Im Schatten der Olivenbäume - Angelina Bach - E-Book
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Im Schatten der Olivenbäume E-Book

Angelina Bach

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Beschreibung

Völlig unverhofft erbt Christina die kleine Olivenmanufaktur ihres verstorbenen Vaters in Italien. Er hat sie und ihre Mutter verlassen, als Christina noch ein kleines Kind war und sich seitdem nie bei ihr gemeldet.

Nur widerwillig reist sie in die Toskana, um möglichst schnell die Formalitäten zu erledigen und das Erbe auszuschlagen. Sie hat jedoch nicht mit der Schönheit des Anwesens gerechnet - und mit Gianmarco, Mitarbeiter des Guts.

Als Christina auf Briefe ihrer Großmutter stößt, taucht sie ein in die bewegende Geschichte ihrer italienischen Familie. Und während sie ihren Vater durch die Briefe ganz neu kennenlernt, merkt Christina, dass ihr nicht nur das kleine Gut, sondern auch Gianmarco mehr ans Herz gewachsen ist, als sie geplant hatte.

Alle Romane der Familiengeheimnis-Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

T E I L 1

Christina

Christina

Zucchini-Ricotta-Frittata

Emilia

Christina

Emilia

Torta di Mandorle

Christina

Emilia

Panna cotta con le Fragole

Emilia

Christina

Emilia

Christina

Pasta con gli Avanzi

Il Finocchietto

T E I L 2

Christina

Insalata d'Arancia e Finocchi della Nonna

Emilia

Christina

Spaghetti Carbonara alla Nonna

Emilia

»I brutti ma buoni«

Christina

Christina

Peposa dell’Impruneta

Christina

Emilia

Christina

Emilia

Christina

Christina

Pappardelle con sugo di Cinghiale

Confettura di Fichi

Nachwort

Über dieses Buch

Völlig unverhofft erbt Christina die kleine Olivenmanufaktur ihres verstorbenen Vaters in Italien. Er hat sie und ihre Mutter verlassen, als Christina noch ein kleines Kind war, und sich seitdem nie bei ihr gemeldet.

Nur widerwillig reist sie in die Toskana, um möglichst schnell die Formalitäten zu erledigen und das Erbe auszuschlagen. Sie hat jedoch nicht mit der Schönheit des Anwesens gerechnet – und mit Gianmarco, Mitarbeiter des Guts.

Als Christina auf Briefe ihrer Großmutter stößt, taucht sie ein in die bewegende Geschichte ihrer italienischen Familie. Und während sie ihren Vater durch die Briefe ganz neu kennenlernt, merkt Christina, dass ihr nicht nur das kleine Gut, sondern auch Gianmarco mehr ans Herz wächst, als sie geplant hatte.

Über die Autorin

Hinter dem Pseudonym Angelina Bach verbirgt sich ein Autoren-Team bestehend aus der Schriftstellerin Veronika Lackerbauer und ihrem Mann Martin Lackerbauer. Veronika schreibt schon seit ihrer Jugend und konnte sich mit in verschiedenen Genres einen Namen in der Kleinverlags- und Selfpublishingszene machen. Seit 2020 schreibt sie – dem realen Grauen der Pandemie geschuldet – hauptsächlich Liebesromane.

Ihr Ehemann hilft ihr, inhaltliche Lücken mit zündenden Ideen zu stopfen und davonhoppelnde Plotbunnies einzufangen. Außerdem hat er als »Chef-Recherchator« eine Antwort auf so gut wie jede noch so knifflige Recherche-Frage.

Wenn sie nicht gerade gemeinsam neue Schauplätze für ihre Romane erkunden, arbeiten und leben sie mit ihrem Sohn und einer ganzen Reihe von Haustieren in Niederbayern.

Weitere Infos zu den Büchern von Angelina Bach und Veronika Lackerbauer finden sich auf der Seite www.veronika-lackerbauer.de.

Angelina Bach

Im Schatten der Olivenbäume

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven © Janoka82/iStock/Getty Images Plus; Vitalii Livadnyi/iStock/Getty Images Plus; den-belitsky/iStock/Getty Images Plus; Cheuk Hin Sherman Sham/iStock/Getty Images Plus

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-1836-3

be-heartbeat.de

lesejury.de

Bella Ciao

Una mattina mi son svegliato,

o bella, ciao! Bella, ciao! Bella, ciao, ciao, ciao!

Una mattina mi son svegliato,

e ho trovato l'invasor.

O partigiano, portami via,

o bella, ciao! Bella, ciao! Bella, ciao, ciao, ciao!

O partigiano, portami via,

ché mi sento di morir.

E se io muoio da partigiano,

o bella, ciao! Bella, ciao! Bella, ciao, ciao, ciao!

E se io muoio da partigiano,

tu mi devi seppellir.

E seppellire lassù in montagna,

o bella, ciao! Bella, ciao! Bella, ciao, ciao, ciao!

E seppellire lassù in montagna,

sotto l'ombra di un bel fior.

Tutte le genti che passeranno,

o bella, ciao! Bella, ciao! Bella, ciao, ciao, ciao!

Tutte le genti che passeranno,

Mi diranno »Che bel fior!«

»È questo il fiore del partigiano«,

o bella, ciao! Bella, ciao! Bella, ciao, ciao, ciao!

»È questo il fiore del partigiano,

morto per la libertà!«

Bella Ciao ist ein Lied der italienischen Partisanen der Resistenza im Zweiten Weltkrieg. Es wurde zur Hymne der antifaschistischen, anarchistischen und kommunistischen Bewegung. Die Melodie stammt von einem Protestlied der Arbeiterbewegung, in dem Reispflückerinnen ihre harten Arbeitsbedingungen beklagen. Der Autor des Textes in dieser Version ist unbekannt. Er besingt den Tod eines Freiheitskämpfers.

T E I L 1

Christina

Lüneburger Heide und Berlin, Juni 1989

»Warum sollte ich das wollen?« Christina verschränkte die Arme und machte ein entschlossenes Gesicht.

»Weil er dein Vater ist«, erwiderte Anne schlicht. Und verbesserte sich sogleich selbst: »War.«

Christinas Kiefer mahlten. »Das hat ihn nie interessiert«, presste sie hervor und präzisierte dann: »Ich habe ihn nie interessiert.«

Dem hatte ihre Mutter nichts entgegenzusetzen. Statt einer Erwiderung nahm sie etwas Kuchen auf die Gabel und schob ihn sich in den Mund. Christina hatte ihr Stück des Frankfurter Kranzes, den ihre Mutter extra gebacken hatte, noch nicht angerührt.

»Mir war Bernd in all den Jahren mehr Vater, als es mein Erzeuger jemals hätte sein können. Er fehlt mir nicht. Jetzt ist er tot. Das ist natürlich bedauerlich für ihn, vor allem, weil er noch gar nicht so alt war, aber mit mir hat das nichts zu tun.«

Anne nahm noch einen Schluck Kaffee, bevor sie mit Bedacht entgegnete: »Das sagst du jetzt, Chrissy. Aber irgendwann wirst du es vielleicht bereuen. Dann ist die letzte Chance dahin, mehr über deine Wurzeln zu erfahren. Vielleicht willst du doch irgendwann wissen, woher du stammst. Mir ist klar, dass ich selbst mit schuld daran bin, dass du nie eine Beziehung zu deinem leiblichen Vater aufbauen konntest – vielleicht war das ein Fehler.«

»Nein, Mama, war es nicht. Mir geht es gut. Es hat mir nie an etwas gefehlt. Warum soll ich nun nach Italien fahren und mich mit Dingen auseinandersetzen, die mit meinem Leben einfach nichts zu tun haben? Es kommt mir verlogen vor, jetzt dieses Erbe anzunehmen. Was soll ich mit einem Hof in der Toskana?«

Neben den Kuchentellern lagen einige Fotos über den Tisch verstreut – die meisten von ihnen vergilbt und mit gezacktem Rand. Anne nahm eines in die Hand und betrachtete es. »Es war nicht alles nur schlecht«, sagte sie unvermittelt. »Ich hatte eine schöne Zeit mit Fabrizio. Vielleicht waren wir zu jung. Aber es waren auch die äußeren Umstände, die gegen uns sprachen.« Sie strich mit dem Finger über die Fotografie.

Sentimentalität war normalerweise nicht die Art ihrer Mutter. Christina verstand gar nicht, dass sie sich plötzlich so anders anhörte.

»Er hat dich mit einem Kleinkind sitzen lassen und sich nicht mehr gekümmert, für mich sieht das nicht nach widrigen Umständen aus, sondern nach fehlendem Verantwortungsbewusstsein«, rief Christina ihrer Mutter ins Gedächtnis.

Anne seufzte. »Das Leben ist nicht nur schwarz-weiß, auch wenn diese alten Fotos das glauben lassen. Mir ist ja bewusst, dass ich bis vor Kurzem noch ganz anders gedacht habe. Aber da hatte ihn auch noch kein plötzlicher Herzinfarkt unversehens aus dem Leben gerissen. Irgendwie war er halt immer da, obwohl er nicht da war. Verstehst du? So etwas lässt einen eben über die Vergangenheit nachdenken und ob immer alles richtig war, so wie es eben war ... Ich denke, dass du es eines Tages bereust, wenn du jetzt nicht fährst.«

»Und ich glaube, dass ich es bereuen werde, wenn ich fahre«, beharrte ihre Tochter.

In diesem Moment hörten sie, wie die Eingangstür aufgeschlossen wurde. Bernd kam von der Arbeit. Er hängte seine Jacke an die Garderobe, der Schlüsselbund klimperte, als er ihn in der Schale auf der Kommode im Flur ablegte.

Die Geräusche im Haus ihrer Eltern waren Christina noch immer vertraut, obwohl sie schon eine Weile nicht mehr hier wohnte.

Bernd betrat die Küche und rief in den Wohnbereich hinein: »Hallo, die Damen. Ich bin zu Hause.«

»Wir sitzen im Wintergarten«, erwiderte Anne. »Bring dir einen Teller und eine Tasse mit, es gibt Kuchen.«

Christina drehte sich in dem ausladenden Korbsessel herum, um ihren Stiefvater zu begrüßen. Er stand in seiner Stoffhose mit Hemd, aber bereits in Strümpfen im Türrahmen zum Wohnzimmer. Bernds dunkles Haar war inzwischen vollständig ergraut, und nicht nur um die Augen zeigten sich ein paar Falten. Die schwere Ledertasche – mit den Heften seiner Schüler – auf dem Fußboden neben der Tür zur Küche war stets das untrügliche Zeichen gewesen, dass er zu Hause war. Christina konnte sich Bernd kaum ohne seine Schultasche vorstellen. Wenn sie an den Esstisch in ihrem Elternhaus dachte, dann sah sie darauf unweigerlich Stapel von eng beschriebenen A4-Blättern und darüber gebeugt Bernd mit dem Rotstift in der Hand und der Stiftkappe im Mundwinkel. Alle Stifte, die Bernd zur Korrektur benutzte, wiesen früher oder später sein Markenzeichen auf: zerkaute Verschlusskappen. Christina kannte seine Eigenarten, und eine Woge der Zuneigung überkam sie. Bernd war ihr Stiefvater. Anne und er hatten geheiratet, als Christina bereits drei Jahre alt gewesen war. Später hatte er sie adoptiert. Christina hatte daran keine Erinnerungen mehr. Wie auch ihre Mutter trug Christina seinen Nachnamen: Lehmann. Die Gefühle, die Christina Bernd gegenüber verspürte, waren die einer Tochter zu ihrem Vater. Früher hatte sie ihn auch Papa genannt, seit sie aber wusste, dass er nicht ihr leiblicher Vater war, nannte sie ihn meistens Bernd. An ihren Gefühlen änderte das nichts. Er war ihr Vater. Der einzige, den sie je gekannt hatte. Der einzige, den sie brauchte. Was machte es da schon, dass es irgendwo einen Menschen gegeben hatte, dessen Gene mit ihren übereinstimmten, zumindest zu etwa fünfzig Prozent?

Seit drei Tagen war sie nun wieder in Berlin, hatte ihre Eltern nur für ein paar Tage besucht. Der Sommerabend fühlte sich unter dem stahlblauen Himmel beinahe wie im Süden an. Christina hatte die Fenster ihres VWs runtergekurbelt und ließ den leichten Fahrtwind ihr Haar zerzausen. Sie liebte die Stadt im Hochsommer. Nein, eigentlich liebte sie West-Berlin zu jeder Jahreszeit. Sie war vor vier Jahren zum Beginn ihres Studiums hergekommen und hatte vor zu bleiben. Sie brauchte die Hektik, die Menschen, den Puls der Großstadt. Auch wenn sie ihre Eltern gern besuchte, das gute Gefühl, zu Hause zu sein, stellte sich nicht mehr in der Lüneburger Heide ein, wo sie jede Häuserzeile der beschaulichen Kleinstadt kannte, in der sie aufgewachsen war. Erst wenn die Straßen wieder breiter, der Verkehr wieder dichter und die Häuser wieder höher und moderner wurden, wenn sie die »Zone« hinter sich hatte und die Vororte West-Berlins durchquerte, dann wurde ihr Herzschlag leicht, ihre Atemfrequenz ruhig, und die verkrampften Muskeln entspannten sich: daheim!

Der Besuch bei ihren Eltern war dieses Mal unerwartet anstrengend gewesen. Dass ihre Mutter darauf gedrängt hatte, dass Christina sich um den Nachlass ihres Erzeugers kümmerte, hatte ihr den Besuch gründlich verdorben.

Italien – ja, schön. Vielleicht hatte sie Urlaub nötig. Aber in die tiefste italienische Provinz zu fahren, um sich durch die Habseligkeiten eines alten Mannes zu wühlen, den sie überhaupt nicht gekannt hatte und mit dem sie nichts verband außer ein paar Genen, danach stand ihr der Sinn nun wirklich nicht. Und außerdem: Entspannen konnte sie sich doch gerade so gut in Berlin!

Als sie an der roten Ampel warten musste, wehten die Melodie und einige Wortfetzen aus dem Autoradio des neben ihr stehenden Wagens zu ihr herüber: »Bella, ciao! Bella, ciao! Bella ciao, ciao, ciao.«

Ciao, bella, bekräftigte Christina in Gedanken. Sie dachte wieder an die Erbschaft ihres Vaters und entschied: Mich seht ihr jedenfalls nicht!

Erst gegen neunzehn Uhr verließ Christina am nächsten Tag die Unibibliothek. Sie hatte zusammen mit einer Kommilitonin noch über einem Referat gebrütet. Abends bis spät an der Uni zu sein – im Winter, bis die Lichter in der Stadt angingen, im Sommer, bis sich die Abendruhe herabsenkte und die Hektik des Tages langsam abebbte –, das gab ihr ein besonderes Gefühl: eben Großstadt pur. Oder wenn sie, so wie heute, nach Feierabend über den Bürgersteig zur nächsten Bushaltestelle lief, wo sich die letzten Büroarbeiter auf dem Weg in den Feierabend mit den ersten Nachtschwärmern trafen, die sich aufmachten, die Restaurants und Bars unsicher zu machen.

Auch Christina nahm jetzt nicht den Bus zu ihrem kleinen Appartement im Studentenwohnheim, das sie schon seit dem Beginn ihres Studiums bewohnte, sondern die Gegenrichtung derselben Linie mit Ziel Oranienstraße. Am Moritzplatz stieg sie aus. Der Kiez im Bezirk Kreuzberg, in dem sie sich jetzt befand, war ein geradezu legendäres Partypflaster. Nicht umsonst hatten die Gebrüder Blattschuss schon in den 70er-Jahren gesungen: »Kreuzberger Nächte sind lang.« Christina liebte diesen Kiez zwischen Moritzplatz, Kottbusser Tor und Görlitzer Bahnhof.

Der Übergang nach Ost-Berlin war nicht weit, am Checkpoint Charlie konnte man vom Westen in den Osten einreisen. Christina tat das hin und wieder, weil sie auch das gewisse Flair im Osten der Stadt mochte. Obwohl die Läden kein sehr breites Angebot hatten, war Einkaufen im Osten viel billiger als im Westen.

In West-Berlin waren die 80er-Jahre die Dekade der Bürgerinitiativen gewesen. Es fehlte an bezahlbarem Wohnraum, gleichzeitig standen viele Häuser aus der Gründerzeit leer und verkamen. Die Studentenbewegung hatte in den 60er- und 70er-Jahren das Viertel geprägt, eine alternative Szene war daraus entstanden. Von mehr als 160 Häusern, die im ganzen Stadtgebiet von Berlin besetzt waren, stand der Großteil in Kreuzberg. Die einstigen Hausbesetzer forderten vom Senat Mietverträge, wollten das Viertel wiederbeleben. Instandsetzung statt Abriss, war die Devise. Im Schatten der Mauer war eine neue Subkultur aus Einwanderern, Künstlern und Alternativen entstanden.

Die Oranienstraße pulsierte. Von kleinen, aber feinen Restaurants mit bester internationaler Küche, hippen Secondhand-Boutiquen, traditionsreichen Kneipen wie der alten Sponti-Spelunke »Rote Harfe«, bis hin zu modernen Bars zeigte sich hier die Unterhaltungsszene von ihrer besten Seite. Jetzt in den warmen Monaten drängten sich die Vergnügungssuchenden aller Couleur und allen Alters auf den schmalen Gehsteigen. Wo immer möglich lockten Tisch, Stühle und Bänke ins Freie. Später würde dann die Stunde für einige der bekanntesten Berliner Underground-Klubs schlagen, ob Christina allerdings so lange ausharrte, würde sich erst noch zeigen. Eigentlich hatte sie morgen wieder einen randvollen Stundenplan und brauchte auch mit ihren zarten 24 Jahren einen gewissen Schönheitsschlaf. Doch mal sehen, was der Abend brachte.

Sie war mit ihrem Freund Adrian verabredet, mit dem sie eine lockere On-Off-Beziehung führte. Irgendwie kamen sie nicht auf den gleichen Nenner. Mal hatte Christina sich mehr vorstellen können, da war Adrian die Beziehung zu eng geworden und er war unvermittelt ausgebrochen, dann wieder war er zurückgekommen, hatte ihr sein Herz zu Füßen gelegt, und sie hatte ihn von sich gestoßen und auf ihrer Freiheit bestanden. Nun führten sie eine mehr oder weniger offene Beziehung und trafen sich unregelmäßig und ohne Verpflichtungen. Vielleicht würden sie nach einem gemeinsamen Abendessen in verschiedene Richtungen auseinandergehen, möglicherweise würde Adrian sie aber auch noch auf einen Absacker in eine der Bars schleppen, vielleicht sogar zu einer Runde durch die Klubs überreden. Aber es war durchaus auch denkbar, dass sie in ihrer oder seiner Bude den Abend im Bett ausklingen ließen. Im Moment hätte Christina nicht sagen können, welche Option sie präferierte.

Sie hatte ein Stück zu gehen bis zum Café Laterna, wo sie sich verabredet hatten. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie sich verspätete. Aber daran sollte Adrian inzwischen gewöhnt sein.

Sie überquerte den Oranienplatz; beim Anblick der symmetrisch angelegten Grünflächen kamen ihr die Szenen der Proteste von vor ein paar Jahren wieder in den Sinn. Regelmäßig geriet Kreuzberg zum 1. Mai in die Schlagzeilen, durch teilweise schwere Ausschreitungen und Straßenschlachten mit der Polizei. Einmal waren die Demos komplett aus dem Ruder gelaufen. Die Krawalle hatten sich, ausgehend vom Lausitzer Platz, auf das Kottbusser Tor und den Oranienplatz ausgeweitet, in der Skalitzer Straße war ein Lebensmittelgeschäft in Rauch aufgegangen.

Christina war damals gerade erst in West-Berlin angekommen gewesen und hatte entsetzt reagiert. Auch unter ihren Kommilitonen hatten sich Steinewerfer, Randalierer und Brandstifter befunden, die ihre Gewaltausbrüche für politische Statements hielten. Für das Mädchen aus der Provinz waren diese Ausbrüche neu und fremd gewesen.

Heute lungerten auf den Bänken und im strohig gewordenen Gras nur ein paar Grüppchen Studenten herum. Dunkelhäutige Männer in bunten Kaftanen trommelten afrikanische Rhythmen. Schnell bildete sich eine Menschen-traube. Das bunte Multikulti-Flair lockte inzwischen auch Touristen nach Kreuzberg.

Obwohl sie schon spät dran war, blieb Christina kurz stehen, sah ihnen zu, setzte ihren Weg dann aber fort. Hoffentlich war wenigstens Adrian pünktlich gewesen, sonst hatten sie wohl keine Chance mehr auf einen Platz vor dem Laterna.

»Da bist du ja endlich«, sagte Adrian vorwurfsvoll.

»Ja, entschuldige, ich hing noch in der Bib fest.« Christina las die Getränkeauswahl, obwohl sie so oft hierherkam, dass sie das Angebot eigentlich auswendig kennen sollte.

»Du lernst zu viel«, stellte Adrian fest. Er hatte bereits bestellt, vor ihm stand ein halb leeres Bierglas.

»Du hörst dich an wie meine Mutter.«

»Dann hat sie wahrscheinlich recht. Vielleicht sollte ich mich mal mit ihr unterhalten. Ach nein, warte, du nimmst mich ja nicht mehr mit zu deinen Eltern.« Es klang vorwurfsvoll, und er zog einen Schmollmund.

»Was soll das denn jetzt?«, fragte Christina leicht verstimmt. Sie konnte es nicht leiden, wenn Adrian beleidigt spielte.

Die Ankunft des Kellners mit Tablett und Block entband sie fürs Erste von weiteren Erwiderungen. Sie bestellte einen Wodka-Orange. Der Innenraum der Bar war inzwischen bis auf den letzten Platz gefüllt, drinnen konnte man sich bestenfalls noch schreiend verständigen, die Musik wummerte aus den Boxen. Der Zigarettenqualm wurde zunehmend dichter. Vor der Tür standen die, die weder drinnen noch draußen einen Sitzplatz gefunden hatten, lachten, rauchten, tranken und unterhielten sich. Christina fragte sich, warum ihr der Abend noch vor dem ersten Cocktail verdorben worden war.

»Wollen wir nachher noch woanders hin?«, fragte Adrian und klang jetzt versöhnlicher.

»Weiß nicht«, erwiderte Christina, noch nicht bereit, seine Bemerkungen von eben schon wieder zu vergessen. »Eigentlich sollte ich heute mal früher ins Bett ...«

»Auch ein interessanter Vorschlag.« Adrian grinste.

Als Christina nicht darauf einging, wechselte er erneut das Thema: »Wie war's bei deinen Eltern? Gibt's was Neues in der Provinz?«

»Mein Vater ist aus der Versenkung gekrochen«, sagte Christina. Die Bitterkeit, die sie plötzlich überkommen hatte, ließ sich nicht abschütteln, und die Erinnerung an das Hauptthema ihres Elternbesuchs trug nicht dazu bei, ihre Stimmung anzuheben.

»Dein ... Vater? Was ist mit Bernd? Wieso war er in der Versenkung?«

»Nicht Bernd. Mein leiblicher Vater.«

Adrians Augen wurden groß, und um seinen Mund manifestierte sich erneut dieser leicht beleidigte Zug. »Ich wusste überhaupt nicht, dass Bernd nicht dein leiblicher Vater ist. Davon hast du mir nie etwas erzählt.«

»Ist ja auch nicht so wichtig«, wischte Christina den Einwurf beiseite. »Für mich war er es immer und wird es auch bleiben.«

Adrian nahm einen Schluck von seinem Bier. Anschließend sagte er, bemüht um einen lockeren Plauderton: »Und was will er jetzt plötzlich, dein Erzeuger?«

»Nichts, er ist tot.«

»Oh ...«

Sofort erhöhte sich Christinas Puls wieder. Wütender als beabsichtig stieß sie hervor: »Toll, dass alle Welt so betroffen von dieser Nachricht ist. Noch toller wäre es allerdings, wenn sich auch mal jemand die Mühe machen würde, mich zu verstehen!«

»Ich hab doch gar nichts gesagt ...«

»Du nicht«, räumte Christina ein. »Aber meine Mutter. Sie meinte, ich müsse unbedingt nach Italien fahren und das Erbe antreten. Was soll das denn bitte schön bringen?!«

»Er lebte also in Italien. Aha. Und er hat dich in seinem Testament bedacht, oder wie?«, hakte Adrian nach.

Christinas Wodka-Orange wurde gebracht. Sie nahm das Longdrinkglas in die Hand und nuckelte an dem Strohhalm herum. »In irgendeinem Kaff in der Nähe von Florenz. Er hatte einen Bauernhof, ich glaube, er hat Oliven produziert, mehr weiß ich darüber nicht.«

»Hat er in Italien keine Familie mehr?«, fragte Adrian.

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Und wie lange war er ... Also ich meine, war er mit deiner Mutter verheiratet?«

»Nein, er war als Gastarbeiter hier. Hat gearbeitet und Geld gescheffelt, und als es gereicht hat, ist er nach Italien zurückgegangen. Leider hatte er meine Mutter da schon geschwängert«, sagte Christina voll Bitterkeit.

»So leid tut mir das jetzt nicht«, erwiderte Adrian sanft. »Immerhin gäbe es dich nicht, wenn er nicht gewesen wäre.«

Christina zog eine Grimasse. »Ja, schon klar. Aber er hat sie und mich einfach zurückgelassen. Es war ihm egal, verstehst du?«

»Und weiter? Hat dich deine Mutter dann allein großgezogen. Bis Bernd in euer Leben kam?«

»Das war alles nicht so easy, ein uneheliches Kind glich damals schon noch einer Katastrophe. Das waren die 60er-Jahre! Meine Mutter hat immer erzählt, dass sie das Thema Nummer eins im ganzen Ort war. Meine Großeltern haben sich wohl fürchterlich geschämt.«

»Na gut, aber jetzt bist du ja groß«, versuchte Adrian zu scherzen.

Christina schnaubte. »Du willst es nicht kapieren, oder? Mein Vater hat sich einen Dreck darum geschert, wie es uns ging. Auch später war ich ihm egal. Und jetzt ist er tot. Warum soll ich jetzt nach Italien fahren? Davon wird er nicht lebendig. Und die Zeit dreht das alles auch nicht zurück.«

Adrian zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Dann fahr halt zum Spaß. Gibt sicher schlechtere Gründe für einen Trip ans Meer. Und wenn er dir was hinterlassen hat, kannst du's ja verkaufen. Da er dich schon sonst nie unterstützt hat, dann nimm doch jetzt wenigstens das Erbe an.«

Christina spürte trotz ihres Grolls, dass in dem Letzten, was Adrian gesagt hatte, etwas Sinnhaftes steckte. Sie hatte immer gedacht, dass jemand ihren Vater zur Verantwortung hätte ziehen müssen. Wenigstens in finanzieller Hinsicht. Vielleicht war das jetzt die späte Möglichkeit, sich zu holen, was ihr die ganze Zeit über zugestanden hatte.

Christina

Quarrata, Juli 1989

Das letzte Stück des Weges sank Christinas mühsam aufrechterhaltene Überzeugung wieder zu Boden. Warum um alles in der Welt hatte sie sich dazu breitschlagen lassen?

Die kleine Stadt Quarrata, die am Fuße von hügeligen Oliven- und Weinbergen lag, hatte sie bereits passiert. In engen Serpentinen wand sich die schlecht befestigte Straße einen Berg hinauf, links und rechts gesäumt von terrassierten Olivenhainen. Ab und zu wurden die gleichmäßigen Reihen der knorrigen Bäume von Steinmäuerchen unterteilt. Wilder Mohn und andere Wiesenblumen blühten an den nachlässig gemähten Rändern. Vereinzelt deutete das sandfarbene Dach eines Hauses daraufhin, dass hier auch Menschen lebten; auf Christina wirkte die toskanische Landschaft ähnlich wohnlich wie ein Mondkrater.

Die Straße war nur mehr so breit, dass ihr Auto darauf fahren konnte. Ein dünnes Band aus Teer schlängelte sich den Hang hinauf, daneben fiel das Gelände teilweise metertief ab. Christina schickte ein Stoßgebet zum Himmel, es möge ihr kein Fahrzeug entgegenkommen.

Dann brach die löchrige Asphaltdecke plötzlich jäh ab. Dahinter führte nur noch ein grob geschotterter, sandiger Weg weiter den Hang hinauf. Christina hielt an und zerrte die Straßenkarte vom Beifahrersitz wieder auf ihren Schoß. Sie musste das unförmige Ding erst noch einmal auseinanderfalten und dann umdrehen. Schließlich gelang es ihr, den Ausschnitt, auf dem sie sich zu befinden glaubte, auf dem Lenkrad vor sich abzulegen. Mit dem Zeigefinger folgte sie der Straße auf dem Papier. Sie konnte nicht erkennen, ob sie noch richtig war.

Und jetzt?

Für den Moment sah Christina keine andere Lösung, als weiterzufahren und zu sehen, wohin diese Straße sie führte. Vielleicht kam sie zufällig an dem Bauernhof ihres Vaters raus. Weit konnte sie nicht mehr davon entfernt sein. Möglicherweise war hier auch nur die Straßenführung geändert worden, und die Karte war veraltet. Allerdings machte der Untergrund, auf dem sie fuhr, nicht den Eindruck.

Hinter einer Biegung weitete sich die Straße wieder, und sie erreichte ein kleines Dorf oder zumindest eine Ansammlung von mehreren Gebäuden. Wäsche flatterte an langen Leinen, die von einer Straßenseite zur anderen gespannt worden waren. Eine graue Katze rekelte sich auf einer Holzbank vor einem der Häuser. Sonst erkannte Christina keine Lebenszeichen. Trotzdem hielt sie am Straßenrand an und stieg aus.

Die Luft roch aromatisch. Eine Mischung aus Thymian und anderen Gewürzen lag über dem Dörfchen. Die Katze beäugte sie schläfrig aus einem halb geöffneten Auge. Christina blickte sich suchend um. Hier musste es irgendwo sein. Kein Straßenname, keine Ortsbezeichnung, noch nicht einmal ein Kilometerstein.

»Voilà«, sagte Christina zu sich selbst. »Der Arsch der Welt. Du hast ihn gefunden.«

Sie beugte sich wieder in das Auto und angelte ihre Handtasche vom Beifahrersitz. Irgendwo hatte sie die genaue Bezeichnung des Hofes notiert: Fattoria La Macina, Via Carraia, Montorio – Quarrata (Pistoia).

»Mi scusi. Stai cercando qualcuno?«

Christina fuhr erschrocken herum. Von ihr unbemerkt hatte sich eine Frau dem fremden Auto mit dem deutschen Kennzeichen genähert. Jetzt war Christina zum ersten Mal in ihrem Leben dankbar dafür, dass sie Italienisch gelernt hatte. Obwohl sie keinen Kontakt zu ihren italienischen Verwandten gehabt hatte, hatte ihre Mutter darauf bestanden, dass Christina sich die Sprache ihres Vaters aneignete. Als Jugendliche hatte Christina dann irgendwann unabhängig von ihrer Abstammung Gefallen an der romanischen Sprache gefunden. Jetzt würde sich zeigen, wie viel sie an der Volkshochschule und im Wahlunterricht am Gymnasium gelernt hatte.

Zaghaft antwortete sie: »Ich suche die Fattoria von Fabrizio Tramontino. Ich bin seine Tochter.«

»Dio mio!«, entfuhr es der Frau, die bei näherer Betrachtung doch gar nicht so alt zu sein schien, wie Christina auf den ersten Blick gedacht hatte. Sie wirkte nur aufgrund ihrer Kleidung – einem abgetragenen geblümten Kleid, über das sie eine Schürze gebunden hatte, und einem Tuch, das ihre Haare zurückhielt – älter. Die Frau hatte die Hand vor den Mund geschlagen und betrachtete Christina von oben bis unten. Offenbar auf der Suche nach familiären Gemeinsamkeiten.

Weil sie nicht recht wusste, wie sie reagieren sollte, fügte Christina noch an: »Ich komme aus Deutschland.«

»Ich wusste nicht, dass Sie herkommen«, sagte die andere, nachdem sie den ersten Schock überwunden hatte.

Und ich wusste nicht, dass Sie mich erwarten, dachte Christina.

»Ihr Vater ist gestorben«, erklärte die Unbekannte und bekreuzigte sich.

Automatisch wiederholte Christina die Geste. »Ich weiß.«

»Madonna mia, Sie wollten sicher zur Beerdigung kommen, wir hätten uns bei Ihnen melden müssen. Es tut mir leid, aber ich hatte keine Adresse. Mi dispiace tanto.« Die Frau wischte sich die Finger an der Schürze ab und griff dann mit beiden Händen nach Christinas. »Le mie condoglianze. Es tut mir so leid.«

Christina hatte das Gefühl, etwas zur Beschwichtigung sagen zu müssen. »Ich kannte meinen Vater kaum. Wir standen uns nicht besonders nahe.«

»Ich weiß«, sagte die andere – zu Christinas Erstaunen. Dann stutzte sie und es schien ihr erst aufzugehen, dass Christina nicht wissen konnte, wen sie vor sich hatte. »Oh, perdono. Ich habe mich überhaupt nicht vorgestellt. Mein Name ist Teresa Montesino. Ich habe für Ihren Vater gearbeitet, also ich ... ich kümmere mich immer noch um das Haus.«

Diese Information ließ Christina die Hände der Frau mit etwas mehr Enthusiasmus schütteln. Zumindest bedeutete das wohl, dass sie sich nicht verfahren hatte.

»Und wo ist das Haus?«, fragte sie.

Teresa drehte sich um und wies die holprige Strecke an der Häusergruppe vorbei, weiter bergan. »Là, da oben. Es ist nicht mehr weit. Soll ich es Ihnen zeigen?«

»Grazie«, entgegnete Christina. »Aber dann werde ich es schon finden.« Sie wollte lieber erst einmal allein in Augenschein nehmen, was ihr Vater ihr da hinterlassen hatte.

Sie verabschiedete sich von Teresa und stieg wieder in ihr Auto.

Christina erreichte eine Anhöhe, auf der zwischen den Olivenbäumen ein Haus am Hang stand. Eine gekieste Zufahrt führte zu einer Art Vorplatz, dort stellte sie das Auto ab.

Der Ausblick von hier oben war spektakulär: sanfte Hügel mit langen Reihen von Weinstöcken oder Olivenbäumen so weit das Auge reichte, nur hin und wieder unterbrochen von einzelnen Gehöften und ein paar Zypressen.

Unterhalb des Vorplatzes, auf dem Christina angekommen war, erstreckte sich über mehrere Terrassen der Garten, der zum Haus gehörte. Ein Nutzgarten mit Gemüsebeeten, ein alter gemauerter Pool, dessen Wasser in der Sonne glitzerte, und eine gepflasterte Fläche mit Liegestühlen drumherum.

Ein mittelgroßer, schlanker Hund kam bellend um das Haus herumgeschossen. Christina wich erschrocken einen Schritt zurück. Doch nachdem er sie kurz beschnüffelt hatte, befand er sie offenbar seiner Wachhund-Fähigkeiten für nicht würdig und trollte sich wieder in den Schatten einer ausladenden Platane.

Christina suchte nach Indizien, dass sie wirklich am richtigen Ort war. Und sie wurde schnell fündig: Über dem Eingang hing ein verblichenes Schild mit der Aufschrift: Fattoria La Macina.

Unschlüssig näherte sie sich der Tür und kramte in ihrer Tasche. Das Notariat hatte ihr einen Zweitschlüssel geschickt, als sie ihr Kommen angekündigt hatte. Die weiteren Modalitäten der Erbschaft wollte der Notar mit ihr vor Ort klären.

Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Christina betrat eine kleine Halle und stand bereits einen Schritt weiter einem jungen Mann gegenüber. Der Empfang war nicht direkt freundlich: Er trug nur Boxershorts und hielt eine gusseiserne Bratpfanne, zur Waffe umfunktioniert, drohend über dem Kopf.

Christina sprang erschrocken rückwärts und hob zum Schutz ihre Hände vors Gesicht. »Woah, woah, woah! Nimm das Ding runter!«, rief sie auf Deutsch.

Bei näherer Betrachtung wirkte er nicht sehr bedrohlich, er war kaum größer als sie, sein nackter Oberkörper war wenig muskulös, und sein Gesicht wirkte fast jungenhaft.

»Tu chi sei?«, schleuderte er ihr entgegen.

»Ich bin ...«, begann Christina, dann unterbrach sie sich selbst. »Moment mal. Wieso eigentlich ich? Die Frage ist doch viel mehr: Wer bist du?«

»Und wieso hast du einen Schlüssel?«, fuhr der junge Mann verwirrt fort.

»Um damit die Tür aufzusperren«, erläuterte Christina. »Das tut man üblicherweise mit Schlüsseln. Gegenfrage: Wieso hast du eine Bratpfanne in der Hand?«

Er blickte an seinem Arm hinauf und betrachtete die Pfanne, als sähe er sie gerade das erste Mal. »Ich habe Geräusche gehört ...« Dann sah er sie wieder direkt an, und eine Erkenntnis machte sich auf seinem Gesicht breit, jedoch keine Begeisterung. »Du musst ... Christina sein.«

»Ja, dann hätten wir das auch geklärt. Und wer bist du?«

»Gianmarco Rosario«, sagte der junge Mann und streckte ihr die Hand mit der Bratpfanne entgegen.

Christina nutzte die Gelegenheit, um sie ihm aus den Fingern zu ziehen, bevor er sie doch noch zur Waffe gegen sie gebrauchte. »Angenehm«, sagte sie, doch ihre Stimme strafte die Phrase Lügen. »Darf ich fragen, was du in meinem Haus tust?«

»Das ist nicht dein Haus«, korrigierte Gianmarco sofort. »Allenfalls gehört dir ein Teil davon.«

»Va bene«, stimmte Christina zu. »Bevor wir klären, ob du dich in meinem Teil aufhältst, hättest du vielleicht die Güte, mir zu erklären, warum du überhaupt halb nackt hier herumläufst?«

»Weil ich hier wohne.«

»Aha.« Christina kam sich reichlich dumm vor. Sie hatte keine Ahnung gehabt, was sie erwartete. Irgendwie war sie davon ausgegangen, den Hof verlassen vorzufinden und sich darin so lange häuslich einrichten zu können, wie sie eben benötigte, um alle Angelegenheiten rund um die Erbschaft zu klären. Auf die Idee, dass der Hof bewirtschaftet und die Angestellten ihres Vaters nach wie vor da sein könnten, war sie überhaupt nicht gekommen.

»Bist du heute aus Deutschland angereist?«, fragte Gianmarco.

Offensichtlich waren hier alle besser im Bilde als sie selbst. Christina nickte.

»Hast du Hunger?«

Sie nickte wieder. Jetzt erst wurde ihr bewusst, dass sie fast die ganze Strecke durchgefahren war. Sie hatte Hunger, Durst, das Bedürfnis nach einer Toilette, und außerdem war sie hundemüde. Um möglichst dem Verkehr auszuweichen, war sie die Nacht durchgefahren, mit kurzen Unterbrechungen auf der Höhe von München, an der österreichischen und der italienischen Grenze sowie in Bozen, wo sie gefrühstückt hatte.

Gianmarco nahm ihr die Pfanne wieder aus der Hand und ging voran in den rückwärtigen Teil des Gebäudes. Christina folgte ihm, bemüht, nicht auf seinen Hintern in den Boxershorts zu starren. Dass er fast nackt war, schien ihn nicht weiter zu stören.

Er führte sie in eine geräumige Küche. Dort stellte er die Pfanne auf den Gasherd und drehte das Gas auf. Mit einem Klicken und einem Zündholz entzündete er die Flamme.

Nachdem er ein Stück Butter in die Pfanne gegeben hatte, schnitt er mit routinierten Griffen Zucchini und Tomaten klein.

»Magst du Knoblauch?«, fragte er Christina.

Sie nickte.

Daraufhin riss Gianmarco eine Knolle von einem von der Decke hängenden Zopf, puhlte die Zehen heraus und schnitt zwei davon klein. Dann ließ er alles von einem Holzbrett in die zerlaufene Butter gleiten.

Christina wusste nichts Besseres zu tun, als ihm dabei zuzusehen. Es wirkte auf sie, als kochte er nicht nur häufiger, sondern auch professionell. Überhaupt sah die Küche nicht so aus, als ob hier nur für einen alten und inzwischen verstorbenen Mann gekocht worden wäre.

»Arbeiten noch mehr Leute hier?«, fragte Christina zur Sicherheit.

»Ich wohne hier«, sagte Gianmarco. »Eine Frau kommt hierher, um zu putzen, die Zimmer herzurichten und was eben sonst so anfällt; sie wohnt im Dorf.«

Christina verschwieg, dass sie Teresa bereits begegnet war. Sie ließ ihren Blick über die rustikale Kücheneinrichtung schweifen.

Frisches Gemüse stand bereit, neben dem Knoblauch hingen Zweige verschiedener Kräuter, und in unterschiedlich großen Porzellangefäßen, die auf dunklen Regalbrettern aufgereiht standen, befanden sich der Aufschrift nach Mehl, Zucker, Salz und verschiedene andere Lebensmittel.

Gianmarco verschwand durch eine Tür und kam mit einer Handvoll Eier zurück. Er schlug sie auf und ließ das Innere in eine Schüssel gleiten. Inzwischen erfüllte der Duft von Knoblauch, Zucchini und Tomaten die Küche, und Christinas Magen zog sich hungrig zusammen.

»Im Moment haben wir nur einen Pensionsgast«, fuhr Gianmarco fort. »Agata Gazzolo ist Stammgast hier, sie verbringt fast den gesamten Sommer bei uns. Deshalb haben wir sie auch nicht weggeschickt, als Fabrizio gestorben ist. Sie kannte ihn seit vielen Jahren und hat uns mit der Beerdigung geholfen.«

Dass es auf dem Hof auch einige Pensionszimmer gab, hatte Christina der Auflistung durch die Kanzlei entnommen. Damit, dass diese belegt sein könnten, hatte sie nicht gerechnet. Offenbar lief hier alles einfach so weiter, als wäre ihr Vater immer noch unter den Lebenden.

Christina fühlte sich unwohl. Was wollte sie hier eigentlich? Sie hatte gleich das Gefühl gehabt, dass sie nicht hierherkommen sollte. Hätte sie nur auf ihre Intuition gehört.

Gewartet hatte man hier sicherlich nicht auf sie!

Wie auch? Ihr Vater war tot, und auch als er noch gelebt hatte, war es ihm vollkommen egal gewesen, dass er irgendwo in Deutschland noch eine Tochter hatte.

Mit diesen Leuten hatte sie erst recht nichts zu schaffen. Am besten wäre es, wenn sie gleich wieder abfuhr!

Zucchini-Ricotta-Frittata

Zutaten für 4 Personen

1 EL Butter

1 – 2 Knoblauchzehen

1 kleine Zucchini

1 Rispe Cocktailtomaten (ca. 8 – 10 Stück)

4 Eier

Sprudelwasser

Salz, Pfeffer, Basilikum

125 g Ricotta

Zubereitung

Die Butter in einer Pfanne schmelzen lassen, darin den geschälten und gehackten Knoblauch anbraten. Zucchini und Tomaten, in kleine Würfel geschnitten, zugeben und 3 – 4 Minuten von allen Seiten anbraten.

Die Eier in einer Schüssel gut verquirlen, Sprudelwasser, Salz, Pfeffer und Basilikum zugeben. Dann die Eimasse über die Zucchini- und Tomatenwürfel in die Pfanne geben. Obenauf den Ricotta streuen.

Zugedeckt für ca. 10 Minuten bei mittlerer Hitze stocken lassen.

Die Frittata ist fertig, wenn die oberste Schicht gerade so gestockt ist. Sie kann wie eine Pizza in Stücke geschnitten und serviert werden.

Emilia

La Spezia, Mai 1938

Emilia stand vor dem großen Stadthaus mit der strahlend weißen Fassade und sah zu den stuckumrahmten Fensterreihen hinauf. Immer noch konnte sie nicht fassen, dass es so große Häuser gab, mit so vielen Zimmern, für nur eine einzige Familie. Wo sie herkam, lebten die Menschen auf viel weniger Raum. Ein eigenes Zimmer hatte Emilia nie besessen, aber auch nie vermisst. Mit den Geschwistern in einem Bett, unter die Decke gekuschelt, leise kichernd, wenn die Mutter das Licht schon gelöscht hatte, das waren die Erinnerungen, die sie in den einsamen Nächten in der kleinen Kammer unter dem Dach des weißen Hauses am Hafen von La Spezia nicht hatten verzweifeln lassen. Ihre Eltern, die Geschwister, das Leben auf dem Land, das sie gekannt hatte, war jäh abgelöst worden von dieser Stadt, die so groß und so laut und so undurchdringlich schien.

Emilia unterbrach ihre Gedankenreise und erinnerte sich daran, dass sie ja einen Auftrag bekommen hatte. Rasch verstärkte sie den Griff um den Henkel des Korbes. Unter einem karierten Tuch verbargen sich die Leckereien, die die Köchin des Hauses für den Hausherrn hergerichtet hatte. Heute verlangte der viel beschäftigte Reeder Vittorio Magnani, sein Mittagessen im Kontor einzunehmen. Emilia lief die herrschaftliche Straße weiter entlang. Ihr Arbeitgeber musste unvorstellbar reich sein. Davon konnte sich Emilia überzeugen, wenn sie am frühen Morgen durch die noch abgedunkelten Zimmer schlich und die Kamine auskehrte, um das Feuer darin zu entfachen. Es gehörte zu ihren täglichen Aufgaben, für Wärme in den Aufenthaltsräumen und Salons der Familie zu sorgen. Ansonsten hatte Emilia selten Gelegenheit, sich im Wohnbereich der Familie umzusehen. Ihr Radius beschränkte sich meist auf das Untergeschoss, wo sie den Angestellten in der Küche und bei der Wäsche zur Hand ging, und auf die langen Stiegen zum Dachgeschoss, wo die Wäsche zum Trocknen aufgehängt wurde und die Kammern der Dienerschaft lagen.

Emilia durchquerte den Giardini Pubblici und erreichte den Hafen. Unwillkürlich stellte sich ein nervöses Kribbeln in ihrer Magengegend ein. Vielleicht hatte sie nicht ausreichend gefrühstückt? Sie hatte einfach nichts herunterbekommen, hatte ja gewusst, wohin sie heute Morgen gehen würde. Sie verstärkte den Griff um den Korbhenkel, um das Zittern ihrer Hände zu kontrollieren.

Schon seit einer Weile beobachtete Emilia, wenn sie zum Kontor geschickt wurde, unterwegs die vielen Soldaten. Es schien, als habe der Duce jeden jungen Mann Italiens nach La Spezia befohlen, um dort die Flotte seetauglich zu machen. Die jungen Männer standen am Kai herum oder marschierten in kleinen Gruppen über die Promenade. Die mächtigen grauen Kriegsschiffe dominierten die Piers im Westen, wo das Arsenale Militare Marittimo von La Spezia lag. Die Handelsschiffe, die Waren aus der ganzen Welt lieferten und in der Stadt unters Volk brachten, lagen im Osten der Bucht vor Anker. Davon lebte der Herr, dem sie diente. Aber die Marine nahm stetig mehr Platz ein. Seit der Machtübernahme durch Mussolini schossen die militärischen Prachtbauten nur so aus dem Boden – wie der beeindruckende Palazzo delle Poste an der Via Vittorio Veneto, an dem ihr Weg sie auch vorbeiführte. Emilia interessierte sich aber gar nicht so sehr für die militärische Seefahrt, sondern, auch wenn sie sich das selbst nicht eingestehen wollte, hauptsächlich für einen gewissen jungen Mann, der ihr in seiner Uniform sofort ins Auge gefallen war.

Es war nicht die schneidige Uniform und der kampflustige Ausdruck auf seinem Gesicht, die Emilias Hände unkontrollierbar zittern ließen, wenn sie zum Hafen hin abbog. Er war ihr aufgefallen, weil er gerade nicht militärisch und hartgesotten aussah wie die meisten seiner Kameraden. Sein Gesicht war weich und freundlich, die Züge eher feminin und zart. Er trug die Uniform nicht, viel mehr trug sie ihn, als wäre er nur versehentlich dort hineingeraten. An seinem schmächtigen Körper hing sie unförmig herunter. Er musste noch sehr jung sein, vielleicht nur ein wenig älter als Emilia mit ihren sechzehn Jahren. Auf jeden Fall zu jung, um ein Soldat zu sein. Und er hatte so verloren ausgesehen, dass es Emilias Herz auf den ersten Blick berührt hatte. Genauso fühlte sie sich auch!

Verloren und vergessen in dieser riesengroßen Stadt mit den gewaltigen Häusern und dem Gewirr aus Gassen und Straßen, in dem man sich hoffnungslos verlaufen konnte. Von fremden Dienstherren zu Aufgaben verpflichtet, denen sie sich nicht gewachsen sah. Botengänge zum Beispiel. Den Weg zum Hafen kannte sie inzwischen und konnte ihn gehen, ohne Angst haben zu müssen, nicht mehr zurückzufinden. Aber andere Wege machten ihr noch immer Herzrasen und ließen den Angstschweiß aus jeder Pore treten. In dem Dorf, in dem sie aufgewachsen war, kannte man sich. Jeder war mit jedem bekannt und oft sogar verwandt. Man konnte jeden nach dem Weg fragen, wenn man sich nicht auskannte. Aber das passierte nie, weil es gar nicht so viele Straßen gab, auf denen man sich hätte verirren können. Wohin hätte man auch gehen sollen? Zum Nachbarn vielleicht. In die Kapelle natürlich, am Sonntag. Sonst hatte es kaum Anlässe gegeben, irgendwohin zu gehen. Aber in dieser Stadt und im Dienste dieser Leute gab es ständig solche Anlässe.

Und genauso hilflos hatte der junge Soldat gewirkt. Eine warme Welle des Mitgefühls war über Emilia hereingebrochen, und sofort hatte sie sich weniger allein gefühlt.

Von da an hatte sie jedes Mal Ausschau gehalten nach dem fremden jungen Mann, dem sie in der Seele so verwandt zu sein schien. Sie hatte angefangen, die Tage danach zu bemessen, ob sie ihn sah oder nicht. Fand sie seine ungelenke Gestalt auf einem der Piers oder an der Kaimauer lehnen, versprach der Tag, ein guter zu werden. Traurige Tage verhieß es, wenn ihre Augen ihn nicht fanden.

Obwohl sie sich sicher gewesen war, dass sie nicht auffällig gestarrt oder etwas anderes Unangemessenes getan hatte, war sie offenbar auch ihm aufgefallen. Es musste die besagte Seelenverwandtschaft sein, die ihn genauso nach ihr hatte schauen lassen wie sie nach ihm. Das erste Mal, als sich ihre Blicke kreuzten, war es Emilia, als würde ein Blitz sie durchzucken. Für einen Augenblick stockte ihr der Atem, und sie fürchtete schon, ohnmächtig zu werden. Beim nächsten Mal lächelte er. Es war ein eher trüber Tag, aber durch das Lächeln ging für Emilia kurzzeitig die Sonne auf. Bevor sie sich überhaupt dessen bewusst war, lächelte sie zurück. Die Tollkühnheit dieser Tat ließ sie den ganzen restlichen Tag ein kleines Stückchen über dem Boden schweben.

Und so kam es, dass er sich bei ihrem nächsten Besuch am Hafen aus dem Schatten der Kaimauer löste und ein paar Schritte auf sie zuging. Fast einem Herzstillstand nahe befürchtete Emilia, er wolle sie ansprechen. Doch mehr als ein leises »Ciao« brachte er nicht heraus. Seine Stimme hatte so krächzend geklungen, dass Emilia ihm vor lauter Mitgefühl gleich noch ein Lächeln geschenkt hatte.

So weit der Stand ihrer Romanze.

Emilia kam sich bereits jetzt sehr kühn vor. Die Frage, ob sie ihr ungebührliches Verhalten dem Herrn Pfarrer beichten musste, quälte sie schon seit dem Tag, als der Soldat ihr zugelächelt hatte. Gleichzeitig sagte sie sich, dass ja nichts geschehen sei, da sie nicht miteinander gesprochen hätten.

Emilia dachte an ihre Mutter, die sie vor ihrer Abreise ermahnt hatte, stets gottesfürchtig, keusch und tugendhaft zu sein. In der großen Stadt, da war ihre Mutter sicher gewesen, gäbe es für ein junges Mädchen viele Gefahren und Bedrohungen. Die schlimmste von allen war, dass sie zur Hure wurde.

Doch Emilia schob diese Gedanken rasch beiseite und streckte den Hals, um besser sehen zu können. Sie ging extra langsam. Ihre Augen gegen die Sonne zusammengekniffen, suchte sie die Reihen der vertäuten Schiffe ab. An einer Stelle der Uferpromenade, wo sie besonders gut zu den Kriegsschiffen hinüberschauen und die geschäftig herumwuselnden Soldaten beobachten konnte, blieb Emilia stehen. Wie mochte es wohl sein, wenn man mit so einem Koloss aufs Meer hinausfuhr?

»He!«

Jemand rempelte Emilia von hinten an. Die laute Stimme ließ sie zusammenzucken.

»Steh hier nicht rum und halte Maulaffen feil!«

Beinahe hätte sie ihren Korb ausgeschüttet, als der ältere Soldat sie grob zur Seite schob und auf die Umgrenzung zustapfte, die den militärischen Bereich abschirmte. Es hatte keine Notwendigkeit bestanden, sie halb umzurennen, außer Emilia war weit und breit kein Hindernis auf seinem Weg. Trotzdem bedachte er sie noch mit einem bitterbösen Blick.

Emilia presste ihren Korb gegen die Brust und beeilte sich, den Kai entlang und zu den Lagerhäusern zu laufen. Den Blick noch einmal schweifen zu lassen, um nach dem Ersehnten Ausschau zu halten, wagte sie nicht.

Im Kontor erwartete sie einer der Laufburschen. »Du bist spät dran«, schalt er sie gleich aus. Er griff nach dem Korb.

Widerstrebend ließ Emilia den Henkel los.

»Nächstes Mal beeilst du dich mehr«, herrschte der Bursche sie an. Er war auch nicht viel älter als sie, und Emilia war überzeugt, dass er es sonst war, der die Schelte abbekam. Nur ihr gegenüber wagte er, sich aufzuspielen.

»Ich habe auch nur zwei Beine«, begehrte sie auf, jedoch so leise, dass sie hoffte, er würde es nicht hören.

»Ich werde dir gleich Beine machen«, schimpfte der Bursche. »Jetzt scher dich hier weg. Wir haben zu arbeiten. Die Köchin wird schon den Rohrstock gegen dich benutzen, wenn sich der Herr bei ihr beklagt, dass sein Essen kalt ankam.«

Die Erwähnung der Köchin und des Stockes, dessen sie sich bedienen würde, ließ Emilia rasch den Kopf einziehen. Es war bisher noch nicht oft vorgekommen, dass sie den Stock zu spüren bekommen hatte, aber die wenigen Male hatten sie gelehrt, es nicht darauf ankommen zu lassen.

Die Schuld daran, dass alles kalt geworden war, wollte der Bursche offensichtlich auch nicht auf sich nehmen, weshalb er Emilia ohne ein weiteres Wort stehen ließ und im Inneren des Lagerhauses, über dem sich das Kontor befand, verschwand.

Emilia lief den Weg zurück, den sie gekommen war. Alsbald fand sie sich auf der breiten Prachtstraße Viale Italia wieder. Zwischen den schicken Stadthäusern mit ihren reich verzierten Fassaden und der breiten, geraden Straße verlief ein bepflanztes Areal mit blühenden Beeten und hohen Palmen, deren Wedel im lauen Wind raschelten. Feine Damen in schicken Kleidern mit Hüten in der Größe von Wagenrädern flanierten dazwischen herum.

Emilia durchquerte die Parkanlage, an deren Ende die nüchternen Fassaden der militärischen Gebäude aufragten. Sofort stellte sich das Kribbeln in Emilias Magengegend wieder ein. Noch hatte der Tag alle Chancen, ein guter zu werden.

»Ciao, bella.«

Emilia zuckte zusammen und zog unwillkürlich den Kopf tiefer zwischen die Schultern. Unter den dunklen Locken, die ihr vom Laufen verschwitzt ins Gesicht hingen, schielte sie vorsichtig hervor zu dem jungen Mann, der sie mitten auf offener Straße so frech angesprochen hatte.

Drei junge Männer in Zivil standen beisammen, rauchten Zigaretten und starrten zu ihr herüber. Einer davon war – Emilia stand wir vom Donner gerührt da – ihr heimlicher Schwarm.

Angesprochen hatte sie aber ein anderer, nicht der Erhoffte. Natürlich nicht.

Er hatte auch nicht ausgesehen wie einer, der wildfremde Mädchen auf der Straße einfach so in ein Gespräch verwickelte. Der hier schien noch nicht einmal Scham dabei zu empfinden. Er lehnte lässig im Schatten der grauen Mauer, die den Militärhafen vor unbefugten Blicken abschirmte. Er trug einen Anzug mit passender Krawatte, außerdem einen Hut, schräg ins Gesicht gezogen, und hatte eine Zigarette im Mundwinkel. Emilia überlegte, dass sie besser die Straßenseite wechseln und schnell machen sollte, dass sie nach Hause kam. Sicher wartete die Köchin bereits auf sie.

»Wohin so eilig?«, fragte der Fremde ungeniert.

Die beiden anderen sahen sie erwartungsvoll an. Es war vermutlich wie bei Kettenhunden, man durfte ihnen die Angst nicht zeigen, wenn sie wild bellend auf einen zugeschossen kamen. Emilia konnte mit Hunden umgehen, das hatte sie im Dorf gelernt. Mit Menschen hingegen mangelte es ihr an Erfahrung.

Trotzdem straffte sie die Schultern und erwiderte so laut, wie sie es wagte: »Geht's dich was an?«

Die Lippen, die die Zigarette hielten, verzogen sich zu einem Grinsen. »Nee«, sagte er.