Im Schatten der Geister - Sonja Sommers - E-Book

Im Schatten der Geister E-Book

Sonja Sommers

0,0

Beschreibung

Im Schatten der Geister – Drei Geschichten voller Nebel, Geheimnisse und Angst Drei Orte, drei Begegnungen mit dem Übernatürlichen. Geister und die Liebe – In den schottischen Highlands wird eine Wanderung zwischen Nebel und Stimmen zum unheimlichen Erlebnis. Ort meiner Wurzeln – Ein altes Familienanwesen birgt mehr als Erinnerungen; wer zurückkehrt, trifft auf Geister, die nicht loslassen. Lisa und die Stimme aus dem Meer – An einer Küste voller Legenden schwankt ein Mädchen zwischen Realität und Sehnsucht, während eine geheimnisvolle Stimme ihren Preis fordert. Drei Geschichten, die in Nebel und Schatten führen, das Vertraute erschüttern und die Grenze zwischen Gegenwart und Geheimnis spürbar machen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 313

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Geister und die Liebe

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

Ort meiner Wurzeln

Ankunft

Ein heißer Tag

Ein Kater

Chris

Folge mir

Mein Auftrag

Zeit für den Abschied

Lisa und die Stimme aus dem Meer

Prolog

1

2

3

4

5

Epilog

COPYRIGHT © Das Manuskript, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrovervielfältigungen und die Einspeicherung und/oder die Verarbeitung in elektronische Systeme. Copyright © Pixabay

Copyright © Cover by -k-e-coverdesign

Copyright © Text by Sonja Sommers 2025

Bildquellen: Pixabay

Verwendet unter Berücksichtigung der jeweiligenLizenzbedingungen.

Neuauflage von:

„Geister und die Liebe“

Kontakt:

Katharina Georgi

Im Gärtel 11

64658 Faustenbach

E-Mail: melli29 @ gmx.de

Herstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbHKöpenicker Straße 154a

10997 Berlin Kontaktadresse nach

EU-Produktsicherheitsverordnung:[email protected]

Sonja Sommers

Im Schatten der Geister

Manche Geister finden Frieden Und manche Liebe

Die Handlung in den folgenden drei Geschichten ist frei erfunden und hat meines Wissens nie stattgefunden. Alle Personen und Firmen, die in diesem Buch erwähnt werden, sind ebenfalls frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind zwar nicht ausgeschlossen, diese sind aber dennoch nicht existent. Sollte es zufällig der Fall sein, dass man hier bekannte Personen erkennen mag, bitte ich dies zu entschuldigen, sie waren nicht gemeint. Die Orte in der Handlung habe ich extra für meine Bedürfnisse angepasst, sie haben keinerlei Bezug auf die originalen Gegenden. Alle hier eventuell genannten Namen, Waren/Markenzeichen sind physisches und/oder geistiges Eigentum der jeweiligen Urheber und dienen hier lediglich zu Informationszwecken. Es wird keine Zugehörigkeit oder Unterstützung der Produkte, Dienstleistungen oder Organisation des jeweiligen Urhebers behauptet. Ebenso werden keine Anstößigen oder pornografische bzw. gewaltverherrlichende Angaben über oder mit diesen Namen gemacht.

.

.

Sonja Sommers

Geister und die Liebe

Geisterstory – Kurzgeschichte.

Geister und die Liebe

Never touch a running Team…

… Diesen Satz muss sich Stefan Braun schnell einprägen, als er die Schuhfabrik seines Vaters übernimmt und zusätzlich noch eine Bürokraft einstellt.

Daniela Lanz. Ihre arrogante Art, gepaart mit Führungsambitionen, führt dazu, dass die gesamte Belegschaft nicht mehr miteinander harmoniert.

Eine Campingtour durch die Wälder von Schottland soll letztendlich bewirken, dass sich das Team wiederfindet, und lernt, einander zu vertrauen.

Dies ist Stefan ein echtes Anliegen, denn seine erneute Einberufung zur Armee steht kurz bevor. Das Problem ist, dass sein Team davon nichts ahnt.

Eigenartige Vorkommnisse geschehen während der Tour durch die Wälder, und nicht alles ist so, wie es zu sein scheint, denn im Nebel, der sie zu verfolgen scheint, lauert etwas Böses. Als bald darauf Daniela aus heiterem Himmel, Kerstin zu töten versucht, und danach unauffindbar verschwindet, fängt die Gruppe an, endlich wieder an einem Strang zu ziehen. Denn bei der Suche nach Daniela beginnt das kalte Grauen.

1

Laura Mayer blickte über ihren Schreibtisch hinweg zu ihrer Arbeitskollegin und Freundin Kerstin Klein, die ihr gegenübersaß.

Kerstin war gerade im Begriff, ihre Handtasche zu packen, und sah verlegen zu Laura auf. »Was hast du vor?«, fragte diese skeptisch, als sich ihre Blicke trafen.

Kerstin zuckte mit den Schultern. »Ich gehe heute früher!«

Laura schnappte hörbar nach Luft. »Du kannst nicht früher gehen.«

»Oh doch, ich kann. Ich tu mir das nicht mehr an, alles hier nervt!«, meinte Kerstin angesäuert, pustete eine Strähne ihres schwarzen Haars aus ihrem Gesicht und ließ den Zeigefinger kreisen.

»Wir haben in zwanzig Minuten ein Meeting!«, flüsterte Laura, da bereits die anderen Kollegen im Raum auf die beiden aufmerksam geworden waren.

»Na und? Das geht auch ohne mich!« Kerstin stellte ihre Handtasche auf den Boden und blickte Laura herausfordernd an.

»Das ist bitte nicht dein Ernst! Du willst die Besprechung sausen lassen? Du weißt genau, dass der Chef nicht gerade tolerant auf ein solches Verhalten reagiert.« Laura beugte sich weiter vor und flüsterte eindringlicher: »Was glaubst du, warum er diese Besprechung einberufen hat? Hier läuft alles nicht rund.«

Kerstin warf Laura einen kurzen Blick zu, verzog gelangweilt ihr Gesicht und moserte: »Da steckt was dahinter, das weiß ich. Nicht aus heiterem Himmel kommt er auf die Idee, uns in einem noch kleineren Raum als diesem hier zusammenzusetzen. Ich sage dir, wenn das Arbeitsklima sich nicht bald bessert, werde ich kündigen!«

Laura seufzte, rutschte tiefer in ihren Bürostuhl und sah Kerstin mit großen Augen an. Genau das waren die Worte, die sie von ihr nicht hören wollte. Und der Grund für ihre Missstimmung saß ihnen gegenüber im Gang und beobachtete mit verschränkten Armen mürrisch ihre Arbeitskollegen: Daniela Lanz.

Eigentlich hatte Stefan bisher immer einen guten Spürsinn gehabt, wenn es um seine Angestellten ging. Bei Daniela aber lag er völlig falsch, und hätte er auf Kerstin gehört, die von Anfang an gegen diese Einstellung war, wäre heute noch alles in bester Ordnung.

»Das Ganze ist reine Zeitverschwendung«, moserte Kerstin weiter, die Lauras Blick gefolgt war. Dann deutete sie mit dem Daumen zur Bürotür, hinter der ihr Chef saß. »Erst ist er wochenlang weg, und dann, hoppla, will er ein Treffen mit uns?« Genervt schüttelte sie den Kopf und starrte wieder stur auf ihren Monitor. »Da hat unsere beleidigte Leberwurst ihre Finger drin. Und eines kann ich dir jetzt schon versprechen: Wenn Daniela anfängt, vor dem Chef herumzujammern, trete ich ihr so in den Hintern, dass der Chef mich gleich mit hinauswerfen kann.«

Laura seufzte. Sie hoffte, ihre Freundin würde sich so weit im Griff behalten, dass sie nicht auch noch mit ihrem Chef einen hitzigen Disput beginnen würde, nur um ihm ihre Meinung über dieses Meeting mitzuteilen. Sie war sich sicher, dass Stefan sich nichts gefallen lassen würde, und befürchtete, dass es sogar zu einer Entlassung kommen könnte, sollten Daniela und Kerstin im Konferenzsaal erneut ein Duell liefern – wie schon vor einigen Wochen.

Daniela war anderer Meinung. Ohne zu zögern, ging sie zielstrebig auf das Büro des Chefs zu – und traf auf Kerstin, die sie mit einer Handbewegung stoppte.

»Was hast du denn vor?« Kerstin hob eine Augenbraue, die Hände locker auf dem Schreibtisch verschränkt.

»Ich muss zum Chef. Ich habe eine geniale Idee.« Daniela grinste breit und wippte leicht auf den Zehen, als wollte sie die Dringlichkeit ihrer Mission unterstreichen.

»Die da wäre?« Kerstin lehnte sich am Schreibtisch nach vorne, ihre Miene kühl und abwartend.

»Ich weiß, was der Firma hilft, wieder auf Vordermann zu kommen.«

»Aha.« Kerstin zog die Lippen schmal zusammen, musterte Daniela von oben bis unten und nickte kaum merklich.

»Wir nehmen Handtaschen mit ins Programm.« Daniela streckte die Arme aus, als wolle sie den Raum um sich herum einnehmen.

»Wir sind eine Schuhfabrik, das kannst du vergessen.« Kerstin schüttelte den Kopf, ihre Finger trommelten kurz gegen den Schreibtisch.

Daniela lehnte sich selbstbewusst an den Schreibtisch, die Augen funkelnd. »Warum sollte der Chef meine Ideen nicht wenigstens anhören?«

Kerstin lächelte kühl. »Weil uns die Leute, die Räume und das Budget fehlen.«

Als Daniela begriff, dass Kerstin sie nicht durchlassen würde, verschränkte sie die Arme und zischte beleidigt: »Schmier dir deine Aufzählung doch in die Haare – Schleimerin! Und lass mich da rein!« Sie deutete stur auf die Tür hinter Kerstin, die nur verneinend den Kopf schüttelte und die Lippen zu einem dünnen Strich presste.

»Ich mache nur meinen Job. Und jetzt geh, ich muss arbeiten.«

Kerstins wütendes Schnauben verriet, dass Daniela, die sich mit den Fäusten auf den Schreibtisch stützte und die Schultern hochzog, heute wohl keine Freundin gewinnen würde.

»Dann hoffe ich, er dankt es dir eines Tages«, fauchte Daniela mit beißendem Spott. Sie musterte Kerstin einen Moment eiskalt, drehte sich wortlos auf dem Absatz um und verließ den Raum, ihre Schritte hallten durch das Büro.

Seitdem herrschte zwischen den beiden Frauen Funkstille – und genau das löste im Büro eine Kettenreaktion aus, von der niemand geglaubt hätte, dass sie solche Ausmaße annehmen würde.

Das kleine Büro der Schuhfabrik Braun & Sohn war ohnehin eng: Dirk, der Werbegrafiker, saß meist am Fensterplatz und war oft unterwegs, wenn es um Präsentationen oder Designideen ging. Michael, zuständig für die Kundenbetreuung, hatte seinen Schreibtisch direkt neben Dirks, und Sonja, im Einkauf der Lederwaren tätig, saß ihm gegenüber. Laura, die Bestellungen entgegennahm und den Versand betreute, war überall ein bisschen, aber nirgends richtig fest verankert. Kerstin, die Buchhaltung, behielt die Finanzen im Blick und war der ruhende Pol im Chaos.

Dirk, von dem alle zunächst dachten, er habe ein Auge auf Stefan geworfen, weil er ständig in dessen Büro saß oder mit ihm zu Mittag aß, bot Daniela an, in ihrer Sache beim Chef vorzusprechen. Doch auch hier trat Daniela alle Manieren mit Füßen und machte Dirk mit gemeinsten Bemerkungen über sein Liebesleben nieder. Kerstin, die das Gespräch mitanhörte, konnte sich ein leises Kichern kaum verkneifen. Dirk jedoch hatte genug und verkündete beleidigt, dass es sehr wohl andere Gründe gebe, warum er sich häufiger mit dem Chef hinter verschlossenen Türen besprach. Ihm sei egal, welche absurden Fantasien seine Kollegen dabei hegten.

Sogar die sonst so ruhige Sonja lag neuerdings mit Laura im Clinch, nur weil diese es gewagt hatte, in der Mittagspause den letzten Kaffee mit Michael zu teilen. Daniela konnte es nicht lassen, Sonja diese Vertraulichkeit auszuschmücken – und machte daraus ein regelrechtes Schauspiel, wie selbstverständlich die beiden aus ein und demselben Becher getrunken hätten. Laura spürte Sonjas Eifersucht wie ein ständiges Kribbeln, wusste aber selbst nicht, wie sie Michael ihre Gefühle gestehen sollte, ohne sich lächerlich zu machen.

Nun giftete Sonja Dirk, Daniela und Kerstin an, die unabhängig voneinander versuchten, die Situation zu klären. Nach endlosen Streitgesprächen zogen es alle vor, lieber Selbstgespräche zu führen, als sich an einen Kollegen zu wenden.

Laura blickte nervös in die Runde und musterte ihre einst so eingeschworenen Kollegen. Die Einzigen, mit denen sie sich noch verstand, waren Michael und Kerstin. Die Äußerung ihrer Freundin, dass es ihr hier nicht mehr gefiel, brachte Laura ernsthaft ins Grübeln, ob sie sich das alles überhaupt noch antun wollte.

Ungeduldig warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr und kaute nervös auf ihrer Unterlippe. »Du kommst doch, oder?«, fragte sie noch einmal und sah Kerstin an, die nur genervt die Augen rollte und weiter auf ihrer Tastatur hämmerte.

»Kannst du mir bitte eine Antwort geben?«, drängelte Laura, während sie ihren Computer herunterfuhr und darauf wartete, dass der Drucker surrend die letzten Seiten ausspuckte.

Kerstin hörte auf zu tippen und seufzte. »Jaa, damit Ruhe ist. Aber langsam stinkt mir das hier. So was wie mit Daniela mache ich nicht noch einmal. Seit sie hier ist, gibt es ständig Streit – das ist ja wie im Kindergarten.« Mürrisch schob sie ihre Tastatur unter den Monitor und schaltete den Computer unsanft aus.

Als Michael an Laura vorbeiging, lächelte sie ihn an. Er zwinkerte ihr zu, und sie erwiderte das Grinsen verlegen mit einem Kichern. Sonja, die dies beobachtet hatte, stieß sich ruckartig von ihrem Schreibtisch ab und rammte Laura versehentlich mit ihrer Handtasche in den Rücken.

»Warum?«, dachte Laura, während sie sich die schmerzende Schulter rieb. »Warum kann Sonja nicht einfach zu Michael gehen und ihm sagen, was sie empfindet? Sie kennen sich doch schon ewig – da müsste doch irgendwann der Funke überspringen.«

»Siehst du«, sagte Kerstin und deutete auf Laura, die sich die Schulter rieb. »Genau das meine ich.«

Laura schüttelte genervt den Kopf. Eins wurde ihr nach und nach immer klarer: Nach dem Meeting würde auch sie eine Entscheidung treffen müssen – eine Entscheidung, die ihr sehr schwerfallen würde.

Im vom Sonnenlicht durchfluteten Konferenzraum war es angenehm kühl, und die Klimaanlage summte leise im Hintergrund. Alle versammelten Büroangestellten schwiegen, und Laura starrte gelangweilt auf ihre Schuhe.

Als sich die Tür endlich öffnete und Stefan in schnellen Schritten an den Tisch herantrat, schreckte sie hoch. Mit einem kräftigen »Guten Tag, meine Damen und Herren!« setzte er sich an den Konferenztisch. Laura grinste verlegen zu ihrem Chef hinauf. Blond, grünblaue Augen, hochgewachsen, schlank – genau Kerstins Fall, dachte sie und schielte unauffällig zu ihrer Freundin hinüber.

Kerstin bemerkte es sofort, und Laura kam es vor, als könne sie ihre Gedanken lesen. »Lass das blöde Grinsen«, knurrte Kerstin von der Seite. Laura biss sich verlegen auf die Unterlippe.

Kerstin bereute kurz darauf ihr eigenes Verhalten, weil sie Laura einmal anvertraut hatte, dass sie eigentlich nicht auf Jungs stand – ein Geheimnis, das Kerstin interessanter fand als ihr eigenes. Beide hatten sich geschworen, nie ein Wort darüber zu verlieren.

»Fang du nicht auch noch Streit mit mir an«, flüsterte Laura.

»Tu ich doch gar nicht«, murmelte Kerstin beleidigt.

»Na dann ist es ja gut«, grinste Laura, woraufhin Kerstin die Augen verdrehte.

Stefan öffnete seine Aktentasche, holte einige Kataloge heraus und verteilte sie an die Belegschaft. Neugierig blätterten alle durch die Broschüren, auf deren Titelseite in großen Buchstaben stand:

Schottland – einmal ganz anders.

Er räusperte sich und eröffnete das Meeting. »Leute, ich rede nicht um den heißen Brei herum. Mir ist zu Ohren gekommen, dass das Arbeitsklima hier nicht mehr dasselbe ist wie früher.«

Einer nach dem anderen senkte verlegen den Kopf.

»Aufgrund unserer… sagen wir, tristen Arbeitshaltung hat die Geschäftsleitung beschlossen…«

»…Also er«, knurrte Kerstin, die von Laura einen warnenden Tritt in den Knöchel erhielt.

»Hey!«, fauchte Kerstin und rückte instinktiv zurück.

Stefan hob geduldig die Hand. »…dass alle hier im Raum ein wenig Abwechslung brauchen.« Er ließ die Worte wirken. Ein Raunen ging durch den Raum. Laura warf Kerstin aus dem Augenwinkel einen warnenden Blick zu – Kerstin hielt sich zurück, das freche Grinsen blieb dennoch. Stefan strafte sie mit einem langen, strengen Blick, und sie rutschte tiefer in ihren Sessel.

»Also, kommen wir zum Punkt«, fuhr Stefan fort. »Wir alle machen zusammen einen Firmenausflug – einen Abenteuerurlaub.«

»Ha!«, entfuhr es Daniela spitz.

»Ein Ausflug, der als Arbeitszeit angerechnet wird«, ergänzte Stefan streng. »Dieses Training muss von jedem hier wahrgenommen werden. Wer nicht teilnimmt – sofern er keinen triftigen Grund wie Entführung oder Tod hat – wird mit sofortiger Wirkung gekündigt.«

Ein Raunen ging erneut durch die Runde. Stefan hob die Hand. »Bevor das große Geschnatter losgeht: Ich habe gute Gründe, dies zu tun – Gründe, mit denen ich euch jetzt noch nicht belasten möchte.«

Kerstin und Laura warfen sich fragende Blicke zu.

»Ihr seid ein Team. Und ich möchte auf keinen von euch verzichten. Also lasst mich nicht hängen und zwingt mich nicht, harte Entscheidungen zu treffen. Das wäre bitter für jeden von euch. Ich weiß, dass ihr alle Singles seid – also keine Ausreden wie ›Mein Partner dreht durch, wenn ich eine Woche weg bin‹. Solche Argumente ziehen bei mir nicht.«

»Eine Woche?«, piepste Sonja nervös. Stefan sah sie streng an, und sie senkte sofort verlegen den Blick.

»Wir werden in Schottland ein Wellnesshotel beziehen«, fuhr Stefan unbeirrt fort. Dirk lehnte sich erleichtert zurück, Michael nickte zustimmend. Daniela zog die Nase kraus und schüttelte den Kopf – ein stiller Protest, den Stefan gekonnt ignorierte.

Kerstin meldete sich zu Wort: »Wo ist der Haken? Es gibt immer einen Haken, wenn die Firma freiwillig etwas zahlt.« Ihre Augen funkelten neugierig.

»Eine dreitägige Wanderung durch die Wälder Schottlands, mit anschließendem Aufenthalt im Wellnesshotel«, erklärte Stefan ruhig. »Wir kommen nur gemeinsam ans Ziel. Keiner geht allein. Alle oder keiner. Verstanden?«

Sein Blick wanderte streng durch die Runde, und alle senkten ihre Köpfe. Nur Kerstin hielt stand. Stefan lächelte kurz, kaum merklich, und ihre grünblauen Augen erwiderten wachsam seinen Blick. Stefan nickte, als habe er soeben eine Wahl getroffen. Er räusperte sich und ließ seinen Blick wieder über sein Personal schweifen, und sein Blick blieb an Daniela haften.

»Das bedeutet festes Schuhwerk, meine Lieben!«, fuhr er fort. »Die Firma stellt das Material. Unsere neue Kollektion bietet hervorragende Trekkingstiefel – jeder holt später seine Größe unten ab.«Daniela wimmerte. Kerstin musste sich das Lachen verkneifen: Alles, was Daniela bisher an Schuhen besaß, waren Mordwaffen für jeden Holzboden. Der Gedanke, sie in robusten Stiefeln über Stock und Stein stolpern zu sehen, versprach reichlich Unterhaltung.

»Schaut euch die Kataloge an, die ich mitgebracht habe«, erklärte Stefan. »Dort erfahrt ihr einiges über das Land und das Hotel, das um 1800 erbaut und in den späten 90ern renoviert wurde. In den kommenden Tagen bekommt ihr von mir eine Liste mit allem, was ihr für die Tour braucht. Dann packen wir gemeinsam eine Survival-Kiste mit Seilen, Vorräten und allem Nötigen. Das Hotel stellt uns eine Grundausstattung zur Verfügung, den Rest besorgen wir selbst. Kleidung und –« Er grinste Daniela an – »diverse Designerstücke werden direkt ins Hotel gebracht und warten dort auf uns. Ein Fahrer holt uns am Flughafen ab und setzt uns am Einstieg der Route ab. Ab da sind wir auf uns gestellt. Jede Nacht erreichen wir ein vorbereitetes Lager. Nach drei Camps führt die letzte Strecke zurück zum Hotel – dort erwarten uns dann die Massagen.«

»Können wir nicht gleich zum Rundum-Verwöhnprogramm übergehen?«, fragte Daniela unsicher.

»Nein«, entgegnete Stefan bestimmt. »Ihr sollt euch neu kennenlernen. Das funktioniert nur, wenn ihr gemeinsam etwas erlebt, bei dem keiner Vorteile hat, sondern alle dieselben Erfahrungen machen.« Er deutete auf die sechs Anwesenden. »Im Büro hat jeder seine Aufgaben, da kommt man auch allein klar. Aber draußen in der Natur braucht jeder den anderen. Ihr werdet an eure Grenzen stoßen – und dann zählt Vertrauen.«

Stefan stemmte sich mit beiden Händen auf die Tischkante und ließ seinen Blick eindringlich über die Runde gleiten. »Denkt darüber nach, was wirklich wichtig ist, wenn man keine technischen Hilfsmittel hat.«

Dann schloss er seine Aktentasche, erhob sich und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

Kerstin sah ihm nach, bis die Tür ins Schloss fiel, und lächelte versonnen. Laura, die dies beobachtete, schmunzelte leise. Sie wusste zwar nicht genau, was in Kerstins Kopf vorging, doch eines war offensichtlich: Dieses Lächeln galt Stefan.

Draußen vor der Tür rieb Stefan sich müde über die Augen und atmete erleichtert aus. Er wusste, dass dies ein harter Spaziergang mit seinen „Schäfchen“ werden würde. Bei Kerstin und Laura machte er sich weniger Sorgen: Beide hatten in ihrer Kindheit oft gecampt und waren starke Frauen, die sich durch harte Zeiten kämpfen konnten.

Sonja, Daniela und Michael traute er weniger zu, konzentriert bei der Sache zu bleiben. Hier waren Kerstin und Laura gefragt, die Rollen der Führenden zu übernehmen. Später im Büro würde er starke Persönlichkeiten benötigen, falls er länger abwesend war.

Dirk bereitete ihm dagegen mehr Sorgen. Stefan wusste, dass Dirk ein Geheimnis mit sich trug, das nur er kannte. Er unterstützte ihn moralisch dabei, sein traumatisches Erlebnis zu verarbeiten. Die Kollegen sollten ruhig denken, Dirk sei einfach nur vernarrt in ihn – das würde niemanden stören. Stefan lächelte bei dem Gedanken, dass Dirk eines Tages sein Team in sein Geheimnis einweihen würde. Dann würde er nicht nur besser verstanden, sondern auch ein verlässlicher Teil des Teams werden, wenn es darauf ankam.

2

Nachdem der Fahrer, der gefühlt älter war als Kerstin und Laura zusammen, die kleine Gruppe am Startpunkt abgesetzt hatte, wünschte er allen noch einen schönen Tag und grinste Kerstin verschwörerisch an.

»Was gibt es da zu grinsen?«, fragte sie lächelnd und sah ihn neugierig an, während er ihr den Kofferraum aufhielt und sie ihren Rucksack heraushob.

»Nehmt euch ein bisschen vor dem Nebel in Acht«, sagte er leise. »Er ist nicht immer das, was er zu sein scheint. Und falls ihr ihm begegnet … nachts, bei einem Lagerfeuer … habt keine Angst. Er ist nicht böse.«

»Wer? Wen meinen Sie?«

»Du wirst schon wissen, wen ich meine, wenn ihr ihn seht. Diese Gegend ist dunkel und geheimnisvoll. Man erzählt sich vieles. Wenige haben ihn gesehen, die meisten hören ihn nur. Es klingt wie ein monotones Summen … manchmal auch wie ein Weinen.«

Mit diesen Worten schloss der Fahrer den Kofferraumdeckel, stieg in seinen Wagen und startete den Motor.

»Und immer schön auf dem richtigen Weg bleiben«, rief er noch einmal, ehe er um die nächste Kurve verschwand.

Kerstin blieb verwundert stehen. Ein Schauder lief ihr die Wirbelsäule hinab, während die Worte des Fahrers noch in ihr nachhallten. »Die haben hier echt eine Schraube locker«, murmelte sie und wünschte sich, schon jetzt im Hotel zu sein. Lust auf eine dreitägige Tour hatte sie durchaus – aber sicher nicht mit diesen Kollegen.

Die anderen waren längst ein gutes Stück voraus. Missmutig zog Kerstin die Rucksackgurte fester und stapfte hinterher. Von Weitem hörte sie schon die ungeduldigen Rufe ihrer Kollegen. »Mein Rücken bringt mich um«, jammerte Daniela, kaum dass Kerstin endlich zur Gruppe aufgeschlossen hatte. »Kannst du dich nicht mal beeilen?« Mit einem bösen Blick schob sie Kerstin ein Stück voran.

»Kaum vier Kilo auf dem Rücken und schon jammern«, murmelte Stefan kopfschüttelnd. Daniela tat, als hätte sie nichts gehört.

Als alle beisammenstanden, erklärte Stefan die Marschroute und machte deutlich, dass sie von nun an als Team unterwegs sein würden. »Habt Respekt voreinander«, sagte er ruhig. »Und ich schlage vor, dass wir jemanden wählen, der die Gruppe anführt.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Jeder musterte den anderen.

»Ich kenne mich hier nicht aus, weiß der Teufel, wohin ich gehen soll«, nörgelte Daniela und verschränkte die Arme.

»Gefolgt wäre ich dir sowieso nicht«, warf Dirk lachend ein. »Wenn Hungersnot auf Kuchen bestünde oder Ebbe im Schminkkoffer herrschte – dann würde ich dir folgen. Selbst in der Wüste würdest du noch einen Laden dafür auftreiben.«

Die Gruppe lachte, nur Daniela schnaubte verächtlich. »Als ob du nen Schminkkoffer bräuchtest – dein Schnucki nimmt dich doch auch so«, fauchte sie und drehte ihm den Rücken zu. Dirk grinste nur noch breiter.

»Noch jemand einen Vorschlag?«, fragte Stefan gelassen und tauschte mit Dirk einen vielsagenden Blick.

»Ich schlage Kerstin vor!« Laura deutete auf ihre Freundin und grinste. Nach all dem Genörgel im Büro hatte sie das verdient.

Kerstin fuhr herum. »Hä?« Dann grinste sie frech und verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. »Na gut, dann soll eben Laura führen.« Sie streckte ihrer Freundin die Zunge heraus.

»Okay, so kommen wir nicht weiter«, sagte Stefan belustigt. »Wer ist für Laura?«

Alle Hände schossen in die Höhe. Laura starrte Kerstin irritiert an, die demonstrativ wie wild mit der Hand fuchtelte.

»Was?«, entfuhr es Laura, als hätte sie sich verhört.

»Das soll bedeuten, dass du uns führst«, grinste Kerstin.

»Genau das bedeutet es«, bestätigte Stefan. »Also: Laura vorn mit Kerstin. Daniela geht mit Sonja. Michael und Dirk nehmen die Versorgungskiste. Ich selbst mache das Schlusslicht, damit uns keiner verloren geht.«

Laura bekam Karte und Kompass in die Hand gedrückt und verdrehte die Augen. »Damit? Kein Navi auf dem Handy oder so?«

»Damit«, erwiderte Stefan trocken. »Das gehört zum Spiel.«

»Davon war nie die Rede«, murrte Laura, doch Kerstin grinste nur. »Ich kann Karten lesen«, verkündete sie. »Dann übernimmst du den Kompass.«

»War ja klar, die beiden „Freundinnen“, machen das schon«, motzte Daniela und trat wütend gegen einen Stein, der klirrend in Richtung Wald rollte. Vögel flatterten erschrocken aus den Büschen, Sonja fuhr zusammen und presste sich eine Hand auf die Brust.

»Menno, Daniela! Musste das sein?«

»Ja, jetzt geht’s mir wieder besser.«

»Na, freut mich für dich«, erwiderte Sonja beleidigt und trottete neben Daniela her, während Laura und Kerstin bereits eine Richtung eingeschlagen hatten.Daniela starrte der Gruppe hinterher, die ein beachtliches Tempo vorgab. »Warum bin ich nur hier?«, murmelte sie.

»Müssen die da vorne so rennen?«, fragte Sonja nach einer Weile, den Blick fest auf den Boden geheftet.

»Keine Ahnung«, brummte Daniela. »Wahrscheinlich, weil es hier so scheußlich öde ist. Guck doch mal da vorn.« Sie deutete auf das Waldstück, das in einer dichten Nebelwand verschwand. »Es ist August, nicht November! Wieso ist hier so viel Nebel?«

»Das ist eben Schottland«, fiepte Sonja, der die Stimmung langsam unheimlich wurde. »Hier tauchen öfter mal Nebelbänke auf. Hab’ ich im Reiseführer gelesen.«

»Wunderbar«, knurrte Daniela und verzog das Gesicht. »Und die da vorne können auch nicht warten. Nervt total.«

Dirk und Michael, die mit der Versorgungskiste hinterherliefen, grinsten sich an und amüsierten sich über das ständige Gejammer. Stefan, der freiwillig als Letzter ging, behielt die Gruppe aufmerksam im Blick. Sein Blick blieb besonders an Laura und Kerstin hängen, die im Gleichschritt weiter vorne im Nebel verschwanden. Wenn sie nicht aufpassen, verlieren die anderen gleich die Orientierung. Bei diesem Abstand kann man Kameraden schnell aus den Augen verlieren. Oder Schlimmeres, dachte er nervös.

»Gibt es in diesem Land überhaupt Jahreszeiten?«, jammerte Daniela und stolperte über einen losen Stein.

Michael grinste Dirk an. »Daniela, was glaubst du eigentlich? Nur weil’s hier öfter regnet und mal Nebel aufzieht, heißt das nicht, dass es keine Jahreszeiten gibt. Stell dir vor: Die haben sogar vier. Genau wie bei uns.«

Dirk lachte laut auf, und Daniela strafte beide mit einem giftigen Blick.

»Kommt schon, Leute!«, rief Stefan von hinten. »Macht’s euch nicht so schwer. Wir haben heute noch einen langen Weg vor uns.«

»Wer hätte das jetzt hören wollen?«, knurrte Kerstin. Sie war stehen geblieben und wartete gemeinsam mit Laura, bis die anderen aufgeschlossen hatten.

»Alle da?«, fragte Laura in die Runde. »Braucht irgendwer schon eine Pause?«

»Jaaa! Ich! Mir tun die Füße weh!«, rief Daniela theatralisch.

»Mir auch«, jammerte Sonja und hob einen Fuß an. »Ich glaub’, ich hab’ einen Stein im Schuh.«

»Muss einer auf die Pipibox? Das meinte ich mit Pause.« Laura grinste verschmitzt. Doch da niemand sich meldete, marschierte sie Schulter an Schulter mit Kerstin tiefer in den Nebel.

»He, ich brauch’ eine Pause!«, rief Daniela empört.

»Musst du?«, fragte Laura über die Schulter hinweg.

»Nein, hier doch nicht!«, keuchte Daniela erschrocken.

»Dann lass das Genörgel. Wir sind gleich da.«

»Da vorne!«, rief plötzlich Sonja und zeigte auf einen hellen Fleck im Nebel. »Wir müssten bald auf die Lichtung stoßen. Da hinten leuchtet etwas … grünlich.«

Sie schloss zu Laura und Kerstin auf, und gemeinsam studierten sie im Gehen die Karte, während Laura den Kompass prüfte.

»Es wäre hilfreicher, wenn man wenigstens sehen könnte, wohin wir hier trampeln. Ich kann keine zwei Meter weit schauen. Woher soll ich wissen, was mir noch alles über den Weg läuft?«, keuchte Daniela außer Atem.

Kerstin hob den Kompass hoch, so dass Daniela ihn deutlich sehen konnte. »Damit kommen wir klar. Und weißt du was, Daniela? Wenn du ab und zu nach unten schauen würdest, statt ständig die Nase hochzutragen, würdest du auch merken, wohin du läufst – und was dir über den Weg rennt.«

»Du weißt wie immer alles besser, oder?«, maulte Daniela.

»Meine Damen!«, mischte sich Stefan grinsend ein und schob sich zwischen Laura und Daniela, um Abstand zu schaffen.

Dirk, der gezwungen war, Michael zu folgen, da er das andere Ende der Versorgungskiste trug, warf ihm einen mürrischen Blick zu. »Jetzt haben wir die Meckerziegen noch dichter auf der Pelle. Das wollte ich eigentlich vermeiden.«

»Wenn wir zu Hause wären, würd’ ich dir keinen Gefallen mehr tun«, konterte Daniela beleidigt, sichtlich getroffen.

»Genau deswegen sind wir hier«, meldete sich Stefan wieder zu Wort. »Damit ihr lernt, dass es im Leben um mehr geht als um Bürogezanke. Etwas mehr Zusammenhalt – das ist wichtig, meine Kinder«, fügte er scherzend hinzu.

»Ha! Kinder«, kicherte Sonja und erntete dafür einen strengen Blick von Dirk.

»Die beste Möglichkeit, euch wieder zusammenzuführen«, erklärte Stefan ernster, »ist, wenn man euch neuen Situationen aussetzt. Nur so erkennt ihr, dass der Kollege neben euch kein Rivale ist, sondern ein Helfer. Versteht ihr das endlich?«

Daniela zog demonstrativ das Marschgepäck vom Rücken und hielt es Michael hin. »Hilfe, mir tut der Rücken weh.«

Gerade als Michael den Rucksack nehmen wollte, griff Stefan sofort ein. »Um Hilfe bitten, nicht ausnutzen!«

Daniela knurrte und zog sich das Gepäck wieder auf.

»Mann, ist das eine Suppe hier. Ich seh’ nur grau in grau«, murmelte Dirk nervös und ließ den Blick schweifen. Michael hatte längst bemerkt, wie unheimlich der Nebel seinem Freund war, gab sich aber gelassen. »Eine Wand aus Grau«, lachte er aufgesetzt und klopfte Dirk auf die Schulter.

»Ich hätte Farbe mitbringen sollen«, nuschelte Dirk, während er schon am vierten Energieriegel knabberte.

»Pah, Farbe!«, keuchte Daniela. »Ich hätte besser zu Hause bleiben sollen. Meine Füße bringen mich um – diese verdammten Stiefel! Wie lange sind wir eigentlich schon unterwegs? Eine oder zwei Stunden?«

»Gerade mal eine halbe«, korrigierte Stefan von hinten grinsend. »Und schon futtert der eine die ganze Ration an Energieriegeln weg, während die andere zum Invaliden wird. Hat sonst noch jemand Beschwerden?«

»Ich werde blind vom Nebel«, jammerte Sonja.

»Setz die Sonnenbrille auf«, schlug Laura vor.

»Sonnenbrille im Nebel? Lächerlich«, fauchte Daniela.

Sonja hob trotzig ihre Brille. »Hilft aber.«

»Wenn uns jetzt ein Ungeheuer begegnet, kannst du es sogar sehen, Daniela«, grinste Michael.

»Haha. Du hoffst doch nicht wirklich, dass es hier Ungeheuer gibt, oder?«, fragte Daniela nervös.

»Klar – wär’ doch mal was anderes.« Michael lachte. »Keine Sorge, ich beschütze dich vor seinen Klauen.«

Daniela verzog die Unterlippe und winkte ab. »Nein danke, ich verzichte auf deine Rettung.«

»Stimmt«, kicherte Sonja. »Sie tritt dem Ungeheuer mit ihren schweren Stiefeln so fest in den Hintern, dass es aus dem Wald fliegt.«

Alle lachten – selbst Daniela konnte sich diesmal nicht zurückhalten. Die Stimmung lockerte sich spürbar.

»Glaubt ihr, es gibt tatsächlich Monster hier im Wald?«, fragte Sonja nach einer Weile leise.

»Nein, Michael hat nur Spaß gemacht«, beruhigte Dirk sie rasch. Sonja schenkte ihm einen dankbaren Blick.

»Monster gibt’s nur bei uns im Büro«, kicherte Kerstin.

»Hör auf, dauernd Pfeile abzuschießen«, mahnte Laura und stupste sie leicht an. »Es gibt Wichtigeres.«

Stefan räusperte sich, und die Gruppe verstummte. Der Pfad lag wegen des Nebels kaum drei Meter weit offen. Keiner bemerkte das verwitterte Schild im Gras, das warnend vor dem unpassierbaren Weg lag.

Eine ganze Weile marschierten sie schweigend weiter, jeder in seinen Gedanken. Auch Kerstin musste an die Worte des Taxifahrers denken und kam schließlich zu dem Schluss, dass es wohl nur ein übler Scherz gewesen war, um unerfahrenen Wanderern Angst einzujagen.

Laura, die neben ihr ging, deutete plötzlich auf einen hellen Punkt. »Da vorne! Das müsste das Lager sein!«

Langsam lichtete sich der Nebel. Eine kleine Waldlichtung kam zum Vorschein, mit Feuerstelle und einer windschiefen Hütte als Unterstand. Man sah sofort, dass der Platz seit Langem nicht genutzt worden war: Sträucher wucherten, Spinnweben hingen wie Schleier am Eingang und flatterten im Wind.

»Mal ehrlich, Leute, was habt ihr erwartet?«, kicherte Laura und ließ sich auf eine halb vermoderte Bank fallen, die bedenklich ächzte. »Immerhin – sitzen kann man noch. Und wenn nicht, landet sie eben im Feuer.«

»Wow, echt toll«, jammerte Daniela und verzog das Gesicht. »Und wo ist hier bitte das Bad?«

»Hier«, meinte Laura trocken und deutete auf einen Bachlauf, der im Nebel schimmerte.

»Einladend.« Daniela seufzte. »Und die Hütte ist ein Sieb! Seht euch die Löcher im Dach an. Kommt, wir gehen weiter. Das Hotel ist doch nicht mehr weit, oder?«

»Ab hier sind es noch zwei Tage«, erklärte Stefan bestimmt. »Hier wird geschlafen, gefrühstückt – und wenn es sein muss, noch mal geschlafen. Den heutigen Tag habt ihr gut gemeistert. Haltet die nächsten beiden durch, dann gibt’s am Ende auch eine Belohnung.«

»Unser Chef kann auch witzig sein«, kicherte Kerstin.

»Hier bin ich nur euer Gruppenleiter. Chef bin ich im Büro«, erwiderte Stefan trocken.

Kerstin verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Verstanden«, murmelte sie mürrisch. Ihr war kalt, und der Nebel kroch unaufhaltsam in die Kleidung. Den anderen ging es kaum anders.

»Soll das da unser Kochbereich sein?«, fragte Michael.

»Und wer von euch kann überhaupt kochen?«, rief Daniela.

»Pizzaservice«, grinste Dirk.

»Beides gibt’s hier nicht«, entgegnete Stefan gelassen und ließ sich auf eine Bank sinken. Die anderen folgten erschöpft, warfen ihre Rucksäcke ab – und sofort kroch die Feuchtigkeit in die Kleidung.

»Was glaubt ihr eigentlich, was ihr da die ganze Zeit mitschleppt?«, fragte Stefan und deutete auf die Holzkiste zwischen Dirk und Michael. Beide starrten sie an, als sähen sie sie zum ersten Mal.

»Vielleicht ein Koch, der uns was Warmes zaubert?«, witzelte Michael.

Dirk zuckte mit den Schultern. »Oder halt irgendwas Brauchbares für die Wildnis.«

Daniela schlug die Hand vor die Stirn. »Ihr schleppt diese Kiste seit Stunden – und wisst nicht mal, was drin ist!«

»Na und?«, fauchte Michael. »Es wird schon was Wichtiges sein, sonst hätten wir sie nicht dabei.«

Stefan schüttelte den Kopf. »Keiner von euch hat je gefragt, was wirklich in der Kiste steckt.«

»Ich erinnere mich an ein Meeting«, warf Dirk ein. »Da war von einer Versorgungskiste die Rede, die uns das Hotel stellt. Daran zweifle ich nicht. Hier draußen gibt’s schließlich keine Dosensuppen oder Kochtöpfe im Supermarkt.«

»Eben«, bestätigte Michael. »So blöd sind wir nicht. Und der Spruch mit dem Koch war nur Spaß.«

Daniela verdrehte die Augen, doch bevor sie antworten konnte, meldete sich Laura: »Leute, bevor das Gezicke wieder losgeht, sollten wir lieber ein Feuer ankriegen. Ich hab’ Hunger und mir ist kalt.«

Alle nickten zustimmend – doch keiner rührte sich, um das Nötige zu tun, damit in der Feuergrube bald wirklich Flammen loderten.

»Also, wenn hier keiner Holz holt, können wir auch gemeinsam in die Mulde starren, bis sie von selbst glüht«, murrte Kerstin. Sie hoffte, dass wenigstens einer in der Gruppe genug Camping-Erfahrung mitbrachte, um zu begreifen: Hier gab’s keinen Partyservice.

»Kerstin hat recht«, übernahm Stefan. »Zuerst kümmern wir uns ums Feuer. Danach um die Örtlichkeiten, damit die Damen nicht zufällig mit den Herren bei … na ja … peinlichen Momenten zusammenstoßen. Damen rechts, Herren links. Ich empfehle, die Lampions aufzuhängen – nachts braucht ihr sie griffbereit. Wenn das erledigt ist, richten wir die Schlafplätze ein.«

Betretenes Schweigen folgte. Alle starrten Stefan an. Daniela wirkte panisch, als er ihr grinsend den Klappspaten in die Hand drückte, mit den Brauen zuckte und mit dem Daumen den Weg hinunter zeigte.

»Was soll ich mit dem ollen Spaten?«, fragte sie irritiert.

»Zwerge erschlagen«, knurrte Kerstin trocken.

»Ha-ha. Sehr witzig.« Daniela funkelte sie an und hielt den Spaten, als sei er ein toter Fisch. »Und jetzt?«

»Was wohl«, schüttelte Laura den Kopf. »Du gräbst die Latrine. Für uns.«

»Ich soll waaas?«, kreischte Daniela und ließ angewidert den Spaten fallen. »Ich soll in den Wald sch…?«

»Ä-ä-ä.« Stefan hob die Hand wie bei einem Kind und schüttelte den Kopf. »Ja, das Geschäft wird im Wald erledigt«, fügte er sanft hinzu.

»Keine mobilen Toiletten?«, fragte Daniela entsetzt.

»Nein«, grinste Kerstin, »außer jemand hat zufällig eine im Rucksack.«

Ein Kichern ging durch die Runde. Daniela blickte erwartungsvoll herum – doch niemand meldete sich.

Stefan drückte ihr den Spaten erneut in die Hand. »Dirk nimmt den anderen und geht mit dir. Unten am Weg trennt ihr euch – Jungs links, Mädchen rechts. Vergesst die Balken nicht, sonst kippt ihr später um.«

»Oh mein Gott!«, stöhnte Daniela und rieb sich die Schläfen. Doch schließlich machten sich die beiden, mit Laterne, Feuerzeug und Spaten ausgerüstet, widerwillig auf den Weg.

»Und denkt dran!«, rief Stefan hinterher. »Die Spaten bleiben unten. Und die Erde bitte neben das Loch, zum Zudecken.« Grinsend wandte er sich den anderen zu.

»Danke vielmals für die wertvolle Info, Chef!«, schrie Daniela zurück. Stefan grinste noch breiter.

Laura bemerkte, wie Kerstin verträumt zu Stefan hinübersah – völlig abwesend. Die anderen hatten es ebenfalls bemerkt.

»Kerstin ist verliebt«, flüsterte Sonja Laura zu, als sie an ihr vorbeiging. Laura grinste nur breit, was Antwort genug war.

»Also – wer holt Feuerholz, wer Wasser?« Stefan hob zwei Kanister und ließ sie auffordernd wippen.

Kerstin und Laura meldeten sich freiwillig, griffen nach den Kanistern und machten sich lachend zum Bach auf.

Michael und Sonja sammelten derweil Feuerholz. Sie säuberten die alte Feuerstelle und brachten nach einigen Versuchen tatsächlich Flammen zustande. Sonja strahlte, als das Holz knackte. »Mein erstes eigenes Feuer!«, rief sie stolz. Michael schenkte ihr ein Lächeln, das sie erröten ließ.

Stefan bereitete währenddessen die Hütte vor – Mädchen rechts, Jungs links. Doch sein Blick folgte Kerstin, die mit Laura lachend im dichter werdenden Nebel verschwand.

3

Laura hatte ihren Kanister bereits gefüllt und machte sich auf den Rückweg, während Kerstin gerade erst begann, ihren Behälter an der kleinen Quelle zu befüllen. Als sie sich nach Laura umsah, war diese schon im dichter werdenden Nebel verschwunden.

Ein mulmiges Gefühl kroch Kerstin den Rücken hinauf, als würde jemand sie beobachten – oder direkt hinter ihr stehen. Für einen Moment meinte sie, kalten Atem in ihrem Nacken zu spüren. Langsam drehte sie den Kopf. Nichts. Erleichtert wandte sie sich wieder dem Kanister zu. Trotzdem blieb das beklemmende Gefühl.

Gerade als sie den Verschluss zudrehte, glaubte sie, im Wasser einen Fußabdruck zu erkennen. Schlamm wirbelte auf, trübte das klare Wasser – und verschwand wieder, als wäre nichts gewesen.

Da knackte es laut, als bräche jemand Äste. Kerstin fuhr herum, der Atem stockte. Ein kalter Luftzug fegte an ihr vorbei und wirbelte ihr die Haare ins Gesicht. Mit der Hand auf der Brust stand sie da, keuchend, die Augen suchend im grauen Dunst.

Ein Flattern, näherkommend. Kerstin drehte sich langsam in die Richtung des Geräuschs. »Laura!«, rief sie. »Laura, das ist nicht witzig! … Laura?«

Keine Antwort. Nur der Nebel, der sich langsam lichtete und schemenhaft den Weg zum Camp freigab.

Kerstin hob den Kanister an. Hier wollte sie keine Sekunde länger bleiben. »Maaann, ich seh’ schon Gespenster«, murmelte sie und versuchte, sich selbst Mut zuzusprechen. »Die gibt’s nicht. Das ist nur Nebel. Nur Nebel.« Sie blinzelte in die Sonne, ließ deren Wärme kurz beruhigend auf sich wirken. »Hier gibt’s nichts, wovor man Angst haben müsste.«

Mit geschlossenen Augen sog sie den Moment ein – bis plötzlich eine eisige Berührung an ihrem Hintern sie erstarren ließ.

»He!«, fuhr sie auf, wirbelte herum – und starrte in die Leere.

Kerstin stockte. Das hatte sie sich nicht eingebildet. Jemand hatte sie berührt – da war sie sich sicher. Mit klopfendem Herzen betrachtete sie die Stelle an ihrer Jeans, wo das kalte Gefühl gewesen war – und erschrak. Ein dunkler, feuchter Fleck zeichnete sich ab. Die klare Form eines Handabdrucks.