Im Schatten der Arena - Mara Pfeiffer - E-Book

Im Schatten der Arena E-Book

Mara Pfeiffer

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Beschreibung

Der Sportjournalist Jonas wird tot aufgefunden, und die Polizei geht zunächst von einem Unfall aus. Seine Kollegin und gute Freundin Johanna kann das nicht glauben und stellt eigene Ermittlungen an. Sie weiß, dass Jonas seit einiger Zeit an einer Geschichte gearbeitet hat, deren Details er nicht mal ihr anvertrauen wollte. Hängt der Coup mit seiner journalistischen Arbeit rund um den 1. FSV Mainz 05 zusammen? Wieso hat der nur im Sportjournalismus aktive Jonas ein Interview mit einem bekannten Sänger vereinbart? Und welche Rolle spielt Berater Claus Hopfen, dessen Name ständig in seinen Unterlagen auftaucht? Je tiefer sich die Journalistin in die Recherchen ihres toten Kollegen vergräbt, desto mehr gerät sie selbst in Gefahr. Als ihr Sohn Luca bei einem Kita-Ausflug spurlos verschwindet, läuft Johanna die Zeit davon. Denn die Männer, die ihr Kind in der Gewalt haben, sind nicht zimperlich.

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Mara Pfeiffer
Im Schatten der Arena
Mainz 05-Krimi
Alle Rechte vorbehalten · Societäts-Verlag
© 2018 Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Satz: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlaggestaltung: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlagabbildung: Thomas Volk
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-317-9
für Alex.für immer.

Kapitel 1

Ist das, wonach es aussieht?“
Jo dreht sich zur Seite und mustert den Typen, der auf dem Barhocker neben ihrem Platz genommen hat, und so etwas wie ein Lächeln versucht. Falls das seine Pick-Up-Line ist, sollte er dringend daran arbeiten.
„Wonach sieht’s denn aus?“
„Ehering.“
Schön, wenn Männer komplizierte Sachverhalte in einem einfachen Hauptwort ausdrücken können, statt einen unnötig langen Satz mit Grammatik und dem ganzen altmodischen Schnickschnack zu bilden. Jo verdreht innerlich die Augen.
„Ist es.“
„Mist.“
Mit dieser Einordnung hat sich für den Typ offenbar auch die Unterhaltung erledigt. Er steht umständlich vom Barhocker auf und stapft grußlos zurück zu dem großen Tisch in der Ecke der Kneipe, wo er sich zu seinen Kumpels setzt. Denen schildert er die Begegnung mit Jo eindeutig wortreicher, als seine tatsächliche Anmache ausgefallen ist, und sie reagieren mit schallendem Gelächter.
Jo schaut auf die Uhr – kurz nach elf. Zeit, hier die Segel zu streichen. Auch wenn Luca meist durchschläft und von ihren Ausflügen ins Haddocks selten etwas mitbekommt, lässt sie ihn doch nie länger als eine knappe Stunde alleine. Die aber braucht sie hin und wieder, um etwas Abstand zu bekommen von diesem Leben, in dem sie sich ansonsten ganz gut eingerichtet hat.
Die alte Ruhelosigkeit, an die sie sich schon aus den Tagen ihrer Kindheit erinnert, ist dennoch ihr Begleiter geblieben, den Jo an Abenden wie heute mit Bier und Tequila zum Schweigen zu bringen versucht. War es nicht Gottfried Benn, der gesagt hat, er kokse vor allem, um die Stimmen in seinem Kopf kurzzeitig ruhigzustellen? Guter Mann, dieser Benn.
„Zahlen!“ Jo winkt Benny, der in der angrenzenden Küche gerade die Spülmaschine öffnet und für einen Moment kaum zu sehen ist, im Wasserdampf. „Es waren jeweils zwei, oder?“, fragt der und zwinkert lächelnd, also Jo auf drei erhöhen will. „Ist ja schon der Zwölfte!“, flüstert der Student, der hier an drei Abenden in der Woche den Laden schmeißt, verschwörerisch. Jo erinnert sich dunkel daran, wie sie ihm kürzlich zwischen zwei Shots erzählt hat, dass ihr Gehalt immer am 15. des Monats fällig wird und sie kurz vorher meist etwas knapp bei Kasse ist. Dafür schämt sie sich jetzt angemessen und gleicht das ungute Gefühl mit viel zu viel Trinkgeld aus, obwohl sie tatsächlich verdammt klamm ist. Benny schaut schuldbewusst auf die Münzen in seiner Hand und Jo schwört sich hoch und heilig, für eine Weile mit den Besuchen im Haddocks auszusetzen.
Bereits bevor sie die Wohnungstür öffnet, kann Jo Obama auf der anderen Seite maunzen hören. Sobald sie im Flur steht, streicht ihr der fette Kater laut schnurrend um die Beine. Jo bückt sich und streichelt ihm den Kopf.
„Na, Dicker, alles klar bei euch?“ Obama leckt ihre Finger und schüttelt sich, wobei sein Gesichtsausdruck so etwas wie Entrüstung annimmt.
„Sorry. Salz?“ Jo kichert albern. Sie ist offenbar doch ein wenig beschwipst.
„Leise!“, ermahnt sie den beleidigten Kater und drückt den Zeigefinger auf ihre Lippen, während sie die Schuhe auszieht und mit den Füßen unter den Spiegelschrank schiebt. „Du weckst sonst Luca.“ Obama folgt ihr durch den Flur bis zu der Tür, aus der ein schmaler Streifen blaues Licht fällt. Auf Zehenspitzen tapst Jo in das Zimmer, verbeißt sich tapfer einen Aufschrei, als sich ein scharfer Legostein in ihren nackten Fuß bohrt, und tritt ans Bett ihres Sohnes.
Das blasse Gesicht des Fünfjährigen ist in das blaue Licht seiner kleinen Nachttischlampe getaucht, auf der Fische die Tiefen eines unbekannten Meeres durchschwimmen. Lucas unzählige Sommersprossen wirken beinahe lila und die kleinen Hände liegen so verdreht auf seiner Stirn und unter dem Kopf, als hätte er sich beim Einschlafen noch die Haare gerauft. Jo weiß aus zärtlichen Erzählungen der Großmutter, dass ihre eigene kindliche Schlafhaltung ganz ähnlich gewesen sein muss. Auch die Sommersprossen im Gesicht des Jungen tragen so schon Jo, ihre Oma und Generationen von Frauen vor ihnen. Luca aber ist der erste Bub, dessen Gesicht sie betupfen. „Ein Zeichen für die Regenschauer in seiner Seele“, hat ihre Nonna dazu gesagt und Jos Herz beklommen gemacht, weil sie hofft, ihr Sohn möge in seinem Leben verschont bleiben von den Stürmen, die in ihrer eigenen Seele oft toben.
Bisher scheint ihr Wunsch sich zu erfüllen. Der Kleine ist ein aufgewecktes, herzliches Kind, das immer lacht. Die Pendelei zwischen Kita, Zuhause und seiner Urgroßmutter scheint ihn nicht weiter zu belasten, auch wenn Jo sehr wohl weiß, dass die alte Frau seinem Temperament nicht ewig gewachsen sein wird. Aber noch kommen sie zu dritt gut zurecht und so unterdrückt Jo den Anflug von schlechtem Gewissen über die zurückliegende Stunde an der Bar – die Kneipe liegt schließlich im selben Haus wie ihre Wohnung – und schleicht aus dem Zimmer des Jungen, nachdem sie das Licht neben seinem Bett gelöscht hat.
In ihrem eigenen kleinen Schlafzimmer zieht Jo den Ehering ihrer toten Mutter vom Finger und legt ihn in eine Schatulle auf der Kommode, bevor sie ihre Kleider achtlos auf den Boden wirft und nackt unter die Bettdecke schlüpft.
Jo wird von dem Geruch frischen Kaffees geweckt und ahnt sofort, das verheißt nichts Gutes. Ihr Gefühl bestätigt sich, als sie die Augen öffnet und in Lucas nutellaverschmiertes Gesicht schaut.
„Mama, du hast verschlafen“, erläutert der Dotz eine Tatsache, die zwischenzeitlich auch seiner Mutter klar geworden ist.
„Na sowas“, murmelt sie. „Und deswegen kriege ich keinen Guten-Morgen-Kuss?“
„Doooch!“, ruft Luca enthusiastisch und schmatzt ihr einen Teil seiner Schokolade ins Gesicht, bevor er zurück Richtung Küche wackelt.
Leise fluchend greift Jo nach dem Handy auf ihrem Nachttisch. In einer Push-Meldung informiert RPR1 über einen Autounfall auf der B9 kurz hinterm Bodenheimer Wasserwerk und die Allgemeine Zeitung Mainz verkündet, dass weitere Details zu den inoffiziellen Bezügen des 05-Präsidenten bekannt geworden sind.
Sie seufzt. Diese Geschichte zieht sich nun schon seit Wochen. Aber sie möchte eigentlich gerade nur kontrollieren, ob sie letzte Nacht betrunken irgendwelche peinlichen Nachrichten abgesetzt hat. Doch da ist scheinbar alles sauber: Postausgang, Anrufliste, SMS. Lediglich im WhatsApp-Verlauf mit ihrem Kollegen Jonas hat sich etwas getan: „Morgen Mittagspause im Bullys?“, hat sie ihm um 2.51 Uhr geschrieben. Kurz vor drei. Jo massiert sich die Schläfe. Kein Wunder, dass ihr Kopf derartig dröhnt. Aber eher ungewöhnlich, dass Jonas noch nicht auf ihren Vorschlag reagiert hat, zumal, wenn es um Burger geht. Für die lässt er eigentlich alles stehen und liegen.
„Guten Morgen, Engelchen.“ Es ist Jos Großmutter vorbehalten, Kosenamen einen Klang zu geben, der einem Tadel gleichkommt.
„Du solltest dich hier nicht immer so reinschleichen, Nonna“, sagt Jo statt einer Antwort, während sie sich ungelenk an den Küchentisch setzt. Sie bemüht sich nur Luca zuliebe darum, die Schärfe, die sie eigentlich verspürt, aus ihrem Tonfall zu halten.
„Und du solltest dich hier nicht immer so rausschleichen.“ Die Großmutter knallt ungerührt eine Tasse Kaffee, schwarz mit wenig Zucker, vor Jo auf den Tisch, die bei dem lauten Geräusch gequält zusammenzuckt.
„Das geht dich überhaupt nichts an.“
„Wenn mein Ur-Enkel zu spät in die Schule kommt, schon.“
„Mein Sohn geht noch in den Kindergarten. Und wir schaffen das gerade so alleine.“
„Sieht mir nicht danach aus, Engelchen.“
„Lass das Engelchen stecken, Nonna. You’ve got to stop it.“
„Was? Dafür zu sorgen, dass meine drunk ass granddaugther nicht verschläft?“
Wie immer, wenn die Frauen vor Luca streiten, verfallen sie ins Englische, damit der Junge sie nicht versteht.
„Wenn du dich derart für das drinking problem deiner eigenen daugther interessiert hättest, she might still be alive – und du müsstest dein schlechtes Gewissen nicht damit beruhigen, to show up here all the time.“
Jo spürt bereits während die aufgewühlten Worte ihren Mund verlassen, dass sie im Begriff ist, zu weit zu gehen. Aber sie kann sich trotz der Alarmglocken in ihrem Kopf nicht bremsen. Sie hasst es, sich in die Ecke gedrängt zu fühlen. Und niemand schafft es besser als ihre Großmutter, ihr das Gefühl zu geben, auf ganzer Linie zu versagen. Dass Nonna – ein Begriff, der sich nach einem gemeinsamen Italienurlaub von Jo, ihrer Mama und der Großmutter in den Achtzigern gehalten hat – es nur gut meint, ändert daran überhaupt nichts, im Gegenteil.
„Um die Sauferei deiner Mutter zu beenden, hätte man sie emotional von deinem Vater loseisen müssen. Du weißt so gut wie ich, dass das unmöglich war“, presst Nonna unüberlegt ohne schützendes Englisch hervor und fixiert Jo mit wütendem Blick.
„Mama hat gar keinen Vater“, mischt Luca sich krähend in die Unterhaltung ein, sichtlich froh darüber, etwas zu verstehen und zugleich einen Punkt gefunden zu haben, an den er anknüpfen kann. „Genau wie ich!“
Der Tonfall des Jungen drückt aus, dass er diese Tatsache für etwas Positives hält. Jo bestärkt ihren Sohn darin, indem sie ihm die ausgestreckte Hand zum High-Five anbietet, das der Junge klatschend und breit grinsend einlöst. Nonna schnaubt aufgebracht. „So ein Unsinn! Jeder Mensch hat einen Vater.“
„Mag sein“, entgegnet Jo kühl. „Aber manchen von uns geht’s dabei eben wie Luke Skywalker mit Darth Vader: Wir hätten lieber niemals davon erfahren.“
Wenig später stapft Jo mit Luca an der Hand durch den schmelzenden Schnee zur Kita. Ihr Kopf fühlt sich seltsam leicht an, während ihr Herz schwer in der Brusthöhle liegt. Verfluchte Schnäpse. Verfluchte Nonna. Und verfluchte Erkenntnis, dass beides irgendwie zusammenhängt und weniger Schnaps auch seltenere Überraschungsbesuche der Großmutter bedeuten würde. Am liebsten möchte Jo den Mülleimer, an dem sie gerade mit ihrem Sohn vorbeiläuft, aus der Verankerung treten, eine Runde heulen und den Rest des Tages in der Badewanne und im Bett verbringen. Bestenfalls in Begleitung einer guten Flasche Rotwein. Stattdessen ist ausgerechnet heute Stadtratssitzung – und sie weiß noch nicht wirklich, wohin mit Luca. Eigentlich wollte sie ihre Großmutter bitten, auf ihn aufzupassen, aber nach ihrem eigenen Auftritt gerade kommt das nicht mehr in Frage. Jo stöhnt frustriert auf und verspürt Lust auf eine Zigarette.
„Warum hast du mit Nonna gestreitet?“, fragt Luca in den Lärm ihrer Gedanken hinein. Jo bleibt stehen und geht vor ihrem Sohn in die Hocke.
„Wer ist dein bester Freund auf der ganzen Welt, Cookie?“
„Emil.“
„Und was macht Emil in der Kita oft beim Mittagessen?“
„Seine Sachen auf meinen Teller schieben.“
„Warum macht Emil das?“
Luca überlegt einen Moment. „Weil er mich lieb hat“, verkündet er dann strahlend. „Und weil ich immer so viel Hunger kriege und er nicht.“ Jo lächelt ihren Sohn an.
„Und wie findest du das?“ Wieder arbeitet es hinter Lucas Stirn. „Halbe-halbe. Ich mag sein Essen, aber nicht auf meinem Teller. Es ist ja meiner“, erklärt er dann und zählt dabei die gesprochenen Wörter mit dem Finger der linken Hand an der rechten ab.
„Siehst du, so ist das auch mit Nonna und mir. Ich liebe sie sehr, aber es ist unsere Wohnung. Und manchmal will ich nicht, dass sie ihr Essen reinkippt.“
Luca kichert über ihre Worte, ganz offensichtlich mit Bildern von Lastwagen beschäftigt, von deren Ladefläche Nonna Essen in die Wohnung schüttet. Hand in Hand laufen Mutter und Sohn weiter zum Feldbergplatz.
Als Jo sich in der Kita gerade von ihrem Sohn verabschieden will, zupft er plötzlich nervös an ihrer Hose. Sie beugt sich so zu ihm herunter, dass ihre Haare das, was zwischen ihren Gesichtern passiert, wie ein Vorhang von der Außenwelt abschirmen. „Aber Mama“, flüstert Luca heiser. „Nonnas Essen ist wirklich sehr lecker. Und du vergisst manchmal einfach, zu kochen.“

Kapitel 2

Im Büro der Lokalredaktion am Markt angekommen, checkt Jo erneut ihr Handy. Immer noch kein Wort von Jonas. „To Burger or not to Burger, that’s the question“, tippt sie im Zwei-Finger-System. Von hinten nähert sich ihre Chefin. „Oh, so dürftest du dich aber nicht von meiner Tochter erwischen lassen.“
„Was meinst du?“
„Das Gehacke mit den zwei Fingern. Mia würde dich auslachen, oder in ihrem Jargon: hart verlachen. So tippen nur alte Leute. Sagt Mia.“
Jo stöhnt auf. „Warst du heute schon im Haupthaus?“
Anda schüttelt den Kopf. „Nein, mittwochs ist die Konferenz doch erst später. Und ich verkneife sie mir heute vermutlich ganz, weil es sonst so spät wird mit dem Stadtrat. Warum?“
„Weil Jonas nicht auf meine Nachrichten reagiert. Ich dachte, du hättest ihn vielleicht gesehen. Er sitzt doch diese Woche für den Sport in der Konferenz, oder?“
„Nee, er hat mit Gabi getauscht, weil er irgendeine Recherche zu Ende bringen will. Da weißt du vermutlich mehr als ich.“
Jo verspürt einen Stich. Sie weiß überhaupt gar nichts. Weder von irgendeiner Recherche, noch, dass Jonas Dienste tauscht – und am allerwenigsten, wieso er nicht auf ihre Nachricht reagiert.
„Hey, klappt bei dir nachher alles mit dem Stadtrat? Du und ich und die Schnarchnasen aus sechs Fraktionen?“
„Ja, klar, ich muss mir nur noch was für Luca überlegen. Mia hat nicht zufällig Lust, sich ein paar Euro zu verdienen und heute auf unserer Couch Pizza zu essen?“
„Mh, warum eigentlich nicht? Sie erzählt seit Monaten, dass sie endlich ihr eigenes Geld will. Irgendwo muss das ja herkommen. Könntest du sie denn vor der Stadtratssitzung abholen – und ich nehme sie hinterher wieder mit heim? Donnerstags hat sie eh erst zur dritten Stunde Schule, insofern passt das doch. Testlauf?“
Jo spürt, wie sich in ihrem Inneren die klemmenden Schleusen öffnen und Erleichterung warm ihre gereizten Nerven umspült. „Echt? Du bist ja ein Schatz. Das war eigentlich mehr als Scherz gedacht.“
„Ach, Quatsch, das haut schon hin. Ich rufe Mia direkt an. Aber dafür kümmerst du dich heute um die neue Volontärin, für die habe ich nicht auch noch Nerven. Ich muss mich unbedingt in die Themen für den Stadtrat einlesen. Und wenn dem Mädel niemand hilft, müssen wir für die drei Polizeimeldungen, die sie bearbeitet, morgen fünf Seiten freihalten.“
Anda grinst breit, Jo reagiert mit einem abwesenden Nicken. Ihre Begeisterung darüber, sich mit einem fast fremden Menschen zu beschäftigen, der am Ende noch den Anspruch hat, etwas von ihr lernen zu wollen, hält sich in eng gesteckten Grenzen. Aber sie wagt es nicht, einen Termin außer Haus vorzutäuschen, weil die Chefin ihr gerade echt den Hintern gerettet hat. Und das nicht zum ersten Mal. Trotz ihrer zehn Jahre Altersunterschied und der klaren Hierarchie im Joballtag sind die beiden Frauen seit vielen Jahren gute Freundinnen, und Jo gibt die vage Hoffnung nicht auf, die strukturierte, besonnene Art der Älteren könne irgendwann noch positiv auf sie abfärben.
Am Computer ruft Jo die Seiten der morgigen Lokalausgabe auf. Eingeplant sind sechs, neben der Titelseite im dritten Buch eine für die Kultur vor Ort, eine halbe für den heutigen Stadtrat, die übliche Seite für die Mainzer Stadtteile, zweieinhalb reguläre Lokalseiten und dann ein Spezial über Horst Bauer, inklusive Interview. Der Präsident des FSV Mainz 05 steht seit einiger Zeit in der Kritik, weil öffentlich geworden ist, dass sein monatliches Salär für ein angebliches Ehrenamt recht üppig ausfällt.
Beim Gedanken an die fünfstellige Summe, die der Mann Monat für Monat einstreicht, schüttelt Jo unwillig den Kopf. Klar, Fußball ist ein Millionengeschäft, aber wieso verkauft man sich dann als Ritter von edler Gestalt, statt so ehrlich zu sein, zu dem Gehalt, das man bekommt, auch zu stehen? Es erwartet doch niemand, dass Leute – in welcher Position auch immer – für lau arbeiten. Wozu die Heimlichtuerei? Und auch Bauers Umgang mit den Veröffentlichungen findet sie reichlich kläglich: kein Unrechtsbewusstsein, wenig bis keine Reue, erst recht keine Entschuldigung. Stattdessen Presse-Bashing vom Feinsten, auch gegen Jonas, der in der Sache viel recherchiert und berichtet hat. Passt halt in eine Zeit, in der Leute mit Schildern und Fackeln auf die Straße gehen, um gegen eine vermeintliche Islamisierung des Abendlandes zu demonstrieren und dabei lautstark „Lügenpresse“ zu skandieren.
Für Statements oder gar Interviews steht Bauer der AZ und anderen Medien im Umkehrschluss schon seit Wochen nicht zur Verfügung, Anrufe ignoriert er, Mails bleiben unbeantwortet. Klar, warum auch miteinander sprechen, wenn man so herrlich übereinander reden kann. Heute aber soll es endlich so weit sein, der Chefredakteur höchstpersönlich trifft sich zum Gespräch mit dem gescholtenen Vereinsboss, nachdem der plötzlich ziemlich überraschend von sich aus den Kontakt gesucht hat. Sportchef Dave Wright bereitet zum Interview einen Zeitstrahl der jüngsten Ereignisse vor und schreibt den Hintergrundbericht. Noch weiß allerdings niemand, in welche Richtung sich das Treffen im Haasekaste an der Arena entwickeln wird.
Als ihr Handy piept, formuliert Jo in Gedanken eine halbwegs originelle Schimpftirade für Jonas und sein Schweigen. Doch die WhatsApp, die ihr Display zum Leuchten bringt, ist von Mia. „Ho, Jo! Voll chillig mit Babysitten. Hast du Netflix? Und gibt’s bei dir Döner?“
Jo kratzt sich am Kopf und versucht sich Mias Gesicht vorzustellen, wenn sie gleich liest, dass Jo ihre sporadischen Fernsehabende noch auf einer alten Röhre genießt. Sie tippt: „Netflix nein, aber meine Hood ist das Dönerparadies von Mainz“, nur um sich beim Versenden zu fragen, warum sie als erwachsene Frau und Mutter das reichlich schwachsinnige Bedürfnis hat, die Teenietochter ihrer Freundin mit dem Wort ‚Hood‘ zu beeindrucken.
„Alles klar, Robin, dann hoffe ich, du hast gute DVDs. Döner geht auf dich, ja?“ Zwischen den Worten flimmern und flackern unzählige Emojis, und Jo fühlt sich plötzlich ziemlich alt.
Vor allem aber knurrt ihr Magen, der heute bislang nur einen gezuckerten Kaffee zu sehen bekommen hat. Wieso antwortet Jonas bloß nicht? Sie sucht ihren Chat auf dem Handy und stellt fest, dass neben der letzten Nachricht nur ein einzelner Haken zu sehen ist. Das würde bedeuten, der Freund hat sein Handy aus – erst, wenn auch der zweite Haken zu sehen ist, gilt eine Nachricht als zugestellt. Wechseln die Haken von blass auf blau, wurde der Chat mit der neuen Nachricht auch aufgerufen. Seltsam genug, dass Jonas das Handy in der Nacht ausgemacht haben könnte. Aber wieso hat er es um halb zwölf nach wie vor nicht an?
„Entschuldigung?“
Neben Jos Tisch trippelt die neue Volontärin nervös von einem Bein aufs andere. Irgendwie schafft sie es immer, eine Haltung einzunehmen, die vermuten lässt, sie habe sich gerade frisch in die Hose gepullert. Wie kann man nur derart schüchtern sein? Gut, die meisten Kollegen hier sind kein Zuckerschlecken und sie selbst hat sich auch noch kaum mit ihr beschäftigt. „Ja, sorry, bin sofort bei dir.“
Das Mädchen trollt sich rückwärts zurück an ihren Schreibtisch. Jo sucht Jonas’ Telefonnummer aus dem Handy und hackt sie mit dem Zeigefinger auf ihrem Bürotelefon ein. Am anderen Ende springt sofort die Mobilbox an. „Wer Jonas Kögel sprechen will, hat die richtige Nummer, aber den falschen Zeitpunkt gewählt. Wenn Sie mir eine Nachricht hinterlassen, rufe ich so schnell wie möglich zurück. Auf Wiederhören.“
„Jonas, hier ist Jo. Ruf mich doch mal an, du Pfeife, ich mache mir langsam fast schon Sorgen um dich. Und wenn du demnächst wieder mit einer deiner Vergnügungsweiber über Nacht aus dem Netz fällst, kündige das doch bitte vorher an, dann muss ich mir nicht die Finger wundtippen.“
Etwas heftiger als gedacht, knallt Jo den Hörer auf. Irgendwie ist sie sauer auf den Freund und seine Sprachlosigkeit. Dabei stört es sie doch sonst nicht, wenn Jonas seinen Frauengeschichten frönt. Aber dass er sie dafür komplett ignoriert, versetzt ihr einen unangenehmen Stich.
„Und, wie weit bist du?“ Jo beugt sich über den Schreibtisch der Volontärin und grübelt nach deren Namen.
„Theoretisch habe ich alle drei Meldungen, die bisher reingekommen sind, bearbeitet. In der Praxis sind sie aber noch viel zu lang.“ Das Mädchen macht einen zerknirschten Augenaufschlag und Jo fragt sich, ob der ihr in Verbindung mit dieser seltsam schüchternen Haltung bei den männlichen Kollegen wohl weiterhilft. Bei ihr steigert das Getue eher den ohnehin vorhandenen Unmut. „Zeig mal die Originalmeldungen von der Polizei.“
Die Volontärin reicht ihr einen Ausdruck und Jo wirft einen prüfenden Blick auf die Seite der morgigen Zeitung, die sich am Bildschirm in ihrer Entstehung befindet. Drei Textbausteine sind aktuell in den Außenspalten zu lesen: Einbruch in eine Bäckerei in der Oberstadt, der Unfall mit Todesfolge auf der B9 und ein aufgebrochenes Auto in der Altstadt. Die ursprünglichen Meldungen der Polizei umfassen nur wenige Zeilen, die Kleine hat es aber geschafft, damit fast eine halbe Seite zu füllen.
„Das ist ja länger, als die Originale waren.“
Das Mädchen seufzt, inszeniert erneut ihren Augenaufschlag und haucht: „Genau das ist ja mein Problem.“
Nein, denkt Jo, dein Problem ist, dass du diese seltsame Masche mit den Kulleraugen offenbar mit dem Gießkannenprinzip anwendest, obwohl dir klar sein müsste, dass ich die falsche Adressatin dafür bin. Laut sagt sie: „Du sollst da keine Romane schreiben, äh …“
„Sophie. Mit PeHa.“
„Genau. Einfach die Meldung sprachlich glätten, natürlich mit der Nachricht einsteigen, und dich so kurz wie möglich halten.“
„Ich hatte gehofft, du könntest mir vielleicht helfen.“
Wenn diese alberne Person noch einmal mit den Augen klimpert, wird Jo ihre gute Kinderstube endgültig vergessen. Das ist doch die reinste Comedy. Wo lernen die Kids sowas?
„Habe ich ja, Sophie mit PeHa. Ich habe dir erklärt, wie du an die Texte rangehen sollst. Das kannst du jetzt versuchen und mich dann rufen, ich schaue mir das Ergebnis gerne an und gehe mit dir abschließend drüber.“
„Nice going“, flüstert Polizeireporter Steffen, als Jo an seinem Tisch vorbeigeht.
„Was soll das denn heißen?“
„Ich sag’s mal so, den Ruf als Volo-Schreck hast du nicht umsonst. Die fängt doch gleich an zu heulen da drüben.“
„Du kannst sie ja trösten, wenn es dir so das Herz zerreißt.“
„Ne, lass mal, diese Kulleraugen sind nicht so meins. Du bist da schon eher mein Typ. After-Work-Drinks?“ Er grinst über Jos perplexes Gesicht.
„Kleiner Scherz, ich hätte natürlich viel zu viel Angst, dass du mir nach dem anschließenden Koitus den Kopf abbeißt, weil ich keinen Wert mehr für dich habe.“
„Leck mich doch“, faucht Jo, schnappt sich ihr Handy und stürzt an der verdutzten Volontärin vorbei ins Freie.
Sie braucht dringend frische Luft.

Kapitel 3

Draußen regnet es Bindfäden und die Kälte krabbelt Jo in die Knochen. Ihre Jacke hat sie in der Redaktion liegenlassen. Sie zieht den Kragen ihres Rollis vors Gesicht und flucht leise in den Stoff. Wohin will sie eigentlich? In eines der umliegenden Cafés vielleicht? Wohl kaum, denn der Geldbeutel steckt in ihrer Jacke. Lediglich das Handy hat sie dabei. Großartig. Und Jonas hat immer noch nicht auf ihre Nachricht geantwortet. „Penner“, murmelt Jo wütend, bevor sie kurzentschlossen Mia anruft.
„Ja?“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung ist nur ein Hauchen.
„Mia, bist du’s?“
„Wer denn sonst, wenn du mich anrufst.“ Mia kichert leise.
„Wieso flüsterst du denn so?“
„Ich habe Sport.“
Jo unterdrückt ein Stöhnen. „Fuck, sorry, du bist noch in der Schule?“
Mia kichert erneut.
„Äh, nicht fuck, nochmal sorry. Soll ich später wieder anrufen?“
„Ne, geht schon, ich habe Sport und muss nicht mitmachen.“
„Alles okay bei dir?“
„Alles gut, ich habe bloß meine Tage.“
„Und da ist Sport schädlich, weil …?“
„Ich eh keinen Bock habe und das ’ne prima Ausrede ist.“
Jo muss grinsen. Ehrlich ist Mia ja. Das hat sie von ihrer Mutter. Anda bringt sich mit ihrer schonungslosen Offenheit als Chefin der Lokalredaktion auch gerne mal in Schwierigkeiten, wenn sie einem hohen Tier im beschaulichen Mainz gar zu deutlich vor den Koffer scheißt. Jo mag diese direkte Art, sie konnte schon immer besser mit Kritik umgehen als Druckserei auszuhalten und ist selbst auch nicht wirklich zurückhaltend, wenn es darum geht, ihre Meinung zu formulieren.
„Ich wollte fragen, wann und wo ich dich nachher abholen kann. Der Stadtrat fängt um drei an, ich würde dich zu uns nach Hause bringen, dir alles zeigen und du müsstest Luca dann bitte um halb fünf von der Kita abholen. Haut das so hin?“
„Klar, Mama hat mir schon Bescheid gesagt. Am besten wäre es, wenn du mich direkt von der Schule abholst. Ich habe bis zwei heute. Und könntest du meine Bae mitnehmen? Die wohnt bei euch ums Eck und muss dann nicht den stinkigen Bus nehmen.“
„Wer wohnt bei uns ums Eck?“
„Meine Bae.“
„Deine …?“
„Beste Freundin.“
„Hieß das nicht eben noch BFF?“
„Sagt heute kein Schwein mehr.“
„Okay.“
„Also?“
„Was?“
„Holst du uns um zwei ab?“
„Ist das denn den Eltern deiner, äh, Bey recht.“
„Die interessiert das einen Scheiß.“
„Verstehe. Reizend. Von mir aus. Wie heißt die Straße noch?“
„An Schneiders Mühle.“
„Okay. Dann bis um zwei.“
„Top. Wir warten vorm Tor.“
Zurück in der Redaktion, stellt Jo fest, dass Steffen an Sophies Computer fröhlich in die Tasten haut, während die leicht hinter ihm stehend an ihrem Smartphone fummelt und versucht, durch gezielte „Ohs“ und „Ahs“ Interesse an seinen Erklärungen zu heucheln. Jo schüttelt den Kopf. Von wegen nicht sein Typ … Als sie extra polternd an Steffen vorbei zu ihrem Schreibtisch geht, sieht der sie mit einem Schulterzucken schuldbewusst an.
Jo kramt in den Schubladen ihres Schreibtischs nach Schokolade, aber ohne Erfolg. Vielleicht gibt es in der Teeküche noch etwas Süßes. Im Kühlschrank steht ein abgelaufener Joghurt. Jo hält ihn in das Gemeinschaftsbüro und fragt laut in die Runde: „Gehört der einem von euch?“
Abwehrendes Gemurmel und Kopfschütteln.
Ehrmann Stracciatella. Der ist ganz sicher von Hannah und die hat noch zwei Wochen Urlaub. Besser als nichts. Fehlt nur noch ein Löffel. Während sie in den Schubladen nach einem sauberen Exemplar kramt, beginnt das Telefon auf ihrem Schreibtisch zu klingeln. Jo stürzt mit ihrer Beute zurück an den Arbeitsplatz.
„Hallo?“
„Ist da Jo?“
„Wer will das wissen?“
„Mellie.“
„Sollte mir der Name was sagen?“
„Mellie Krämer.“
Jo verschluckt sich fast am Joghurt. Wieso ruft Jonas’ dämliche Ex sie an? Und woher hat die Kuh ihre Büronummer?
„Was willst du?“
„Es geht um Jonas.“
„Lass den armen Kerl in Ruhe, Mel. Du hast ihn nicht verdient. Er hat sich trotzdem in dich verliebt. Dann hast du es verkackt. Zeig ein bisschen Selbstrespekt und akzeptiere das. Er interessiert sich nicht mehr für dich. Alles klar?“
Am anderen Ende der Leitung bleibt es still. Jo leckt den Löffel ab und überlegt, ob sie zu hart war. Manchmal passiert ihr das wohl. Behauptet zum Beispiel Jonas. Der wäre auch mit ihrem Auftritt bei Nonna heute Morgen nicht zufrieden gewesen. Er findet, sie solle ab und an mal ein bisschen freundlicher zu den Menschen in ihrem Umfeld sein. Sie sieht das nicht so.
Es dauert einen Moment, bis Jo realisiert, dass Mel bereits wieder redet. Plappert, würde Jonas sagen. Diese Frau plappert und plappert und plappert. Völlig ohne Sinn und Verstand. Darum hat er sie ja auch nicht ausgehalten. Also, unter anderem.
„Und deswegen hat er es dir wohl nicht gesagt, schätze ich.“
„Mir was gesagt?“
„Dass wir wieder zusammen sind. Seit Weihnachten.“
Jo verschluckt sich. Scheiß Stracciatella.
„Seit Weihnachten?“
Sie überschlägt gedanklich. Sieben Wochen. Und Jonas hat ihr nichts …
„Ja, so kurz vorher. Wir sind immer noch dabei, ein paar Dinge zu klären. Aber es war jetzt schon eine sehr bewusste Entscheidung. Wir lieben uns, Jo. Ich weiß, du kannst mich nicht leiden und das finde ich schade, aber ist dann halt so. Ich fände es schön, wenn wir irgendeinen Umgang finden, der für uns alle drei funktioniert, aber das müssen wir nicht hier und heute klären. Ich will gerade einfach nur wissen, ob bei ihm alles okay ist.“
Endlich wird Jo hellhörig. „Wieso sollte denn etwas nicht okay sein?“
„Er war gestern Abend hier bei mir in Alsheim. Wir hatten Streit. Nix Wildes, aber wir haben die Abmachung, wenn wir uns streiten, schlafen wir nicht beieinander. Das war früher echt ein Problem, wenn wir dann die ganze Nacht rumdiskutiert haben und Wein getrunken und, na, irgendwann saßen wir immer fest oder es hat geknallt. Und deshalb …“
„Mel, es interessiert mich nicht, wie ihr eure Beziehung“ – allein das Wort verursachte Jo Übelkeit – „führt. Aber wie kommst du auf die Idee, irgendwas könnte nicht in Ordnung sein?“
„Jonas meldet sich immer bei mir, sobald er daheim ist, wenn er nachts noch fährt. Ich habe ja diese krasse Verlustangst und …“
„Eh, echt jetzt, Mel.“
„Ja okay, sorry. Jedenfalls ist er um kurz nach drei noch gefahren und hat mich nicht angerufen, als er wieder zuhause war.“
„Drama.“
„Mach dich von mir aus lustig. Aber es passt nicht zu ihm. Und auf meine SMS hat er auch nicht reagiert. Weder letzte Nacht, noch heute Morgen. Die letzte wird mir nicht mal mehr als zugestellt angezeigt. Und du weißt so gut wie ich, Jonas macht nie sein Handy aus. Dafür hat er viel zu viel Schiss, er könnte irgendein Fußballergebnis verpassen. Als ob die mitten in der Nacht spielen.“ Mellie lacht trocken.
„Kann schon sein. Wenn zum Beispiel WM-Quali ist auf einem Kontinent, der in einer komplett anderen Zeitzone liegt.“
„Ich weiß, dass du näher an seinen Themen dran bist als ich. Aber die WM ist gerade echt nicht das Ding. Hast du in den letzten neun Stunden was von ihm gehört?“
Jo beißt sich auf die Unterlippe. Ihr Herz tut Dinge, die sie überhaupt nicht leiden kann. Es zwickt und zwackt sehr deutlich angesichts der Tatsache, dass Jonas sich wieder auf diese bescheuerte Mel eingelassen hat, ohne ihr etwas davon zu erzählen. Oder Mellie, wie sie sich selbst nennt. Mit ie. Das klingt schon, als hätte die Kuh eine Glocke um den Hals … Oder eher, das Kalb, denn die Kleine ist gerade mal 23. Was zur Hölle will Jonas bloß mit so einer? Aber abgesehen von dem eifersüchtigen Stich, den ihr diese Info versetzt, beunruhigt Mels Anruf sie auch. Sie wundert sich ja selbst schon den ganzen Tag über Jonas’ Schweigen. Jo zieht laut die Nase hoch, zuckt bei dem unangenehmen Geräusch selbst zusammen, dreht den Hörer weg, täuscht einen trockenen Husten vor und sortiert sich kurz, bevor sie fragt: „Bist du noch da?“
„Natürlich.“
„Ich habe heute nichts von Jonas gehört.“
„Oh nein.“
„Aber ich würde mir keine Sorgen machen.“
„Hast du denn versucht, ihn zu erreichen?“
„Er ist gerade an einer großen Sache dran.“
„Jo, hast du ihn heute schon kontaktiert?“
„Streng vertrauliche Recherchen.“
„Das interessiert mich nicht. Ich …“
„Vermutlich konnte er dir davon nichts erzählen.“
„Jo, sei doch nicht so. Hast du schon …“
„Er meldet sich bestimmt spätestens heute Abend.“
„Also hast du …?“
„Ich muss jetzt mal auflegen, Mel. Mach dich nicht verrückt, okay? Wird schon. Ciao!“
Ohne eine Reaktion abzuwarten, knallt Jo den Hörer auf die Gabel. Dabei bleibt sie mit dem Ärmel am Joghurtlöffel hängen und der klebrige Restinhalt des Bechers kippt über ihre Tastatur.
„Das ist die gerechte Strafe.“ Anda ist unbemerkt an den Schreibtisch getreten und Jo zuckt erschrocken zusammen.
„Wofür?“
„Dass du immer so eklig zu dem armen Mädchen bist. Deswegen hat Jonas dir auch nichts erzählt.“
Jo spürt, wie ihr die Hitze in die Wangen steigt, sagt aber nichts. Anda schubst leicht mir ihrer Hüfte gegen die Stuhllehne, der vorsichtige Versuch einer zärtlichen Geste.
„Mach dich nicht verrückt, Süße. Er hätte es dir schon noch gesagt.“
„Also wusstest du es?“
„Seit letzter Woche, ja. Aber er weiß eben genau, dass du sie nicht ausstehen kannst. Ist ja auch eine hohle Nuss.“ Anda grinst schief, aber Jo ist nicht zum Scherzen zumute.
„Und wieso meldet er sich jetzt bei keiner von uns beiden?“
„Da liegst du glaube ich mit deiner Recherche-Story gar nicht so falsch. Er muss einen wichtigen Termin haben heute, den keiner von uns kennt. Da ist irgendwas am Köcheln rund um Mainz 05, von dem nur Jonas weiß. Sonst hätte er auch nicht seinen Dienst getauscht. Aber das klärt sich bestimmt im Laufe des Tages.“
„Also, was mache ich dann jetzt?“
„Dich vor allem nicht weiter verrückt.“
„Witzig.“ Sie verzieht das Gesicht.
„Mit der Volontärin die Polizeimeldungen fertig, ohne ihr den Kopf abzubeißen.“
„Richtig witzig.“
„Und dann holst du wie verabredet Mia ab, bringst sie zu euch nach Hause und wir beide sehen uns um drei drüben im Rathaus. Ich bringe auch genug Schokolade für eine lange Sitzung mit. Alles klar?“
Für einen kurzen Moment lehnt Jo ihren Kopf gegen die Freundin und schließt die Augen.
„Na gut“, murmelt sie und fühlt sich etwas besänftigt. Bis ihr einfällt, dass sie gleich noch irgendwie die verklebte Tastatur sauberkriegen muss, und ihre Laune sich direkt wieder verschlechtert.

Kapitel 4

Hey, Jonas, ich bin’s. Hör’ mal, du Pflaume, wir machen uns alle Sorgen um dich. Auch die Grundschülerin, die du offenbar seit einer Weile wieder ins Bett bringst. Wovon ich gerade am Telefon etwas überrascht wurde.“
Jo hält schnaufend inne. Beim Spurt nach Hause zu telefonieren, war vielleicht nicht die beste Idee des Tages. Andererseits ist dies bisher auch nicht wirklich ein Tag der glänzenden Ideen. Sie lässt sich mit hochrotem Kopf gegen die nächste Hauswand fallen und japst. Vielleicht sollte sie doch wieder damit anfangen, regelmäßig zu joggen.
„Also jedenfalls“, keucht Jo leicht gepresst in den Hörer, „wäre es super, wenn du dich mal irgendwo meldest. Bei mir, bei der kleinen Mellie im Bälleparadies, beim Wirt deines Vertrauens. Was weiß denn ich. Aber tatsächlich machen wir uns inzwischen alle Sorgen, gut, mit dem Löwenwirt habe ich nicht gesprochen, aber der sicher auch. Der Rest von uns wäre extrem dankbar für ein Lebenszeichen. Ach und, du schuldest mir definitiv einen Kneipenabend mit einer ausführlichen Entschuldigung dafür, dass du Geheimnisse vor mir hast, liebster Kollege. Kannst du gerne in Naturalien bezahlen. Und damit meine ich Bier. Und Schnaps. Weißt du, klar kann ich das Kälbchen nicht leiden, aber so komplett im Dunkeln zu …“
Das Piepsen der Mobilbox schneidet Jo mitten im Satz ab. Sie überlegt, direkt wieder anzurufen, lässt es dann aber bleiben. „Bringt ja nichts“, murmelt sie bei sich und stapft mit gesenktem Blick weiter die Boppstraße entlang.
Ihren roten Lupo hat Jo am Gartenfeldplatz geparkt. Luca liebt den Namen ihres Autos und tut manchmal so, als wäre die kleine alte Blechschüssel seine Freundin. „Wir sind Lulu“, hat er ihr kürzlich erklärt und Jo damit zum Lachen gebracht, weil die Analogie so offensichtlich war: Jeder in der Redaktion spricht nur von „JoJo“, wenn sie und Jonas zusammen unterwegs sind. Sie muss lächeln, trotz ihrer Wut auf den Freund. So lange sie denken kann, waren alle Männer in ihrem Leben eifersüchtig auf Jonas. Und zu jedem Beziehungsversuch der letzten Jahre gehörte dasselbe Streitgespräch: Welche Gefühle sie für ihn hege, wann sie ein Paar waren, warum sie sich getrennt hätten. Dabei war die Liebe zwischen ihnen immer platonisch.
Für Jo ist der Freund wie ein Bruder, und sie weiß, dass er umgekehrt die Schwester in ihr sieht, die er nie hatte. Als Einzelkinder aus schwierigen familiären Verhältnissen ist da vom ersten Moment an eine ganz besondere Verbindung zwischen ihnen spürbar gewesen. Jo erinnert sich gut daran, wie sie sich als junge Volontäre in der Redaktion der Allgemeinen Zeitung zum ersten Mal begegnet sind. Es hat sofort geklickt. Liebe auf den ersten Blick. Und auf den zweiten. Und auf jeden, der seither folgte. Aber eben: platonische Liebe. Auch, wenn das ihrem Umfeld manchmal schwer zu vermitteln ist.
„Ach, scheiß doch der Hund drauf!“ Hinter dem Scheibenwischer ihres Autos klemmt ein Knöllchen, mit dem Hinweis, dass sie im Anwohnerparkgebiet steht. Aufgebracht tritt Jo gegen den Reifen des Lupos: Ihre Parkberechtigung wird von einer Mappe mit Arbeitsunterlagen verdeckt, die sie gestern im Auto vergessen hat. „Ich hab’s ja, meine Fresse.“
Wütend knüllt sie das Papier in ihre Jackentasche. Ob man sich aus der Sache wohl noch rausargumentieren kann? Die 15 Euro würde sie lieber dafür nutzen, mal einen Abend das Kochen zu sparen und Pizza für sich und Luca zu bestellen.