Die kleine Parfüm-Manufaktur in der Provence - Angelina Bach - E-Book

Die kleine Parfüm-Manufaktur in der Provence E-Book

Angelina Bach

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Beschreibung

Inmitten herrlich duftender Lavendelfelder betreibt Marielles Familie eine kleine Parfüm-Manufaktur. Als ihr Vater plötzlich erkrankt, steigt Marielle früher als geplant in den Betrieb ein. Sie hat auch schon viele Ideen, wie sie der Manufaktur neuen Glanz verleihen kann. Allerdings erhält ihre Euphorie einen gewaltigen Dämpfer, als sie auf den Assistenten ihres Vaters trifft: Bastien genießt dessen volles Vertrauen - und das reibt er Marielle nur allzu gern unter die Nase. Wie soll sie mit diesem unverschämten Kerl bloß zusammenarbeiten?

Als Marielle herausfindet, wie schlimm es um die Manufaktur wirklich steht, muss sie ihre Abneigung gegenüber Bastien wohl oder übel ablegen. Nur wenn sie mit ihm gemeinsam an einem Strang zieht, kann sie den Familienbetrieb noch retten. Doch die Gefühle, die Marielle plötzlich empfindet, sind dabei nicht gerade hilfreich ...

Lass dich von diesem romantischen Sommerroman verzaubern - rieche den Duft der Lavendelfelder, spüre die Sonne auf deiner Haut und sei dabei, wenn eine große Liebe entsteht.

Alle Geschichten dieser Reihe zaubern dir den Sommer ins Herz und bringen dir den Urlaub nach Hause. Die Romane sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Nachwort & Danksagung

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Inmitten herrlich duftender Lavendelfelder betreibt Marielles Familie eine kleine Parfüm-Manufaktur. Als ihr Vater plötzlich erkrankt, bricht sie ihren Auslandsaufenthalt ab, um früher als geplant in den Betrieb miteinzusteigen. Doch Marielle ist voller Tatendrang und hat viele Ideen, wie sie der Manufaktur neuen Glanz verleihen kann.

Ihre Euphorie bekommt allerdings einen gewaltigen Dämpfer, als sie auf Bastien, den Assistenten ihres Vaters, trifft. Während ihrer Abwesenheit hat er sich unersetzbar gemacht und genießt das volle Vertrauen ihres Vaters. Und das reibt Bastien Marielle nur allzu gern bei jeder Gelegenheit unter die Nase. Wie soll sie nur mit diesem unverschämten Kerl zusammenarbeiten?

Doch nicht nur das: Marielle findet heraus, wie es um die Manufaktur wirklich steht. Wohl oder übel muss sie ihre Abneigung gegenüber Bastien ablegen und mit ihm an einem Strang ziehen, um den Familienbetrieb zu retten. Die Gefühle, die Marielle plötzlich empfindet, sind dabei nicht gerade hilfreich ...

Angelina Bach

Für Lucia,

die vorangegangene Bücher berührt haben,

in der Hoffnung, dass es dieses auch vermag,

und für Herbert,

durch den mein Gérard inspiriert wurde

und der mir als Ratgeber und auch sonst unverzichtbar geworden ist.

Kapitel 1

»Da bist du ja! Marielle, ma petite, wie schön, dass du wieder da bist!«

Louise Caillou breitete die Arme aus und kam auf Marielle zu. Diese stellte den Koffer ab, den sie hinter sich hergezogen hatte, und umarmte die alte Frau. Seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, waren ihre Bewegungen noch einen Tick langsamer geworden und die Schultern, die Marielle jetzt unter ihren Händen spürte, waren zerbrechlicher geworden.

Früher war Louise ihr wie ein Fels in der Brandung vorgekommen: unerschütterlich, stark und allen Stürmen trotzend.

Louise schob Marielle ein Stück von sich, um sie besser in Augenschein nehmen zu können.

»Gut siehst du aus«, stellte sie zufrieden fest. »Ein wenig mager vielleicht. Aber nichts, was ein wenig gute Küche nicht wieder hinkriegen würde.«

Marielle lachte. »Untersteh dich! Mein Gewicht würde ich gern halten. Sonst kann der arme Filou mich irgendwann nicht mehr tragen. Wie geht's ihm überhaupt? Habt ihr ordentlich für ihn gesorgt?«

»Was denkst du wohl, ma petite?« Louise guckte streng, wie früher, wenn Marielle etwas ausgefressen hatte. »Natürlich haben wir uns um ihn gekümmert. Er steht gut im Futter und Léo hat ihn regelmäßig bewegt.«

Marielle brannte darauf, in den Stall hinauszulaufen und ihr Pferd zu besuchen, seit sie am Bahnhof von Grasse angekommen war. Louise erriet ihre Gedanken noch genauso gut wie früher, denn sie fügte rasch hinzu: »Untersteh dich! Erst die Menschen, dann die Tiere. Komm erst mal herein.«

Marielle nickte ergeben.

Es würde sich vermutlich nie etwas ändern. Wenn sie nach Hause kam, stand sie unter Louises Fuchtel. Sie führte das ganze Haus mit strenger Hand und hielt alles zusammen. Wie sollte das jemals werden, wenn Louise nicht mehr ...

Marielle verbot sich, den Gedanken zu Ende zu denken. Es war undenkbar. Louise war ihr Leben lang da gewesen.

Jetzt griffen die runzeligen Hände, die von einem arbeitsreichen Leben zeugten, nach dem Griff des Koffers. Marielle wollte ihn ihr aus der Hand nehmen, doch Louise ließ es nicht zu. »Ich werde doch einen kleinen Koffer ziehen können«, schimpfte sie.

»Aber du musst doch nicht ...«

Louise ließ den Koffer los, allerdings nur, um die Hände empört in die Hüften stemmen zu können. »Willst du sagen, dass ich langsam gebrechlich werde?«

Die Vorstellung missfiel Louise offenbar ebenso sehr wie Marielle. Deshalb schüttelte diese den Kopf. »Nein, du doch nicht, Maman Lou.«

»Eben.«

Mit gestrafftem Rücken, aber trotzdem wackeligem Gang strebte Louise mit Marielles Koffer der Hintertür zu, aus der sie beim Erblicken des Taxis gekommen war. Marielle folgte ihr langsam.

Sie ließ den Blick an der Fassade hinaufgleiten. Wilder Wein wucherte an den alten ergrauten Steinen hinauf und hing in Kaskaden von den Simsen und Ecken. Im zweiten Stock hatte ein Fenster einen hässlichen Riss in der Scheibe. Marielle überlegte. Es musste das Fenster zum Abstellraum sein. Das Vordach über dem Hintereingang hatte Moos angesetzt.

Schon als das Taxi auf die Zufahrt eingebogen und Marielles Elternhaus am Ende der alten Allee ins Blickfeld gekommen war, hatte sie es bemerkt: Mit dem Haus verhielt es sich wie mit Louise. Dass sie beide da blieben und auf sie warten würden, war für Marielle so selbstverständlich gewesen, dass sie nie darüber nachgedacht hatte, dass auch in Grasse die Zeit nicht stehen blieb. Sie hatte sich so sehr auf ihr Studium und ihr eigenes Leben fixiert, dass ihr gar nicht in den Sinn gekommen war, dass man sie vielleicht vermisste. Und wenn sie nicht aufpasste, dann würde es das alles hier vielleicht irgendwann nicht mehr geben und sie hätte die letzte Gelegenheit versäumt.

»Nun komm doch schon!« Louise hielt Marielle die Tür auf und winkte sie ungeduldig heran. Marielle hatte gar nicht bemerkt, dass sie stehen geblieben war. »Was schaust du den alten Kasten an, als sähest du ihn zum ersten Mal? Die Fassade sieht furchtbar aus! Schau lieber nicht zu genau hin.«

Marielle riss sich von der Betrachtung los und folgte Louise ins Haus.

Sie betraten das Gebäude durch den Eingang, der in früherer Zeit den Dienstboten vorbehalten gewesen war, nicht von vorn durch den breiten Aufgang und die schwere Eichentür, die in die Eingangshalle führte. Hier stand man direkt in der Küche.

Louises Reich war eine Mischung aus Tradition und Fortschritt. Ein wenig so, wie Louise selbst. Die weiß getünchten Wände, die kleinen schwarz-weißen Kacheln an der Wand, die hohen dunklen Möbel voller Geschirr und die Säulen, die das Gewölbe hielten und den großen Raum in einzelne Bereiche unterteilten, waren noch original aus dem 17. Jahrhundert. Der Elektroherd, das moderne Backrohr mit integriertem Dämpfer und verschiedene elektrische Küchengerätschaften zeugten hingegen davon, dass Louises Kochkunst in der heutigen Zeit angekommen war. Sie stellte den Koffer ab und holte den Teekessel vom Herd. Auf der Anrichte wartete bereits ein Tablett, das sie mit Tassen, Tellern und einem Kuchen bestückt hatte.

»Ich dachte, ich ziehe mich wenigstens erst um«, warf Marielle ein.

Louise drehte sich zu ihr um und prüfte ihre Erscheinung mit einem eingehenden Blick. »Das wird nicht nötig sein. Deine Maman liegt seit drei Tagen im Bett und kommt nicht herunter und der Herr Patron ist noch in der Fabrik. Er kommt aber sicher gleich.«

Marielle nickte. Also alles wie immer. Ihr Vater vergrub sich in der Arbeit und ihre Mutter versteckte sich hinter ihrer Migräne.

»Wie geht es ihm denn?«, wollte sie trotzdem von Louise wissen.

»Er tut so, als gehe es ihm gut, und wir anderen machen das auch.« Ein Schatten huschte über Louises Gesicht. Einen winzigen Augenblick nur, dann hatte sie sich wieder im Griff, doch Marielle hatte ihn registriert.

»Was sagen die Ärzte?«

Louise zuckte die Schultern. »Das musst du deinen Vater selbst fragen. Er spricht nicht darüber und mit mir schon gar nicht.«

Marielle sparte sich den Hinweis, dass er sie wohl kaum zurückbeordert hätte, wenn es tatsächlich alles so harmlos wäre. Sie würde mit ihm selbst sprechen und hören, was er ihr zu sagen hatte.

Wenig später war Raphaël de Montaux zurück und begrüßte seine Tochter auf der Terrasse in der Sonne. Louise hatte den Tisch gedeckt und den frisch gebackenen Kuchen aufgeschnitten.

»Meine liebe Marielle, darf ich dir gleich Bastien Darrieux vorstellen? Ihr kennt euch noch nicht. Bastien ist seit Kurzem mein Assistent, er stammt aus Genf und ist ein sehr fähiger Biochemiker. Bastien, das ist meine Tochter Marielle.«

Der junge Mann, den ihr Vater zu ihrer Begrüßung mitgebracht hatte, war vielleicht fünf oder sechs Jahre älter als Marielle. Er trug einen kompletten Anzug, das Sakko über dem Arm, modische Krawatte und mit einem eng anliegenden Hemd darunter, das Muskeln erahnen ließ. Attraktiv war er mit seinem locker nach hinten geföhnten, halblangen Haar, dem nachlässigen Dreitagebart und den tiefbraunen Augen. Vielleicht einen Tick zu attraktiv. Die Sorte Mann, die sich ihrer Attraktivität durchaus bewusst war und sich etwas darauf einbildete.

Er gab Marielle die Hand. Ein fester Händedruck und ein unverbindliches Lächeln dazu. Trotzdem hatte Marielle vom ersten Moment an das Gefühl, dass Bastien Darrieux sie nicht ausstehen konnte.

»Sehr erfreut«, sagte er, als wollte er ihr Gefühl Lügen strafen.

»Freut mich auch«, beeilte Marielle sich zu erwidern. Warum nur hatte sie das Gefühl, dass er jede noch so kleine Geste von ihr genauestens beobachtete? Automatisch fühlte sie sich unwohl, als befände sie sich in einer Prüfung. Dabei war er es, der bei seinem Chef zum Tee eingeladen worden war. Sie hingegen war hier zu Hause.

»Warum setzen wir uns nicht?«, fragte Bastien prompt ganz so, als wäre es umgekehrt.

»Sie haben völlig recht«, bestätigte ihr Vater. »Im Sitzen redet es sich leichter.«

Das Gefühl, dass hier die Rollen irgendwie vertauscht worden waren, verstärkte sich. Was wollte ihr Vater besprechen, wofür er seinen Assistenten hinzugebeten hatte?

Sie nahmen auf der mit unterschiedlich großen Steinplatten belegten Terrasse unter einem strahlend gelben Sonnenschirm Platz. Es war schon nach sechzehn Uhr, aber immer noch heiß. Die grünen Fensterläden zur Südseite hinaus, deren Farbe bei näherer Betrachtung an vielen Stellen abblätterte, waren alle geschlossen. Hinter einem dieser Fenster ruhte Marielles Mutter Camille. Louise hatte ihr Tee ans Bett gebracht und sie darüber informiert, dass Marielle eingetroffen war. Doch Camille de Montaux hatte mitteilen lassen, dass sie sich nicht in der Lage fühle, ihre Tochter zu begrüßen.

Marielle war ein wenig enttäuscht. Obwohl sie insgeheim nichts anderes erwartet hatte, verletzte es sie. Die Migräne ihrer Mutter hatte ihre halbe Kindheit geprägt. Wann immer es auch nur einen Hauch Probleme am Horizont gegeben hatte, flüchtete Camille sich in ihre Krankheit. Damit ging sie jedem Konflikt aus dem Weg, jeder unangenehmen Situation, jeder Form von Anstrengung. Schon immer.

Hätte es Louise nicht gegeben in Marielles Leben ...

Marielle seufzte unwillkürlich.

»... denkst du nicht auch?« Raphaël sah Marielle erwartungsvoll an.

Da erst wurde ihr bewusst, dass sie über die Gedanken zu ihrer Mutter gar nicht mehr zugehört hatte. »Was? Oh ...«

»Ich sagte: Du freust dich sicher, wenn Bastien dich ein wenig unter seine Fittiche nimmt, damit du es leichter hast bei deinem Einstieg in die Manufaktur«, wiederholte ihr Vater ungeduldig.

Bastien lächelte huldvoll, doch Marielle konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er sich einige Dinge vorstellen konnte, die er lieber getan hätte, als Marielle in die Manufaktur einzuführen.

Was hat er gegen mich?, überlegte Marielle. Oder bildete sie sich das nur ein?

Sie musste sich jetzt auf das Gespräch konzentrieren. Sonst bekam er noch den Eindruck, dass sie ihre Sinne nicht alle beisammenhatte. Marielle straffte automatisch den Rücken.

»Ich denke, ich werde mich schnell wieder einfinden«, sagte sie zuversichtlich. »Immerhin bin ich hier aufgewachsen. Ich war schon im Labor dabei, da konnte ich noch nicht einmal aufschreiben, was ich dort gemacht habe!«

Ihr Vater lächelte nachsichtig. »Das stimmt. Marielle hat sich schon sehr früh für die Parfümherstellung interessiert. Darüber bin ich auch sehr froh. Wir dachten ja, dass uns noch mehr Kinder vergönnt sein würden, aber da meine Frau nie bei guter Gesundheit war ...«

»Dann sind Sie ein Einzelkind, Marielle?«, fragte Bastien, und es klang ein bisschen abfällig in Marielles Ohren.

»Ja, bin ich.«

»Die unangefochtene Prinzessin ...«

Nein, es war keine Einbildung. Er wirkte amüsiert, aber auf eine herablassende Art und Weise. Irgendetwas hatte diesen Bastien vom ersten Moment an gegen sie eingenommen, und er machte sich nicht einmal die Mühe, das vor ihrem Vater zu verbergen.

Er musste sich seiner Sache sehr sicher sein. Immerhin war er hier der Angestellte und sie war die Firmenerbin.

»Was haben Sie die letzten Jahre gemacht, wenn ich fragen darf? Sie waren im Ausland, richtig?« Bastien beugte sich nach vorn und nahm seine Teetasse hoch.

War sie jetzt bei einem Vorstellungsgespräch? Wollte er sie auf die Probe stellen?

»Das stimmt, ja. Ich habe Biochemie studiert und war auf dem renommierten Institute supérieur international du parfum, de la cosmétique et de l'aromatique alimentaire, kurz Isipca, in Versailles und danach bei verschiedenen Herstellern. Unter anderem in der Casa del Perfume Canario in Vegueta auf Gran Canaria und bei Pony-Hütchen in Berlin. Vor allem dort habe ich viel über Naturkosmetik und die Herstellung von Bio-Duftstoffen gelernt. Promoviert habe ich dann an der naturwissenschaftlichen Fakultät an der Universität von Kairo. Meine Dissertation beschäftigt sich mit der Rekonstruktion von altägyptischen Duftstoffen aus der Pharaonenzeit.« Marielle war durchaus stolz auf ihren Werdegang und fand, dass sie sich mit diesen Stationen im Lebenslauf vor keinem Parfümeur der Welt verstecken musste. Klar, sie war noch jung, gerade Ende zwanzig, aber die Erfahrung würde mit den Jahren von selbst kommen. Ihre Stärken waren ihre Begeisterungsfähigkeit, ihre Experimentierfreude und ihre Bereitschaft, immer etwas Neues zu lernen, das wusste sie. Und die Leidenschaft für das, was sie tat, hatte sie von ihrem Vater geerbt.

Bastien wirkte trotzdem wenig beeindruckt. »Altägyptische Duftstoffe ... Was muss ich mir darunter vorstellen?«, fragte er eher gelangweilt.

»Ägypten war in der Antike das Zentrum der Parfümherstellung, so wie Grasse es in der Neuzeit wurde«, erklärte Marielle, jetzt in einem ebenfalls herablassenden, leicht schnippischen Tonfall. »In der ägyptischen Gesellschaft spielten Gerüche eine ganz wichtige Rolle. Mit Düften wurden auch die hierarchischen Grenzen gezogen. Dem Pharao gebührte der beste Duft, diese Parfüms wurden aus geheimen und für die Ägypter heiligen Rezepten hergestellt. Sie galten als göttlich, genau wie die Pharaonen selbst. Den übelsten Geruch hatten die Fischer, die im schlammigen Nil und den Sümpfen arbeiteten und lebten. Deshalb wird die Hieroglyphe für Fisch gleichzeitig allgemein als Gestank verstanden.«

Marielle sprach eigentlich gern über ihre Forschung und die, wie sie fand, faszinierenden Erkenntnisse aus einer längst untergegangenen Epoche, die sie dadurch gewonnen hatte. Gewöhnlich erntete sie damit viel Interesse und Bewunderung. Bastien konnte sie auch damit nicht hinter dem Ofen hervorlocken.

»Das klingt alles ganz spannend«, sagte er, nur um dann einzuschränken: »Für einen Archäologen. Was genau die moderne Parfümherstellung davon haben soll, erschließt sich mir nicht. Aber es war sicherlich eine schöne Zeit für Sie in Kairo.«

Es klang, als habe sie dort teuren Urlaub gemacht, anstatt sich auf die Firmenübernahme vorzubereiten. Langsam stieg Wut in Marielle hoch.

Wer war denn dieser dahergelaufene Assistent? Wofür hielt er sich? Wollte er sie hier abkanzeln, dafür dass sie im Ausland gewesen war und über den Tellerrand geblickt hatte? Etwas, das ihm offenbar noch nie in den Sinn gekommen war.

Raphaël lächelte beschwichtigend. Er legte Bastien vertraulich die Hand auf den Arm, Marielle registrierte diese Geste sehr wohl.

»Meine Tochter experimentiert gern«, sagte ihr Vater, als wolle er sich für sie entschuldigen. »Das wird dem Unternehmen sicher irgendwann zugutekommen.«

Nun war Marielle endgültig verärgert. Nicht nur von Bastien und seinem großkotzigen Benehmen, sondern auch davon, dass ihr eigener Vater ihn noch in Schutz nahm.

Da hat er ja nun den Sohn gefunden, den er sich immer gewünscht hat, dachte sie bitter.

Sie hatte naiverweise angenommen, dass sie den Platz an der Seite ihres Vaters einnehmen und ihn unterstützen würde. Immerhin hatte er sie deswegen nach Hause geholt. Doch nun erkannte Marielle, dass diese Stelle bereits vergeben war. Was sollte sie dann hier?

Marielle hatte genug gehört. Sie hatte eine lange Reise hinter sich und keine Lust, sich weiter diesem seltsamen Vorstellungsgespräch zu stellen. Schon seit sie angekommen war, sehnte sie sich danach, in den Stall hinüberzugehen und ihrem Pferd Hallo zu sagen. Und genau das würde sie jetzt auch tun.

Geräuschvoll schob sie den Stuhl über die unebenen Steinplatten zurück und erhob sich. »Die Herren werden mich sicherlich entschuldigen, ich bin erschöpft von der langen Fahrt und ich möchte noch ausreiten.«

Bastien warf ihrem Vater einen fragenden Blick zu. »Ich habe Unterlagen mitgebracht, weil ich dachte ...«

Raphaël winkte ab. »Ist schon in Ordnung, Marielle. Geh zu deinem Pferd. Wir sehen die Unterlagen zusammen durch, Bastien.«

Marielle nickte dem Widerling knapp zu und ging ins Haus.

Sie hatte ihn auf seinen Platz verweisen und ihm demonstrieren wollen, dass sie zur Familie gehörte und hier zu Hause war, er aber nicht. Stattdessen fühlte sie sich jetzt wie ein Schulkind, das man nachsichtig von einer weiteren Stunde befreit hatte. Geh ruhig spielen, mein Kind, die Großen kümmern sich um die Geschäfte.

Auf dem Kiesweg zum lang gezogenen Stallgebäude verdrückte Marielle ein paar wütende Tränen. Sie hatte gewusst, dass es nicht einfach werden würde zurückzukommen, aber damit, dass es gleich am ersten Tag losgehen würde, schwierig zu werden, hatte sie nicht gerechnet.

Kapitel 2

Ein ausgiebiger Ritt über die Ländereien, die zu ihrem Elternhaus gehörten und darüber hinaus über die Felder, auf denen die Rohstoffe für ihre Parfüms blühten, allen voran der Lavendel in langen lila Reihen, brachte wieder ein wenig Klarheit in Marielles Gedanken.

Sie sollte sich von diesem Bastien nicht einschüchtern lassen. Noch wusste sie nicht, was ihr Vater plante. Genaugenommen wusste sie auch nicht, was überhaupt los war.

Als er sie angerufen und gebeten hatte, dass sie nach Hause zurückkehren sollte, hatte Raphaël sie darauf vorbereitet, dass es mit seiner Gesundheit nicht zum Besten stand. Was genau ihm fehlte und wie schlimm es war, das hatte er am Telefon nicht sagen wollen. Marielle ging nur durch die Tatsache, dass er ihr unmissverständlich gesagt hatte, sie solle sofort nach Hause kommen, davon aus, dass es keine Kleinigkeit sein konnte. Mehr hatte er auch auf ihre Nachfrage hin am Telefon nicht sagen wollen.

Das Herz vielleicht? Er mutete sich immer noch jeden Tag sehr viel Arbeit zu. Arbeit, die er liebte, aber trotzdem wurde er nicht jünger. War es also das?

Oder womöglich Krebs? Diese heimtückische Krankheit konnte jeden zu jeder Zeit aus dem Leben reißen, das hatte sie im weiteren verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Umfeld schon erleben müssen.

Äußerlich wirkte ihr Vater wie immer. Vielleicht war er noch eine Spur grauer geworden und vielleicht zierten noch ein paar mehr Falten sein Gesicht. Aber er war noch immer stattlich und hielt sich gerade. Seine Bewegungen waren flüssig und präzise.

Wie bei Louise konnte Marielle sich nicht vorstellen, dass man ihrem Vater etwas anhaben konnte. Die kindliche Überzeugung, dass der Vater ein unbezwingbarer und absolut unangreifbarer Beschützer war, lebte noch in ihr.

Marielle zügelte Filou, den inzwischen auch nicht mehr ganz jungen Braunen, den sie zu ihrem achtzehnten Geburtstag bekommen hatte. Das edle Vollblut schnaubte und schüttelte den Kopf mit der Trense. Marielle ließ die Zügel lang und ihn selbst den Weg zum Stall zurückfinden. Dort schwang sie sich aus dem Sattel und schlang die Zügel um einen Haken an der bröckeligen Stallwand.

Léo, der für Stall, Garten und Hausstand zuständig war, trat unbemerkt hinter sie. Marielle schrak zusammen, als er sie ansprach.

»Soll ich mich um Ihr Pferd kümmern, Mademoiselle?« Von niemand anderen hätte Marielle diese Anrede geduldet. Das altbackene Fräulein war aus gutem Grund abgeschafft worden. Marielle hatte immer gewitzelt, dass man einen unverheirateten Mann dann folgerichtig Männlein hätte nennen müssen. Aber Léo stammte noch aus einer Generation, in der die Anrede Respekt und Höflichkeit ausgedrückt hatte.

»Oh Gott, Léo, haben Sie mich erschreckt. Nein, ich mach das schon selbst. Er hat noch ein wenig Aufmerksamkeit von mir verdient. Aber vielleicht würden Sie ihm schon einmal Sattel und Trense abnehmen, ich laufe nur noch schnell in die Küche und hole ihm ein Leckerchen. Das hat er sich verdient.«

Léo nickte. »Das hat er bestimmt. Ich leg ihm schon einmal das Halfter an und sattle ihn ab.«

Marielle lief hinüber zum Haus. Statt der Reiseklamotten, die sie schon den ganzen Tag über angehabt hatte, trug sie jetzt eine graue Reithose und hohe Stiefel darüber. Die Bluse war alt und fleckig, aber zum Reiten immer noch am bequemsten. Ihre langen kastanienbraunen Haare hatte sie zu einem schlampigen Dutt hochgewurstelt. Sie umrundete das Haus auf dem Weg zur Küche, da hörte sie plötzlich jemanden sprechen.

Einem Impuls folgend duckte Marielle sich an die Hauswand in den wilden Wein.

Nur wenige Meter von ihr entfernt, jedoch mit dem Rücken zu ihr, stand dieser Bastien und telefonierte mit seinem Handy.

»... ja, wie ich gesagt habe, völlig daneben. ... Keine Ahnung, ich denke, nicht. ... Hm, ja, hübsch irgendwie schon, allerdings eben auch noch sehr jung und unerfahren. Bildet sich aber mächtig viel auf ihre Vita ein ... Ja, ja, Kairo, hat sie natürlich gleich erzählt. ... Was weiß ich? Kleopatras Eselsmilchbad und Honig, oder so etwas. Nichts, das uns hier in irgendeiner Weise weiterhelfen würde.«

Je mehr sie hörte, umso sicherer war Marielle sich, dass er über sie sprach. Und der abfällige Tonfall sprach ebenfalls dafür.

Mit wem telefonierte der Idiot? Dass er sich nicht schämte! Da stand er hinter dem Haus ihres Vaters und lästerte über sie.

Na warte, dir werde ich es zeigen!

Entschlossen trat Marielle aus dem Schatten des wilden Weins und mit wenigen raschen Schritten direkt auf ihren Widersacher zu. Er hatte nicht mitbekommen, dass sie gekommen war. Schmerzhaft traf Marielles Ellbogen auf seine Rippen. Sie schubste ihn, sodass ihm fast sein Handy aus der Hand fiel.

Dann setzte sie ein bedauerndes Lächeln auf. »Oh mein Gott, entschuldigen Sie. Ich habe Sie überhaupt nicht gesehen. Ich dachte, sie wären bereits gefahren. Es tut mir wirklich leid. Habe ich Ihnen wehgetan?«

Bastien hielt sich die Seite, doch er biss sich auf die Lippen. »Schon in Ordnung. Nichts passiert.« Dann schlug er einen geschäftsmäßigen Ton an: »Wann sehen wir Sie denn im Büro, Mademoiselle de Montaux?«

Für einen kurzen Moment hatte ihr der Rempler eine gewisse Befriedigung verschafft, doch diese Bemerkung ließ bei Marielle gleich wieder die Galle hochkommen.

Da war es wieder gewesen, dieses Mademoiselle. Und aus Bastiens Mund klang es eben nicht mehr nach Respekt, sondern wie eine Beleidigung.

Für wen hielt er sich? War er ihr Chef, oder was?

»Sparen Sie sich das Mademoiselle. Und was Ihre Frage angeht: Das weiß ich noch nicht. Ich bin ja heute erst angekommen. Aber wir sehen uns dann sicher dort. Schönen Tag noch!« Damit ließ sie ihn stehen und verschwand im Haus.

»Marielle? Kommst du bitte zum Essen?« Raphaël rief durch die offene Tür des Salons nach ihr.

Sie sah an sich hinunter. Sie trug immer noch ihre Reitkleidung, die Stiefel waren schmutzig vom Stall. Nachdem sie Filou trocken gerieben und mit ein paar Leckerbissen aus Louises Küche versorgt hatte, war sie noch zum Ausmisten geblieben und Léo zur Hand gegangen. Erwartet hätte der Alte das sicherlich nicht von ihr, aber Marielle mochte nicht wie die Prinzessin auf das gesattelte Pferd steigen und es hinterher einfach abgeben, als ginge alles Weitere sie nichts an. Wer ein Pferd hatte, der hatte sich auch um alles zu kümmern, was damit einherging. Das hatte sie schon immer so gehalten.

»Ich komme gleich!«, rief sie in Richtung ihres Vaters. »Ich muss mich nur noch rasch umziehen.«

Louise kam mit einem Tablett zu ihr heraus. »Beeil dich. Das Essen wird kalt.« Ihr Blick wanderte an Marielle hinunter. »Und Stiefel aus! Sag mal, du läufst hier mit den schmutzigen Schuhen quer durchs Haus.«

Marielle schmunzelte. »Ich bin noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden hier und schon schimpfst du mich aus. Es ist, als wäre ich nie weggewesen.«

Mit dem Tablett in der Hand stieß Louise Marielle spielerisch mit dem Ellbogen an. »Du bist noch keinen ganzen Tag daheim und schon gibt's hier Trubel und alles wird schmutzig.«

Artig bückte Marielle sich und zog sich die Stiefel von den Füßen. Dabei hüpfte sie auf einem Bein herum. Louise beobachtete das Spektakel kopfschüttelnd. Dann hatte Marielle es geschafft und hielt beide Stiefel in der Hand. Auf Strümpfen lief sie die Treppe hinauf zu ihrem alten Zimmer.

Es hatte sich wenig verändert, seit sie als frischgebackene Absolventin des Lycée Alexis de Tocqueville mit einem hervorragenden Baccalaureat in der Tasche ausgezogen war zu neuen Ufern. Der Lage ihres Elternhauses nach hätte sie gar nicht auf diese Schule gehen sollen. Aber das Alexis de Tocqueville hatte von allen Lycées in und um Grasse den besten Ruf, und nur das hatte für ihre Eltern gezählt. Für den erfolgreichen Parfümeur De Montaux war es ein Leichtes gewesen, seine Tochter dort unterzubringen, wo er sie haben wollte, und so hatte sie eben den längeren Schulweg in Kauf nehmen müssen.

Ihr Zimmer lag im ersten Stock des nahezu quadratischen Gebäudes mit den großen Fenstern hinaus zur Terrasse und zum dahinterliegenden Park. Die Wände waren in einem hellen Blau gehalten, das sich in den geblümten Vorhängen und in dem drapierten Himmel über dem Bett wiederholte. Louise hatte dafür gesorgt, dass frische Blumen auf dem kleinen Schreibtisch standen. Das Bett bedeckte eine blütenweiße Tagesdecke, etliche Kissen lagen darauf drapiert und ein aufgeschlagenes Buch. Marielle nahm das Buch in die Hand. Sie erinnerte sich daran, dass sie es bei ihrem letzten Aufenthalt in ihrem Elternhaus angefangen hatte zu lesen, dann aber doch nicht so gefesselt gewesen war, dass sie es mitgenommen hätte. Jetzt klappte sie es zu und legte es auf den Nachttisch.

Auf der Anrichte gleich neben der Tür standen mehrere gerahmte Fotografien, darunter auch eine, die Marielle mit vielen anderen Jugendlichen in festlicher Abschlussballgarderobe zeigte. Sie strich über die Rahmen. Ein Bild aus dem Urlaub in Südafrika, den ihr ihr Vater zum bestandenen Masterstudium geschenkt hatte. Auch ein Bild aus Ägypten war dabei, wo sie vor den Pyramiden von Gizeh posierte. Dieses Foto hatte sie nicht in den Rahmen getan und aufgestellt. Das musste Louise gewesen sein. Oder womöglich ihre Mutter? Ihrem Vater traute sie es nicht zu, der hatte sich nie in ihr Refugium gewagt.

Im Sideboard standen die Bücher, die sie nicht mitgenommen hatte, ein paar Souvenirs aus verschiedenen Urlauben, daneben stand eine Kollektion Pferdchen in unterschiedlichen Größen und Formen, allesamt aus Hartgummi. Die hatte sie gesammelt, weil Pferde schon immer ihre Leidenschaft gewesen waren. Sie griff wahllos ein paar Lieblingsstücke heraus und betrachtete sie. Nichts hatte Staub angesetzt. Louise musste regelmäßig mit dem Feudel durch ihr Zimmer gegangen sein. Marielle stellte die Pferdchen wieder in die Reihe.

Es fühlte sich an, als wäre bereits ein halbes Leben vergangen, seit sie zu ihrem Studium nach Paris aufgebrochen war. Zuerst an die Sorbonne für den Bachelor in Biochemie und dann weiter an das Institut in Versailles. Ein halbes Leben voller aufregender Momente, viel Arbeit für ihr Studium, aber auch viele Partys, Ausflüge, neue Leute ...

Und jetzt? Kehrte sie jetzt in das Leben davor zurück? Oder begann hier ein ganz neuer Abschnitt?

Plötzlich erinnerte sie sich wieder daran, dass sie sich beeilen sollte. Sie schälte sich aus ihren Reitklamotten. Dann huschte sie schnell hinüber ins angrenzende Bad, um sich zu duschen. Eine Katzenwäsche musste genügen.

Wenig später fand sich Marielle frisch geduscht und noch mit feuchten, zerzausten Haaren, aber umgezogen, im großen Salon im Erdgeschoss ein. An dem langen Esstisch aus poliertem Eichenholz hätte gut und gern eine zwanzigköpfige Abendgesellschaft Platz gefunden und Marielle erinnerte sich dunkel daran, dass so etwas auch schon das eine oder andere Mal in ihrem Leben stattgefunden hatte. Jetzt hatte Louise allerdings nur für drei Personen am einen Ende der langen Tafel gedeckt. Platz genommen hatte jedoch bislang nur ihr Vater.

Er saß vor seinem leeren Teller und wartete geduldig. Als sie den Salon betrat, hob er den Kopf. »Da bist du ja. Na, dann kann Louise ja auftragen.«

»Kommt Maman nicht?«, fragte Marielle und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

Brot, Butter und Salz hatte Louise schon bereitgestellt und eine Karaffe mit frischem Wasser. Marielle schenkte sich ein und angelte ein Brötchen aus dem Brotkorb.

Missbilligend beobachtete Raphaёl sie dabei. »Nimm doch bitte die Zange und nicht die Finger!«

Marielle zuckte nur die Schultern. »Was ist denn mit Maman? Warum kommt sie nicht einmal zum Abendessen?«

»Migräne«, sagte ihr Vater, als wäre damit alles gesagt.

»Und du, Papa? Was ist bei dir los?« Marielle brach das Brötchen in der Mitte auseinander – wieder mit den Fingern, was ihr einen weiteren tadelnden Blick eintrug. Dann schmierte sie Butter auf eine Ecke, dazu nahm sie dann aber doch ein Messer.

»Lass uns das nach dem Essen besprechen.«

»Warum? Wir sind doch eh allein. Was soll diese Geheimniskrämerei? Es muss doch etwas Schlimmeres sein, wenn du mich deshalb aus Ägypten zurückholst«, beharrte Marielle. Sie wollte nun endlich Antworten haben.

»Das stimmt so nicht. Du warst doch fertig mit deiner Dissertation. Einmal musstest du ja zurückkommen, oder nicht? Ich dachte, du wolltest deinen Platz einnehmen.«

»Meine Doktorarbeit ist fertig, das stimmt. Aber die Disputation steht noch aus. Ich wäre schon gekommen, aber vielleicht noch nicht die nächsten Monate. Dass ich jetzt alles habe stehen und liegen lassen, lag an deiner Nachricht, du hättest eine besorgniserregende Diagnose bekommen. Also raus mit der Sprache!«

Nun war es Raphaёl, der erst einmal nach einem Brötchen angelte und es umständlich mit dem Messer auseinander metzgerte. Er versuchte Zeit zu schinden, Marielle sah es genau.

Sie schlug einen sanfteren Ton an. »Papa, ich mache mir Sorgen um dich! Die Manufaktur, ja, das ist das eine. Aber darum geht es mir doch nicht vorrangig! Ich will wissen, was mit dir los ist, kannst du das nicht verstehen?«

Er legte sein Brötchen auf den Teller zurück, ohne davon abgebissen zu haben. Dann arrangierte er das Messer penibel neben dem Hauptgangmesser und zupfte die Serviette gerade, die Louise extra für Marielles Rückkehr zu einer Bourbon-Lilie gefaltet hatte.

»Natürlich verstehe ich das«, sagte er schließlich langsam. Er wog jedes Wort ab. »Ich habe diese Besorgnis ja selbst verursacht bei dir. Weil ich ... Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich überreagiert habe. Dass ich dich umsonst beunruhigt habe. Allerdings ...« Er brach ab und betrachtete eingehend seine Fingerspitzen.

Spätestens jetzt war Marielle endgültig in heller Aufregung. Sie kannte ihren Vater nicht anders als geradlinig und frei von der Leber weg. Er redete nicht um den heißen Brei herum, auch wenn es unangenehm wurde. Wem er sein Wort gab, der konnte darauf zählen, dass er es auch halten würde. Und Zögern gab es bei ihm nicht.

»Papa ...«

Er hob den Kopf und sah seine Tochter an. Marielle erschrak. Da glitzerten Tränen in seinen Augen. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie ihren Vater weinen sehen!

»Papa! Was um Himmels willen ist los?«

Hilflos hob er die Hände und ließ sie dann wieder sinken. »Nichts ist los. Ich sterbe. Ganz einfach. Ich sterbe, das ist los. Und man kann nichts dagegen tun.« Er hatte die Unterlippe trotzig vorgeschoben wie ein Kind. Eine Träne löste sich vom Wimpernkranz und lief über seine Wange.

Marielle fand keine Worte. Sie starrte ihn einfach nur fassungslos an. Der Appetit war ihr vergangen, das Brötchen in ihrer Hand vergessen.

»Es war eine Routineuntersuchung. Ganz zufällig. Sonst hätten wir es vielleicht gar nicht erfahren. Dann wäre ich einfach irgendwann umgefallen und es wäre vorbeigewesen, ehe ich es richtig begriffen hätte. Ich weiß nicht, vielleicht wäre mir das sogar lieber gewesen. Aber jetzt weiß ich es eben. Und was tut man mit diesem Wissen? Wie soll man damit umgehen? Wie?«

Er vergrub den Kopf in den Händen. Das Beben seiner Schultern signalisierte Marielle, dass er jetzt haltlos weinte.

Marielle war völlig überfordert mit der Situation. Was um alles in der Welt war denn nur los? Was hatte er erfahren? Was hatten die Ärzte per Zufall gefunden?

Louise platzte in den Salon. Sie registrierte die Stimmung sofort und blieb in der Tür stehen. Auf einem Tablett brachte sie den ersten Gang unter Silberhauben. Sie hatte nur zwei Teller angerichtet. Dass die Dame des Hauses nicht zum Abendessen erscheinen würde, hatte sie schon erfahren oder geahnt.

Marielle warf ihr einen Hilfe suchenden Blick zu.

Louise räusperte sich. Augenblicklich hatte Raphaёl sich wieder im Griff. Er schnäuzte sich und wischte sich verstohlen über die Augen. Dann griff er nach der Serviette und schüttelte sie aus. Die kunstvoll gelegte Lilie löste sich in einem Quadrat auf.

»Lass uns essen«, sagte er. Seine Stimme klang noch ein wenig belegt.

»Papa!«, empörte Marielle sich. »Ich kann doch jetzt nichts essen!«

»Musst du aber. Louise hat sich so eine Mühe gegeben. Es gibt nur Leibgerichte von dir.« Er schaffte es sogar, sich ein Lächeln abzuringen.

Louise positionierte einen Teller auf dem Platzteller vor Raphaёl, nachdem er das Brötchen zur Seite gelegt hatte. Dann kam sie um den Tisch herum und stellte den zweiten vor Marielle ab. Louise packte die runden Griffe in Form einer Eichel auf den Hauben und hob sie mit einem Ruck hoch.

Zum Vorschein kam ein liebevoll angerichtetes Steak Tartar mit Kapern.

Marielle liebte Louises Tartar. Aber gerade fehlte ihr jeglicher Appetit dafür. Ihrem Vater schien es ähnlich zu gehen. Er hatte die Gabel zur Hand genommen, doch sie schwebte orientierungslos über dem Teller.

»Was ist es denn?«, versuchte Marielle einen neuen Vorstoß. Vielleicht würde es besser werden, wenn man den Namen des Feindes kannte. Momentan war das Problem für sie noch völlig im Nebel.

Raphaёl seufzte und legte die Gabel wieder hin.

Es schien ihn eine unendliche Kraft zu kosten. »Die Bauchspeicheldrüse.«

»Diabetes?«, fragte Marielle sofort. Das konnte doch unmöglich so schlimm sein.

Ihr Vater schüttelte den Kopf.

»Krebs?« Das Wort kam Marielle nur noch gehaucht über die Lippen.

Er nickte. »Adenokarzinom«, präzisierte er.

»Und was heißt das?«

Wieder seufzte ihr Vater schwer. »Nichts Gutes. Das Zeug hat schon gestreut.«

»Was machen sie dagegen?« Marielle war nicht bereit, das Todesurteil einfach so hinzunehmen.

»Behandlung erfolgt palliativ. Es gibt keine Therapie mehr dagegen.«

Marielle schob ihren Teller von sich. An Essen war jetzt nicht mehr zu denken.

»Aber ... Warum ...?« Jetzt war es Marielle, der die Tränen in den Augen standen.

»Warum was?« Raphaёls Erwiderung fiel heftig aus. Marielle zuckte unwillkürlich zurück. Ihr Vater merkte es und setzte in versöhnlicherem Ton hinterher: »Dafür gibt es keine Gründe, ma petite. Es kann jeden treffen. Und jetzt hat es eben mich getroffen.«

»Das meine ich nicht. Warum machen die Ärzte nichts? Irgendetwas muss man doch tun können. Eine Chemo, Bestrahlung, Operation, was weiß ich? Die Medizin hat heute so viele Möglichkeiten. Warum versuchen sie es erst gar nicht? Warum gibst du dich damit zufrieden? Hast du eine zweite Meinung eingeholt?« Ihre Hände zitterten unkontrolliert. Es war ihr klar gewesen, dass etwas Schlimmes im Raum stand. Sonst hätte ihr Vater sie nicht mit solchem Nachdruck nach Hause beordert. Aber sie war davon ausgegangen, dass es temporär war. Irgendetwas, das man mit Zeit und Therapie heilen konnte. Nicht so etwas.

»Natürlich habe ich das.« Jetzt klang ihr Vater müde. »Ich war sogar bei drei Ärzten. Zuletzt bin ich bis nach Lausanne gefahren, um noch eine andere Meinung zu hören. Der Arzt dort ist ein Jugendfreund von mir. Glaube mir, der hätte alle Hebel in Bewegung gesetzt, wenn er sich davon etwas versprochen hätte. Aber auch der sagte mir, dass es keinen Sinn hat. Alles, was man tun kann, ist, die Symptome zu mildern und zu hoffen, dass mir noch ein paar Wochen oder vielleicht Monate geschenkt sind.«

»Monate? Wochen?«, echote Marielle fassungslos.

»Diese Art Krebs ist – wenn ich das richtig verstanden habe, ich bin kein Mediziner – sehr aggressiv. Und sie wächst über Jahre unbemerkt, bevor dann die ersten Symptome auftreten. Die meisten Diagnosen sind zufällig, so wie bei mir. Ich war eigentlich aus einem ganz anderen Grund beim Arzt. Aber dann ist es bereits zu spät. Und wenn er schon gestreut hat, lässt es sich nicht mehr aufhalten ...«

Marielles Atem ging schwer, als hätte sie einen anstrengenden Ritt hinter sich. »Was sagt Maman dazu? Weiß sie es überhaupt schon?«

Raphaёl hob den Kopf und sah ihr in die Augen. »Ja, sie weiß es.«

Unter dem Tisch ballte Marielle die Hände zu Fäusten. Da lag ihre Mutter mit ihrer eingebildeten Migräne oben in ihrem Zimmer und badete sich im Selbstmitleid, während ihr Mann ganz real und unwiderruflich mit dem Tod rang!

Es war ihr schon immer schwergefallen, Verständnis für ihre Mutter aufzubringen, vor allem als sie noch jünger gewesen war und oftmals die Mutter gebraucht hätte. Dann hatte Louise einspringen müssen. Aber in diesem Fall fehlte Marielle jede Toleranz.

Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf.

»Wo willst du denn jetzt hin?«, fragte ihr Vater.

»Zu Maman!«

Er streckte die Hand nach ihr aus. »Nein, komm, setz dich wieder. Lass sie.«

»Warum? Es kann doch nicht sein ... wir müssen doch ... Wieso ist sie nicht ...« Die aufgestauten Tränen brachen sich Bahn. Hilflos stand Marielle mitten im Zimmer und weinte.

Raphaёl erhob sich umständlich. Mit den Tränen seiner Tochter konnte er schlecht umgehen. Aus der Erziehung hatte er sich weitgehend rausgehalten. Auch als Marielle älter wurde und die Pubertät Einzug gehalten hatte, war er lieber in sein Labor verschwunden anstatt sich mit ihr und ihren Problemen auseinanderzusetzen. Dafür hatte er sie jederzeit in die Entwicklung seiner Produkte einbezogen, von dem Augenblick an, in dem sie zum allerersten Mal Interesse daran gezeigt hatte. Schon als kleines Mädchen hatte sie auf der Arbeitsplatte neben seinen Versuchsaufbauten gesessen und mit kindlichem Ernst mit ihm über die richtige Auswahl von Herznotennuancen und Duftkombinatorik diskutiert. Das waren die Vater-Tochter-Erinnerungen, die ihr Verhältnis bis heute prägten.

Jetzt stand er vor ihr und tätschelte unbeholfen ihre Schulter. »Es tut mir so leid ...«

»Nein. Dir doch nicht. Dir muss nichts leidtun«, presste Marielle unter Schluchzen hervor. »Du hast dir das auch nicht ausgesucht! Was für eine Scheiße ... was für eine verdammte Scheiße ...«

»Sch... Sprich nicht so«, tadelte er automatisch. »Das würde deine Mutter nicht goutieren.«

»Ach die!«, entfuhr es Marielle. »Lass Mutter aus dem Spiel.«

»Du bist zu streng mit ihr. Sie kann eben nicht aus ihrer Haut. Es ist ihre Art, damit umzugehen.«

Marielle erkannte in diesen einfachen drei Sätzen, wie sehr ihr Vater ihre Mutter nach wie vor liebte. Doch so musste es sein.

Louise erschien in der Tür, um zu sehen, ob sie abservieren konnte und den Hauptgang bringen. Sie sah das unberührte Tartar auf den Tellern.

»Sie haben ja gar nichts gegessen, Monsieur le Patron«, sagte sie vorwurfsvoll. »Und du auch nicht, ma petite!«

Marielle schniefte. »Es geht nicht, Louise. Tut mir leid. Ich bringe keinen Bissen hinunter. Schade um das schöne Tartar ...«

Louise hatte die Situation auf den ersten Blick erfasst. Sie nahm die beiden Teller auf. »Macht nichts. Ich stell es in die Kühlung. Irgendwann werden Sie beide Hunger haben.«

»Komm«, sagte Raphaёl. »Lass uns noch ein wenig an die frische Luft gehen.«

Marielle folgte ihm hinaus auf die Terrasse, wo sie am Nachmittag mit dem Assistenten ihres Vaters gesessen hatten. Der unerwartete Besucher erschien Marielle ein unverfänglicheres Thema, sie wollte nicht weiter über die Erkrankung ihres Vaters sprechen. Nicht jetzt. Sie musste die neuen Informationen erst einmal für sich selbst sortieren.

Deshalb sagte sie, nachdem sie beide sich auf den Gartenstühlen niedergelassen hatten: »Seit wann hast du diesen Bastien als Assistenten?«

Raphaёl schien erleichtert, dass sie ein anderes Thema aufmachte. »Noch nicht so lange. Ein halbes Jahr vielleicht. Er wurde uns empfohlen.«

»Soso ...«

»Tatsächlich haben wir eine Headhunter-Agentur beauftragt. Es ist so schwer, wirklich gutes Fachpersonal zu finden.« Raphaёl sah müde aus. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und legte in einer unbewussten Geste die Hand auf den Bauch. Marielle registrierte es.

»Hast du Schmerzen, Papa?«, fragte sie leise.

Schnell schlug ihr Vater die Augen wieder auf und rang sich ein Lächeln für sie ab. »Nein, nein. Es geht schon. Mach dir keine Sorgen, ma petite. Ich bekomme Medikamente gegen die Schmerzen. Eine Weile wird es damit schon noch gehen.«

Marielle spürte ihre Unterlippe zittern, was einen neuerlichen Tränenfluss ankündigte. Sie schluckte dagegen an. Es war niemandem damit geholfen, wenn sie jetzt in Tränen badete.

Rasch kehrte sie zu ihrem anderen Thema zurück. »Und was zeichnet ihn aus? Dieses Wunderexemplar an Fachkraft?«

»Du magst ihn nicht.«

»Falsch. Er mag mich nicht«, stellte Marielle klar.

»Ach, Unsinn. Wie kommst du denn darauf? Ihr habt euch doch heute erst kennengelernt. Wie könnte er sich da schon ein Bild von dir gemacht haben?«

»Das hatte er wahrscheinlich schon, bevor er hierherkam.«

Marielle verschränkte die Arme vor der Brust. Sie erinnerte sich genau an die Worte, die sie diesen Kerl hinter dem Haus ins Telefon hatte sagen hören. Aber davon wollte sie ihrem Vater lieber nichts erzählen.

»Aber nein. Da interpretierst du etwas hinein, das gar nicht da ist«, beschwichtigte ihr Vater. »Bastien ist ein wirklich guter Chemiker. Er hat sehr gute Referenzen und Zeugnisse.«

»Na dann ...« Marielle konnte nicht anders, als sarkastisch zu klingen.

»Kommst du morgen mit in die Manufaktur? Ihr solltet euch vielleicht in eurem Arbeitsumfeld besser kennenlernen. Dann werdet ihr sehen, wie viele Gemeinsamkeiten ihr habt«, sagte er zuversichtlich.

»Oh, da brenne ich darauf. Aber leider wird dieses Vergnügen noch ein bisschen auf mich warten müssen, ich möchte erst einmal ankommen. Du verstehst sicherlich, wenn ich noch einen Tag damit warte, bevor ich mich in die Arbeit stürze.«

Raphaёl beugte sich vor, um ihre Hand zu tätscheln, die auf der Stuhllehne lag. »Natürlich, ma petite. Ich wollte dich auch nicht sofort komplett vereinnahmen. Mir reicht es schon, dass du wieder hier bist.«

»Ich bin da, Papa. Und ich bleibe jetzt auch hier«, versicherte sie. »Und spätestens am Montag stehe ich auch im Kittel im Labor, versprochen. Ich bin ja schon ganz gespannt, was ihr euch Neues ausgedacht habt. Gibt es bereits Pläne für die neue Kollektion?«

Raphaёl lächelte. »Pläne gibt es. Aber keine, die du nicht durch innovative Ideen über den Haufen werfen könntest. Ich hatte gehofft, du bringst uns neue Impulse aus Ägypten mit.«

»Ich habe dir doch alle meine Forschungsergebnisse geschickt. Eigentlich dachte ich, du hättest sie gleich als Inspirationsgrundlage genutzt.«

»Ich habe alles gelesen. Aber für die richtige Inspiration brauche ich dich schon hier im Labor.«

Louise kam zu ihnen heraus und stellte unaufgefordert zwei großzügig eingeschenkte Gläser Calvados vor sie.

»Danke, das ist sehr aufmerksam von Ihnen«, bedankte sich Raphaёl. »Aber machen Sie bitte auch Schluss für heute. Packen Sie die Schürze weg, nehmen Sie sich auch ein Glas und setzen Sie sich zu uns. Wir wollen doch wenigstens darauf anstoßen, dass Marielle wieder zu Hause ist!«

Louise nickte und verschwand nach drinnen. Nur Minuten später kehrte sie mit einem dritten Glas Calvados und ohne Kochschürze wieder zurück. Es kam selten vor, dass sie ihre Rolle als Haushälterin und Mädchen für alles verließ, obwohl sie schon seit so vielen Jahren praktisch zur Familie gehörte. Heute war so ein Tag.

Kapitel 3

Das diffuse Gefühl von Unruhe, das sie die halbe Nacht nicht hatte schlafen lassen, fiel von Marielle ab, sobald sie auf Filous Rücken über den Hof trabte. Sie ließ die Zügel locker und brauchte ihn nur kurz mit den Fersen anzutippen, als sie den Park erreichten, schon ging er in Galopp über. Marielle verschmolz mit dem Tier. Im selben Rhythmus bewegten sie sich in vollkommener Einheit.

Hinter dem Park des Chateaus erstreckte sich ein Waldstück, das Marielle schon als Kind durchstreift hatte. Zu Fuß oder auf dem Rücken eines Pferdes. Und schon damals hatten die Stille des Waldes, die vereinzelten Rufe der Vögel und die Freiheit, die sie dort verspürt hatte, bei ihr Anspannungen gelöst und ihren Gedanken zum Fluss verholfen.

Obwohl die Neuigkeiten, die sie am Abend zuvor über den gesundheitlichen Zustand ihres Vaters erhalten hatte, mit den Problemen früherer Morgenausritte sicherlich nicht vergleichbar waren, verfehlte der scharfe Galopp durch den Wald trotzdem auch heute seine Wirkung nicht.

Filou und Marielle durchquerten das Wäldchen und jagten einen Hügel hinauf. Oben angekommen zügelte Marielle den Wallach. Er ging in gemächlichen Trab über und die Heimkehrerin hatte Zeit, den Ausblick zu genießen. In der Ferne konnte sie die Häuser und Straßen von Grasse erahnen, wie sie sich, einem Schneckenhaus gleich, den Hügel hinaufwanden. Zwischen ihr und der Anhöhe, auf der die Stadt lag, erstreckten sich bewaldete Hügel und Felder voll endloser Reihen Lavendel, gelegentlich unterbrochen durch von Zypressen gesäumte, gewundene Straßen. Marielle sog die würzige Luft tief in ihre Lungen. Das hatte ihr in Ägypten gefehlt.

Die Luft, die Gerüche, der Ausblick, das alles gab ihr ein Gefühl von Zuhausesein.

Unter der Oberfläche war nichts mehr wie damals. Sie war nicht mehr dieselbe, aber auch ihr Zuhause hatte sich unmerklich verändert. Ihre Eltern waren alt geworden. Louise, Léo, alle waren sie gealtert, ohne dass Marielle es bemerkt hätte. Und bald würde sie damit zurechtkommen müssen, dass die Menschen, die ihre Familie ausmachten, einer nach dem anderen für immer gingen.

Marielle parierte Filou durch und ließ sich aus dem Sattel gleiten. Mit dem Pferd am Zügel bog sie in ein Lavendelfeld ab. Zwischen zwei blühenden Reihen folgte sie der Spur, die der Traktor hinterlassen hatte, den Hügel hinunter. Das betörende Aroma des Lavendels stieg ihr in die Nase. Sie strich mit der flachen Hand über die hoch aufgerichteten Stängel mit den bläulichen und lila Blütenrispen, dadurch intensivierte der Duft sich noch. Schließlich brach sie einen Stiel ab und zerrieb die Blüten zwischen den Fingern, um die Qualität des Lavendels zu testen.

Es würde eine gute Ernte geben.

Von Ende Juni bis in den August hinein erstrahlte die Provence im Lila und Blau des Lavendels. Die Farbnuance variierte ein wenig zwischen dem Royalblau der Hochprovence und dem tiefen Violett in der Valensole-Hochebene und im Vaucluse. Dabei war der Anteil von echtem Lavendel, der botanisch Lavandula angustifolia genannt wurde, deutlich geringer, der Großteil der Felder war mit Lavandin bepflanzt. Lavandin war ein Hybrid vom echten Lavendel, daneben gab es noch den als Spike-Lavendel bezeichneten Lavandula latifolia. Aus den Hybriden wurden preiswerteres Öl und Lavendel-Essenzen hergestellt, deren Duft schwächer war als der von Produkten aus echtem Lavendel. Marielle wusste diese Dinge, so wie sie wusste, wie sie einen Fuß vor den anderen setzen musste. Schon als Grundschülerin hatte sie gelernt, wie den Lavendelpflanzen möglichst schonend der Duft extrahiert wurde. Schleppdestillation oder Wasserdampfdestillation hießen diese Verfahren. Oder die Stängel und Blüten wurden in mildem Olivenöl angesetzt. So blieben die ätherischen Stoffe weitgehend unzerstört. Aus etwa hundert Kilo Stiele und Blüten des Lavandin konnte man durch Destillation ungefähr drei Kilo goldgelber Essenz extrahieren, beim echten Lavendel ergab sich nur ein Kilo des Parfüm-Grundstoffs. Dafür war diese Lavendel-Essenz intensiver.

Der Lavendel, den sie gerade durchschritt, würde schon bald von den Lohnarbeitern ihres Vaters und mithilfe eines Traktors oder traditionell mit der Sichel geerntet werden. Die Erntezeit war ihr als Kind immer als die aufregendste Zeit des Jahres erschienen. Beinahe noch spannender als Weihnachten oder ihr Geburtstag. In den frühen Morgenstunden war sie aufgestanden und mit dem Vater und den Arbeiterinnen und Arbeitern auf die Felder hinausgegangen. Wenn der Lavendel eingeholt war, hatte es immer für alle ein Fest auf dem Hof gegeben.

Marielle und Filou erreichten eine schmale Straße, die das Lavendelfeld wie ein graues Band durchschnitt. Marielle stieg wieder auf. Filous Hufe klapperten über den Asphalt.

Sie freute sich darauf, bald wieder mit ihrem Vater im Labor zu stehen, die verschiedenen Lavendelöle mit anderen Aromen zu verbinden, zum Beispiel mit dem intensiv holzigen Charakter von Patschuli oder der sinnlichen Note der exotischen Tonka-Bohne, als Herz des Parfüms vielleicht ein subtiler Akzent von Zeder. Die Chemie, die hinter alldem steckte, war eine Naturwissenschaft und folgte klaren Regeln, die Parfümherstellung dagegen war eine Kunst, in der man der Kreativität freien Lauf lassen durfte. Aus denselben chemischen Verbindungen konnte ein elegantes Eau de Toilette für die Dame entstehen, oder der würzig-maskuline Duft für ein Rasierwasser. Der Parfümeur hatte es in der Hand.

Sie verließen die Felder und erreichten die Zufahrt zum Chateau. Filou verfiel automatisch wieder in einen lockeren Trab. Marielle war so in ihre Gedanken um die Ernte des Lavendels und seine anschließende Verarbeitung vertieft gewesen, dass sie einen schmerzhaften Stich in der Brust verspürte, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass es gar nicht sicher war, ob ihr Vater die diesjährige Ernte überhaupt noch erleben würde.

Dabei hatte sie so viele Pläne für ihre Zusammenarbeit!

Egal, wo sie in den letzten Jahren gewesen war, wann immer ihr Ideen für die eigene Produktion in den Sinn gekommen waren, hatte sie sie fein säuberlich in ein Notizbüchlein geschrieben. Mit diesem Schatz an Ideen, neuen Verfahren und Methoden und auch Ansätzen für eine nachhaltigere Produktion und ökologische Herangehensweise hatte sie heimkommen wollen, um sie mit ihrem Vater zu besprechen. Auch Pläne für eine stärkere Digitalisierung waren darunter. Mit diesen Dingen hatte ihr Vater wenig am Hut. Er war der kreative Kopf der Parfümerie, um Vertrieb, Handel und Bestellabwicklung kümmerten sich andere. Aber auch dafür hatte Marielle in ihrer Ausbildung neue Impulse gesammelt.

Würde sie nun bald allein mit alldem dastehen? Konnte sie ihren Vater überhaupt noch mit Umstrukturierung und Neuerungen kommen, wenn er gesundheitlich so angeschlagen war?

Von Wochen, allenfalls Monaten hatte er gesprochen und von Schmerzmitteln. Würde er noch in der Lage sein, sich ihre Zukunftsvisionen anzuhören?

Das Gefühl wieder freier atmen zu können, das sie beim Aufbruch zu ihrem morgendlichen Ausritt überkommen hatte, war verschwunden, als sie durch das Tor ritt und den Hof erreichte. Ihr war, als presste ihr jemand die Hände auf die Kehle und versuchte, ihr die Luft abzudrücken.

»Wie schön, dass du wieder da bist!« Amélie, Marielles beste Freundin aus der Schulzeit, umarmte sie und die beiden jungen Frauen küssten sich auf die Wangen.

»Na, du ja auch«, sagte Marielle.

Sie hatte geduscht, sich frisch gemacht und ein Frühstück bei Louise in der Küche eingenommen, nachdem sie Filou versorgt hatte. Nun empfing sie die Freundin auf der Terrasse.

Raphaё