Vergiftete Hoffnung - Mara Pfeiffer - E-Book

Vergiftete Hoffnung E-Book

Mara Pfeiffer

0,0

Beschreibung

Als Jo Zinn einen nächtlichen Anruf bekommt, ist sie wenig begeistert: Es ist Finn Ringer, der möchte, dass Jo ihm hilft. Sie ist jedoch immer noch enttäuscht, weil der 05-Profi sich nicht geoutet hat, obwohl ihr bester Freund mit dem Leben für das Vorhaben bezahlen musste. Schließlich siegt ihre journalistische Neugierde. Finn erzählt ihr von Ugonna Okorie, der seit seiner Flucht in Mainz lebt und in der U19 der 05er spielt. Nun hat er sogar sein Kurzdebüt im Profiteam gegeben, doch bei der Dopingprobe gab es Auffälligkeiten. Finn ist überzeugt, die Probe sei manipuliert. Jo stürzt sich in die Recherche, dankbar, privaten Schwierigkeiten zu entkommen: Freund Hans möchte mit ihr zusammenziehen, Sohn Luca will noch eine Katze und dann fordert sein Vater Tom auch noch das Sorgerecht für ihn. Jo möchte eigentlich nur ihre Ruhe. Doch je tiefer sie in die Story eintaucht, umso klarer wird ihr, dass hier eine enge Verknüpfung zu ihrem eigenen Leben besteht – und die Hoffnung auf Ruhe rückt in immer weitere Ferne.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 274

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mara Pfeiffer
Vergiftete Hoffnung
Mainz 05-Krimi
Alle Rechte vorbehalten · Societäts-Verlag
© 2020 Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Satz: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlaggestaltung: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlagabbildung: Koonsiri – stock.adobe.com
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-397-1
Besuchen Sie uns im Internet:www.societaets-verlag.de
Für Isa.Beste, Prinzessin, Bitch.Die Hollywoodschaukel wartet.
… und für Migo & Sol.

Kapitel 1

Jo öffnet langsam die Augen. Für einen Moment weiß sie nicht, wo sie sich befindet. Schläfrig dreht sie im stickigen Halbdunkel den Kopf zur Seite und nimmt den warmen Körper neben ihrem wahr. Sie lächelt und betrachtet den schlafenden Mann. Sein Atem geht ruhig und die Augen, über deren Farbe sie sich nicht ganz klar ist – grün oder doch ocker mit einem leichten Einschlag braun – sind geschlossen. Beim Gedanken an seine Blicke aus diesen Augen kribbelt es in Jos Magengegend. Sie seufzt leise und widersteht dem Bedürfnis, mit sanften Bewegungen die geschlossenen Lider nachzufahren. Vorsichtig dreht sie sich wieder auf den Rücken und betrachtet die länglichen Risse in der Decke. Die Luft im „Zimmer ohne Wetter“, wie sie ihre Unterkunft getauft haben, ist schlecht, aber das stört Jo nicht. Es gibt gerade ohnehin nichts, was sie stört, sie fühlt sich so entspannt und ausgeglichen wie lange nicht.
Es ist ihre Blase, die sie schließlich doch aus dem Bett treibt. Jo schafft es, die Tür zum Badezimmer ohne Quietschen hinter sich zu schließen und lässt sich auf der Klobrille nieder. Das Hotel ist klein und die Zimmer sind extrem einfach, aber sauber. Das allein zählt, damit sie sich wohlfühlen kann. Das Fenster neben ihr steht leicht offen, doch draußen ist nichts zu sehen als die nächste Wand, die so nah ist, dass Jo sie berühren kann, wenn sie den Arm aus dem Fenster streckt. Alle Zimmer auf dieser Seite des Hotels öffnen zu einem hohen, schmalen Schacht, in den kein Tageslicht fällt. In den anderen Stockwerken des Gebäudes, in dessen Treppenhaus es muffig riecht, befinden sich Wohnungen, lediglich hier auf der zweiten Etage sind einige Hotelzimmer. Das Frühstück können Gäste in einem deutlich größeren, moderneren Hotel zwei Straßen weiter einnehmen, doch sie beide haben sich dagegen entschieden und suchen lieber jeden Morgen ein neues Café in der Altstadt. Wobei Morgen in diesem Fall ein dehnbarer Begriff ist, denn so lange wie zuletzt hat Jo ewig nicht in den Tag hineingeschlafen. Auch jetzt ist es bereits nach zwölf.
Als sie aus dem Badezimmer zurückschleicht, fühlt Jo sich richtig beschwingt. Sie schlüpft lautlos unter die Decke und dreht sich wieder auf die Seite. Ein Blick aus den eben noch geschlossenen Augen streift sie zärtlich und Jos Herz macht einen Sprung. Wie so eine Teenagerin, denkt sie und lächelt.
„Hey. Hast du gut geschlafen?“
Nicken.
„Hunger?“
„Ja, auf dich.“
Er grinst, Jo muss kichern, dann wird sie ernst.
„Heute ist unser letzter Tag.“
„Du meinst, danach hören wir auf zu existieren?“
„Nein, aber wir müssen zurück nach Hause.“
„Wir können gerne in Barcelona leben. Aber ich warne dich, mein Spanisch ist wirklich schlecht und vielleicht bringe ich einen Ochsen vom Markt mit, wenn du mich Gemüse holen schickst.“
„Du willst wohl heimlich Fleisch essen.“ Sie grinst.
„Eher nicht. Und wenn, meinst du nicht, da gibt es unauffälligere Wege, als einen Ochsen mit nach Hause zu bringen?“
„Vermutlich.“
„Alles gut?“ Er streicht ihr die Haare aus der plötzlich gefurchten Stirn. Jo ringt sich ein Lächeln ab. „Ja. Bloß ein bisschen traurig, weil unser Urlaub schon vorbei ist. Und ich habe Hunger.“
„Da du auf meine Krabbeleien bislang nicht reagiert hast, nehme ich an, du meinst: Hunger auf etwas, das dir auf einem Teller und nicht einem Bettlaken serviert wird“, neckt er.
„Ist das okay?“
„Klar. Der Tag ist lang und ich kann dich auch später vernaschen.“
Aus dem Badezimmer ist das Rauschen des Wassers zu hören und Jo öffnet die Tür einen Spalt. „Ich geh schon runter, in dem kleinen Supermarkt gegenüber nach Flip-Flops schauen. Bis gleich.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, schließt sie die Tür und verlässt das Hotelzimmer. Im Flur fällt ihr auf, dass sie ihre Handtasche nicht mitgenommen hat, nur das Smartphone in ihrer Hosentasche. Leise fluchend dreht sie um und läuft zurück in den zweiten Stock. Aus dem Bad dringt nun das Fiepen des kleinen Hotelföhns. Sie muss sich beeilen, wenn sie noch in Ruhe alleine telefonieren möchte. Lautlos zieht sie die Tür hinter sich zu und eilt durchs Treppenhaus nach unten.
Die Sonne wärmt um diese Uhrzeit schon, dabei ist bereits Oktober. Zuhause liegen die Temperaturen aktuell so um die zehn Grad und die Vorstellung, ab morgen lange Hosen und bald eine Winterjacke zu tragen, schlägt Jo spürbar auf die Laune. Sie läuft ein paar Schritte, bis sie den Supermarkt erreicht hat, geht dann aber nicht hinein, sondern daran vorbei. Im kleinen Hof hinter dem Markt hat sie vor zwei Tagen eine Holzbank entdeckt, auf der sie sich niederlässt und mit zitternden Fingern die vertraute Nummer sucht. Solange sie eintaucht in die wunderbare Atmosphäre dieser Stadt, kann sie alles andere vergessen. Diese Anrufe aber zerstören den Moment, weil sie sich unfassbar mies fühlt und schäbig.
„Und womit, mit Recht“, murmelt sie hinter vorgehaltener Hand, während die Finger der anderen nervös auf der Bank trommeln. Als das Tuten erklingt, hört Jo ihren Herzschlag derart dröhnend, dass sie fürchtet, gar kein Gespräch führen zu können. Schließlich klackt es in der Leitung und aus weiter Ferne dringt Hans’ Stimme an ihr Ohr.
„Hallo?“
„Ich bin’s.“
„Jo, hi. Was. Habt ihr Mittagspause?“
Sie schluckt. „Ja, aber gleich vorbei.“
„Schön, dich zu hören.“
„Ja.“ Pause. „Dich auch.“
„Wie läuft es denn? Bist du schon schlauer als vor einer Woche?“
Sein ehrliches Interesse versetzt ihr einen Stich. „Das. Ja, auf jeden Fall. Die Dozentin ist … toll.“
„Das freut mich. Und gefällt dir die Bretagne?“
„Mhm.“
„Du fehlst uns.“
„Ja. Wie geht es Luca?“
„Wir sind gerade zusammen auf dem Markt.“
„Ist er nicht in der Schule?“
„Heute ist doch Samstag. Warte, ich gebe ihn dir.“
„Nein, musst du nicht, ich …“
„Mama!“
Jo kann Lucas Strahlen sehen, wenn sie die Augen schließt. Die Sonne steht hoch über ihr am Himmel, aber in diesem Moment ist ihr furchtbar kalt. „Hi, mein Schatz. Wie geht es dir?“
„Wir machen eine Männerwoche“, erklärt ihr Sohn stolz.
„Ich weiß.“ Jo flüstert nur noch.
„Kommst du bald nach Hause? Ich vermisse dich.“ Und fast ein wenig peinlich berührt schiebt er hinterher: „Ein bisschen.“
Jo lacht. „Ja, morgen bin ich wieder da. Aber wahrscheinlich so spät, dass du schon schläfst. Am Montag genießen wir dann den Ferienanfang mit einem gemütlichen Frühstück, ja? Luca?“
Ihr Sohn scheint plötzlich abgelenkt. „Ja, okay Mama, tschüss!“ Laut schmatzt er seine Küsse in den Hörer.
„Jo?“
„Ja.“
„Ich bin’s nochmal. Luca hat den Hahn entdeckt.“
Jo lächelt. Der Hahn auf dem Mainzer Wochenmarkt hat es ihrem Sohn schon seit langem angetan. Sie sieht ihn vor sich, wie er bei dem Tier steht und es aufgeregt betrachtet. Plötzlich vermisst sie ihn mit jeder Faser ihres Körpers.
„Sag deiner Kollegin, sie soll vorsichtig fahren, ja? Wir möchten dich gerne am Stück zurückhaben.“ Hans klingt zärtlich.
„Okay.“
„Sicher, dass wir dich nicht irgendwo abholen sollen?“
„Nein, alles gut. Sie nimmt mich mit bis Wiesbaden und von dort fahre ich mit der S-Bahn über den Rhein. Bis morgen, Hans. Und danke.“ Sie schluckt hart.
„Gar kein Problem. Wir haben Spaß. Bis morgen.“
Lange betrachtet Jo das Smartphone. Die Sonne knallt aufs Display und fast erwartet sie, es müsse unter der Hitze gleich in ihrer Hand explodieren. Als sie schließlich aufsteht, sind ihre Beine wackelig. Sie stapft in den Supermarkt, greift wahllos nach einem Paar roter Flip-Flops und kauft an der Kasse noch eine Flasche Wasser.
Als sie aus dem Laden tritt, kommt Adam ihr auf dem sonnigen Platz bereits entgegen. Er hebt winkend die Hand. Jo erwidert den Gruß und läuft schneller, immer schneller, bis sie ihn erreicht und mit einem Seufzen in seine Arme sinkt.
„Alles gut?“
„Ja, wieso?“
„Weil du Wasser ohne Kohlensäure gekauft hast.“
Jo betrachtet mit gerunzelter Stirn die Flasche in ihrer Hand. „Da war ich offenbar einen Moment unaufmerksam.“
„Wohl in Gedanken bei dem heißen Mann unter der Dusche deines Hotelzimmers, den du für ein Frühstück abgewiesen hast“, neckt Adam und küsst sie, erst zart in den Mundwinkel, dann voll auf die Lippen. Er schmeckt vertraut und selbstverständlich, alles daran ist wunderbar und alles daran ist schrecklich.
In keine Stadt hat Jo sich so rasch und vorbehaltlos verliebt wie in Barcelona. Und in keinen Mann so wie in Adam. Sie hat ihn kurz nach Lucas sechstem Geburtstag bei einer Lesung im „Bukafski“ kennengelernt, einer Buchhandlung unweit ihrer Wohnung. Statt den Worten Tijan Silas zu lauschen, der aus seinem Romandebüt „Tierchen unlimited“ las, schaute sie an jenem milden Maiabend immer wieder verstohlen nach diesem Typen, der, wie sie, alleine zu der Lesung gekommen war. Als sie anschließend noch in einer lockeren Runde zusammenstanden, um mit dem Autor über sein Buch zu sprechen, bemerkte Jo, dass der Unbekannte sie ebenfalls aus den Augenwinkeln beobachtete. Sie lächelte ihm zu und er hielt aufmerksam ihren Blick. Kurz darauf war er verschwunden, stand dann auf einmal mit zwei Flaschen Bier neben ihr und reichte Jo wortlos eine davon. Sie prosteten einander zu und lauschten weiter der Unterhaltung zwischen Silas und seinem Publikum.
Fast hätte Jo die Lesung an jenem Abend sausen lassen. Luca hatte gerade eine fiese Grippe hinter sich, während derer sie tagelang die Wohnung nicht verlassen konnte. Nun ging es ihm den ersten Tag besser und Nonna hatte angeboten, auf ihn aufzupassen. Eigentlich wollte Jo mit Hans ins Bukafski gehen, der hatte aber kurzfristig passen müssen, weil er sich nicht gut fühlte. Seine Absage hatte Jo seltsam erleichtert, was sie sich selbst nicht ganz erklären konnte. Zwischen ihnen hatte sich eine wohltuende Verlässlichkeit entwickelt, die immer mehr auch Luca einschloss. Ihr Sohn und der Polizist kamen prima miteinander aus und vielleicht war absurderweise genau das der Punkt, an dem für Jo plötzlich alles stockte. Zwar freute sie sich darüber, gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dass Hans dadurch zu viel Raum einnahm. Er drängte auch sehr auf eine gemeinsame Wohnung, was für Jo zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht in Frage kam. Sie kannten sich schließlich erst seit ein paar Monaten.
Wie genau sie sich schließlich in die Affäre mit Adam verwickelt hat, vermag sie dennoch nicht zu sagen. Und sobald sie darüber nachdenkt, wird ihr unglaublich schlecht. Sie lügt seit mehreren Monaten zwei Männer an, die ihr mittlerweile beide viel bedeuten – und darüber hinaus so ziemlich ihr gesamtes Umfeld. Die Woche mit Adam in Barcelona ist in jeder Hinsicht der Gipfel, einerseits ihres Betruges, andererseits ihres verliebten Glücks, denn ja, sie ist tatsächlich fürchterlich verknallt – und möchte am liebsten jede Minute des Tages mit ihm verbringen. Dafür aber belügt sie ihn ebenso wie Hans. Und je länger beides geht, umso größer ist ihre Panik, den einen wie den anderen zu verlieren, wenn sie sich doch endlich dazu durchringt, ihnen die Wahrheit zu sagen.

Kapitel 2

Während sie die belebte Straße mit den vielen Cafés und Kneipen entlangschlendern, betrachtet Jo die Stadt zum ersten Mal mit den Augen ihres Sohnes. Sie weiß, dass es ihm hier gefallen würde, schon allein deshalb, weil vor jeder Taberna Schilder stehen, die Kartoffeln in allen nur denkbaren Darreichungsformen bewerben: Kroketten, Pommes, Tortilla und kein Ende. Luca liebt Kartoffeln, wenn er sich das Abendbrot immer selbst zusammenstellen dürfte, würde es bei ihnen grundsätzlich Beilage mit Beilage geben.
Auch die Nähe zum Meer, an dem sie mit Adam schon einige Tage verkuschelt hat, würde Luca bejubeln, und natürlich hätte er seinen Spaß an all den fliegenden Händlern, die bunte Strandtücher und kalte Getränke ebenso anbieten wie Massagen, Sonnenbrillen und aufgemalte Tattoos. Für den Sohn hätte sie vermutlich sogar ihre Höhenangst überwunden und die berühmte Seilbahn bestiegen, die vom Hafen aus auf den Berg zuführt. So hatte sie sich verweigert und mit klopfendem Herzen zugeschaut, als Adam aus wackligen Höhen in die Richtung winkte, in der er sie vermutete. Als er zu ihr zurückkam, hielt sie ihn so fest und atemlos im Arm, als sei er wochenlang weggewesen. Dann waren sie Hand in Hand zurück ins Hotel gelaufen, um miteinander zu schlafen.
In jener Nacht träumte Jo, Adam sei mit der Gondel abgestürzt und vor ihren Augen zerschellt. Als sie zurückkehrte nach Mainz, war Hans fortgelaufen und Luca in ihrer Abwesenheit verhungert. Sie war schließlich aus dem Schlaf hochgeschreckt und ins kleine Bad geflüchtet, wo sie lange auf dem Klodeckel kauerte, die Knie bis ans Kinn gezogen, und leise weinte. Es war, als wollte ihr Traum sie bestrafen, auch wenn sie wusste, wie unsinnig diese Annahme war, und dass ihr schlechtes Gewissen aus der verstörenden Folge von Bildern sprach, die ihr Unterbewusstsein ungnädig in Gang gesetzt hatte. Was sollte sie bloß tun? Die Frage hämmerte wieder und wieder in ihrem Kopf, prallte von seinen Innenwänden ab und verursachte ein solches Getöse, dass sie glaubte, innerlich taub davon zu werden. Es dauerte lange, bis sie in dieser Nacht in den Schlaf zurückfand und dann plagten sie erneut Albträume.
„Huhu, jemand zuhause?“
Jo stolpert aus ihren neuen Flip-Flops, als Adam sie anspricht. „Fuck. Aua. Was?“
Er lacht. „Hör’n Se mal, junge Frau, von wem träumen Sie denn?“
Jo grinst schief. „Immer noch von Frühstück.“
„Das trifft sich hervorragend. Ich habe nämlich gerade versucht, deine Aufmerksamkeit hierauf zu lenken.“ Adam deutet auf den Supermarkt am Ende der Strandpromenade, in dem sich auch ein kleiner Bäcker befindet. Sie haben hier bereits an ihrem ersten Tag gegessen, weil sie die Frühstückszeit verschlafen hatten.
Jo seufzt erleichtert. „Oh ja, darauf habe ich Lust. Mir ist langsam echt schon ein bisschen schlecht vor Hunger.“ Sie fasst sich an den Rücken und zieht dabei die Schultern nach hinten.
„Wo wird dir denn schlecht, im Steißbein?“, neckt Adam.
„Nein, der aufrechte Gang schafft Platz im Magen.“ Jo grinst.
Im Supermarkt bestellt Adam in flüssigem Urlaubsspanisch zwei Baguettes mit Tortilla und schwarzen Kaffee. Jo ist verliebt in die Idee der Spanier, Tortilla als Brotbelag zu benutzen – und sie ist verliebt in Adam, der jedes Wort so sorgfältig wählt und über seine schönen Lippen schubst, als ginge es um viel Bedeutsameres als ihr Frühstück. Wenn sie ihn von der Seite beobachtet, fürchtet sie, er könne die Sternchen in ihren Augen erkennen, also schaut sie schnell weg und legt die Hand auf ihr klopfendes Herz. Sie fühlt sich wie eine 17-Jährige; und sie tut es doch nicht, weil diese Verliebtheit eine fest entschlossene Ernsthaftigkeit in sich trägt, die sie damals noch nicht kannte.
„Erde an Jo. Erde an Jo. Bitte um Lastenverteilung.“ Adam wedelt mit den Baguettes vor ihrer Nase und deutet dabei auf die beiden Kaffeebecher, die dampfend auf der Theke stehen.
„Sorry.“ Jo zieht eine Grimasse.
Er beugt sich zu ihr. „Wir sollten das Hotelzimmer echt nicht ungefickt verlassen, du kannst dich ja gar nicht konzentrieren.“
„Bild dir nur nichts ein, Romeo, das ist der Unterzucker.“ Jo drückt ihren Unterleib gegen seinen, als sie nach dem Kaffee greift. Adam seufzt leise, woraufhin die Verkäuferin eine Augenbraue so weit hochzieht, dass es aussieht, als würde sie ihr auf den Hinterkopf wandern. Kichernd wie zwei Schulkinder stürmen Jo und Adam ins Freie, wo sie sich einen Platz an der Promenade suchen.
Jo balanciert ihr Baguette auf den Knien, während sie Kaffee aus dem Pappbecher nippt. Zuhause hat sie immer einen Mehrwegcup dabei. Die Vorstellung, wie viel Müll hier am Strand jeden Tag zurückgelassen wird, ärgert sie ebenso wie ihre eigene Unbesonnenheit – schließlich hätte sie den Becher ja mitbringen können. Adam hat schon aufgegessen. Er sitzt mit geschlossenen Augen neben ihr und hält sein Gesicht in die Sonne. Jo greift mit der freien Hand nach seiner und er schließt seine Finger sanft um ihre. Sie betrachtet seine Hand, die ihre hält, als wären beide genau dafür gemacht worden. Noch nie zuvor hat sie einen Mann mit so gepflegten Händen gesehen. Seine Nägel sind sauber gefeilt, die Haut ist unglaublich weich, und wenn er ihr beim Sex mit der ihm eigenen Entschiedenheit die Haare aus dem Gesicht streicht, kann sie die Feuchtigkeitslotion riechen, die er zur Pflege benutzt. Adam öffnet die Augen und Jo lacht über seinen verträumten Blick.
„Was ist so lustig?“
„Nichts. Alles. Keine Ahnung. Ich komme mir mit dir manchmal vor wie in meiner persönlichen Teenie-Rom-Com. Alles ist heillos romantisch und so kitschig, dass jede*r Zuschauer*in vermutlich vor Überzuckerung in den nächsten Mülleimer kotzen würde.“
„Hauptsache, du bist den Unterzucker los, bevor du davon kotzen musst. Und was zur Hölle ist eine Rom-Com, junge Frau?“
„Hast du eine schon leicht abgehalfterte Mittdreißigerin mit Hang zur Übermüdung gerade junge Frau genannt?“
„Lenk nicht ab, Missy. Rom-Com?“
„Ich dachte, du veräppelst mich, Grandpa. Das ist eine sogenannte romantische Komödie. Zeichnet sich durch sehr viel Kitsch und sehr wenig Glaubhaftigkeit aus und ist meist schwer zu ertragen.“
„Das wiederum glaube ich sofort.“
„Scherzkeks.“
„Immer redest du vom Essen.“
„Adam.“
„Jo.“
„Ich will nicht nach Hause. Da ist bald Winter und wir sehen uns viel zu selten.“
„Das könnten wir ja ändern.“
„Du hast magische Jahreszeitenverschiebungskräfte?“
„Witzig.“
„Ist genetisch bei mir. Mainz und so. Kannst du als Wiesbadener natürlich nicht nachvollziehen.“
„Disst du mich gerade für meine Herkunft?“
„Würde ich nie tun. Niemand kann etwas dafür, wo er geboren wurde. Die Frage ist nur: Warum bist du geblieben?“
„Hey. Wiesbaden ist toll. Ihr Mainzer habt bloß Vorurteile, weil ihr einen Minderwertigkeitskomplex mit euch herumtragt.“
„Das würde meine Rückenschmerzen erklären, aber: nein.“
„Jedenfalls. Wir können uns doch einfach öfter sehen. Was spricht dagegen? Die gemeinsame Woche haben wir gut ausgehalten.“ In Adams Blick liegt so viel offene Zärtlichkeit, dass Jo befürchtet, sich doch noch übergeben zu müssen. Was ist sie nur für eine ganz und gar niederträchtige und schreckliche Person. Sie schluckt hart. Adam beobachtet sie nachdenklich.
„Jo. Alles gut. Wir müssen nichts überstürzen.“ Seine Hand, seine wunderbare, weiche Hand, streift ihre Wange.
Jo möchte losheulen und ihm alles gestehen. Stattdessen zwingt sie sich zu einem Lächeln. „Nein. Ich fände das auch sehr schön, wenn wir uns häufiger sehen würden. Ich hoffe nur, dass ich das mit dem Job und meiner Großmutter tatsächlich hinbekomme.“
Adams Hand greift nach ihrer und drückt sie fest. „Keinen Stress wegen mir, okay? Ich bewundere das total, dass du deine kranke Großmutter pflegst. Sowas ist echt nicht selbstverständlich und es zeigt einfach dein großes Herz.“ Er küsst sie auf die Stirn und Jo ist dankbar, ihm in diesem Moment nicht ins Gesicht schauen zu müssen. Nonna zu einem Pflegefall vermärchent zu haben, ist von allen Lügen, die sie aktuell betreibt, die schlimmste. Aber wie sonst hätte sie Adam erklären sollen, dass sie manchmal von einer Sekunde auf die andere sämtliche Pläne umwerfen muss, ohne von ihrem Sohn zu erzählen? Gerade widert Jo sich selbst an.
Plötzlich ist sie furchtbar erschöpft. Den Kopf an Adams Schulter gelehnt, schaut sie auf das bunte Treiben am Strand und die Bucht, die sich so malerisch vor ihnen erstreckt. Die vergangenen Monate zerren an ihrem ganzen Wesen und Jo hat das Gefühl, sie müsste untergehen und ertrinken, wenn sie jetzt ins Meer laufen würde. Die Vorstellung, einfach von den Wellen verschluckt zu werden, hat etwas ungemein Tröstliches. Dann müsste sie wenigstens nicht die Entscheidung treffen, die unbarmherzig vor ihr steht. Adam oder Hans, Hans oder Adam – oder doch einfach Jo und Luca?

Kapitel 3

Mit der Straßenbahn zum Flughafen zu fahren, obwohl ihr Hotel ganz in der Nähe eines Bahnhofes liegt, stellt sich als idiotischer Fehler heraus. Adam und Jo sind eine gefühlte Ewigkeit unterwegs und müssen bei ihrem Umstieg nahe des Camp Nou mit einem gläsernen Lift so tief in die Erde hinabfahren, dass Panik Jos Kehle zuschnürt. In den folgenden, nicht enden wollenden 32 Minuten tief im Verdauungstrakt der Stadt benötigt sie ihre ganze Energie dafür, einfach sitzenzubleiben, statt panisch schreiend durch den Waggon zu rennen. Eine junge Frau, die einige Stationen nach ihnen einsteigt, beginnt Sekunden später, heftig zu husten, erst fast verschämt, dann immer lauter, schließlich mit blutigem Auswurf in ihr Taschentuch. Jo schließt die Augen. Dies ist die Apokalypse. Ein Horrorvirus bedroht die Menschheit. Nur einige wenige haben es in dieses unterirdische System geschafft, doch eine der Kranken ist ihnen gefolgt und wird nun alle, die bis eben noch Hoffnung aufs Überleben hatten, anstecken.
Als Adam ihre Hand zart drückt, schreit Jo auf. Die Menschen in der Bahn reagieren darauf ebenso wenig wie zuvor auf die hustende junge Frau, die sich energisch an eine Haltestange klammert.
„Ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Schon gut. Mir ist ein bisschen schwummerig.“
„Du sahst beim Frühstück schon nicht so gut aus.“
„Kaum eine Woche zusammen unterwegs, schon hast du dich an mir sattgesehen.“ Jo versucht ein Lächeln, es gelingt nur schief.
„Was, nein, so ein Unsinn, gar nicht.“ Adams Kuss trifft nur ihre Stirn, wie ein Streifschuss. „Jo, du bist total heiß.“
„Danke.“ Sie grinst. Ihr Kopf dröhnt.
„Nein, ich meine, natürlich, aber. Deine Stirn. Du glühst.“
Die Apokalypse. Jo schließt die Augen. So geht also alles zu Ende. Ihr ist zum Heulen zumute. Sie will zu Luca.
„Merkst du denn nichts?“
„Was?“
„Du hast Fieber, Jo. Ganz eindeutig.“
„Ich habe nie Fieber.“ Sie dreht sich grob aus seinem Versuch einer Umarmung. Alles fühlt sich falsch an.
„Wir müssen dir am Flughafen Medikamente besorgen.“
„Nein, müssen wir nicht. Es geht mir blendend.“
Jo sieht sich nach der hustenden Frau um, doch die muss in der Zwischenzeit ausgestiegen sein, ohne, dass sie es mitbekommen hat. Noch zwei Stationen bis zum Flughafen. Adam kramt in seiner Tasche nach Wasser und reicht ihr eine Flasche. Jo winkt ab und als er nach ihrer Hand greift, zuckt sie zurück und schiebt sie zwischen ihre Knie. Adams Blick, der irgendwo zwischen Irritation und Verletztheit changiert, ignoriert sie so gut wie möglich.
Mit der apokalyptischen Bahnfahrt ist das Drama noch lange nicht vorbei. Am Flughafen angekommen, stellen Jo und Adam fest, die S-Bahn-Haltestelle ist noch ein gutes Stück von ihrem Terminal entfernt. Um den provisorisch wirkenden Glasschlauch, der über die Straße führt, zu erreichen, müssen sie zunächst die Rolltreppe nehmen. Als sie auf die gemächlich schlängelnde Raupe zulaufen, stürzt vor ihnen eine ältere Frau, vom Gewicht ihres Koffers aus der Balance gebracht, die rollenden Stufen hinunter. Missmutig und wackelig auf den Beinen stapft Jo auf die Steintreppe nebenan zu und zerrt ihren Koffer knallend hinter sich her. Adam ist bemüht, Schritt zu halten. Als sie endlich das Gate erreichen, versucht er, sie mit einem Witz aufzuheitern, doch Jo zeigt keine Reaktion. Sie spürt, dass ihr Verhalten ihn irritiert, diese Seite kennt er nicht an ihr. Doch sie kann sich aus dem negativen Sog nicht befreien. Das Fieber jagt ihr die Gedanken durch den Kopf wie Flugpferde.
Der schlimmste von allen: Was, wenn sie abstürzt? Ihren Sohn niemals wiedersieht und mit der Frage zurücklässt, mit wem seine Mama da vom Himmel gefallen ist? Was wird Hans ihm erzählen? Wird er ihr Andenken zärtlich bewahren oder der Wut über den Betrug die Kontrolle über seine Erzählungen lassen? Plötzlich muss Jo an den Film „Stadt der Illusionen“ mit Kirk Douglas als rücksichtslosem Regisseur denken. Um in Ruhe mit einem Autor am Drehbuch seines Films arbeiten zu können, beauftragt Douglas einen anderen Mann, der Frau des Schriftstellers Gesellschaft zu leisten. Als der Autor nach Wochen das Drehbuch erfolgreich geschrieben hat und voll liebevoller Sehnsucht zu seiner Frau zurückkehren will, ist die zwischenzeitlich mit dem anderen Mann, in den sie sich natürlich verliebt hat, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Jo möchte losheulen, aber sie würgt die Tränen verzweifelt ab. Wie konnte sie nur ohne Luca und mit einer unheilvollen Kette aus Lügen im Rückspiegel ihrer Tage in diesen Urlaub fliegen? Was hat sie sich bloß dabei gedacht?
Adam kommt mit einem Becher, aus dem heißer Dampf aufsteigt, und einem Schokoriegel zurück. Jo hat gar nicht gemerkt, dass er nicht mehr neben ihr sitzt. Er hält ihr das Getränk hin.
„Ich kann jetzt keinen Kaffee trinken, Adam. Mir ist eh schon heiß. Und übel außerdem.“ Sie winkt ab.
„Das ist Tee.“ Adam lächelt verschwörerisch. „Mit einem Schuss Whisky. Das ist die beste Erkältungsmedizin.“
Jo schließt die Augen. „Danke.“ Ihre Stimme, ein Flüstern.
Adam setzt sich ganz nah zu ihr. Sie möchte von ihm abrücken, aber neben ihr endet die Bank und sie würde auf den Steinboden knallen. „Tut mir leid, dass es dir nicht gut geht.“ Sie nickt.
Als die Durchsage ertönt, ihr Flug habe zwei Stunden Verspätung, fängt Jo doch an zu weinen. Adams Versuch, ihren schüttelnden Körper in die Arme zu schließen, weicht sie aus und rennt los, um eine Toilette zu suchen. In der Kabine deckt sie die Brille mit mehreren Schichten dünnem Klopapier ab, auf denen sie sich erschöpft niederlässt. Ihr Handy zeigt eine neue Nachricht. Hans hat ein Foto geschickt, auf dem er mit Luca in die Kamera grinst. Obama klemmt mit missmutigem Gesichtsausdruck zwischen den beiden, Ohren aufgestellt, Schnurrhaare in Alarmposition. „Komm gut heim. Wir lieben dich!“ steht da, durchbrochen von unzähligen bunten Herzen. Darunter eine Sprachnachricht. Als Jo sie abspielt, purzelt Lucas Stimme aus dem Gerät, im Hintergrund hört sie Obama unwillig maunzen. „Mama, die Herzen sind alle von mir. Kommst du schnell zu uns nach Hause, bitte? Und du musst mich auch küssen, wenn ich dann schon schlafe.“ Pause. „Mama. Ich lieb’ dich. Tschüss!“
Jo heult hemmungslos. Sie will nichts lieber, als ihrem Kind eine Nachricht zurückzusprechen, aber sie möchte ihn nicht mit ihrer tränenschweren Stimme erschrecken. Also tippt sie zitternd: „Viel Verkehr heute. Wird leider später. Liebe dich auch, Cookie. Küsse euch und freue mich, bald daheim zu sein.“
Zurück im Wartebereich am Gate, kann sie Adam zunächst nicht finden. Kurz glaubt sie, er habe sich einfach aus dem Staub gemacht. Aber er ist noch da, wenn auch nicht mit allen Sinnen: In ganz verrenkter Pose liegt er auf der Sitzbank über ihren Taschen und schnarcht laut. Sein vollkommen friedlicher Gesichtsausdruck steht in totalem Gegensatz zu seinem verknoteten Körper. Dass er völlig ungerührt von ihrem persönlichen Drama einschlafen kann, ärgert Jo, auch wenn sie weiß, wie idiotisch das ist. Unsanft schiebt sie seine Beine zur Seite, um neben ihm zu sitzen. Sein linker Fuß verhakt sich im Griff ihrer Reisetasche, der rechte knallt auf die Fliesen, wo er ihren Teebecher trifft. Fasziniert beobachtet Jo, wie der Schuh durch die warme Lache rutscht, als führe er ein Eigenleben. Adam schläft davon unbeeindruckt weiter.
Die Zeiger der Uhr drehen unendlich langsam ihre Runden übers Ziffernblatt. Der Flug am benachbarten Gate konnte mittlerweile starten und die Halle ist deutlich leerer. Jo rechnet aus, bis wann sie spätestens abheben müssten, um zeitlich nicht in die Nachtruhe am Frankfurter Flughafen zu kommen. Der Gedanke daran setzt ihre Panik erneut in Gang. Zwei, drei Stunden Verspätung kann sie zuhause immer mit den angeblichen Zuständen auf französischen Autobahnen erklären, sollte sie aber erst am nächsten Morgen vom Flughafen wegkommen, dann bricht ihr Lügengebäude zusammen, bevor sie die Chance hat, Hans die Wahrheit zu sagen. Sie bittet einen Gott, von dessen Existenz sie nicht vollständig überzeugt ist, mit stummen Lippen, dass er ihr die Chance lässt, selbst reinen Tisch zu machen – mit Hans ebenso wie mit Adam. Und versucht dabei, die Tatsache zu verdrängen, dass sie sich dafür erst darüber klarwerden muss, was sie selbst eigentlich will.
Ob sie mit Hans vielleicht ebenfalls ein paar Tage wegfahren soll, nur sie beide? In den letzten Monaten haben sie vor allem Alltag miteinander erlebt, zu dritt in ihre kleine Wohnung gepfercht. Und bevor Adam in ihr Leben gestolpert ist, waren ihre Versuche, auch Momente mit Hans alleine zu erleben, sicher intensiver. Vielleicht könnte ihr eine romantische Auszeit zu zweit helfen, zu erspüren, wohin ihr eigener Weg von hier führen soll – und Luca könnte in diesen Tagen zu seinem Vater, der sie ohnehin ständig nervt, weil er mehr Zeit mit ihm verbringen möchte. Just während ihrer Tage in Barcelona konnte er den Sohn allerdings nicht nehmen, weil er bis Ende nächster Woche selbst verreist ist – also ausgerechnet in den Herbstferien seines Kindes. Was sie schon wieder reichlich typisch findet, aber das ist ein ganz anderes Thema. Zu viele Männer in ihrem Leben. Jo seufzt.
Das Handy vibriert, doch Jos Hoffnung, noch eine Nachricht ihres Sohnes erhalten zu haben, bestätigt sich nicht. Stattdessen leuchtet ein Name vom Display, den sie in ihrer Wut und Enttäuschung vollkommen aus ihren Gedanken verbannt hatte: Finn. Sie holt tief Luft. Dieser Tag scheint ihr keine Pause zu gönnen. Finn Ringer, der aufgehende Star am Himmel von Mainz 05. Der sein Coming-out mithilfe ihres besten Freundes Jonas geplant hatte. Was sein Berater nicht zulassen wollte, weshalb Jonas sterben musste. Finn, der danach nicht den Mut besessen hat, öffentlich zu machen, wie er lebt und liebt, sondern weiterhin mit einer jungen Frau am Arm zu offiziellen Terminen erscheint. Finn, der sie angefleht hat, sein Geheimnis nicht zu verraten. Finn, auf den sie eine solche Wut hat, dass sie manches Mal schon aus dem Stadion gegangen ist, wenn sein Name im Kader auftauchte, was immer häufiger der Fall ist. Sie knirscht unmerklich mit den Zähnen. Kurz ist sie versucht, die Nachricht zu löschen, doch dann siegt ihre berufliche Neugierde und sie öffnet missmutig das digitale Kuvert.
„Jo, ich weiß, bin nicht dein Lieblingsmensch. Aber brauche deine Hilfe. Ist nicht für mich selbst. Hier stimmt was nicht mit einem Spieler. Mehr will ich übers Handy nicht sagen. Können wir uns sehen? Am besten gleich morgen? Wann? Wo? Finn.“
Jo bläst Luft durch ihre Zähne. Der hat ja Nerven. Sich mit so etwas ausgerechnet an sie zu wenden. Denkt er, dass sie auch mit ihrem Auto aus der Kurve fliegen und künftig den Engeln beim Kicken zuschauen möchte? Sie spürt, dass die Wut sich in ihr ausbreitet wie ein Flächenbrand und löscht die Nachricht nun doch. Als sie aufschaut, wird gerade ihr Flug auf dem Gate-Display angezeigt. Das Boarding beginnt in 15 Minuten, ihre Maschine wird die letzte sein, die heute noch den Flughafen von Barcelona verlässt. In einer wilden Mischung aus Erleichterung und Schreck fährt Jo aus ihrer verknoteten Sitzposition hoch und schüttelt Adam unsanft.
„Wach auf. Wir fliegen nach Hause. Adam. Es geht los.“
Er dreht sich im Aufwachen von Jo weg und rubbelt die müden Augen mit zwei Fäusten, wie ein kleiner Junge. Dann nimmt Adam seinen nassen Schuh in der Teelache wahr und der Blick, mit dem er sie bedenkt, ist nicht gerade freundlich. Stumm greift er nach seinem Rucksack und reiht sich, ohne auf sie zu warten, hinter den anderen Passagier*innen ein. Jo starrt ihm nach. Natürlich weiß sie, mit der kalten Schulter reagiert er auf ihr seltsames Verhalten vorhin und es wäre eigentlich an ihr, sich zu entschuldigen. Stattdessen nimmt sie das Ventil dankbar an, welches er ihr unbewusst für die Wut auf sich selbst, die Verspätung und Finn bietet und bleibt wie ein bockiges Kind so lange auf ihrem Platz sitzen, bis Adam bereits im Flugzeug verschwunden ist. Am liebsten würde sie ihm ganz aus dem Weg gehen, aber ihr bleibt nichts anderes übrig, als sich zu ihm zu setzen und diesen Flug irgendwie hinter sich zu bringen. Er scheint jedoch auf ihre Gesellschaft ebenso wenig Lust zu haben. Als sie bei ihrer Sitzreihe ankommt, stellt er sich schlafend, was er anschließend während des ganzen Fluges beibehält.
So hoch sie in den vergangenen Tagen unter der spanischen Sonne geflogen ist, so tief stürzt Jo in diesen zähen Stunden im Flugzeug emotional ab. Es ist, als hätte jemand ihren Glücksstecker gezogen. Zwar fühlt das Erwachen sich an wie die gerechte Strafe für ihre monatelangen Lügen und Heimlichtuereien, dennoch kann sie ihre Wut auf Adam nicht kontrollieren. Über den Wolken schwört sie sich in der lautlosen, dunklen Nacht, ihn nach diesem Tag niemals wiederzusehen. Es war ein Fehler, sich auf diese Geschichte überhaupt einzulassen, das sieht sie nun ganz deutlich. Eine Flucht aus ihrem Alltag voller Verpflichtungen und vor der Angst, Hans vollständig in ihr Leben und das ihres Kindes zu lassen. Ein Flirt mit dem Leben, das sie als Mutter schon vor Jahren aufgegeben hat. Ein Hirngespinst. Nichts von Dauer. Ende. Aus.
Am Flughafen in Frankfurt verabschieden Jo und Adam sich kühl und umständlich voneinander, dann steigt er in die S9 nach Wiesbaden und sie in die Regionalbahn, die sie zurückbringt nach Mainz, zu ihrem Kind, in ihren Alltag. Den immer noch glühenden Kopf an die kühle Scheibe des Zuges gelegt, beobachtet Jo ihre eigenen Tränen, ganz so, als hätte sie mit der Person in der Spiegelung oder deren Kummer nichts zu tun.

Kapitel 4

Jo wird davon wach, dass ihre Nase kitzelt. Als sie sich ins Gesicht greift, um daran zu kratzen, landet ihre Hand in Obamas weichem Fell. Der seufzt theatralisch und dreht sich so auf den Rücken, dass Jo keine Luft mehr bekommt unter seinem dicken Pelz.
„Puffel, I love you too, aber lass mich bitte am Leben.“