Im Sog des Wahnsinns - Lisa Jackson - E-Book
SONDERANGEBOT

Im Sog des Wahnsinns E-Book

Lisa Jackson

0,0
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Spannend, fesselnd, sinnlich: Romantic Thrill von Bestsellerautorin Lisa Jackson! Kate beginnt nach dem Unfalltod ihres Mannes und ihrer kleinen Tochter ein neues Leben. Ihr einziger Trost ist ihr Baby Jon - doch es liegt auch über diesem Glück ein Schatten: Kate hat das Baby illegal 'adoptiert' - unter der Bedingung, dass sie niemandem gegenüber auch nur ein Sterbenswörtchen über seine Herkunft - über die sie selbst nur sehr wenig weiß - verraten. 15 Jahre später taucht ein Fremder in Hopewell auf der sich um Freundschaft zu Kate und Jon bemüht und zu dem sich beide auf magische Art und Weise hingezogen fühlen. Doch Daegan O'Rourke birgt ein finsteres Geheimnis, und Kate und Jon werden in die üblen Machenschaften einer psychotischen Familie Sullivan hineingezogen. feelings-Skala (1=wenig, 3=viel): Erotik: 3, Spannend: 3, Gefühl: 2 »Im Sog des Wahnsinns« ist ein eBook von feelings*emotional eBooks. Mehr von uns ausgewählte romantische, prickelnde, herzbeglückende eBooks findest Du auf unserer Facebook-Seite: www.facebook.de/feelings.ebooks Genieße jede Woche eine neue Liebesgeschichte - wir freuen uns auf Dich!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 733

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lisa Jackson

Im Sog des Wahnsinns

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Kristina Lake-Zapp

Knaur e-books

Über dieses Buch

Spannend, fesselnd, sinnlich: Romantic Thrill von Bestsellerautorin Lisa Jackson! Kate beginnt nach dem Unfalltod ihres Mannes und ihrer kleinen Tochter ein neues Leben. Ihr einziger Trost ist ihr Baby Jon - doch es liegt auch über diesem Glück ein Schatten: Kate hat das Baby illegal 'adoptiert' - unter der Bedingung, dass sie niemandem gegenüber auch nur ein Sterbenswörtchen über seine Herkunft - über die sie selbst nur sehr wenig weiß - verraten. 15 Jahre später taucht ein Fremder in Hopewell auf der sich um Freundschaft zu Kate und Jon bemüht und zu dem sich beide auf magische Art und Weise hingezogen fühlen. Doch Daegan O’Rourke birgt ein finsteres Geheimnis, und Kate und Jon werden in die üblen Machenschaften einer psychotischen Familie Sullivan hineingezogen.

feelings-Skala (1=wenig, 3=viel): Erotik: 3, Spannend: 3, Gefühl: 2

»Im Sog des Wahnsinns« ist ein eBook von feelings*emotional eBooks. Mehr von uns ausgewählte romantische, prickelnde, herzbeglückende eBooks findest Du auf unserer Facebook-Seite: www.facebook.de/feelings.ebooks

Inhaltsübersicht

Mit ganz besonderem Dank [...]PrologTeil eins Jon1995Kapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfTeil zwei Daegan1968–1980Kapitel sechsKapitel siebenKapitel achtKapitel neunKapitel zehnTeil drei Kate1995Kapitel elfKapitel zwölfKapitel dreizehnKapitel vierzehnKapitel fünfzehnKapitel sechzehnKapitel siebzehnKapitel achtzehnKapitel neunzehnKapitel zwanzigKapitel einundzwanzigKapitel zweiundzwanzigKapitel dreiundzwanzigKapitel vierundzwanzigEpilog
[home]

Mit ganz besonderem Dank an

Beth Corey und Nancy Bush

für all ihre Hilfe

[home]

Prolog

Boston, Massachusetts, 1980

Frei!

Kate Summers zog die letzte Seite aus ihrer elektrischen Schreibmaschine und legte sie zu den anderen Papieren in den Postausgangskorb. Nun folgte der schwierige Teil: sich verabschieden und schnell verschwinden. Sie blickte zu der Riffelglastür von Tyrell Clarks Büro hinüber. Der Schein seiner Schreibtischlampe fiel durch die matte Scheibe.

Reiß dich zusammen, Kate. Du schaffst das.

Sie hatte sich bereit erklärt, länger zu arbeiten, in der Hoffnung, er würde nicht noch einmal ins Büro zurückkehren, doch so viel Glück hatte sie nicht gehabt. Vor vierzig Minuten hatte sie seine schweren Schritte auf der Treppe vernommen, und auch wenn er nicht an ihrem Schreibtisch stehen geblieben war, nicht einmal in ihre Richtung geblickt hatte, während er schnurstracks in sein Büro marschierte, so wusste sie doch, dass sie nicht gehen konnte, ohne zuvor ihren letzten Gehaltsscheck und ein Empfehlungsschreiben abgeholt zu haben.

Im restlichen Gebäude war es ruhig. Nichts außer dem Rumpeln der veralteten Heizungsanlage und dem gedämpften Rauschen des draußen vorüberfließenden Verkehrs störte die Stille in den ehedem so heiligen Hallen der Anwaltskanzlei Clark & Clark. Der ältere Clark, Tyrell senior, war vor zwei Jahren gestorben, und nun war es an seinem Sohn, die Tradition aufrechtzuerhalten und die Geschäfte weiterzuführen. Doch diese liefen nicht gut. Das Personal, das sich einst auf acht Büroräume verteilt hatte, belegte nun gerade mal zwei. Tyrell junior, ein brillanter Anwalt, liebte nicht nur seinen Beruf, sondern auch die Frauen und den Alkohol, außerdem hegte er eine fatale Leidenschaft für Pferdewetten. Deshalb saß ihm die Steuerbehörde im Nacken, und es gab noch ernstere Gegner – Kredithaie, Buchmacher und Schuldeneintreiber zum Beispiel.

In zwei Tagen wollte Kate Boston verlassen und so dem Alptraum, den sie durchlebt hatte, den Rücken kehren. Nie wieder würde sie einen Fuß in eines der Büros von Clark & Clark setzen müssen. Sie musste nur noch ihre bescheidenen Habseligkeiten nach Seattle verfrachten und dem Vermieter die Schlüssel zu ihrem kleinen Apartment zurückgeben – vier winzige Zimmer, die während der vergangenen drei Jahre ihr Zuhause gewesen waren. Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle, doch sie schluckte ihn hinunter.

Keine weiteren Erinnerungen. Keine weiteren Heucheleien. Ein neuer Anfang, das war es, was sie brauchte.

»Kate?«

Sie zog scharf die Luft ein.

Aus dem angrenzenden Büro ertönte Tyrell Clarks Stimme, so ruhig und gleichmäßig wie eine gut geölte Maschine. Ein Schauder jagte ihr den Rücken hinab. Sie hasste diese modulierte, wohlklingende Stimme, den leicht gönnerhaften Ton.

»Nie wieder«, flüsterte sie und ballte eine Hand zur Faust. Nicht eine Sekunde länger würde sie sich seine Annäherungsversuche – sanfte Berührungen, versteckte sexuelle Avancen – gefallen lassen. Sie nahm ihre Kaffeetasse, ihren Lieblingsstift und das Adressbuch und legte alles in ihre riesige Tasche.

»Bevor Sie aufbrechen, möchte ich gern noch etwas mit Ihnen besprechen.«

Die Lampe auf seinem Schreibtisch ging aus. Kates Magen schnürte sich zusammen in Anbetracht dessen, was nun auf sie zukam.

Und jetzt? Sie wappnete sich und warf einen Blick auf die Uhr. Fast sieben. Und sie war mit ihm allein im Gebäude. Nervös blickte sie aus dem Fenster im Empfangsbereich. Regentropfen rannen an der Glasscheibe hinab. Draußen war es dunkel, das einzige Licht kam von den Straßenlaternen und den vorüberfahrenden Autos. Es war dumm von ihr gewesen, noch dazubleiben, nachdem Rinda Feierabend gemacht hatte, doch sie brauchte das Überstundengeld und war naiverweise davon ausgegangen, dass Tyrell nach seinem Spätnachmittagstermin mit einem Klienten nicht noch einmal ins Büro zurückkehren würde. Den Scheck und das Referenzschreiben hätte er ihr auch mit der Post nachschicken können. Aber nein, sie hatte sich geirrt. Er war ins Büro gekommen. Dummes Mädchen.

Durch die Glasscheibe sah sie, wie Tyrell seinen Stuhl zurückschob, aufstand und sich auf den Weg zu ihr machte. Er knipste das Licht in seinem Büro aus.

Nur noch ein paar Minuten. Du schaffst das, Kate. Was immer du tust, vermassle es nicht; du brauchst ein gutes Empfehlungsschreiben, damit du dir in Seattle einen neuen Job suchen kannst.

Sie brachte ein schmales Lächeln zustande, als er vor ihrem L-förmigen Schreibtisch stehen blieb. Spiel ihm was vor, sagte sie zu sich selbst und fühlte, wie ihre Handflächen zu schwitzen begannen. Sei freundlich, aber entschieden. Sie widerstand dem Drang, sich die feuchten Hände am Rock abzuwischen. Ein paar Minuten noch, dann musst du ihn nie wiedersehen, nie wieder seine Belästigungen ertragen. Halt einfach durch.

Tyrell war ein stattlicher Mann, der jeglichem Klischee entsprach: Hoch gewachsen, dunkel, gutaussehend, wurde er immer wieder mit Clark Gable in seiner Rolle als Rhett Butler verglichen. Tyrell legte großen Wert darauf, dass seine Krawatte stets tadellos saß, genau wie sein dunkles Haar und seine dreiteiligen Anzüge, in denen niemals auch nur die kleinste Knitterfalte zu finden war. Alles musste perfekt zu seinem blankpolierten Image passen.

Doch in letzter Zeit hatte er sich plötzlich verändert. Seine Schuhe waren nicht immer auf Hochglanz gebracht, ein paar graue Haare hatten es gewagt, sich an seine Schläfen zu verirren, um seine Mundwinkel zeigten sich Sorgenfalten. Doch es waren seine Augen, die sich nahezu dramatisch verwandelt hatten. Das verschmitzte, mitunter boshafte Blitzen war einem sorgenvollen Blick gewichen, zudem spielte er fast unablässig mit seinem Uhrarmband, als würde ihm langsam, aber sicher die Zeit ausgehen. Kate kannte den Grund. Die ständigen Briefe vom Finanzamt erklärten alles.

»Dann ist das also der Abschied«, sagte er.

»Ja.« Sie griff nach ihrer Tasche. »Ich wollte gerade Feierabend machen.« Eilig suchte sie nach einem Vorwand, das Gebäude verlassen zu können.

»Ich dachte, wir würden zusammen noch einen Abschiedstrunk nehmen.«

»Es tut mir leid.« Tat es nicht. »Ich habe Laura versprochen, bei ihr vorbeizuschauen, und ich bin bereits zu spät.«

»Ihre Schwester wird das schon verstehen.« Er nahm ihren Lieblingsbriefbeschwerer – ein Stachelschwein aus Bleikristall – und wog ihn in den Händen. »Es ist wichtig.« Er schenkte ihr sein ansteckendes Lächeln, das schon Dutzende Frauen schwach gemacht und in sein Bett gelockt hatte. Kate allerdings war dagegen immun. Sie war nicht interessiert, an keinem Mann, und schon gar nicht an einem so aalglatten Typen wie Tyrell. Sein Lächeln wurde gezwungen, seine für gewöhnlich tiefgebräunte Haut schien ihr heute etwas blasser, überhaupt wirkte er weniger lebhaft als sonst.

»Was gibt’s denn?« Ihre verdammte Neugier behielt doch immer die Oberhand.

»Ich dachte, Sie würden gern wieder Mutter sein.«

Sie hatte das Gefühl, als würde ihr in einer einzigen Sekunde der Boden unter den Füßen weggezogen.

»Mutter?«, wiederholte sie mit einer Stimme, die kaum mehr war als ein Flüstern. Ihr Herz begann zu klopfen. Sie hätte nie gedacht, dass er so unsagbar grausam sein könnte. »Wenn das ein Scherz sein soll, dann –«

»Es ist kein Scherz.«

Sie konnte kaum atmen. Das Blut in ihren Ohren rauschte.

»Ich biete Ihnen einen Sohn an, ohne irgendwelche Bedingungen. Nun, zumindest sind nur wenige daran geknüpft.« Er setzte sich mit einer Pobacke auf ihren Schreibtisch, legte die Hände um sein angewinkeltes Knie und blickte sie aus dunklen, wissenden Augen an. Neben dem rechten Lid zuckte es in regelmäßigen Abständen – ein nervöser Tic.

»Ich verstehe nicht«, sagte sie gedehnt und versuchte, sich zu beruhigen.

»Das ist eine lange Geschichte, und ich bin nicht befugt, allzu viele Details preiszugeben, doch ich habe einen Klienten, einen bedeutenden Mann der Gesellschaft, einen Prominenten, dessen Tochter gerade ein uneheliches Baby zur Welt gebracht hat – einen kleinen Jungen. Er wurde heute Nachmittag geboren.«

»Sie – Sie möchten, dass ich ihn adoptiere?«

Er zögerte, die dunklen Augenbrauen gefurcht. »Nicht wirklich, Kate. Ich möchte, dass Sie ihn mit nach Seattle nehmen und als Ihren eigenen Sohn ausgeben. Das Kind ist weiß, hat dunkle Haare und könnte durchaus als Ihres durchgehen.«

»Wie bitte? Augenblick mal –«

»Lassen Sie mich ausreden, Kate.« Er zögerte. Das Rauschen in ihren Ohren wurde zum Dröhnen. Schließlich griff er in die Innentasche seines Anzugs und zog einen Umschlag heraus. Darin befand sich ein Polaroid-Schnappschuss, den er ihr reichte. Das Foto zeigte ein Neugeborenes, noch tiefrot, die Augen, die noch nicht richtig fokussieren konnten, ebenfalls rot im Blitzlicht. Kleine geballte Fäuste und ein Ausdruck des Entsetzens im Gesicht über diese neue grelle, reale Welt, in die es da geraten war.

»Großer Gott«, flüsterte sie.

»Ich dachte, Sie wünschen sich ein neues Kind.«

»Das tue ich, aber …« Es gab nichts – absolut nichts –, das sie sich mehr wünschte als ein Kind. Doch die Vorstellung war absurd. Ein Wunschtraum. Du hattest deine Chance, erinnerte sie sich grimmig, bevor ihr wieder einmal die Tränen kommen konnten.

»Meinen Sie das ernst?«, fragte sie.

»Absolut.«

Ein kleines Flämmchen Hoffnung flackerte in ihrem Herzen auf.

»Ich verstehe das nicht.« Dieses Gespräch ging viel zu schnell. Sie konnte ihm einfach nicht folgen. Es war, als hätte sie Spinnweben im Kopf, die ihre Auffassungsgabe fest umstrickt hielten.

»Sie möchten, dass ich ihn mitnehme, aber nicht adoptiere?«, wiederholte sie. »Wo ist der Haken?«

»Der Haken«, wiederholte er leise und biss sich auf die Unterlippe. »Unglücklicherweise gibt es tatsächlich einen.«

»Den gibt es immer.« Das zarte Flämmchen Hoffnung wich neuerlicher Nervosität.

»Ich ziehe es vor, es als eine Bedingung für diese so plötzliche Mutterschaft zu betrachten.«

Mutterschaft. Der Klang des Wortes brachte ihr Bilder ihrer eigenen Mutter und einer kleinen Farm in Iowa zurück. Frühlingsblumen, der Geruch nach frischgemähtem Heu und der Duft von Anna Rudisills preisgekröntem Apfelkuchen, der stets in der Luft hing. Das warme Lächeln ihrer Mutter oder ihre rasiermesserscharfe Zunge, wenn eine ihrer Töchter es wagte, den Namen den Herrn zu missbrauchen. Lange Sommertage voller harter Arbeit, Nächte, in denen sie auf einen weiten, dunklen Himmel, gesprenkelt mit Millionen von Sternen, geblickt hatte. Die Winter waren grimmig gewesen, eisig kalt und unerbittlich, doch gleichzeitig wunderschön mit der dicken Schneedecke, die unter Kates Stiefeln knirschte, wenn sie an der Hand ihrer Mutter durch die Schneewehen zur Scheune stapfte. Von den Dachtraufen hingen Eiszapfen, und selbst der Beschlag, der sich vor den Schnauzen des Viehs bildete, glitzerte im fahlen Licht der Wintersonne.

Von diesen wenigen herrlichen Jahren wanderten Kates Gedanken wie immer weiter zu den unglücklichen, schreckensbehafteten Zeiten ihrer späteren Kindheit, ihrer kurzen Ehe und ihrer geliebten kleinen Tochter. Erin. Mein liebes, süßes Baby. Wenn ihr kostbarer Schatz doch nur am Leben geblieben wäre! Schuld drückte Kates Herz mit grausamer, gnadenloser Faust zusammen. Sie blinzelte und blickte zu Tyrell, der immer noch auf ihrer Schreibtischkante hockte. Der Nerv neben seinem Auge zuckte.

»Inwiefern?«, fragte sie. »Um wessen Baby handelt es sich?«

»Das darf ich nicht sagen, aber die Mutter will den Jungen nicht – sie hat sich von dem Vater getrennt, und die Familie möchte diese ganze unglückselige Angelegenheit vergessen. Sie wünscht keinerlei Publicity, keinen Skandal, und es ist ihr gelungen, die Schwangerschaft geheim zu halten. Nun muss nur noch dafür gesorgt werden, dass das Baby bei jemandem aufwächst, der dieses Geheimnis für sich bewahren kann und den Kleinen so liebt wie sein eigenes Kind.«

»Aber ich bin alleinstehend und habe nicht viel Geld … Es gibt doch Hunderte von Paaren, die sich sehnlichst …« Irgendetwas stimmte hier nicht. Ganz und gar nicht. Sie betrachtete wieder das Foto und spürte, wie dieses kleine Wesen, dieses ungewollte, ungeliebte Baby, schon jetzt anfing, ihr etwas zu bedeuten. »Was ist mit dem Vater?«

»Tja …«

»Er weiß es nicht?«

Tyrell schüttelte den Kopf. »Die Familie möchte nicht, dass er je davon erfährt.«

»Aber er hat doch Rechte –«

»Er sitzt in Haft.«

»Ach du liebe Güte.«

Tyrell presste die Lippen zusammen und stellte den Briefbeschwerer zurück auf ihren Schreibtisch. »Der Kerl taugt nichts – die Tochter meines Klienten war nur mit ihm zusammen, um gegen ihre Familie zu rebellieren. Drogen, Leder, Nieten und Ketten, Motorräder – dieser Kriminelle steht für all das, was mein Klient verabscheut. Er kann auf ein ziemlich gewalttätiges Vorleben zurückblicken – ich meine ernsthafte häusliche Gewalt. Es geht das Gerücht, er habe bereits einen Sohn gehabt, der als Kind unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen sei. Die Polizei konnte ihm nichts nachweisen, doch er stand unter Verdacht. Mein Klient möchte nicht, dass sein Enkel ein ähnliches Schicksal ereilt. Momentan ist das Kind in Sicherheit, da Daddy wegen Körperverletzung hinter Gittern sitzt und erst in ein paar Jahren wieder freikommt. Ob Sie es glauben oder nicht: Die Familie möchte das Beste für das Baby.«

»Solange es sie nicht in Verlegenheit bringt.«

»Wenn Sie das nicht machen wollen, Kate –«

»Doch!«, stieß sie so vehement hervor, dass sie selbst überrascht war. Das Baby kann nichts dafür, dass es nicht erwünscht ist.

Kate fühlte sich elend, aber sie vermochte sich des übermächtigen Wunsches nicht zu erwehren, der sich ihrer bemächtigte. Konnte sie das tun? Konnte sie wirklich dieses Kind annehmen und so tun, als wäre es ihr eigenes?

Ein Baby. Ein Neugeborenes. Ihr Sohn. Sie würde wieder Mutter sein.

Tyrell rückte seine Krawatte zurecht.

»Wissen Sie, Tyrell, das Ganze klingt nach Ärger. Nach mächtigem Ärger.« Und dennoch ist ein Baby daran beteiligt, ein Baby, das eine Mutter braucht, ein Kind, um das du dich kümmern könntest. »Das Mädchen sollte seinen Eltern mal einen Schubs geben, was deren altmodische Ansichten, uneheliche Kinder betreffend, angeht. Das Baby gehört zu seiner Mutter!«

»So einfach ist das nicht«, widersprach Tyrell, wobei seine geduldige Stimme die angespannten Linien nahe seinen Mundwinkeln Lügen strafte. »Die Mutter des Babys … nun, sie ist nicht unbedingt das, was man gesund oder zumindest stabil nennen würde. Immer wieder muss sie in psychiatrischen Kliniken wegen ihrer Depressionen behandelt werden, steht ständig unter Psychopharmaka, obwohl die Ärzte versichert haben, dass die Gesundheit des Babys dadurch nicht beeinträchtigt wurde, seit Beginn der Schwangerschaft wurden diesbezüglich Ultraschalluntersuchungen durchgeführt. Eine Adoption – privat oder nicht – scheidet allerdings aus: zu viel Papierkrieg, zu viel Aufhebens. Es wurde entschieden, dass der Junge zu jemandem gegeben werden soll, der außerhalb des Bundesstaates lebt. Sie, Kate, ziehen an die Westküste, und da Sie Ihre eigene Familie verloren haben, dachte ich, es wäre nur schlüssig …« Er ließ den Rest des Satzes unausgesprochen, ließ sie ihre eigenen Folgerungen ziehen, versuchte wohl, sie davon zu überzeugen, ihr nur helfen zu wollen. Doch das kaufte sie ihm nicht ab.

»Wie ich schon sagte: Die Bedingung ist, dass Sie behaupten, das Baby sei Ihr eigenes – es wird uns sogar möglich sein, Ihnen eine entsprechende Geburtsurkunde auszuhändigen.«

»Wie wollen Sie das denn anstellen?«

»Wenn man genügend Geld hat, ist alles möglich. Mein Klient hat Geld, und zwar reichlich. Und Einfluss. Da ist es nicht schwer, an eine gefälschte Geburtsurkunde zu gelangen, zudem werden Sie so weit weg sein, dass die Wahrheit niemals ans Tageslicht gelangen wird.« Er blickte demonstrativ auf die Fotos, die noch auf einer Ecke von Kates Schreibtisch standen, dann nahm er einen Rahmen mit einem Bild von Kate zur Hand, die die kleine Erin in den Armen hielt. Jim, ihr Ehemann, stand neben ihnen, ganz der stolze Vater. Jim lächelte breit, er hatte den Arm um Kates Schultern gelegt, seine Augen strahlten vor Glück. Die perfekte Familie. Es kam ihr so lange her vor.

Kate spürte das altbekannte schmerzliche Ziehen im Herzen. Tränen brannten hinter ihren Augenlidern, Tränen, die sie verbergen musste. Mein Gott, würde sie so etwas wirklich durchziehen können? Sie wusste, dass sie jetzt gehen sollte, auf der Stelle, noch bevor er sie einwickeln und in Machenschaften hineinziehen konnte, die mit Sicherheit um einiges verwerflicher und finsterer waren, als sie auf den ersten Blick erschienen. Machenschaften, in die sie sich nur allzu gern verwickeln lassen würde. Kate legte sich die Riemen ihrer Handtasche über die Schulter. »Ich sollte jetzt besser gehen. Laura wartet auf mich –«

Tyrell reichte ihr die Fotografie, erhob sich und trat langsam um den Schreibtisch herum, bis er hinter ihr stand. Bedächtig legte er die Hände auf ihre Schultern.

Sie entzog sich ihm, drehte sich um und funkelte ihn an. »Tun Sie das nicht.«

»Ich weiß, dass es schrecklich für Sie war, Jim und Erin zu verlieren«, sagte Tyrell freundlich. »Sie … nun, nach ihrem Tod waren Sie nicht mehr dieselbe. Ich dachte, dieses Kind wäre für Sie ein Fingerzeig Gottes, eine neue Aufgabe, ein neuer Sinn im Leben. Aber wenn Sie diese Chance verstreichen lassen möchten …«

»Nein!«, stieß sie hervor, obwohl ihr Verstand ihr förmlich zuschrie, aus der Tür zu marschieren und so viel Abstand wie möglich zu Tyrell und seinen unmoralischen Absichten zu gewinnen. Das war verrückt. Lächerlich! Unmöglich! Illegal, um es genau zu sagen! Doch trotz all ihrer wohlbegründeten Bedenken konnte sie sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Ein Baby! Ihr Baby!

»Ich – ich weiß nicht, was ich sagen soll, ich meine, ich muss mehr wissen. Wer garantiert mir, dass das Kind nicht entführt wurde?«

Seine Gesichtsmuskeln entspannten sich. Er wusste, dass er sie an der Angel hatte, und sie kam sich auf der Stelle schwach und manipuliert vor. »Vertrauen Sie mir, Kate. Wir reden über ein unerwünschtes Neugeborenes, das eine Mutter braucht, das es verdient hat, geliebt zu werden. Ein Neugeborenes, das weit weg in Sicherheit gebracht werden muss, damit sein psychopathischer Vater es niemals findet. Dies ist eine Chance für Sie, noch einmal Mutter zu sein – eine Chance, wie man sie sonst nirgendwo bekommt.«

Sie blinzelte gegen eine plötzliche Flut heißer Tränen an. Während der letzten zwei Jahre war sie fast erdrückt worden von Schuldgefühlen und Reue, weil die beiden Menschen gestorben waren, die ihr am nächsten gestanden hatten. Vielleicht bot ihr dieses Kind tatsächlich die Möglichkeit einer Wiedergutmachung; vielleicht war es Gottes Weg, ihr einen Grund zum Weiterleben zu geben.

»Na schön, dann ist nun also die Zeit der Entscheidung gekommen. Wie sieht’s aus? Haben wir eine Abmachung?«, fragte Tyrell.

»Ich brauche Bedenkzeit.«

»Es gibt keine Bedenkzeit.« Er seufzte tief. »Wissen Sie, Kate, ich dachte, ich mache Sie mit meinem Vorschlag glücklich.«

»Das … das tun Sie ja auch.«

»Dann nehmen Sie das Angebot also an?«

Sie zauderte nur eine Sekunde, während sie innerlich erbebte. »Ja.«

»Gut.« Er zögerte und nagte nachdenklich an seiner Unterlippe. »Da wäre noch eine weitere Sache, Kate.«

Sie wappnete sich. »Und welche?«

»Sie wissen, wie viel ich von Ihnen halte, dass ich … nun, dass ich sogar versucht habe, Ihnen näherzukommen.«

Sie schloss kurz die Augen. »Ich möchte das nicht hören.«

»Schon bevor Jim ums Leben kam.«

»Ich weiß, Tyrell.« Sie machte einen Schritt von ihm fort, wobei sie mit den Waden die Sitzfläche ihres Schreibtischstuhls streifte.

»Und ich war dabei nicht unbedingt der Gentleman, der ich hätte sein sollen.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, als sei er verlegen. »Ich fühle mich schlecht deswegen, und ich würde das gern wiedergutmachen.«

»Aber wie? Indem Sie mir diese ›neuerliche Mutterschaft‹ ermöglichen?«

»Ja. Aber denken Sie daran, Kate: Dieses Kind ist Ihr eigen Fleisch und Blut.« Er blickte sie durchdringend an, abschätzend, als wolle er sich vergewissern, dass sie der Rolle gewachsen war.

»Gott, bist du schön«, sagte er schließlich heiser.

Sie schluckte.

Er räusperte sich und nahm sich sichtlich zusammen. »Sie wissen, dass ich mich fast in Sie verliebt hätte. Das muss man sich einmal vorstellen: Ich – der eingefleischte Junggeselle. Ich hätte alles für Sie getan, Kate. Alles. Nach Jims Tod dachte ich, ich könnte Ihnen helfen, die Trauer zu überwinden, hoffte, dass wir zusammenkommen könnten.«

»Das … das wird nie passieren«, erklärte sie mit fester Stimme.

Noch einmal musterte er sie durchdringend, und als erkenne er erst jetzt, dass sie ihre Meinung nicht ändern würde. Dann stieß er einen Seufzer aus. »Nun, das dachte ich mir schon, doch ich wollte es zumindest einmal laut ausgesprochen haben.« Er atmete tief durch, dann trat er hinüber ans Fenster und schaute hinaus. Das Licht einer roten Ampel reflektierte in der Scheibe und färbte seine Haut rot. »Tja, da ich jetzt sozusagen die Hosen hinuntergelassen und mich derart in Verlegenheit gebracht habe, können wir wohl wieder zur Sache kommen.«

Kate wartete, die Augen auf sein Gesicht geheftet, auf dem sich eine ganze Reihe von Gefühlen spiegelte. Er wirkte in die Enge getrieben, geschlagen, doch sie rief sich ins Gedächtnis, dass Tyrell Clark wie eine Katze war, mit ihren sprichwörtlichen neun Leben. Egal, was passierte, er landete immer auf den Füßen, das hatte sie selbst wieder und wieder gesehen.

»Ich stelle die erforderlichen Papiere zusammen, und dann verlassen Sie mit Ihrem neugeborenen Sohn die Stadt.« Sein Gesicht verdüsterte sich ein klein wenig. »Wenn doch nur …« Kopfschüttelnd fing er an zu lachen, doch ohne eine Spur von Heiterkeit. »Ach, Sie wissen vermutlich, was man über das Wörtchen ›wenn‹ sagt.« Sein Gelächter verstummte. »Als Teil der Abmachung zahle ich Ihnen zehntausend Dollar aus.«

»Aber nicht doch …«

»Für das Kind. Ein Baby ist am Anfang ziemlich teuer.« Er sah die Frage in ihren Augen. »Das Geld stammt nicht von mir. Der Großvater mütterlicherseits möchte sichergehen, dass der Junge gut versorgt ist. Wenn Sie jetzt kein Bargeld brauchen, können Sie es auch anlegen – denken Sie an die Zukunft, ans College, einen Hauskauf, was auch immer.« Er tat ihre Bedenken ab, dennoch war ihr äußerst unwohl zumute. Das Geld verlieh der Angelegenheit einen noch dunkleren, noch unmoralischeren Anstrich.

»Der Großvater finanziert also das Ganze?«

»Selbst wenn Sie das nicht für gut befinden, Kate, sollten Sie das Geld als Geschenk betrachten. Niemand setzt Ihnen damit die Pistole auf die Brust«, erinnerte er sie. »Wie wollen Sie ihn nennen?«

»Wie bitte?«

»Er wird einen Namen brauchen.«

»Ach du liebe Güte, keine Ahnung. Wie wär’s mit Jon? Jonathan Rudisill Summers.«

»Cleveres Mädchen«, bemerkte er. »Ihr Mädchenname und der Name von Jim.« Er lächelte.

»Wie kann ich sicher sein, dass mich später niemand wegen des Jungen kontaktiert oder ihn gar zurückfordert?«

»Ich gebe Ihnen mein Wort.«

Er schob ihr den Umschlag zu, aus dem er die Fotografie genommen hatte. »Hier ist das Geld.«

»Ich will es nicht.«

»Nehmen Sie es, Kate. Und noch einmal: Sie müssen mir versprechen, sich sozusagen in Luft aufzulösen und zu behaupten, das Baby sei von Ihnen, egal, was geschieht.«

Sie verdrängte ihre letzten Zweifel und nahm den dicken, gefütterten Umschlag an sich. »Das mache ich«, versprach sie, denn irgendwo in dieser Stadt lag ein neugeborener Junge allein in einem Bettchen und fürchtete sich. Er brauchte sie.

Und sie brauchte ihn weiß Gott ebenfalls.

[home]

Teil einsJon1995

Kapitel eins

Lauf, lauf, lauf!

Jon rannte durch die dunkle Stadt. Seine Turnschuhe klatschten auf den nassen Gehsteig, sein Herz hämmerte so heftig, dass er meinte, es würde explodieren. Schmutzige Schneehaufen säumten die fremden Straßen, es schneite, Flocken tanzten in den Lichtkegeln der Straßenlaternen. In der Ferne hörte er das Geräusch einer Sirene, übertönt von dem gedämpften Refrain eines Weihnachtslieds.

O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit …

Wo zum Teufel war er?

Und wer war hinter ihm her?

Mörder.

Das Wort hallte durch seinen Kopf.

Wie bitte?

Jemand will dich tot sehen. Mausetot. Anderthalb Meter tief unter der Erde …

Nein!

Atemlos warf er einen Blick über die Schulter und sah einen Schatten, eine düstere Gestalt, die sich ihm zügig über die spärlich beleuchtete Straße näherte, eine Waffe in der behandschuhten Hand.

Lieber Gott, hilf mir!

Jon machte einen scharfen Schlenker, rutschte aus und fing sich mit einer Hand ab, dann sprintete er vorwärts in eine enge Gasse, in der es keine fröhlich blinkende Weihnachtsbeleuchtung gab, nur Dunkelheit.

Bitte lass das keine Sackgasse sein, flehte er stumm, während der Refrain des Weihnachtslieds durch die Nacht tönte.

Christ ist erschienen, uns zu versühnen, freue, freue dich, o Christenheit …

Er wäre fast gegen eine Ziegelmauer gerannt.

O Gott, also doch eine Sackgasse!

Er hörte seinen Verfolger, der dicht hinter ihm zu sein schien, und spürte, wie seine Haut zu kribbeln begann. Wie betäubt drehte er sich um; er wusste, dass es keinen Ausweg gab.

Jon Rudisill Summers öffnete seinen Mund, um zu schreien …

… und fuhr mit einem Ruck aus dem Schlaf auf. Er zitterte, die Bettwäsche war schweißgetränkt, sein Herzschlag dröhnte in seinen Ohren, während der immer wiederkehrende Traum, der Alptraum, der ihm wie eine dunkle Todesahnung erschien, im grauen Licht der Morgendämmerung verblasste.

Er stieß die Luft aus und hoffte inständig, dass er nicht laut geschrien und seine Mutter geweckt hatte. Die Finger um die Bettdecke gekrampft, atmete er langsam ein und aus. Tief im Herzen wusste er, dass sein Traum eine Art Vorahnung war, ein Hinweis auf bevorstehende Ereignisse, die sich vielleicht nicht ganz so zutragen würden, wie er sie vorhergesehen hatte, doch sie würden eintreten, da war er sich absolut sicher.

Lieber Gott, warum ausgerechnet ich?, fragte er sich, wie er es immer tat, wenn er aus einem ebensolchen Traum erwachte. Die Bilder, die er in den letzten Nächten gesehen hatte, hatten ihn zu Tode erschreckt, und die Visionen, die ihn während des Tages heimsuchten … Nun, er konnte sich nur Mühe geben, sich nichts anmerken zu lassen, sonst hielten die anderen Kinder ihn noch für einen Spinner – wenn sie das nicht längst schon taten.

Er strampelte die Bettdecke fort, strich sich mit der Hand übers Kinn und spürte den Hauch von Bartstoppeln auf seinem Kinn. Er brauchte eine Zigarette, auch wenn er wusste, dass seiner Mutter das gar nicht passen würde. Vieles, was er zurzeit tat, passte ihr nicht, doch sie würde ernsthaft ausflippen, wenn sie von seiner jüngsten Vision erfuhr. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, schob den schlafenden Houndog, seinen jungen Hundefreund, beiseite, stieg aus dem Bett, ging auf die Knie und wühlte sich durch die Handtücher und Klamotten auf dem Boden seines Wandschranks. Ohne Licht zu machen, tastete er mit den Fingern hinten an der Fußleiste entlang, bis er die Stelle fand, an der er letzten Sommer den Teppich aufgerollt und ein Loch in die Holzdielen geschnitten hatte. Darin befand sich sein Geheimvorrat an sämtlichen Dingen, die seine Mutter ihm verboten hatte.

Vorsichtig hob er die Bodendiele an und griff in das dunkle Loch. Geschickt glitten seine Finger über eine alte Penthouse-Ausgabe, die er in den Recyclingcontainern vor der Stadt gefunden hatte, ein Klappmesser, von seinem eigenen Geld gekauft, eine Schachtel Kondome, die Billy Eagle einem älteren Jungen geklaut hatte, sein gesamtes Bargeld – etwa achtundsiebzig Dollar – und ein gerahmtes Foto von Jennifer Caruso. Endlich streiften seine Fingerspitzen die Schachtel Zigaretten und das Feuerzeug.

Nur mit seinen Flanell-Boxershorts bekleidet, tappte er lautlos auf nackten Füßen zum Fenster. Houndog bellte gedämpft, als Jon den Riegel öffnete und die Scheibe hochschob, doch der junge Hund regte sich nicht von seinem warmen Fleckchen auf Jons Bett. Jon klemmte das offene Fenster mit einem Stock fest, dann kletterte er hinaus aufs Dach, wo er sich auf die alten Bitumenziegel hockte. Draußen war es kühl, die Luft erfrischend. Der Winter stand vor der Tür, es kamen bereits die ersten Nachtfröste. Am Himmel glitzerten Tausende von Sternen, und eine vereinzelte Wolke zog an einem trägen Halbmond vorbei, genau wie in seinem Traum.

Mist. Sein Herz hämmerte etwa eine Million Mal pro Minute. Mit zitternden Händen zündete er seine Zigarette an und spürte den warmen Rauch, der seine Lungen füllte. Was ist nur los mit mir? Warum kann ich nicht einfach ganz normal sein? Dieselben altbekannten Fragen, die er sich schon seit Jahren stellte, gingen ihm durch den Kopf, doch heute Nacht erschienen sie ihm von noch entscheidenderer Bedeutung als sonst. Jennifer Caruso würde niemals mit einem Irren wie ihm ausgehen, mit jemandem, der sie nur berührte und schon in ihre Zukunft blicken konnte, nicht, wenn sie andere, normale Jungs haben konnte, die Football spielten wie Dennis Flanders.

Er zog kräftig an seiner Marlboro und spähte durch die Äste der Kiefern, die vor dem kleinen Haus standen, das seine Mutter gekauft hatte. Fünf Meilen außerhalb der Stadt, ein entlegenes Stück Land, das an die McIntyre-Ranch angrenzte. Sie stand seit Wochen leer. Genauer gesagt, seit man den alten Eli mausetot auf seinem Küchenfußboden gefunden hatte. Der alte Mann hatte einen Herzinfarkt erlitten und war erst nach drei Tagen entdeckt worden. Doch Jon hatte es gewusst, hatte gespürt, dass etwas nicht stimmte. Er hatte es gespürt, als der Wind sich drehte, von Elis Haus zu ihm herüberwehte und über seine Haut strich. Jon hatte ein Gefühl für so etwas entwickelt – den »Todeskuss«, wie er es nannte. Was wirklich gruselig war.

Er war derjenige gewesen, der beim Büro des Sheriffs angerufen und Elis Tod gemeldet hatte, natürlich anonym, von einer Telefonzelle in der Stadt aus. Ein Deputy war ausgeschickt worden, der Eli auf dem brüchigen Linoleumboden liegend gefunden hatte, die Hände auf die Brust gepresst, nur ein paar Schritte vom Telefon entfernt, das zu erreichen er offenbar vergeblich versucht hatte.

Jon vermisste den alten Kauz noch immer. Eli schien es nichts ausgemacht zu haben, dass Jon anders war. Solange er sich erinnern konnte, war der alte Rancher freundlich zu ihm gewesen, hatte ihm auf seiner Gartenveranda das Schnitzen oder die Sternenkonstellationen gezeigt, ab und an hatte er ihn sogar einen kräftigen Schluck von seinem schwarzgebrannten Schnaps nehmen lassen.

Und jetzt war der alte Mann tot.

»Scheiße.« Eli war für ihn so etwas wie ein erwachsener Freund gewesen. Jon betrachtete die rote Glut seiner Zigarette und nahm einen weiteren Zug. Das Nikotin wirkte beruhigend. Mom würde einen Anfall bekommen, wenn sie wüsste, dass er rauchte – richtig rauchte –, doch das war ihm egal. Er war fünfzehn, alt genug, um seine eigenen Entscheidungen zu treffen.

Er konnte ihr nichts von seiner Vision vorhin erzählen, sie würde doch bloß ausrasten bei der Vorstellung, dass er seinen eigenen Tod vorhergesehen hatte. Sie war schon paranoid genug, doch das machte er ihr nicht zum Vorwurf. Es war nicht leicht, die Mutter eines Irren zu sein, schon gar nicht in einer so elenden Kleinstadt wie Hopewell, Oregon.

Er schlang die Arme um die Knie, schloss die Augen und atmete weiterhin langsam ein und aus, zwang sich, seinen Traum heraufzubeschwören und zu analysieren. Seine Angst hatte sich so weit gelegt, dass er überlegen konnte, was er wohl bedeuten mochte, und er wollte ihn von allen Seiten betrachten, bevor er ihn in einer entlegenen Schublade seines Gedächtnisses begrub.

Im Traum war es Nacht gewesen und er in einer fremden Stadt, einer geschäftigen Stadt, in der es nach Meer, Abgasen und noch nach etwas anderem roch – vielleicht nach Kiefern? Zedern? Weihnachten? Er war schnell gerannt, hatte kaum noch Luft bekommen, seine Lungen brannten von der eisigen Kälte. Nackte Angst hatte ihn gepackt und vorwärtsgetrieben, während hohe, schmale Gebäude, offenbar jahrhundertealt, verschwommen an ihm vorbeizogen. Eine vereiste Schneedecke lag auf dem Boden, und er rutschte ständig aus, weil er seine Beine zwang, noch schneller zu laufen. Seine Muskeln fingen an, sich zu verkrampfen, sein Herz hämmerte vor Furcht. Jemand war hinter ihm her – jemand, der seinen Tod wollte –, jemand mit der Schläue eines wilden Tieres, ein Mann, der Erfahrung damit hatte, seiner Beute nachzustellen, ganz gleich, ob im Wald oder in der Stadt.

Jons Kehle wurde trocken, und er schluckte. Wer war der Kerl? Doch sosehr er sich auch bemühte, er konnte sich kein Bild machen von ihm, auch wenn er wusste, dass der Fremde ihn aufgespürt hatte und ihn mit der tödlichen Geduld eines geschickten Jägers verfolgte. Er würde nicht aufgeben.

Lichter trübten seine Vision – blau, rot, grün, gelb –, weihnachtliche Lichterketten, die die Türrahmen und Fenster der Backsteinhäuser rahmten. Kränze und Stechpalmenzweige verzierten die prächtigen Häuser mit ihren hellerleuchteten Fenstern. Er raste daran vorbei, hörte die Schritte seines Verfolgers, fühlte dessen heißen Atem im Nacken. Er stolperte, und der Mann schloss zu ihm auf, bekam ihn am Kragen zu fassen.

Lauf! Lauf! Lauf! Schneller!

Er entwand sich dem Griff seines Jägers.

Rannte noch schneller, schnappte nach Luft, Schweiß strömte über seinen Körper, obwohl es doch kalt war und schneite in dieser dunklen, unbekannten Stadt. In weiter Ferne dröhnte ein Nebelhorn durch die Nacht.

Manchmal erwischte ihn der Schattenmann tatsächlich, eine starke Hand schoss nach vorn und legte sich auf seine Schulter. Das war für gewöhnlich der Augenblick, in dem John zu schreien begann und aus seinem Alptraum erwachte. Die Worte aber, die der Mann sprach, folgten ihm bis ins Bewusstsein und ließen ihn bis ins Mark erschauern.

»Ich bin dein Vater, Jon.«

Verdammt! Jon biss sich auf die Unterlippe, bis er Blut schmeckte. Sein Vater. Sein Vater? Das konnte doch gar nicht sein! Das Ganze war wirklich zu unheimlich. Sein Vater war tot – noch vor seiner Geburt beerdigt worden. James Summers. Getötet bei einem Unfall mit Fahrerflucht. Zumindest hatte seine Mutter das behauptet. Er hatte die verblassten Fotos des hageren blonden Mannes betrachtet, der angeblich sein Vater gewesen war, und die des kleinen Mädchens – seine ältere Schwester.

Schon immer war ihm an der Geschichte etwas merkwürdig vorgekommen – etwas, das einfach nicht richtig klang. Seine Mutter war nie in der Lage, ihm in die Augen zu blicken, wenn sie über seinen Dad sprachen, und sie pflegte stets rasch das Thema zu wechseln, wenn Jon zu viele Fragen stellte. Er nahm an, dass sie sich schuldig fühlte wegen des Unfalls, der Jim und die Kleine das Leben gekostet hatte. Warum genau, konnte er nicht sagen.

Er hatte sich nie in seine Mutter hineinversetzen können, kein einziges Mal. Die Gabe, die Gedanken anderer Leute zu lesen, mit der er geschlagen war, schien am besten bei Menschen zu funktionieren, denen er nicht nahestand.

Doch was war nun mit diesen verdammten Träumen?

Er drückte seine Zigarette in der Dachrinne aus und versuchte nachzudenken. Vielleicht war das Ganze wirklich nur ein schlechter Traum, keine Vision – ein Alptraum eben. Alle Leute hatten Alpträume, oder nicht? Doch die Gänsehaut, die einfach nicht weggehen wollte, überzeugte ihn davon, dass er sich selbst etwas vormachte. Er kannte den Unterschied.

Mit zitternder Hand fuhr er sich übers Gesicht und überlegte, ob er seine Mutter wecken sollte. Er schlüpfte durchs offene Fenster und ging zu seiner Zimmertür, nur um dort stehen zu bleiben. Seine Hand schwebte über dem Türknauf.

Sei nicht so ein Baby. Genau das ist dein Problem. Du musst dich damit auseinandersetzen, damit fertig werden.

Sein ganzes Leben lang war er zu Kate gelaufen, hatte sich weinend an sie geklammert, doch das konnte er nicht ewig tun, schon gar nicht, wenn er wusste, wie sie reagieren würde. Nein. Dieses Mal würde er die Sache selbst angehen. Er hatte Zeit. Bis Weihnachten waren es noch zwei Monate.

Noch immer aufgewühlt stieg er wieder ins Bett, schubste den jungen Hund von seinem Kissen und legte die Hände hinter den Kopf. Er starrte an die Decke und malmte mit den Backenzähnen. Nichts war unabänderlich. Die Zukunft lag nicht unverrückbar vor seinen Füßen.

John war überzeugt, den Lauf seines Schicksals beeinflussen zu können. Er musste nur noch herausfinden, wie.

Und zwar bis Weihnachten.

 

Die Augen beschattet von einer Pilotenbrille, drückte Daegan O’Rourke aufs Gas und gestattete seinem alten Pick-up erst eine Pause, als er am Haus der Summers vorbeirollte. Es war nicht viel zu sehen, nur eine lange Zufahrt, die sich durch einen Kiefern- und Buscheichenhain wand. Die beiden Fahrspuren hätten längst mit einer Ladung Kies aufgefüllt werden müssen. Das Haus, kaum zu sehen durch das dichte Geäst, war ein weißes Blockhaus mit kobaltblauen Tür- und Fensterrahmen und einer passenden Zierleiste am Dach. Hübsch. Ordentlich. Genau wie er es erwartet hatte.

Daegan schnitt eine Grimasse und fuhr sich mit der Hand über seinen Viertagebart. Seine Lippen waren trocken. Schuld und Besorgnis waren während der vergangenen Woche seine permanenten Begleiter gewesen, und nun starrte er durch die mit Schmutz und toten Insekten gesprenkelte Windschutzscheibe und wünschte, er könnte die Zeit zurückdrehen und die Dinge ändern.

Er befand sich auf einer aussichtslosen Mission, daran bestand kein Zweifel. Er hatte es von der Minute an gewusst, in der er Bibis fadenscheinige Story hörte, und dennoch war er nicht in der Lage gewesen, ihr klarzumachen, dass sie nach Boston zurückgehen sollte, wo sie hingehörte. Stattdessen war er hier in diesem verfluchten Hopewell in Oregon gelandet und wünschte inständig, er wäre anderswo. Egal, wo, nur nicht ausgerechnet hier.

Vielleicht sollte er einfach einen Rückzieher machen und heim nach Montana fahren, denn die Wahrheit war, dass er keinen Nerv für das hatte, was er tun sollte. Er hatte sein Draufgängertum schon vor Jahren eingebüßt – verschwendet an ein jugendliches Bedürfnis nach Rache.

Doch Neugier und ein nagendes Gefühl der Schuld hatten ihn angetrieben, und jetzt saß er hier in diesem ramponierten Pick-up und plante seinen nächsten Schritt.

»Zur Hölle«, knurrte er, während er ein kleines Stück weiter zur nächsten langen Zufahrt fuhr. Dieses Haus, eine elende Bruchbude, war von der Landstraße aus besser zu sehen. Schnurgerade führte diese von den blauen Hügeln in der Ferne bis zur Stadt Hopewell, die rund fünf Meilen in entgegengesetzter Richtung lag. Unkraut und hochstehendes, trockenes Gras kratzten an der Unterseite des Pick-ups, als er in die Zufahrt einbog. Am offenen Tor trat er auf die Bremse. Ein frisch gepinseltes ZUVERKAUFEN-Schild war an den verwitterten Zaun genagelt, und Daegan beschloss, dass er sich nun eine Pause gönnen würde, die erste, seit er vor zehn Tagen mit seinen Nachforschungen begonnen hatte.

Vielleicht hätte er nun endlich mehr Glück.

O ja, ganz bestimmt, und vielleicht gewinnst du auch noch im Lotto, du Volltrottel.

Sein Körper schmerzte von der stundenlangen Fahrt im Pick-up, und er hätte nichts lieber gehabt als ein kühles Bier, um seine ausgedörrte Kehle zu befeuchten, aber eins nach dem anderen. Er öffnete das Handschuhfach und zog einen Lederbeutel heraus. Neben einem dicken Bündel Dollarscheine fand er, was er suchte: mehrere Schnappschüsse, alte Schwarzweißfotos, aufgenommen von der Kamera eines Privatdetektivs, die ein zu jener Zeit knapp zwanzigjähriges Mädchen zeigten. Ihr langes Haar war zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, ihr Gesicht ungeschminkt. Einen Rucksack über der Schulter, eilte sie an der Ecke School Street/Washington Street Richtung des Old Corner Bookstore Building in Boston. Sie blickte nach hinten, direkt in die verborgene Linse der Kamera. Hübsch, jung, sprühend vor Leben. Gleichmäßige Züge, große Augen, geschwungene Brauen. Volle Lippen und ein argwöhnischer Gesichtsausdruck.

Er fragte sich, wie sehr sie sich seit damals verändert haben mochte, doch er fragte sich überhaupt vieles, wenn es um Kate Summers ging, eine Frau, der er nie begegnet war.

Noch nicht.

Das würde sich bald ändern.

Als er die Fotos wieder in den Beutel stopfte, entdeckte er einen alten Kassenzettel für ein Sixpack Bier, das er in einem Mini-Markt in Boise besorgt hatte, zog einen Bleistift hinter der Sonnenschutzblende hervor, den der ehemalige Besitzer des Pick-ups dort deponiert hatte, und notierte sich die Nummer des Immobilienmaklers, der diese vertrockneten, unfruchtbaren Morgen Land zum Verkauf anbot. Das Land kümmerte ihn nicht; die Ranch sollte ihm lediglich den Unterschlupf verschaffen, den er brauchte, während er seinen nächsten Schritt vorbereitete. Der Makler würde diese alte Bruchbude ganz sicher nicht so schnell an den Mann bringen. Bestimmt konnte er sie vorübergehend mieten – das ließe sich leicht mit einem Anruf klären.

Die Lage ist perfekt – priesen Immobilienmakler ihre Objekte nicht immer mit dieser abgedroschenen Phrase an, wenn sie versuchten, einem Interessenten etwas aufzuschwatzen? Nun, in diesem Fall hätten sie recht. Die Lage war perfekt, denn die Ranch lag in unmittelbarer Nachbarschaft zu Kate Summers’ Haus. Perfekter ging’s nicht.

 

»Ich sage Ihnen, Kate, ein Junge in diesem Alter braucht einen Vater.«

Einen Vater. Kate gefror das Blut in den Adern, wenn sie an den Mann dachte, der Jon gezeugt hatte – ein Krimineller, der nichts von der Existenz seines Sohnes wusste.

»… jeder Junge in diesem Alter braucht einen Mann in seiner Nähe. Ich rede nicht nur von Jon, doch gerade weil er … nun, Sie wissen schon, gerade weil er anders ist, schwer zu handhaben, ist eine feste männliche Hand unerlässlich. Ich weiß, es geht mich im Grunde nichts an, aber wozu sonst sind Freundinnen da?«, blökte Cornelia Olsens Stimme aus dem Telefonhörer.

Tja, wozu? Kate ging mitsamt Telefon um den Küchentresen herum, öffnete eine Schranktür und griff nach der Packung Aspirin. Selbst nach fünfzehn Jahren brach ihr noch der Schweiß aus, wenn jemand von Vaterschaft redete. Während sich Cornelia Olsen weiterhin über Kates rebellischen Teenagersohn ausließ, über die benachbarte McIntyre-Ranch, die leer stand, seit der alte Eli das Zeitliche gesegnet hatte, was vermutlich bedeutete, dass noch mehr Pack nach Hopewell ziehen würde, über das Wetter – vor zwei Wochen noch habe eine Gluthitze geherrscht, während es jetzt herbstlich kühl sei, aber immerhin sei ja auch fast schon November –, nahm Kate zwei Kopfschmerztabletten und spülte sie mit einem Schluck kaltem Kaffee hinunter. Das Wetter war ihr schnurzpiepegal, die McIntyre-Ranch ebenfalls. Jon war es, der ihr Sorgen bereitete. Und zwar eine ganze Menge.

In letzter Zeit war er ihr gereizt und unruhig vorgekommen, noch abweisender als sonst. Kate hatte sich eingeredet, das sei ganz normal während der Pubertät, die für einen Jugendlichen körperlich und emotional ziemlich belastend war. Doch es steckte noch mehr dahinter – eine unterschwellige Nervosität, die beinahe greifbar war. Er machte sich Sorgen, doch immer, wenn sie sich nach der Schule, den Hausaufgaben, den Mädchen oder was ihr sonst noch so einfiel erkundigte, machte er dicht – sein neuester Abwehrmechanismus. Hatte er früher zu viel geredet und jedem, der es hören wollte oder nicht, mitgeteilt, dass er Dinge sah, die andere nicht sehen konnten, war er in letzter Zeit nachdenklich und verschlossen geworden. Ständig blickte er über die Schulter, und sie fragte sich, in welche Schwierigkeiten er wohl verstrickt sein mochte.

Drogen? Sex? Alkohol? Waffen? Oder reagierte sie über? War es wirklich eine so große Sache, dass seine Noten in den Keller gesackt waren und er stets mürrisch und gereizt wirkte?

Sie blickte aus dem Fenster in den späten Oktobernachmittag hinaus. Eine leichte Herbstbrise trieb Blätter über die hintere Veranda, wo Jons junger Hund, ein schwarzweißer Mischling undefinierbarer Abstammung, auf einem alten Flickenteppich lag. Die Maisstengel im Garten, jetzt sonnengebleicht und trocken, fingen an umzuknicken; hinter dem Wirrwarr aus Kürbisranken erblickte sie ein paar reife rote Tomaten. Ein halbes Dutzend Äpfel, die sie zu pflücken vergessen hatte, waren zu Boden gefallen und verrotteten im gelben Gras. Der Herbst lag definitiv in der Luft, wenn nicht gar bereits der bevorstehende Winter, und obwohl sie es sich nicht eingestehen wollte, war Jon zu einem echten Problem geworden. Schluss mit dem Gedanken. Jon war ihr Sohn, kein Problem, und sie würde alles tun, wirklich alles, damit er zu einem glücklichen jungen Mann heranwuchs. Das hatte sie sich geschworen, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, winzig klein und mit rotem Gesicht. Bislang hatte sie ihr Versprechen nicht gebrochen.

 

»Verraten Sie niemandem, dass er nicht Ihr Sohn ist, niemals«, hatte Tyrell insistiert, als sie den Säugling so eng an ihre Brust drückte, dass er ihren Herzschlag hören konnte. Sie hatte den warmen Atem des Babys gespürt und einen Ansturm der Freude, ein Glück, das ein wenig gedämpft wurde von der Furcht, dass sie soeben einen fürchterlichen Fehler beging.

»Das werde ich ganz sicher nicht tun.«

Tyrell war sich nervös mit der Zunge über die Lippen gefahren. Ob das etwas damit zu tun hatte, welche Rolle er bei ihrem plötzlichen Mutterglück spielte, oder mit der Tatsache, dass ihm die Steuerfahndung auf den Fersen war, konnte Kate nicht sagen. »Die Papiere sind hier drin – sieht alles legal aus.« Er steckte einen länglichen Umschlag in ein Seitenfach der Wickeltasche, die sie gekauft hatte. »Wann geht’s los?«, fragte er und ließ den Blick über die Umzugskartons in ihrem kleinen Apartment wandern.

»Dieses Wochenende.«

»Immer noch zur Westküste?«

»Zunächst nach Seattle, dann vielleicht nach Oregon.«

Er hob abwehrend die Hände. »Je weniger ich weiß, desto besser.«

»Was, wenn die Familie irgendwann nach ihm suchen lässt?«, fragte sie in einem plötzlichen Anflug von Panik. Jetzt, da sie das Baby in ihren Armen wiegte, konnte sie sich nicht vorstellen, es jemals wieder herzugeben.

»Das tut sie nicht.« Tyrell stieß ein ironisches Lachen aus. »Glauben Sie mir, die haben sich viel zu viel Mühe gegeben, alles zu vertuschen.«

»Und der Vater?«

»Machen Sie sich seinetwegen keine Sorgen. Er sitzt noch immer hinter Gittern und ahnt nicht mal, dass er einen Sohn hat.«

»Er könnte es erfahren.«

Tyrells dunkle Augen bohrten sich in ihre. »Das dürfen Sie nicht zulassen, Kate. Um des Babys willen. Gehen Sie, und kommen Sie nie mehr zurück.«

»Meine Schwester lebt hier«, wandte sie ein und dachte daran, wie nahe sie sich standen, wie Laura ihr nach Jims und Erins Tod durch den schmerzlichen Alptraum von Schuldgefühlen und Trauer geholfen hatte.

»Schicken Sie ihr ein Flugticket. Laden Sie sie zu sich ein, aber kommen Sie um Himmels willen nie wieder nach Boston.«

Sie hatte sich Tyrells Rat zu Herzen genommen. Und sie hatte nie mehr etwas von ihm gehört.

 

Dennoch brauchte es jetzt, Jahre später, nur einen einzigen Anruf von einer stadtbekannten Wichtigtuerin aus der Nachbarschaft, und plötzlich brachen all ihre Sorgen, die Zweifel und Ängste mit der Gewalt eines Hurrikans über sie herein. Ihr Mund wurde trocken, und sie konnte sich kaum auf das Gespräch konzentrieren. Reiß dich zusammen, Kate!

»… ich dachte nur, dass Sie das wissen sollten«, sagte Cornelia so laut, dass Kate den Hörer vom Ohr weghielt. Die arme Frau, von Natur aus eine Klatschtante, war stocktaub und merkte es nicht mal. »Als meine Jungs Teenager waren, wollte ich auch immer ganz genau wissen, was sie so im Schilde führten. Wenn einer von ihnen nicht genau da war, wo er sein sollte, hat sich sofort mein Radar eingeschaltet, das können Sie mir glauben. Ich wollte immer als Erste im Bilde sein, und ich dachte, das wollen Sie auch.«

»Sind Sie sicher, dass Sie wirklich Jon gesehen haben?«, fragte Kate und klammerte sich an die unwahrscheinliche Hoffnung, dass sich Mrs. Wichtigtuerin geirrt hatte. Ihre Finger krampften sich um den Hörer. Reiß dich zusammen, Kate, deine Sorge ist total albern! Cornelia hatte lediglich erwähnt, dass Jon eine Vaterfigur in seinem Leben brauchte, und sofort stand sie mit rasendem Herzen da und dachte an den gesichtslosen Kriminellen aus Boston, vor dem sie sich seit fünfzehn Jahren fürchtete.

»Das war Jon, und zwar hundertprozentig. Vor gerade mal zwanzig Minuten war er in Parson’s Drugstore –«

Houndog legte den Kopf schräg, stieß ein aufgeregtes Bellen aus und schoss so eilig von der Veranda, dass der Flickenteppich gegen die Hauswand rutschte. Kläffend schoss er ums Haus. Eine böse Vorahnung beschlich Kate – es sah so aus, als hätte Cornelia recht. Wieder einmal. Ach, Jon, warum?

»Viel Glück. Es ist nicht leicht, pubertierende Jungs großzuziehen, schon gar nicht ohne männliche Hilfe. Sie machen nichts als Ärger. Jeder einzelne von ihnen.«

Wumm! Die Fliegengittertür fiel zu.

»Wir sprechen später weiter.« Kate legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten. »Jon?«, rief sie.

»Scheiße! Verdammte Scheiße!« Jons Stimme, die zwischen tiefen Tönen und hohem Kieksen wechselte, hallte durchs Erdgeschoss.

»Was machst du denn schon so früh zu Hause?«

Schritte donnerten die Treppe hinauf.

Kate wappnete sich. Wumm! Jons Zimmertür fiel so heftig ins Schloss, dass das gesamte Haus erzitterte. Die Fensterscheibe im Esszimmer klirrte. Na großartig, dachte Kate und warf einen Blick auf die Uhr. Ein Uhr mittags. Ein Punkt für Cornelia Olsen und ihre Spürnase, die immer wieder in den Problemen anderer Leute schnüffelte. Die Schule war offiziell erst in zwei Stunden zu Ende, doch ihr Sohn war bereits zurück und in grauenhafter Stimmung. Wirklich großartig. Kates Kopfschmerzen wurden stärker, pochten hinter ihren Augäpfeln.

»Herr, gib mir Kraft«, murmelte sie, während sie zur Treppe ging und nur kurz stehen blieb, als sie Houndog mitleiderweckend auf der Eingangsveranda winseln hörte. Sie schaute den verzweifelten Welpen durch den Draht der Fliegengittertür an. »Ich glaube, es ist besser, wenn du dein Herrchen im Moment nicht siehst«, sagte sie stirnrunzelnd zu ihm.

Houndog blickte unglücklich zu ihr auf, winselte, dann kläffte er durchdringend.

»Na schön, offensichtlich hast du eine masochistische Ader. Genau wie ich.« Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit, und Houndog sauste ins Haus.

Von oben ertönten Flüche, Poltern und Schlagen. Kate stieg die Treppe hinauf zum Zimmer ihres Sohnes, der schwarz-weiße Mischling zwängte sich an ihr vorbei und eilte vorneweg.

Sie klopfte, dann öffnete sie die Tür.

»Hau ab.« Jon lag auf seinem ungemachten Bett und starrte die Decke an, während er einen Baseball in die Luft warf und wieder auffing. Bücher, Klamotten, CDs, Baseballkarten und Zeitschriften lagen kreuz und quer auf dem Fußboden verstreut. Hemden und Jeans hingen aus halbgeöffneten Schubladen, auf seiner Kommode, seinem Schreibtisch oder seinem Bücherregal gab es keinen einzigen Zentimeter, der nicht mit seinen Schätzen bedeckt war – angefangen bei Modellflugzeugen bis hin zu Büchern über Zaubertricks. Houndog sprang aufs Bett und blieb schwanzwedelnd dort sitzen, doch Jon ignorierte ihn und warf weiter seinen Baseball in die Luft.

»Wir müssen reden.«

»Lass mich in Ruhe.«

Seufzend trat Kate ein und schloss die Tür hinter sich. Wartete. Er beachtete sie nicht.

»Du bist früh zu Hause.«

Keine Antwort.

»Was ist passiert?«

Er stieß einen angewiderten Laut aus, aber er blickte immer noch nicht in ihre Richtung. »Ich schwänze.«

Ganz ruhig – mach keinen Wirbel darum, ermahnte sie sich selbst. Zumindest redet er, das ist doch schon mal ein Fortschritt. Die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte sie sich mit der Schulter gegen den Türrahmen. »Du schwänzt also? Bist aus der Schule abgehauen?« Das war etwas Neues. Und es war gar nicht gut. Insgeheim hatte sie gehofft, er hätte heute früher Schulschluss gehabt und sie habe es bloß vergessen, doch natürlich hätte Cornelia dann nicht angerufen.

»Sie haben mich eh rausgeschmissen.«

Kate schob einen Basketballschuh Größe vierundvierzig beiseite, durchquerte das Zimmer und nahm auf dem Stuhl neben seinem Schreibtisch Platz. Sie fing an zu schwitzen, doch sie gab sich alle Mühe, nach außen hin gelassen zu wirken. »Rausgeschmissen? Du meinst, sie haben dich vom Unterricht suspendiert? Das klingt ernst, Jon.«

»Ja, suspendiert«, schnauzte er. »Das ist doch keine große Sache.«

»Keine große Sache?« Zorn stieg in ihr auf, doch sie beherrschte sich. Zumindest vorerst. Es war das Beste, den Problemen auf den Grund zu gehen, bevor man explodierte. »Warum?«

»Weil dieser Arsch von Todd Neider wieder mal versucht hat, mich zusammenzuschlagen. Hat mich Schwuchtel und Spinner genannt.« Jon schluckte schwer und blinzelte. »Er … er hat gesagt, ich würde ins Irrenhaus gehören.« Anstatt zu weinen, biss er die Zähne zusammen, und Kate war verblüfft, wie sehr er sich verändert hatte. Bis zu diesem Jahr war er nie vom Unterricht suspendiert worden, war nie in ernsthafte Schwierigkeiten geraten, selbst wenn die anderen Kids ihn – wie so oft – geärgert und schikaniert hatten. Er hatte viel geweint und war eine Memme, ein Mamasöhnchen genannt worden, außerdem hatte man ihm seit der Grundschule schon jede Menge anderer grausamer Schimpfwörter an den Kopf geworfen. Wann immer es Probleme gegeben hatte, war Jon zu ihr gelaufen, um bei ihr Schutz und Geborgenheit zu suchen.

Doch seit er in diesem Herbst mit der Highschool begonnen hatte, hatte er sich von ihr zurückgezogen und versucht, sich selbst zu verteidigen, darauf bedacht, sich von seiner Mutter zu distanzieren, die ihn ja doch nicht verstand. Im letzten Jahr war er nicht nur ganze fünfzehn Zentimeter in die Höhe geschossen, er hatte sich auch eine gehörige Portion Stolz und ein dickeres Fell zugelegt.

»Und warum hat Todd Neider versucht, dich zusammenzuschlagen?«

»Keine Ahnung.«

»Jon?«

»Ich hab doch gesagt: ›Keine Ahnung.‹« In seiner Stimme klang Trotz mit, sein aufrührerisch nach vorn gerecktes Kinn begann zu zittern. Sie wartete. Er fing den Ball ein letztes Mal auf, dann ließ er ihn über den Fußboden rollen. »Nun, vielleicht weil ich ihn einen dämlichen Loser genannt habe, der noch genauso enden wird wie sein Alter – ein besoffener Stahlhüttenarbeiter, der doch nie aus dieser beschissenen Stadt rauskommt.«

»Das erklärt natürlich einiges«, sagte sie und wünschte sich, sie wüsste, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte. Als er jünger gewesen war, war alles einfach gewesen. Schwarz oder weiß. Gut oder schlecht. Richtig oder falsch. Inzwischen waren die Antworten nicht mehr so leicht.

Jon lächelte nicht. »Es ist die Wahrheit. Todd Neider ist doch keinen Pfifferling wert!«

»Aha«, sagte sie, ohne ihren Sarkasmus verbergen zu können. »Und das hast du ihm gesagt? Kein Wunder, dass er dir das übelgenommen hat.«

»Er hat mich verar… er hat mich aufgezogen, weil ich einen der Computer für Miss Knowlton repariert habe. Hat mich einen durchgeknallten Streber genannt. Da habe ich ihm meine Meinung gesagt, und er hat mich nach dem Unterricht in der Halle abgefangen und versucht, mich windelweich zu prügeln.«

»Versucht?«, wiederholte Kate, der die Befriedigung, die sich auf Jons Gesichtszüge geschlichen hatte, nicht entgangen war.

»Ich habe ihn niedergeschlagen. Mit der Faust. Auf die Nase.« Jon lächelte grimmig bei der Erinnerung daran. »Überall war Blut, sogar auf Ellie Cartwrights Cheerleader-Kostüm, und dann … dann hat er mich angesprungen. Inzwischen hatten sich jede Menge Kids um uns versammelt, und dann …« Seine Stimme wurde ein bisschen tiefer. »Und dann hat Mrs. Billings uns erwischt.«

»Ich dachte, die Schule würde anrufen, wenn es Ärger gibt.«

»Ich glaube, da ist was schiefgegangen. Der Rektor war in einer Besprechung, deshalb saßen Neider und ich in diesem kleinen Raum neben dem Büro fest, bis McPherson wiederkam. Egal, ich hab’s so satt, mir den Scheiß von Todd anzuhören.« Jons Gesicht verfinsterte sich erneut. »Er hat mir alle möglichen Schimpfwörter an den Kopf geworfen, Arschgesicht, Schwanzlutscher und –«

»Schon gut, schon gut, ich kann’s mir lebhaft vorstellen.«

»Außerdem hat er mir gedroht, mich umzubringen, wenn er mich das nächste Mal in die Finger kriegt. Also bin ich aus dem Fenster geklettert und abgehauen.«

»Er hat kein Recht, dir zu drohen, schon gar nicht damit, dich umzubringen. Das ist doch –«

»- noch gar nichts.« Jon zuckte die Achseln. »Das tut er ständig. Für ihn ist das nicht mehr als eine Redensart, und weißt du, was?« Er blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an.

»Was?«

»Er würde das nie tun. Das ist alles bloß Gerede, weil Neider Angst vor mir hat. Er wird mich nicht umbringen.« Jon wirkte aufrichtig überzeugt, als könnte ein gezielter Schlag auf Todds Nase all die Jahre der Angst wettmachen.

»Wann genau ist das denn passiert?«

»Keine Ahnung.« Erneutes Achselzucken. »Kurz vor dem Mittagessen.«

Das Telefon klingelte. Kates Herz setzte einen Schlag lang aus.

Jon runzelte die Stirn. »Scheinbar haben sie in der Schule gemerkt, dass ich nicht mehr da bin.«

»Na toll«, murmelte sie sarkastisch. Es fiel ihr zunehmend schwerer, ihren Ärger zu unterdrücken. Sie war sauer auf ihn – wütend –, aber es würde nichts bringen, wenn sie anfing zu schreien. Außerdem machte sie sich Sorgen, riesige Sorgen. Es war wichtig, sich bewusst zu machen, dass sie bei diesem Gespräch die Erwachsene war. »Ich gehe ans Telefon, und du räumst auf. Pronto. Du steckst ganz schön in Schwierigkeiten, Jon, nicht nur, was die Schule anbetrifft, sondern auch mich. Du kannst nicht einfach jemandem eine verpassen, auch nicht, wenn er dich ärgert.«

»Was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Dich anrufen? Die 911 wählen? Oder mich beim Direktor ausheulen?«, knurrte er zornig, während Kate aus dem Zimmer und die Treppe hinuntereilte.

Sie riss den Hörer von der Gabel, gerade bevor sich der Anrufbeantworter einschaltete. »Hallo?«

»Mrs. Summers? Hier spricht Don McPherson.«

Ihr Magen zog sich zusammen, wie er es immer tat, wenn es Probleme mit Jon gab. Der Rektor erzählte ihr fast die gleiche Geschichte, die sie eben von Jon gehört hatte. »Das Schlimme daran ist«, fuhr McPherson mit bedeutungsschwerer Stimme fort, »dass Jon nicht hiergeblieben ist. Er hat sich davongestohlen, was einen weiteren Tag Suspendierung nach sich zieht.« Sie hörte ihn seufzen, dann das Rascheln von Papieren – vermutlich die Schulakte ihres Sohnes, die von Minute zu Minute dicker wurde. »Sie wissen, dass Jon immer schon Probleme mit den anderen hatte, doch bislang ist er nicht ausfällig geworden. Das scheint nun nicht mehr der Fall zu sein. Ich persönlich halte das auf eine gewisse Art und Weise sogar für gut. Es ist wichtig, dass er für sich selbst einsteht. Dennoch darf er deswegen nicht einfach gegen die Regeln verstoßen.«

»Das weiß ich in der Tat. Ich werde mit ihm reden.«

»Sie können seine Hausaufgaben im Sekretariat abholen, und wir machen Tabula rasa und fangen am Dienstag neu an.«

Kate schloss die Augen. »Es … es ist ziemlich schwer für ihn.«

»Ich weiß. Doch heutzutage ist es für keinen Teenager leicht. Viel Druck. Viel zu viel. In Jons Fall in einem noch weitaus stärkeren Maße.«

Kate lehnte sich gegen den Kühlschrank und rieb sich mit der freien Hand die Schläfe. Jon war ein gutherziger Junge, ein kluges Kind, das die meisten seiner Klassenkameraden für seltsam hielten. Die Eltern waren nicht viel besser. Mehrere hatten ihre Kinder bereits ermahnt, sich von »dem sonderbaren Summers-Jungen« fernzuhalten. Ein paar hatten sogar gesagt, sie hielten ihn für einen Teufelsanbeter. Und das alles nur, weil Jon über die Fähigkeit verfügte, durch eine Art Fenster in die Zukunft zu blicken. Dieses Fenster war nicht immer ganz klar, Gott sei Dank. Auch nach all den Jahren ahnte er nicht, dass er nicht ihr leiblicher Sohn war – dass es irgendwo ein richtiges Elternpaar gab.

»Gehe ich recht in der Annahme, dass er weiterhin auf einer allgemeinen Schule unterrichtet werden soll?«, fragte McPherson und kam damit auf das Thema zu sprechen, das ihr so zuwider war – die Sonderschule.

»Selbstverständlich.« Kate glaubte fest daran, dass ihr Sohn mit Kindern seines Alters zusammen sein sollte, selbst mit den grausamen. Mehr als alles andere wünschte sie sich, dass Jon sich einfügte. Verantwortung übernahm. Glücklich war. Wenn sie nur einen Weg finden würde, ihn glücklich zu machen!

»Nun, dann wollen wir nicht gleich das Handtuch werfen. Diese Situation ist nicht allein Jons Schuld, die Gegenseite ist genauso daran beteiligt. Warten wir die kommende Zeit ab. Es sind ja nur noch, na – sechs oder sieben Wochen bis zu den Weihnachtsferien. Dann sehen wir weiter.«

Kate legte auf und stieß langsam die angehaltene Luft aus. Jon und sie wohnten seit elf Jahren in Hopewell, seit sie entschieden hatte, dass auch er die wunderschönen Kindheitserlebnisse auf einer Farm haben sollte wie sie damals. Und obwohl Jon mit Gleichaltrigen nie wirklich zurechtgekommen war, hatte es doch eine Handvoll Kinder gegeben, die ihn akzeptierten. Bis Todd Neider und seine Bande letztes Jahr beschlossen hatten, die Jagdsaison auf »den Irren« zu eröffnen. Der Irre. Sie krümmte sich innerlich, wenn sie an diesen Schimpfnamen dachte. Die Pubertät an sich war schon schwer genug, wenn man so war wie die anderen Kinder, doch in Jons Fall war sie die Hölle.

 

Der Irre.

Seltsam, wie sich eine Eigenschaft, die die meisten Kinder in der Grundschule oder auf der Junior Highschool so gut wie gar nicht bemerkten, zu dem auswächst, worüber man auf der Highschool definiert wird. Eine Eigenschaft, die einen zum Loser degradierte.

Früher hielten Jons Mitschüler es für cool, wenn Jon sagen konnte, an welche Zahl Miss Meyer gerade dachte. In der vierten Klasse hatte Jennifer Caruso vor Freude nach Luft geschnappt, als er ihr eine Woche vor der offiziellen Bekanntgabe mitteilte, dass sie die Hauptrolle in der Schulaufführung spielen würde. Was einst als besondere Gabe betrachtet wurde, galt jetzt als Manko, als Absonderlichkeit, die ihn als Psychopathen abstempelte.