mit den zwei Einheimischen, die eifrig nickten. Tamara korrigierte den Sitz des Rucksacks und trank einen großen Schluck Wasser aus der Sigg-Flasche, bevor sie sich den anderen anschloss.

Es dauerte nicht einmal zwanzig Minuten, und sie erreichten das lauschige Plätzchen. Sie legte die Jacke auf den feuchten Boden und setzte sich darauf. Die letzten Tage und vor allem die Höhenmeter hatten ihr zugesetzt. Ihre sorgfältig ausgewählte Ausrüstung bewährte sich auf dieser Tour. Sowohl im Schnee als auch jetzt hier im spätsommerlichen Klima am Naltar-See. Jessica kam zu ihr rüber, und Mattes, der ihr selten von der Seite wich, erkannte ausnahmsweise, dass seine Anwesenheit unerwünscht war, und blieb bei den anderen Männern. Der Sportmedizinstudent aus Göttingen hieß eigentlich Matthias. Sie hatten ihn erst auf der Trekkingtour kennengelernt, aber Tamara war es gewohnt, dass Jess Verehrer um sich sammelte.

»Bist du schlapp?« Jessica setzte sich auf einen Jackenzipfel.

»Nein.«

»Macht dir dein Knie Ärger?«

»Nein, ist kein Problem.«

In ihrer Kindheit hatte Tami eine Verletzung an ihrem Knie davongetragen, wobei sie das jedoch vor Schlimmerem bewahrt hatte.

»Okay, was ist es dann, das dich beschäftigt?«

Tamara seufzte abgrundtief auf, was ihr einen belustigten Seitenblick von Jess einbrachte.

»Ehrlich, ich weiß nicht, warum du es immer wieder machst! Ich kann es mir nur damit erklären, dass du masochistisch veranlagt bist.«

»Nein, ich bin nur Realist!«

»Tami, du räumst dem Ganzen überhaupt nie eine Chance ein. Du findest einen Jungen nett, merkst, dass er dir mehr bedeutet, und zuletzt folgt dein ultimativer Test. – Rumms! Er fliegt durch, und du lässt ihn fallen wie eine heiße Kartoffel.«

»Ach, und du gibst mir die Schuld, dass sie durchfallen?«

»Ja. Weil es genauso ist, als wenn du einem Hund eine Wurst vor die Nase hältst. Du wunderst dich, dass er danach schnappt, anstatt auf dein ›Friss‹-Kommando zu warten.«

Verblüfft starrte sie Jess einen Moment an, dann brach sie in Lachen aus.

»Das ist überhaupt nicht lustig. Hast du dir mal überlegt, wie ich mich dabei fühle?«

»Nein«, japste Tami, »du armes Würstchen!«

Verständnislose Blicke aus der Männerrunde fielen auf sie. Die Gesichtsausdrücke der Einheimischen zeigten eindeutig, was sie über die bescheuerten Europäerinnen dachten. Dabei versuchten beide, auf der Tour möglichst wenig aufzufallen – für Jessica bei ihrer Größe von einsachtzig und den langen Beinen ein Ding der Unmöglichkeit. Viele kannten sie von Fotos als Sportlerin, immerhin hatte sie schon WM-Gold nach Hause geholt, und nur das olympische Gold fehlte ihr noch in der Sammlung. Dann noch das hellblonde Haar – und alles natürlich, nur Augenbrauen und Wimpern ließ sie färben. Dass sie die optimale Technik für den Hochsprung beherrschte, führte Jess selbst sarkastisch auf ihren mangelnden Vorbau zurück. Mehr Busen hätte sie schon gern gehabt.

Für Tamara war Tarnung ein Kinderspiel. Bei einer Größe von einem Meter dreiundsechzig wurde sie von den meisten einfach übersehen. Sie weigerte sich standhaft, ihre glatten, straßenköterblonden Haare zu färben, egal, wie sehr ihre Cousinen mütterlicherseits sie zu überreden versuchten. Auch ihre spitze Nase, das fliehende Kinn und die dünnen Lippen wirkten nicht gerade als Blickfang. Allein die hellgrünen Augen gaben ihr einen interessanten Touch, doch bevor jemand die entdecken konnte, war er schon an ihr vorbei.

Erschien ein männliches Wesen auf der Bildfläche und zeigte nach wiederholtem Treffen ernsthaftes Interesse an ihr, so verfügte Tami über zwei effektive Hilfsmittel, um die wahre Absicht desjenigen herauszufinden. Ihr loses Mundwerk, geschult von ihren Brüdern Sam und Jonas, galt es erst mal kennenzulernen, und danach gab die Konfrontation mit Jessica, der Traumfrau schlechthin, den Ausschlag. Bisher hatte keiner beide Hürden überwunden. Auch Kamal, als dessen Tutorin sie auf Anfrage ihres Professors fungiert hatte, stand im Begriff, am letzten, ultimativen Test zu scheitern. Diesmal versetzte es Tamara einen Stich, denn sie hatte die Abwehr weit heruntergefahren.

»Okay, der Vergleich ist blöd! Aber der Typ ist echt schnuckelig, und er vergöttert dich.«

»Mich? Du meinst mein Hirn.«

»Und deinen knackigen Arsch!«

»Für seine Masterarbeit als kostenlose Informationsquelle, die ihm die Recherchearbeit macht!«

»Und deinen knackigen Arsch!«

»Wegen meiner Kontakte zu Braun, dem Unternehmen für IT-Security, wo jeder, der was auf sich hält, eine Bewerbung hingeschickt hat!«

»Und deinen knackigen Arsch!«

Tamis Lächeln wirkte müde und freudlos.

»Einverstanden, auch wegen deiner hellgrünen Augen, die hier, in dieser Umgebung und zusammen mit deiner braun gebrannten Haut, besonders zur Geltung kommen.«

»Ach Jess«, seufzte Tamara, »ich bin blöd!«

»Ja. Eindeutig ja. Wer vergleicht sich mit der gewählten sexiest Sportlerin des Jahres 2006! Und ich bewundere deine Intelligenz ... – Habe ich dir erzählt, was mir der Playboy für Nacktaufnahmen bietet?«

»Nein, Jess! Und ich wills auch nicht wissen. Das wirst du nämlich verdammt noch mal bleiben lassen!«

Jessica schlang die Arme um sie und erdrückte sie schier mit der Kraft ihrer Umarmung. »Ich liebe dich.«

»Ich dich nicht.«

Sie lachten wieder. Auf eine seltsame Weise fühlte Tami, wie die frischen Wunden an ihrem Herz anfingen zu heilen. Jessica hatte immer diese magische Fähigkeit besessen. Mit ihr war das Leben leicht, fröhlich und bezwingbar.

»Du solltest ihm eine Chance geben, ehrlich. Auch wenn sein Blick ab und zu an mir hängen bleibt, gibt es da etwas zwischen euch. Stell dir vor, jemand schaut eine Torte an, aber im Grunde mag er lieber den Kuchen daneben ...«

Abwehrend hatte Tamara die Hände gehoben, und als die Freundin das Signal ignorierte, verschloss sie ihr einfach mit ihrer Handfläche den Mund. »Keine weiteren Essensvergleiche für Beziehungen. Mein Zwerchfell hat genug gelitten!«

Kamal tauchte vor ihnen auf, einen Kopf kleiner als Jess, mit dichten schwarzen Haaren und hellbraunen Augen, die Herzen brechen konnten, wenn er lächelte. Seitdem ihre Kommilitoninnen die Bollywoodfilme für sich entdeckt hatten, wurde Kamal mit Shah Rukh Khan verglichen. Selbst Jess entwickelte einen Fimmel für den Schauspieler, weshalb sie mit Begeisterung die Idee der Trekkingtour in Pakistan aufgegriffen hatte. Immerhin stammte die Familie dieses SRK, wie die Fans seinen Namen abkürzten, aus Peschawar. Ursprünglich wollten sie dem Ort einen Besuch abstatten, doch angesichts der Warnungen des Auswärtigen Amtes hatten sie sich dagegen entschieden.

Während der Trekkingreise traten die Unruhen des Landes, die Nähe des Punjab zu Afghanistan, in den Hintergrund. Wie sollte jemand auch beim Anblick des K2 an die Probleme in der Welt denken? Die Menschen waren freundlich auf sie zugekommen, und die Reise war von der Gesellschaft absolut hervorragend organisiert worden. Alles war perfekt, sofern man bereit war, die deutschen Tugenden Pünktlichkeit, Planung und Sauberkeit beiseitezuschieben und sich stattdessen auf die Kultur des Landes einzulassen.

Doch hier in Besham begegneten ihnen die Menschen anders, oder lag es an ihrer Abhängigkeit von Kamal, weil sie selbst nun außerstande wären, den Rückweg nach Islamabad zu organisieren? Die Kontrolle abzugeben, das bedeutete, ein Stück Freiheit aufzugeben, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit, und das schmeckte Tamara ganz und gar nicht. Sie war froh, dass ihr Gerhard Braun zu ihrem Master of Science das iPhone geschenkt hatte. Es war mit einer SIM-Karte für Pakistan versehen, und immer, wenn eine Verbindung existierte, nutzte sie es, um die aktuellen Koordinaten ihres Aufenthaltsorts an Sam weiterzugeben. Überhaupt faszinierte sie dieses Smartphone ungemein: Musik, Bilder, Spiele, E-Mail, natürlich die normalen Telefonfunktionen, alle Kontakte und ein Kalender – es war einfach nur genial.

»Ihr scheint ja Spaß zu haben. Bereit für das letzte Stück?«, fragte Kamal.

Jess sprang auf und rief im Weggehen: »Kamal, sag mir eines, magst du Würstchen oder Torten?«

Während der Pakistani der blonden Deutschen verwirrt nachsah, biss sich Tami auf die Lippen, um einen weiteren Lachfall zu unterdrücken.

»Und was macht das Knie? Alles in Ordnung?«, wandte er sich nun an Tamara.

»Ja – sorry, wenn ich euch ausbremse.«

»Mach dir keine Gedanken. Gib mir was aus deinem Rucksack, dann ist er leichter.«

»Nein. Es geht schon.«

Eine Strähne hatte sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und hing über dem Stirntuch. Kamal schob sie unter das Tuch zurück und strich ihr dabei wie unabsichtlich mit den Fingern die Wange entlang.

»In unserem Land nehmen Frauen gern männliche Hilfe an.«

»In deinem Land dürfen sie aber nicht studieren, oder wenn, dann heißt es am Ende doch zurück an den Herd.«

»Und ich dachte, du wärst begeistert von Pakistan.« Ein freches Grinsen erschien auf seinem Gesicht, und Tami fiel keine Antwort ein. Meinte er das wörtlich oder flirtete der ernsthafte Kamal gerade mit ihr?

Drei Stunden später erreichten sie ein in einem Tal gelegenes, von Feldern umgebenes Dorf. Aus der braunen Erde wagten sich die ersten Pflanzentriebe hervor. Ein weicher grüner Flaum bedeckte, so weit das Auge reichte, die Landschaft. Eine halbhohe Steinmauer in der typischen sandigen Farbe umgab das Dorf, das aus Lehmhütten bestand.

Während ihre Begleiter vorliefen, musterte Tami die Gegend. An einem Brunnen sah sie Frauen in schwarzer Burka, nur die Augen sichtbar. Hastig senkte eine von ihnen den Kopf, nahm den Eimer mit Wasser, den sie hochgeholt hatte, und verschwand in einem nahe liegenden Haus. Wie auf ein Signal hin, das sie übersehen hatte, huschten überall verhüllte Gestalten in die Hütten. Nur wenige Kinder liefen noch herum und betrachteten die Fremden interessiert.

»Irgendwie gruselig, oder?«

Jess sprach aus, was Tami empfand. Zwar waren sie auf der Wanderung strenggläubigen Muslimen begegnet, jedoch genauso Menschen anderer Glaubensrichtungen. Dieses Dorf hier war die erste rein islamische Siedlung, die sie besuchten. Kamal hatte davon nichts erwähnt.

Sie beschleunigte ihre Schritte und legte ihm die Hand auf den Arm. »Bist du dir sicher, dass es eine gute Idee ist, deinen Freund zu besuchen?«

»Ja, sicher. Mach dir keine Gedanken. Er erwartet uns.« Er blieb stehen und sah sie fragend an.

»Das ist ein islamisches Dorf. Denkst du nicht, dass hier Europäer unerwünscht sind?«

»Du hast Vorurteile gegenüber dem Islam? Ich bin auch Moslem, stellt das für dich ein Problem dar?«

»Nein, ich habe viele Freunde mit unterschiedlichen Religionen. Aber was ist mit den Menschen im Dorf? Stört es sie? Und was ist mit den Taliban?«

»Tami, nicht jeder Moslem ist Anhänger einer terroristischen Organisation.« Er klang verärgert, und sie schämte sich für ihre Gedanken und Gefühle.

In dem Moment rannte eine Horde Kinder zu Jessica hin, die sie neugierig umrahmten, auf sie einredeten und anfingen, nach ihren Haaren zu greifen.

»Das ist allerdings ein Problem.«

Matthias versuchte etwas Abstand zwischen Jessica und den Kindern zu halten, um sie zu schützen. Sie wusste nicht recht mit der Situation umzugehen, schaute die Kinder nur skeptisch an und war sichtlich überfordert.

Kamal machte ein paar Schritte auf sie zu, ließ einen Wortschwall auf die Kinder niedergehen und machte eine deutliche Handbewegung, dass sie verschwinden sollten. Er erreichte nur das Gegenteil damit, der Lärm nahm zu, und es klang, als stellte ihm jedes von ihnen eine Frage. Als eine kraftvolle Stimme neben Tamara erklang, zuckte sie erschrocken zusammen. Sie hatte weder gesehen, dass sich jemand zu ihr gesellt hatte, noch etwas gehört. Obwohl der Mann ihr ein kurzes Lächeln zugestand, als er ihren Blick bemerkte, wich sie einen Schritt zurück. Sie hatte nicht verstanden, was er sagte, doch der Effekt war unübersehbar. Die Kinder verschwanden im Nu fast lautlos, während sich ein Strahlen über Kamals Gesicht ausbreitete.

»Mein Freund!«, sagte er auf Englisch, kam und umarmte den Fremden neben ihr.

»Allah segne dich, Kamal. Ich hatte euch früher erwartet.«

»Wir mussten eine längere Pause einlegen. Harun, darf ich vorstellen, Tamara Baumann. Ich erzählte dir von ihr. Sie ist meine Tutorin, die ihre Diplomarbeit über Ethical Hacking geschrieben hat.«

Jetzt wandte der Mann Tami seine Aufmerksamkeit zu. Das also war Harun Naseri, von dem Kamal erzählt hatte, und dem er bei einem Computerproblem helfen sollte.

»Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Ms Baumann.«

Da er keinerlei Anstalten machte, ihr die Hand zu geben, ließ Tamara ihre hastig sinken.

»Matthias Brunner und Jessica Fiedler«, stellte Kamal die beiden anderen vor.

»Jessica Fiedler?« Harun zog fragend die Augenbrauen hoch. »Die WM-Goldmedaillengewinnerin von Osaka 2007? Hochsprung, nicht wahr?«

»Ja, die bin ich.«

Dieses unsichere Grinsen passte nicht zu Tamaras sonst so selbstbewusster Freundin. Auch sie hatte automatisch die Hand zur Begrüßung ausgestreckt und zog sie jetzt irritiert zurück.

Der Gastgeber deutete eine Verneigung an, bevor er sich erneut seinem Freund zuwandte. »Du bringst eine berühmte Sportlerin aus Deutschland mit, ohne es mir zu sagen? Wie stehe ich da?«

»Es ergab sich kurzfristig.«

Immerhin sprachen sie Englisch, sodass Tami sie verstand. Ein kurzer non-verbaler Austausch folgte. Diese kohlschwarzen Augen des Fremden jagten ihr einen Schauer über den Rücken.

»Ich freue mich, Sie als Gäste in unserem Dorf begrüßen zu dürfen. Samira wird Ihnen beiden zeigen, wo Sie untergebracht sind und sich frisch machen können.«

Mit derselben Lautlosigkeit, mit der der Fremde aufgetaucht war, stand wie dem Erdboden entstiegen nun eine Frau in einer Burka hinter ihm. Ihre Augen waren mit schwarzem Kajal geschminkt, Wimperntusche und goldener Lidschatten machten ihren Blick erstaunlich ausdrucksstark. Ein vergnügtes Glitzern lag darin, und unwillkürlich bemerkte Tami, dass sie lächelte. Samira drehte sich um und Tami und Jess folgten ihr. Als Tami sich zu Kamal umdrehte, stand er mit seinem Freund unter einem alten Baum mit knorrigen Ästen, an denen hellgrüne Spitzen vorwitzig hervorlugten. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und machte ein Foto. Eine Dorfbewohnerin sah aus dem Fenster, ohne Burka, Tami winkte ihr kurz, woraufhin der Kopf wieder verschwand. Rasch folgte sie Jessica und Samira. Ein seltsames Verhalten legten die Dorfbewohner an den Tag.

Erleichtert stieß sie den angehaltenen Atem aus, als sie die Unterkunft betraten. Ihre Begleiterin verließ sie mit dem leisen Klimpern, das sie beim Gehen beständig begleitet hatte, so unauffällig, wie sie gekommen war. Im Zimmer gab es zwei ausgerollte Matten, einen Krug mit Wasser, eine Schüssel zum Waschen und Handtücher. Vor dem Fenster hing ein dunkles Tuch, das nur wenig vom Sonnenlicht durchließ. In dem Raum herrschte eine angenehme Temperatur, trotz der Wärme draußen.

»Puh, das ist, als kehrtest du ins Mittelalter zurück!«

Tami zuckte mit den Achseln. »Die gesamte Trekkingtour ist eine Reise in die Vergangenheit.«

»Ja, aber das hier ist anders! Ich dachte, wir würden uns die Gegend von Besham ansehen. Stattdessen landen wir in einem kleinen Dorf in den Bergen und sind umringt von strenggläubigen Muslimen!«

»Sorry. Hätte ich das gewusst! Weißt du, ich frage Kamal später, ob einer der Männer, die uns hergeführt haben, uns zurück nach Besham bringen kann. Dort suchen wir uns ein Hotel, bis er mit dem Job hier fertig ist und zu uns stößt.«

»Meinst du nicht, dieser Harun ist dann beleidigt? Der sieht aus, als würde er keinen Spaß verstehen. Wer weiß, was für Ehrenkodexe hier herrschen, was Gastfreundschaft betrifft.«

»Ich glaube, Kamal findet einen Weg, wenn ich es ihm erkläre.«

»Dir macht es nichts aus, mit uns zu kommen?«

»Weshalb sollte es?«

Jess grinste sie anzüglich an. »Na ja, in so einem Dorf, ganz allein? Wer weiß, was sich da ergibt?«

»Nee, danke. Ich finde es hier auch komisch. Besser wir brechen morgen wieder auf.«

»Meinst du, wir können jetzt die Jungs suchen gehen?«

Ihre spontane Antwort schluckte Tamara hinunter. Hätte sie in Deutschland diese Frage ihrer Freundin als durchgeknallt angesehen, verstand sie im Moment ganz genau, was sie meinte.

»Besser nicht, beim nächsten Mal hängt dir womöglich eine Horde Männer um den Hals.«

»Na, dann müssen wir wohl oder übel abwarten, bis sie hier auftauchen.«

Sie nutzten die Zeit, um sich zu waschen und wechselten die Klamotten, indem immer eine von ihnen Wache stand. Danach streckten sie sich auf den Matten aus, verwendeten dabei die eigenen Schlafsäcke als Unterlage. Zum Reinkriechen war es zu warm. Irgendwann musste ja jemand kommen. Die letzte Mahlzeit hatten sie vor einer gefühlten Ewigkeit eingenommen. Kurze Zeit später hörte Tami die gleichmäßigen Atemzüge von Jess. Klar, sie hatte natürlich gewartet, bis Tami um eine Pause bat. Dabei hatte ihr die Wanderung genauso zugesetzt. Sie schaltete das iPhone ein, um die Bilder anzuschauen, die sie gemacht hatte, hielt inne bei dem von Kamal und Harun Naseri. Die Haltung dieses Mannes – hochmütig, erhaben –, die seines Gegenübers bewundernd geneigt. Sie zoomte auf das Gesicht: scharf geschnittene Gesichtszüge, Lippen, die eine Linie bildeten, missbilligend der Ausdruck in den Augen. Wenn Samira seine Frau war, dann hatte sie mit dem Typen unter Garantie nichts zu lachen. Ihr Blick fiel auf die Oberkante des Displays, und erstaunt stellte sie fest, dass ihr Handy eine Verbindung anzeigte. Sie markierte das Bild zum Versenden, fügte die GPS-Koordinaten hinzu und schrieb noch dazu: Lande Samstag gegen 16:00 Uhr in Frankfurt. Tour ist einfach nur genial. Alles Weitere später zu Hause. LG Tami. Dann verschickte sie es.

In einem Gemeinschaftsraum aßen Tami und Jess gemeinsam mit vier weiteren Frauen auf dem Boden sitzend zu Abend. Alle hatten bunte Pluderhosen an, eng anliegende Oberteile und Tücher. Ihre Haare trugen sie offen oder zu Zöpfen geflochten. Es klirrte und klimperte von all den Fußringen, Armbändern und Armreifen. Nur die Frauen, die Essen in ein anderes Gebäude brachten, zogen sich Burkas über. Jessica mit ihren hellblonden Haaren stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Immer wieder strich ihr eine Hand übers Haar. Da es in einer freundlichen Art geschah und ohne sie zu bedrängen, grinste Jess nur und ertrug es tapfer. Die Unterhaltung erfolgte in gebrochenem Englisch oder mit Händen und Füßen. Gegessen wurde mit den Fingern aus hölzernen Schüsseln. Als Tamara ein scharfes Gericht erwischte, das ihr die Tränen in die Augen jagte, kicherten die Frauen. Zig Fragen lagen ihr auf der Zunge, die ihr zwar unhöflich erschienen, mit denen sie sich angesichts der entspannten Atmosphäre jedoch langsam vorwagte.

»Esst ihr immer für euch getrennt?«

»Meistens. Nicht erlaubt mit Männern essen ohne Burka. So einfacher«, antwortete Samira. »Macht mehr Spaß.«

Sie führte die Gespräche auf der einheimischen Seite an.

»Wo sind eure Kinder?«

»Ich keine Kinder. Malika meine Mama. Jamina wollen Jessica sehen, deshalb Kinder bei Oma.«

Die beiden pakistanischen Frauen kicherten.

»Und Zahra ...«, Samira warf einen scheuen Blick zu Zahra hinüber. Sie hatte sich den Abend über im Hintergrund gehalten. Auch jetzt wirkte sie zwar höflich, jedoch reserviert. »... Frau von Samal.«

»Samal?«

»Ältere Bruder von mein Mann Harun.«

Eine gewisse Ehrfurcht klang da bei Samira durch, und noch etwas anderes, worauf Tamara den Finger nicht hätte legen können.

»Wo zum Teufel sind Matthias und Kamal?«, warf Jess ein.

»Essen mit Männern!«

»Oh, natürlich. Mist, in Matthias‘ Rucksack ist noch mein Necessaire. Dann werde ich ihn wohl mal suchen gehen.«

Jessica stand vom Boden auf und streckte die langen Glieder. Es war eine Ausrede, die Tamara gut verstehen konnte. Natürlich, auch sie wollte raus aus dem Dorf und musste das dringend mit Kamal klären. Kartenlesen konnte sie. Den Weg zurück zu finden war kein Thema. Nur war es ein Risiko, ohne einheimische Begleitung durch eine solche Gegend so dicht an der afghanischen Grenze zurück nach Besham zu wandern, zumal sie die Sprache nicht konnten. Was für eine blöde Idee, die Spritztour zu diesem Dorf!

»Er dein Mann?«, fragte Samira.

»Nein!«

»Oh?«

»Tami, kommst du mit?«

»Klar!« Sie sprang auf.

Auch Samira erhob sich. »Ich euch bringe zu Männern.«

Zahra sagte etwas mit scharfer Stimme, eindeutig um die jüngere Frau zurückzuhalten. Es kam eine Diskussion auf. Missbilligende Blicke streiften Jess.

»Würdet ihr Burka anziehen? Blondes Haar ungewöhnlich für Dorfbewohner.«

An der tiefen Röte auf Samiras Wangen sah Tamara, dass der Pakistani die Frage unangenehm war. Sie wechselten einen Blick, zuckten mit den Achseln. Wenn es den Menschen im Umgang mit ihnen half – wieso nicht. Mit Feuereifer machten sich Jamina und Samira daran, sie einzukleiden. Jessicas Größe war problematisch. Tami selbst verschwand in der Burka, die erstaunlich viel Luft durchließ. Sie nahm das Gefühl von Tarnung als interessant wahr, weil sie verborgen in dem Gewand praktisch gar nicht auffallen würde. Ihre eigene Persönlichkeit wurde reduziert auf die Augen. In ihr entstand ein Eindruck von Freiheit, trotz des Kleidungszwangs, denn niemand könnte sie mehr von den anderen Frauen unterscheiden.

Missbilligend schalt Harun seine Gattin. Samira senkte den Kopf und murmelte leise eine Antwort auf die harsche Frage ihres Ehemanns. Es interessierte ihn nicht, ob er sie damit bloßstellte. Die anderen Männer starrten sie düster an. Sie hockten auf dem Boden, Schüsseln mit Essen waren auf einem Tuch in der Mitte platziert. Neben der beinahe feindseligen Atmosphäre schockte Tami jedoch etwas anderes. In einer Ecke des Raumes lagen Maschinenpistolen, über die einer der Anwesenden hastig ein Tuch gezogen hatte, als sie eintraten. Sie wandte den Blick ab, bevor jemand auf die Idee kommen konnte, sie habe etwas gesehen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Unwillkürlich fing sie an zu schwitzen. Zum Glück verbarg die Burka ihre körperlichen Reaktionen. Sie sah zu Jess hin, die nichts bemerkt hatte. Angesichts der Männer, die ihre Freundin trotz der Kleidung anstarrten, trat sie ein Stück dichter an Jess heran. Matthias konnte sie nirgends in der Gruppe am Boden entdecken. Kamal war von einem Schreibtisch, auf dem ein Monitor stand, zu ihnen herübergekommen. Unter dem Tisch entdeckte Tamara einen Rechner, nichts Vergilbtes oder Altes, sondern eine funkelnagelneue Workstation von HP.

»Wow, die Burka steht dir. Deine Augen leuchten so hellgrün daraus hervor wie die einer Raubkatze. Aufregend.«

Er stoppte sie, als sie ihre Hand aus der Verkleidung zu befreien suchte.

»Nicht. Das sind Traditionalisten, die den Europäern feindselig gegenüberstehen. Warum seid ihr gekommen? Bekamt ihr nichts zu essen? Oder schmeckt es euch nicht?«

»Doch, aber wir wollten mit dir reden, und wo ist überhaupt Matthias?«

»Er hat sich hingelegt. Die Tour hat ihm ziemlich zu schaffen gemacht. Du weißt, uns Männern fällt es schwer, eine Schwäche zuzugeben.« Er warf einen kurzen Blick zurück in die Runde und beantwortete eine Frage, die Harun gestellt hatte – dann ein leichtes Lächeln, das gleich wieder verebbte. Sah Kamal besorgt aus? Unwillkürlich verschränkte Tamara die Arme. Die Situation missfiel ihr immer mehr.

»Geht mit Samira zu den Frauenräumen. Ich komme zu dir, wenn ich fertig bin. Macht es euch nicht zu gemütlich, ich schätze, dass wir morgen früh wieder aufbrechen.«

Erleichtert atmete sie tief ein. »Genau das wollte ich dir sagen, dass wir zurück nach Besham möchten.«

Er tippte mit dem Zeigefinger auf das Tuch, dort, wo ihre Nase es etwas anhob.

»Siehst du, ich kann Gedanken lesen!«

Jessica am Ärmel ziehend, trat sie den Rückzug an. Sie schwiegen, bis sie die Räume erreichten, in denen sie untergebracht waren. Samira verabschiedete sich rasch von ihnen.

»Was war das denn?«, stieß Jess aus.

»Ich fürchte, das ist ein Dorf, das in die Konflikte der Region involviert ist.«

»Du meinst die Taliban? Ich dachte, die gäbe es nur in Afghanistan.«

»Wenn es die Taliban sind, dann die pakistanischen. Und die verüben Anschläge, Entführungen und was du noch so in den Medien mitbekommst.«

»Spinnt Kamal total? Was denkt er sich dabei, uns in so ein Dorf zu führen!«

»Ich bezweifle, dass er eine Ahnung davon hatte. Besser, wir lassen alles gepackt, verhalten uns still und sehen zu, dass wir morgen hier rauskommen.«

Erschrocken fuhr Tamara aus dem Schlaf hoch. Jemand hielt ihr den Mund zu.

»Psst. Ich will Jess nicht wecken.«

»Kamal! Du hast mich fast zu Tode erschreckt.«

»Tut mir leid – ich brauche deine Hilfe.«

»Wobei?«

»Bei dem Computerproblem.«

»Worum gehts?«

»Besser, ich zeige es dir.«

Sie schlüpfte aus dem Schlafsack, zog die Hose an, Socken und Schuhe. Wie Diebe schlichen sie durch das still daliegende Dorf. Die Sterne leuchteten am Himmel. So klare Nächte hatte sie nur in den Bergen erlebt. Eine traumhafte Gegend, gäbe es nicht diese Konflikte.

Der Raum, wo vorher die Männerrunde gesessen hatte, war leer. Kamal führte sie zu dem Rechner und deutete ihr an, auf dem Stuhl Platz zu nehmen. Stur blieb sie stehen.

»Harun glaubt, dass ein Virus auf dem System ist. Nein, ich korrigiere mich, er ist regelrecht besessen von der Vorstellung. Ich kann aber nichts finden.«

»Na, dann ist auf dem Computer kein Virus.« Tami zuckte mit den Schultern.

Er seufzte tief auf, sah sich im Raum nach einem zweiten Stuhl um. »Setz dich und bleib exakt da sitzen, verstanden?«

»Ja.«

Kurze Zeit später kam er mit einem Hocker zurück und setzte sich zu ihr. »Das dachte ich zuerst auch. Ich installierte das Service Pack 1 von Vista, das auszuführen er verpennt hatte, und ließ mehrere Scans von Antivirenprogrammen durchlaufen. Alles ohne Befund.«

»Und?«

»Während ich an dem System arbeitete, überwachte ich auch den Traffic und schaute ihn mir an. Es gab einen vermehrten Datenverkehr, obwohl ich selbst das Internet nicht nutzte. Fällt dir dazu etwas ein?«

»In welcher Hinsicht?«

»Wenn du Informationen aus einem System holen willst, anstatt es lahmzulegen. Wie gehst du vor?«

»Sofern ich die IP-Adresse des Systems kenne, für das ich mich interessiere, mache ich als Erstes ein Scanning. So finde ich offene Ports, die ich für meinen Zugang benutzen kann.«

»Aber verursacht das nicht eine sichtbare Belastung auf dem System, das ich scanne?«

»Kommt darauf an, welche Methode ich verwende.« Sie wandte sich dem Rechner zu, bevor er weitere Fragen stellen konnte. Sie liebte es, sich mit solchen Problemen zu beschäftigen. Nach vierzehn Tagen ohne einen Computer lockte die Tastatur sie unwiderstehlich. Kurze Zeit später war sie in die Arbeit vertieft, überrascht von der performanten Konnektivität, die sie in dieser Gegend, abseits jeder Zivilisation, niemals erwartet hätte. Aber das hatte sie ja bereits bei ihrem iPhone bemerkt. Sie konnte es sich nur damit erklären, dass die Region über ein WiMAX (Worldwide Interoperability for Microwave Access) verfügte, das die Wateen Telecom letztes Jahr in Pakistan eingeführt hatte. Sie schaltete ihr Handy ein, das sie am Abend zuvor ausgemacht hatte. In dem grünen Telefonsymbol sah sie eine rote Fünf – die Anzahl der verpassten Anrufe.

»Dein Bruder?«

»Vermutlich. Bestimmt wollte er wissen, wann wir in Frankfurt landen.« Warum sie log, wusste sie selber nicht, aber irgendwie hatte sie keine Lust, mit Kamal über Sam zu reden. Die beiden hegten eine Antipathie gegeneinander. Ja, im Grunde war Sam ein perfektes Vergraulungssystem gegen Anwärter für eine echte Beziehung, nur dass sie diesmal gern darauf verzichten wollte.

»Willst du ihn zurückrufen?«

»Es ist fast elf in Deutschland. Ich melde mich morgen bei ihm.«

Als das Licht anging, blieb ihr das Herz stehen. Auch Kamal sah erschrocken auf. Sie starrte auf die Mündung der Handwaffe, die sich auf sie richtete, und hob automatisch die Hände, als könnte sie so das, was kam, abwenden.

2

Kamal

Samuel Baumann, von seinen Kameraden nur kurz Snipes genannt, verließ die Besprechung. Nächste Woche sollte ein weiterer Lehrgang starten, und er freute sich bereits darauf. Einer der Vorteile, der GSG 9 anzugehören, bestand in der kontinuierlichen Fortbildung. Die Spezialeinheit verfügte über die neuesten Waffentechnologien und Ausrüstungsgegenstände, und die sportliche Fitness stand ganz oben auf dem Programm. Er dachte an ehemalige Kollegen, die inzwischen eine ordentliche Portion Hüftgold angesetzt hatten. Er konnte sich das nicht leisten. Ein paar hatten ihm einen Vogel gezeigt, als er ihnen erzählte, dass er an dem Eignungstest für die GSG 9 teilnehmen wollte. Du spinnst doch, dich für vierhundert Euro brutto mehr so zu quälen – der Kommentar zählte noch zu den harmlosesten Sprüchen. Er hatte es inzwischen aufgegeben, seine Entscheidung zu erklären. Die enge Kameradschaft, die vielfältigen, auch internationalen Einsätze und die Möglichkeit, sich mit den Besten der Welt zu messen, darin bestand seine Motivation.

Zwei Jahre lang hatte er einen Spezialeinsatz in Bosnien absolviert. Dort hatten Flexibilität, Konzentration und Improvisation an erster Stelle gestanden. Die Rückkehr nach Deutschland hatte bei ihm zu einer Desorientierung geführt. An manchen Tagen kam ihm das Leben hier fast surreal vor. Natürlich gab es auch in der Bundesrepublik Verbrechen, Geiselnahmen, Terroranschläge. Auch die organisierte Kriminalität war eine Herausforderung, aber im Vergleich zu Bosnien lebte die Bevölkerung hier im Paradies.

An seinem Arbeitsplatz fuhr er den Rechner hoch, loggte sich ein und rief seine E-Mails ab. Er musste lächeln, als er Tami als Absender einer Nachricht erkannte. Er las die Koordinaten und den kurzen Text. Zum Glück würde sie bald aus Pakistan zurückkehren. Den Trekkingurlaub mit diesem Kamal hätte er ihr nicht erlaubt, aber Papa schaffte es ja nie, seiner Tochter etwas auszuschlagen.

Er hatte sie sich zur Brust genommen, ihr das Material vom Auswärtigen Amt zur Verfügung gestellt und sie sogar abgehört. Sicherheitshalber hatte er auch einen Hintergrund-Check von Kamal gemacht. Man musste die Ressourcen nutzen, auf die man zugreifen konnte, oder nicht? Weder war er ein Kontrollfreak, auch wenn Tami ihm genau das oft genug an den Kopf warf, noch ein Schwarzseher. Wer wie er tagtäglich mit der Verbrechensbekämpfung zu tun hatte, sah die Welt aus einem anderen Blickwinkel. Er rief die Seite der Fluggesellschaft auf, um festzustellen, wann ihre Maschine genau aus Islamabad in Frankfurt landete. Zehn vor vier am Samstag. Mist, das kollidierte mit dem Lehrgang. Jo würde das für ihn übernehmen müssen. Er grinste. Sein kleiner Bruder hasste es, wenn er und Tami ihn bei seinem alten Kindernamen nannten. Klar, dass er sich dann wieder so klein vorkam, wie er es in ihrer beider Augen auch noch war. Ihm fehlten Biss und Härte. Als sie alle noch bei ihren Eltern wohnten, hatte Jo ihr familiäres Sportprogramm gemieden wie die Pest und stattdessen ständig die Nase in Bücher gesteckt. Altes Weichei! Garantiert würde er wieder eine Ausrede parat haben, wenn er ihn ansprach, aber er wusste schon, wie er Jonas bestechen konnte. Psychologische Grundkenntnisse gehörten zu seinem Jobprofil.

Mehr unbewusst gab er die Koordinaten in die Website ein, klickte auf »Suchen«. Das Ergebnis bekam er gar nicht mit, denn das Telefon klingelte.

»Polizeihauptkommissar Baumann.«

»Huh, so förmlich? Hey Snipes, Lust, was Neues auszuprobieren?«

»Klar, immer.«

»Na, dann komm rüber zur Anlage.«

Sam sprang auf und war schon auf dem Weg aus dem Zimmer, doch im Geiste sah er gleich Tami den Kopf schütteln. »Die größte Sicherheitslücke für Firmennetzwerke stellen die Benutzer selbst dar. Entweder sie bleiben eingeloggt, verwenden zu simple Passwörter oder kleben sie unter die Tastatur.« Die letztgenannten Angewohnheiten hatte er abgelegt, aber dieses verdammte Ausloggen vergaß er immer noch. Er ging noch einmal zurück zum Computer und loggte sich aus.

Als er drei Stunden später wieder den Rechner aktivierte, sah er eine Karte auf dem Bildschirm. Für einen Moment starrte er mit blankem Hirn darauf – Stammesgebiete in Pakistan? Dann fiel es ihm wieder ein: die E-Mail von Tami. Er hatte die Koordinaten daraus in das Kartenprogramm eingegeben. Da musste ihm bei der Eingabe ein Fehler unterlaufen sein. Er öffnete die Mail ein weiteres Mal, kopierte die GPS-Daten, gab sie erneut ein.

Dasselbe Ergebnis. Verdammt noch mal, dieses blöde Weibsstück! Warum konnte sie sich nicht ein Mal an die Vereinbarung halten? Wie blind musste man gegenüber den politischen Verhältnissen sein, um als Europäer in so ein Gebiet zu reisen? Er zückte sein Handy, gab ihre Nummer ein. Sofort ging die Mailbox dran. Klar, was sonst? Während er die nächsten Optionen durchdachte, klickte er auf den Anhang. Ein Foto erschien: ein Baum, daneben ein junger Mann in Jeans und schwarzem Shirt und ein anderer in Pluderhose, weißem Hemd und dunkler Weste. Er speicherte das Bild auf der Festplatte, öffnete es in einem Bildbearbeitungsprogramm und zoomte die Männer heran.

Auch was die IT betraf, wurden hier die neuesten Versionen genutzt, und er gehörte zu denjenigen, die gerne damit herumspielten. Es musste an den Genen liegen, die er mit Tami teilte.

Die westlich gekleidete Person identifiziert er leicht als Kamal. Den anderen kannte er nicht. Er zoomte wieder raus und betrachtete das Bild mit gerunzelter Stirn. Ein Fenster am Seitenrand erregte seine Aufmerksamkeit. Erneut vergrößerte er die Ansicht. Das sah nach einer verhüllten Frau aus. Scheiße, Tami, wo bist du da?

Das Gesicht des Mannes aus dem Foto zu schneiden, zu vergrößern und die Pixel rauszurechnen, kostete ihn knapp zwei Stunden. Danach jagte er das Bild durch die Datenbank. Nur zur Sicherheit – damit versuchte er die Unruhe, die in ihm aufkam, zu unterdrücken. Geduld zählte nicht zu seinen Stärken. Er wusste, sollte der Abgleich negativ ausfallen, würde er den restlichen Tag darüber nachdenken. Er fluchte bereits jetzt innerlich. Andererseits hoffte er, dass es keine positive Übereinstimmung gab. Tami mitten unter Terroristen zu wissen, trieb ihn in den Wahnsinn. Es gab Momente, da verstand er die Leute, die rauchten. Statt einer Zigarette schob er sich ein Kaugummi in den Mund.

Langsam stand Kamal auf, die Hände in einer abwehrenden Geste vom Körper weghaltend. Zwischen den Männern wurde ein Gespräch in einer Sprache geführt, die Tamara nicht verstand. Sie atmete tief durch. In was für eine Scheiße war sie hier geraten? Die letzte Woche in einem netten Hotel in Islamabad – so hätte das Ende dieses Urlaubs aussehen sollen. Es gab dort so vieles zu entdecken. Abgesehen davon galt es sich noch von den Strapazen der Trekkingtour zu erholen. Aber nein, sie musste ja eine weitere Tour machen und Kamal in dieses beschissene Bergdorf zu seinem Freund begleiten.

»Erklär ihm, warum ich dich dazugeholt habe!«

Verwirrt starrte sie Kamal an, der sie auf Englisch angesprochen hatte. Der Schweiß, der auf seiner Stirn perlte und seine geweiteten Pupillen gaben ihr einen Adrenalinstoß. Sie fing an, eins und eins zusammenzuzählen. In seinem Blick lag eine stumme Bitte. Wie schlau sollte sie sein? Ihr Leben hing davon ab. Intelligent ja, dabei aber unwissend, was die Bedeutung des ausspionierten Systems anging. Mist! Schauspielern zählte nicht zu ihren Stärken.

»Ich scanne die Netzwerkstruktur nach offenen Ports, die jemand verwenden kann, um Zugriff auf Ihr System zu bekommen. Kamal sagte, Sie glauben, ihr Computer sei von einem Virus befallen, aber er fand nichts. Da er aber vor Kurzem vermehrten IP-Traffic feststellte und ...«

»Sie kennen sich mit Malware aus?«

»Ich sagte dir doch, dass sie meine Tutorin ist, für den Kurs ‚Sichere Netzwerke und Forensik in der IT‘.«

»Tutorin?«

»Ja, jemand, der dir hilft, einen Kurs zu bestehen, wenn du Schwierigkeiten hast. Tamara kennt sich etwas mit dem Thema aus.«

Etwas? Sie verbiss sich den Protest, bevor er über ihre Lippen kam. Gewiss war das nicht der passende Moment, um mit ihren Fähigkeiten für IT-Security anzugeben. Besser den Ball flach halten.

»Und?«

Harun hatte während des Gesprächs die Waffe abwechselnd auf Kamal und sie gerichtet.

»Sie meinen, ob ich offene Ports gefunden habe?«

»Wie auch immer!«

»So zügig funktioniert das nicht.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust, einerseits, um ihr Zittern zu verbergen, andererseits fühlte sie den Trotz, der in ihr hochkam. Dieses verdammte Arschgesicht! Die Mündung der Waffe zeigte auf ihren Kopf.

Hastig begann Kamal, auf seinen Freund einzureden. Sie hatte keine Ahnung, worüber die beiden sprachen, aber sie bemerkte die Kälte in Haruns Augen. Sein Gesicht glich einer ausdruckslosen Maske. Die höfliche Zuvorkommenheit der Begrüßung des westlichen Freundes war verschwunden. Ein Tropfen Schweiß löste sich von Kamals Stirn und floss seine Schläfe hinunter. Im ersten Moment kapierte Tamara nicht, dass ihr Handy einen Ton abgab, der einen Anruf signalisierte. Die Männer sahen sie an.

»Wer ruft um diese Zeit an?«

»Keine Ahnung!«

»Ihr Bruder.«

Beide Antworten überschnitten sich.

»Los! Geh dran!«

Zögernd schob sie die Hand zu dem iPhone, das neben der Tastatur auf dem Tisch lag. Sie hatte parallel im Webbrowser Informationen von ihrem Blog zur Netzwerksicherheit gesucht.

Ein ungeduldiger Schlenker mit der Waffe. Sie berührte den Touchscreen und hob das Handy ans Ohr.

»Verschwinde da auf der Stelle! Verstanden?«, tönte befehlsgewohnt wie immer Sams Stimme an ihr Ohr – so vertraut und so weit weg.

»Zu spät!«

Als Harun nach dem Handy griff, beendete sie die Verbindung. Der Schlag mit der Waffe kam unerwartet und traf sie am Wangenknochen. Schmerzen schossen durch ihren Kopf, trieben ihr die Tränen in die Augen. Durch den Schleier sah sie, wie Kamal leichenblass drei Schritte zurückwich. Von ihm brauchte sie keine Hilfe zu erwarten.

»Du bist also diejenige, die Ahnung von all dem Internetzeug hat?«

Sie schwieg. Kühler Verstand besiegte die Angst. Sam wusste, dass sie in Schwierigkeiten steckte. Ihm würde etwas einfallen. Er hatte sie noch nie im Leben im Stich gelassen. Sie musste nur dafür sorgen, dass er genug Zeit bekam.

»Ja«, gab sie zurück, »ich habe verdammt viel Ahnung von IT-Security, und die Sicherheitsvorkehrungen auf Ihrem System sind der letzte Schrott. Jeder Anfänger mit ein wenig Wissen kann es hacken!«

Sie zuckte zusammen, als ein Schuss ertönte, doch statt Schmerz, Dunkelheit, Licht – was auch immer den Tod ausmachte – sah sie weiterhin dieselbe Szene. Also musste sie leben, oder? In Bruchteilen von Sekunden verarbeitete ihr Gehirn die Informationen. Sie wandte den Kopf zu Kamal um, aber an der Stelle, wo Kamal gestanden hatte, stand niemand mehr. Wo ihr Freund gestanden hatte, bedeckte ein roter Fleck die Wand, dicklich, wabbelig wie Wackelpudding, mit weißlichen Elementen in der Mitte. Von dort verteilten sich Spritzer über die ganze Wandfläche. So hatte es damals ausgesehen, als sie im Kindergarten mit einem Teesieb und einer Zahnbürste ein Wasserfarbenbild gestaltet hatte. Langsam begann die gallertartige Masse herunterzurutschen. Ihr Blick wanderte zum Boden. Kamal lag, Mund und Augen weit aufgerissen, ausgestreckt auf dem Teppich, ein Loch exakt in der Mitte der Stirn, zwei Fingerbreit über der Nasenwurzel. Sie wartete auf den Schock. Tränen. Angst? Der Geruch von Urin erfüllte das Zimmer. Nicht von ihr, sondern von dem Toten. Ein zweiter Schuss fiel. Diesmal färbte sich das Hemd auf Kamals linker Brust.

»Das passiert, wenn man Harun belügt.« Fast klang ihr Gastgeber belustigt.

Der Schock hielt sie gefangen, und so, als würde jemand anderes sie steuern, sah sie dem Mörder ins Gesicht. »Ich möchte, dass Sie Jessica und Matthias laufen lassen.« Gehörte die Stimme ihr?

»Du stellst Forderungen?«

»Ja. Dafür sichere ich Ihr System vor dem Zugriff der Amerikaner ab.«

Er trat einen Schritt näher an sie heran. Sie erwiderte seinen Blick. Was hatte sie zu verlieren? Doch nur ihr Leben, oder?

»Was denkst du passiert mit einer Hochspringerin, wenn ihre Kniescheibe zertrümmert ist? Glaubst du, sie kann je wieder im Leben an einem Wettkampf teilnehmen?«

Sie sparte sich eine Antwort, die er von ihr ohnehin nicht erwartete. Stattdessen machte sie dem Gefühl Platz, das in ihr hochkroch und alles andere verdrängte. Es war purer, blanker Hass.

»Harun Naseri, jüngster Bruder von Malik Samal Naseri, steht bei den Amerikanern auf der Liste der einflussreichsten Stammesführer der nordwestlichen Provinz von Pakistan an 157ster Stelle. – Ja?«

»Wird das ein Einsatz zum Sammeln von Informationen oder ...«

»Oberfeldwebel Schmidt, am Ende des Briefings ist Platz für Fragen. Zuhören und Notizen machen ist die erste Devise. Verstanden?«

»Jawohl, Herr Major.«

Tobias grinste. Oberfeldwebel Wolfgang Schmidt, der Youngster aus ihrem Zug, glänzte mal wieder durch Übereifer. Staufi, wie sie Feldwebel Rainer Stauffer nannten, gab Schmidt kameradschaftlich eins hinter die Löffel. Der formlose Umgang unter den Männern des Kommandos Spezialkräfte täuschte darüber hinweg, dass sie zu einer Eliteeinheit der Bundeswehr gehörten, die mit den Special Forces anderer Länder zusammenarbeitete. Er selbst hatte die Höllenwochen der Navy Seals absolviert, einfach weil er wissen wollte, wo sie als KSK-Soldaten im Vergleich zu einer der bekanntesten Eliteeinheiten der Welt standen. Nein, zu verstecken brauchten sie sich nicht. Zusätzlich hatte er noch eine Spezialausbildung angehängt, sodass er mit vielen neu gewonnenen Fertigkeiten in den Zug zurückkehrte.

Nach einem Monat Heimaturlaub gewöhnte er sich gerade wieder in die Gruppe ein. Der Zug bestand aus zehn Soldaten mit unterschiedlichen Fähigkeiten. Einer war Sanitäter, in ihrem Fall Oberfeldwebel Sebastian Zöllner, von allen kurz Zoppo genannt. Diese Männer waren seine Familie. Für jeden Einzelnen von ihnen hätte er die Hand ins Feuer gelegt. Oft genug hatten sie sich gegenseitig Rückendeckung gegeben oder aus brenzligen Situationen herausmanövriert. Man kannte die jeweiligen Macken der Kameraden besser als deren Familienmitglieder – Ehefrau und Freundin eingeschlossen. Kein Wunder, dass sie über ihren Job nicht reden durften. Selbst gegenüber den engsten Angehörigen herrschte Schweigepflicht. Das schweißte sie auf der einen Seite zusammen, auf der anderen Seite aber führte es zu erheblichen Konflikten in den außerberuflichen, zwischenmenschlichen Beziehungen. Dieser Umstand galt für die Mitglieder jeder Spezialeinheit. Scheidungen und Trennungen waren an der Tagesordnung.

»Jessica Fiedler, Tamara Baumann und Matthias Brunner ...«

»Die Jessica Fiedler?«, unterbrach diesmal Zoppo Major Becker, der das Briefing für den Einsatz vornahm.

»Die WM-Goldmedaillen-Gewinnerin im Hochsprung?«, ergänzte Wiesel, Oberfeldwebel Achim Wiesner.

»Sexiest Sportlerin des Jahres 2006?«, steuerte Staufi zur Aufzählung bei.

Tobias verdrehte die Augen. Typisch, dass den Jungs so was zuerst durch den Kopf ging.

»Ja zu dem zweiten Kommentar, den Rest kann ich nicht beurteilen, da ich der Dame persönlich nie vorgestellt wurde.«

Während die Fragesteller blöd glotzten, lachte die restliche Truppe.

»Genannte drei Personen befinden sich zurzeit in der Gewalt von Harun Naseri. Forderungen wurden bisher keine gestellt, und auch bei den Medien gibt es weder Bekennerschreiben noch Drohungen bezüglich der Geiselnahme. Wir verdanken es Polizeihauptkommissar Samuel Baumann von der GSG 9, dass wir informiert sind und über die exakten GPS-Daten des Ortes verfügen, an dem die Deutschen festgehalten werden. Die Amerikaner freuen sich ein Loch in den Bauch über den glücklichen Zufall, der ihnen Harun auf dem silbernen Tablett serviert. Identifiziert wurde er durch ein Foto, das Baumanns Schwester ihm per E-Mail hat zukommen lassen, inklusive der Geokoordinaten.«

»Arbeitet die beim BND?«, unterbrach Wiesel die Ausführungen zum zweiten Mal.

»Nein. Sie ist Diplom-Informatikerin und befand sich laut Aussage des Bruders mit ihrem Freund Kamal Durrani auf einer Trekkingtour in den Himalaja. Sie beendeten die Tour vor fünf Tagen in Islamabad. Ursprünglich sollte die Reise dort mit einem Hotelaufenthalt bis zu ihrem Rückflug am Dienstag enden. Stattdessen brachen sie erneut auf zu diesem Dorf in der Nähe von Besham. Der Grund dafür ist uns unbekannt.«

»Bei der Aufzählung der Geiseln haben Sie Kamal Durrani ausgelassen. Heißt das, er zählt zu den Anhängern der Taliban?«

Major Becker nickte ihm kurz zu. »Das wissen wir nicht. Polizeihauptkommissar Baumann ließ einen Hintergrundcheck zu der Person laufen, aber es gibt keinerlei Hinweise auf eine Verbindung zwischen ihm und den Taliban. Allerdings schrieb Frau Baumann in der E-Mail, dass Harun Naseri ein alter Freund sei, weshalb wir davon ausgehen müssen, dass es sich bei Durrani um einen Schläfer handelt.«

»Erfolgte der Hintergrundcheck vor der Abreise oder nach der E-Mail?«

»Ehrlich gesagt weiß ich das nicht. Valider Punkt, den wir nachprüfen sollten.«

»Wieso ließ Baumann überhaupt das Foto, das ihm seine Schwester schickte, durch einen Scan laufen?«

Jetzt kehrte Stille in die Gruppe ein. Nachdenklich runzelte Major Becker die Stirn. »Nehmen Sie es erst einmal als gegeben hin.«

»Es könnte eine Falle sein«, gab Zoppo zu bedenken.

»Okay, ich checke vorsichtshalber die Baumanns. In den Unterlagen, die Ihnen vorliegen, finden Sie die Beschreibung der Örtlichkeiten, aktuelle Satellitenbilder und zusätzliche Informationen, die dem BND zur Verfügung standen. Lassen Sie uns alles Schritt für Schritt durchgehen. Unser Part der Operation wird die Aufklärung sein, weshalb wir zusammen mit einer amerikanischen Einheit als Erste in das Einsatzgebiet transportiert werden.«

Ein Stöhnen ging durch die Gruppe. Das war die langwierigste Aufgabe, die viel Geduld, Konzentration und langes Ausharren erforderte.

»Die Einsatzleitung übernimmt Oberleutnant Werner Frank, allerdings müssen Sie mit einem Mann weniger auskommen, denn Sie, Leutnant Wagner, werden in das SEAL-Six-Team integriert, dessen Aufgabe es sein wird, die Geiseln zu befreien.«

Tobias grinste zufrieden nach der Mitteilung des Majors. Jetzt machten sich die Strapazen der zusätzlichen Qualifikation bezahlt. Endlich ging er an der Spitze in den Einsatz. Die folgenden Stunden verbrachten sie damit, die Einzelheiten der Unterlagen durchzugehen, weitere Fragen zu klären und verschiedene Vorgehensweisen zu diskutieren. Genauso tüftelten sie an der optimalen Einsatzausrüstung und besprachen all die vielen Kleinigkeiten, die so einem Auftrag vorangingen. Gegenüber der Einsatzdauer nahm das Briefing oft das Zehnfache an Zeit in Anspruch.

Am nächsten Tag wechselte Tobias in das Lager der Amerikaner, die auch die Hawks für den Transport der Einsatzkommandos stellten. Major Becker hatte seine Bedenken weitergeleitet. Die Hintergrundchecks über die Baumanns hatten keinerlei Verbindungen zu terroristischen Organisationen oder sonstige Auffälligkeiten ans Licht gebracht. Allerdings kam heraus, dass der Vater, Jens Baumann, 1990 als Berufssoldat in der Fliegerstaffel der Bundeswehr einen Unfall in einer Flugshow erlitten hatte und seitdem mit einer Querschnittslähmung im Rollstuhl saß. Aus diesem Grund wurde der Gedanke an eine Falle für die KSK nicht komplett ausgeschlossen. Besser, man war auf alles vorbereitet. Zur Aufklärung erhielten sie mehr Zeit.

Tamara griff nach dem Glas Wasser und nippte vorsichtig daran. Die Schwellungen im Gesicht verursachten ihr Schmerzen, aber sie verkniff sich das Jammern. Noch lebten sie. Sie wusste, dass in dem Augenblick, wenn Harun die Arbeit als beendet ansah, ihr Leben keinen Pfifferling mehr wert war. Immer häufiger führte er Gespräche mit jemandem, in denen es eindeutig um sie ging. Das entnahm sie den Blicken, die er ihr zuwarf. Genauso hatte sie dabei den Namen Samal aufgeschnappt. Die Frage für sie war, ob das bedeutete, dass es einen Grund gab, sie länger am Leben zu lassen, oder genau das Gegenteil. In ihrem Schädel hämmerte es. Sie hatte die letzten Tage kaum geschlafen und wurde von den anderen isoliert festgehalten. Zahra hatte Kleidung zur Zentrale gebracht, wie sie das Gebäude bezeichneten, in dem sie arbeitete. Samira hatte ihr am ersten Morgen des Albtraums das Essen gebracht. Bei dem Versuch, ihr einen Zettel von Jessica zuzustecken, stellte sie sich so ungeschickt an, dass Harun es bemerkte. Einen Moment befürchtete Tamara, er würde sie umbringen wie Kamal, doch stattdessen schlug er sie. Seitdem brachte Zahra das Essen, und Tami hatte keine Ahnung, wie es Jess in der Gefangenschaft erging.

Dreimal am Tag bekam sie die Erlaubnis, ihre Notdurft zu verrichten. Sie nächtigte in dem Zimmer, wo der Rechner gestanden hatte. Dunkle Flecken an der Wand zeugten noch von Kamals gewaltsamem Tod, trotz Zahras Säuberungsaktion. Auf dem Boden lagen eine Matte und zwei Decken, auf denen sie zusammengerollt schlief, meistens nur ein paar unruhige Stunden. Die restliche Zeit arbeitete sie an den Systemen. Der Raum sah inzwischen wie ein Computer-Elektronikladen aus. Laptops, Rechner und Handys sollte sie prüfen und auf den neuesten Stand bringen. Ständig saß ihr Harun im Nacken, fortlaufend musste sie ihm erklären, was sie machte. Dabei balancierte sie geschickt auf einem Grat zwischen dem, was sie nicht verbergen konnte, und dem, was sie ihm besser verschwieg oder worüber sie ihm bewusst falsches Wissen vermittelte. Eine Schwierigkeit bestand darin, dass sie keine Ahnung hatte, wie viel Harun von der Materie verstand. Wann immer er der Meinung war, sie arbeite nicht mit vollem Einsatz an der Beseitigung des Problems, schlug er sie. In der übrigen Zeit telefonierte er, machte Fotos und versendete sie. Vor einigen Tagen war er mit einer brillanten Idee angekommen, die sie für ihn verwirklichen sollte. Er wünschte einen Trojaner, der die Systeme der westlichen Länder ausspionierte. Auch darauf ging sie ein – was blieb ihr anderes übrig? Sie versuchte, eine Balance zu finden, indem sie ihm Ergebnisse lieferte, ohne ihm zu viel Einblick in die Materie zu geben. Die ganze Zeit über fotografierte sie mit ihrem Smartphone den Monitor mit den Daten ab, die ihr wichtig erschienen. Sie notierte Namen, Orte, die ihr unterkamen – sofern sie englisch geschrieben waren. Dummerweise konnte sie ja die Schrift nicht lesen und verstand kein Wort der Sprache, was die Auswahl schwer machte, aber egal. Besser ein Haufen überflüssiger Daten, als dass am Ende etwas Wesentliches fehlte.

Sie ignorierte es, als Harun in den Raum kam, schloss gelassen ein Fenster auf dem Monitor, das er nicht sehen durfte. Dieser Typ verstand verdammt viel von Körpersprache. Sie hielten sich nun seit einundzwanzig Tagen in dem Dorf auf, davon zwanzig in seiner Gewalt. Sie hatte das Licht angemacht, damit ihre Augen nicht durch den Kontrast zwischen der Dunkelheit im Raum und dem Leuchten des Monitors ermüdeten. Die Mündung der Waffe an ihrer Schläfe hatte ihr einmal Angst eingejagt. Inzwischen kam es so häufig vor, dass sie genau wusste, was er in dem Augenblick von ihr wollte. Sie nahm die Finger von der Tastatur, legte ihre Hände in den Schoß und wartete.

»Braves Mädchen, du lernst rasch.«

Bei dem Lob schwang eine gewisse Enttäuschung im Unterton mit. Sie schwieg, müde von all den verbalen Auseinandersetzungen, die sowieso nur damit endeten, dass sie Prügel einsteckte. Anfangs hatte sie die Grenzen ausgetestet. Sie lernte aus Haruns Verhalten. Ihr Widerstand befriedigte sein Bedürfnis danach, zu zeigen, dass er am längeren Hebel saß. Es gab ihm das Gefühl, sie zu brechen. In Wahrheit führte sie den Kampf gegen ihn auf der Ebene der Bits und Bytes fort. Jeden Schlag zahlte sie ihm dort heim.

»Deine Freundin hingegen ist eine echte Kämpferin.« Er lauerte auf ihre Reaktion, auf die er normalerweise zählen konnte. Die Angst um Jess lähmte alle Hoffnungen, die Tamara auf eine Flucht hegte. Sie atmete tief durch. Tot nutzte sie niemandem etwas.

»Blonde Frauen, Europäerinnen, interessieren mich nicht. Bei deiner Freundin werde ich es mir noch überlegen. Mit ihrem Temperament wäre sie eine spannende Herausforderung.«

»Was wollen Sie?«

»Wie ist sie im Bett?«

»Farids Laptop ist total verseucht. Den müssen wir komplett säubern ...«

»Lass mich nachdenken. Wenn ich sie an die Pfosten fessle und in sie eindringe ...«

Weiter kam er nicht. Obwohl er es provoziert hatte, war er zu überrascht von der Schnelligkeit und Heftigkeit ihrer Attacke. Sie war nicht nur mit zwei Brüdern aufgewachsen, Sam hatte mit seiner Übervorsichtigkeit auch dafür gesorgt, dass sie sich wehren konnte. Heute liebte sie ihn für jeden blauen Fleck, den er ihr beim Training verpasst hatte. Blitzschnell schoss sie vom Stuhl nach vorne, rammte Harun ihren Kopf in den Bauch. Ein Schuss löste sich, weil der Idiot den Zeigefinger am Abzug liegen hatte, und traf die Wand. Zusammen gingen sie zu Boden, sprangen gleichzeitig auf, aber bevor er die Pistole erneut auf sie richten konnte, packte sie mit der linken Hand seinen Unterarm. Mit dem rechten Arm umschlang sie seine Taille, drehte ihren Oberkörper ein und warf ihn auf den Boden, ohne seinen Waffenarm loszulassen. Als Nächstes gab sie ihm einen Tritt in die Weichteile. Er schrie vor Schmerz auf, krümmte sich zusammen. Weil er die Waffe immer noch hielt, verdrehte sie seinen Arm und biss ihm so fest in die Hand, dass sie Blut schmeckte. Wieder brüllte er auf. Die Pistole fiel mit einem dumpfen Geräusch auf die Schlafmatte.

Von der Küche her hörte sie Haruns Männer heranstürmen. Ihr wurde klar, dass sie die Aktion gewiss nicht überleben würde. Mit einem Satz hechtete sie zu der Waffe. Harun erkannte, was sie vorhatte, rappelte sich trotz der Schmerzen hoch und packte sie. In seinen Augen funkelte die blanke Mordlust. Mit voller Wucht trat sie ihm auf den Fuß und hörte befriedigt das knackende Geräusch, bevor sie ihm noch den Ellenbogen ins Gesicht rammte. Sie hatte nur eine Wahl: die Pistole vom Boden hochnehmen und hoffen, dass ein wenig von den Schießübungen ihres Bruders hängen geblieben war. Natürlich war es keine Heckler & Koch wie die Dienstwaffe der GSG 9, mit der ihr Sam das Schießen beigebracht hatte. Egal. Da die Waffe entsichert war, brauchte sie nur noch den Abzug zu bedienen. Sie brachte sich in Position, packte mit beiden Händen den Griff – weiter kam sie nicht.

Schüsse ertönten von außerhalb des Zimmers. Haruns Leute verharrten in der Tür, als wären sie in der Aktion eingefroren. Dann brach die Hölle los. Es gab ein Krachen, mehrere grelle Blitze machten sie blind. Instinktiv ging sie in die Hocke, die Pistole weiterhin im Anschlag. Hinter ihr stieß Harun Flüche aus, und auf ihren Rücken tropfte etwas Warmes.

»Stop! Hands up!«

Aus all dem Lärm, der Hektik, erklang der Befehl laut, aber dabei ruhig und bestimmt. Die Pakistani gehorchten, ließen die Waffen fallen und erhoben die Hände. Dunkle, vermummte Gestalten bewegten sich wie Schatten lautlos durch den Raum, sicherten eine Person nach der anderen zielstrebig und routiniert, wobei Tami nur Bewegungen wahrnahm und Konturen zwischen roten und weißen Punkten. Zwei davon kamen auf sie zu. Harun hinter ihr war verstummt. Alarmiert nahm sie Gestalten wahr, die zum Schreibtisch huschten, wo ihr iPhone lag.

Statt zu denken, reagierte sie nur. Dass sie die Waffe immer noch hielt, bemerkte sie nicht. Bevor sie auch nur hätte blinzeln können, lag sie auf dem Bauch, die Hand mit der Pistole auf dem Rücken. Die gesamte Aktion hatte Bruchteile einer Sekunde gedauert.

»Hostage secure.«

»Mein iPhone, verflucht noch mal!«

Sie versuchte sich zu bewegen. Unmöglich.

»Nobody will harm you. We are here to save your life. Do you understand me?« Langsam, bedächtig, Wort für Wort – in einer angenehm beruhigenden Art und Weise klang die Stimme dumpf in ihrer Nähe.

»Nein! Das ist mein iPhone! Lass mich los, du Blödmann!« Völlig bewegungsunfähig schrie sie frustriert auf. Alle Daten, alle Informationen, einfach alles war auf diesem blöden Gerät. Sie musste es sicherstellen. Sie drehte den Kopf, blinzelte, sah, wie ihr Smartphone in eine Tüte gepackt wurde, und rastete aus. Es nützte nichts, sondern verstärkte den Druck auf Arme und Rücken.

»TJ, we need your help.«

Eine kurze Pause.

»No, now. It’s the IT specialist who is stressed out.«

»Verdammte Scheiße, wer soll ich denn sonst sein? Lass mich gefälligst los, du Riesenhornochse, und sag deinem Kumpel da, dass er die Pfoten von meinen Sachen lässt. Der hat doch eh davon null Ahnung. Hey, du Idiot!« Sie schrie nicht, sie brüllte.

»You hear?« Völlig unbeweglich, ohne auf ihr Toben zu reagieren, nagelte der Mann sie weiterhin am Boden fest, während er mit der Luft zu sprechen schien. Kurz hielt sie in ihrem Kampf inne, entspannte sich, wartete, dass er den Griff ein wenig lockerte, aber den Gefallen tat er ihr nicht. Die vermummten Gestalten setzten sich mit den Gefangenen, deren Hände nach hinten fixiert waren, in Bewegung.

»Move! Move, move.«

Sie drehte den Kopf zur anderen Seite, sah, wie sich zwischen geschnürten Stiefeln nackte Füße näherten. Zu spät erkannte sie die Absicht dahinter und bekam einen Tritt ins Gesicht.

3

Rückzug

Sie fühlte ein angenehm kühles, feuchtes Tuch auf Stirn und Wange. Ihr Oberkörper lehnte an einer Steinmauer, ihre Beine waren auf dem steinigen Boden ausgestreckt. Man hatte sie also nach draußen verfrachtet. Ihr Schädel brummte, die eine Seite schien auf doppelte Größe angeschwollen. Blinzelnd versuchte sie die Augen zu öffnen, was ihr bei dem linken mühelos gelang, beim rechten nur ansatzweise.

»Wie fühlen Sie sich?«

Was für eine selten dämliche Frage. »Wie im Urlaub in einem Luxushotel!«, giftete sie und bereute die Worte sofort, weil es wehtat, den Kiefer zu bewegen, und das kühle Tuch verschwand. Stattdessen wurde ihr mit einer Taschenlampe ins Gesicht geleuchtet.

»Die Pupillen reagieren.«

Obwohl ihnen die letzten Minuten gehörig zugesetzt hatten, fingen ihre Gehirnzellen wieder an zu arbeiten. Sie lebte, jemand kümmerte sich um sie und prüfte ihren Gesundheitszustand. Außerdem sprach der Typ, der vor ihr hockte, Deutsch mit ihr.

»Wo ist Jessica?«

»Es geht ihr gut.«

»Matthias?«

»Heil und lebendig.«

»Wo ist mein iPhone!«

Stille. Sie brachte Spannung in den Oberkörper, hob den Kopf an. Das dumpfe Pochen wandelte sich zu einem grellen Schmerz, aber die Welt blieb normal, kreiste nicht um sie herum. Sie atmete tief durch, zog das linke Bein an, um aufzustehen. Eine Hand drückte sie oberhalb der Brust zurück gegen die Mauer. Wütend schlug sie danach.

»Fass mich nicht an, du Idiot!«

»Bleiben Sie gefälligst sitzen!«

Sie zuckte zusammen. Bisher hatten die Männer alle ruhig mit ihr gesprochen. Dass jemand zurückblaffte, war eine neue Erfahrung für sie, wenigstens mit dieser Sorte Männer.

»I told you, TJ. She‘s a bitch.«

»Hey, du Pussy! Ich verstehe Englisch! Möchte dich erleben, wenn ich versuch, dir deine Knarre wegzunehmen.«

»Wie lautet Ihr Name?«

Verblüfft hielt sie in der Schimpftriade inne.

»Tamara Baumann, aber das .

---ENDE DER LESEPROBE---