Im Todessumpf - Heinz Böhm - E-Book

Im Todessumpf E-Book

Heinz Böhm

0,0

Beschreibung

Der entscheidende Elfmeter Jedes Jahr findet zwischen dem Gymnasium und der Realschule das große Fußballspiel statt. Beim letzten Spiel stand Klaus im Schatten von Wicki, dem besten Spieler der gegnerischen Mannschaft. Das will er nicht noch einmal erleben. Um dies zu verhindern ist ihm jedes Mittel recht, auch Erpressung … Der Verdacht liegt auf Charlie Zirkus Rinetti kommt in eine Kleinstadt. Ingo, ein Junge aus der Stadt, und Toni, der zum Zirkus gehört, werden schnell Freunde, die sich gut verstehen und viele zusammen sind. Toni hat seinen Vater verloren, als dieser bei einem Trapezunfall ums Leben kam. Charlie, der Clown, wurde ihm zum zweiten Vater. Toni mag Onkel Charlie sehr. Da geschieht das Unfassbare. Der Direktor des Zirkus wird bestohlen. Der Verdacht liegt auf Charlie, weil man ihn im Kostüm seines Manegeauftrittes in der Nähe des Tatort sah. Für Toni bricht eine Welt zusammen! Kann das wirklich sein? Musste Charlie wirklich fristlos gekündigt werden? – Die beiden Jungen machen sich auf die Suche nach dem Täter. Der Todessumpf Der kleine blonde Volker liebt seinen Onkel Eduard über alles. Skeptisch beobachtet der Vater, wie sich ein herzliches Verhältnis entwickelt, das er nicht beeinflussen kann. Außerdem liest der Onkel dem Jungen immer aus der Kinderbibel vor … Dann kommen die langersehnten Ferien in der Heide! Die häuslichen Spannungen werden vergessen, denn Onkel Eduard bleibt daheim, um Haus und Garten zu hüten. Doch während der schönen Ferientage kommt ein Anruf: Onkel Eduard ist mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus gekommen. Es steht ernst um ihn. Da lösen eine plötzliche Wut des Vaters und Volkers überraschendes Handeln Angst, Besorgnis und turbulente Ereignisse aus … Von Wölfen gehetzt Familie Keller macht in seinem rumänischen Dorf Winterurlaub. Bei einer ausgiebigen Schneewanderung werden der Vater und seine beiden Kinder von Wölfen überrascht. Wattnebel Zwei Menschen allein im Watt. Unter dem blauen Himmel schreien die Möwen. Unaufhaltsam rinnen die Wasser landeinwärts, die Flut kehr zurück. Plötzlich erscheint eine graue Nebelbank über dem flimmernden Deich. Der Vater erschrickt und reißt seinen Sohn von dem Haufen bläulich schimmernder Muscheln weg. »Wattnebel«, flüstert er. »Schleichender Tod … Lauf, Junge, lauf!« Eine Szene aus »Wattnebel«. Ganz überraschend werden Vater Gerd Holthaus und sein Sohn Jens mit einer tödlichen Gefahr im Watt konfrontiert. Die Mutter und die Tochter Nicole suchen inzwischen auf der anderen Seite des Deichs nach den Vermissten. Werden sie die Verlorenen wiederfinden? Wird rechtzeitig Rettung kommen? 6 Abenteuer in einem Band

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 310

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Im Todessumpf

6 spannende AbenteuerAbenteuer-Band 4

Heinz Böhm

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Heinz Böhm

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-082-7

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

Dieses eBook darf ausschließlich auf einem Endgerät (Computer, eReader, etc.) des jeweiligen Kunden verwendet werden, der das eBook selbst, im von uns autorisierten eBook-Shop, gekauft hat. Jede Weitergabe an andere Personen entspricht nicht mehr der von uns erlaubten Nutzung, ist strafbar und schadet dem Autor und dem Verlagswesen.

Inhalt

Titelblatt

Impressum

DER ENTSCHEIDENDE ELFMETER

DER VERDACHT LIEGT AUF CHARLIE

Zwei Jungen lernen sich kennen

Zirkus Rinetti

Spannung, Beifall, Zirkusluft

Mit der Jungschar ins Sauerland

Am Lagerfeuer

Ein wichtiges Nachtgespräch

Die Schreckensnachricht

Charlie meldet sich

Treffpunkt: »Sternenhof«

Der Unheimliche am Fluss

Was keiner gedacht hätte

Wie ein Traum, aber doch Wirklichkeit

IM TODESSUMPF

Onkel Eduard

Ein Sonntag am Baggersee

Ferien in der Heide

Eine Schreckensnachricht

Volker haut ab

In Todesgefahr

Doppelte Heimkehr

Viel Blumen und große Freude

VON WÖLFEN GEHETZT

Von Wölfen gehetzt

HELGRÖ IM GOLDRAUSCH

Helgrö im Goldrausch

WATTNEBEL

Eine ganz normale Familie

Omas siebzigster Geburtstag

Die grüne Insel Pellworm

Schimmernde Muschelfelder

Ein paar Turnschuhe am Deich

Die Flut kommt pünktlich

Unsere Empfehlungen

DER ENTSCHEIDENDE ELFMETER

»Tor! Tor! Tor!«

Jubelnd rissen die Schüler der Blauenberger Mannschaft die Arme hoch. Von der Sechzehnmeter-Grenze aus hatte Wicki den ihm zugespielten Ball mit einem gewaltigen Schuss in den oberen rechten Winkel des Tores gejagt. Der Torwart lag mit auf geschrammten Knien in der Ecke. Wicki wurde von seinen Kameraden stürmisch umarmt. Im gleichen Moment setzte drüben am Rand des Spielfeldes ein vielstimmiger Chor ein. »Hi, ha, ho, die Sprengers sind k. o. Hi, ha, ho, die Sprengers sind k. o.!«

Das Schreien schwoll immer stärker an. Klaus, der Kapitän der geschlagenen Mannschaft, hielt sich die Ohren zu, aber die Stimmen wurden immer herausfordernder, immer lauter. Klaus warf einen schnellen Blick auf seine Uhr. Noch fünf Minuten. Das Spiel war verloren. Verloren, nur wegen Wicki, diesem Zugezogenen. Klaus fühlte eine unbändige Wut in sich aufsteigen. Seine Blicke trafen sich mit denen des Torschützen. Sie funkelten nur so vor Triumph. Seiner selbst nicht mehr mächtig stürmte er auf den Torschützen zu und schlug ihn mitten ins Gesicht.

»Au, au, au!«

Klaus tastete verwirrt um sich. Ein Druck, und die Nachttischlampe leuchtete auf. Mit einem Ruck setzte er sich in seinem Bett auf und rieb sich die schmerzende Hand. Mit voller Wucht hatte er an die Bettkante geschlagen. Egal, Hauptsache, es war alles nur ein Traum. »Wir haben gar nicht verloren, wir haben gar nicht verloren«, murmelte er voller Erleichterung. Aber sollte der Traum nicht eine Warnung sein? Im vorigen Jahr hatte Wicki mit einem Strafstoß den Sieg buchstäblich in letzter Minute herausgeschossen. Aber morgen, morgen durften die Blauenbergs nicht gewinnen. Klaus spürte wie er immer wacher wurde. Seine Gedanken arbeiteten auf Hochtouren. Wie könnte man verhindern, dass der »Pele« der Blauenberger spielte? Überhaupt, solch eine Angeberei, den Neuen »Pele« zu nennen. Klaus schob mit einem Ruck sein Deckbett beiseite. Es war warm im Zimmer. In der Stille hörte er plötzlich die dunkle tiefe Stimme seines Vaters. Klaus schlüpfte in seine Pantoffeln und schlich auf spitzen Sohlen zum Fenster. Er beugte sich über die Brüstung. Seine Eltern hatten noch Besuch bekommen. Ein in rötlichem Glas gefasstes Windlicht warf gespenstische Schatten in den nächtlichen Garten. Klaus beugte sich noch etwas weiter vor. Jetzt erkannte er die beiden Gäste. Sie waren im vergangenen Jahr auch auf Texel gewesen, und zwischen ihnen und den Eltern hatte sich eine nette Ferienbekanntschaft ergeben. Sie wohnten in der etwa dreißig Kilometer entfernten Nachbarstadt und hatten ihren Besuch schon wiederholt angekündigt. Gerade wollte Klaus das Fenster schließen, als er seinen Namen hörte. Von Lachen begleitet, machte sein Vater eine kreisende Armbewegung.

»Ich will nicht behaupten, dass der Junge kein Talent hat, aber in diesem, na wie nennen sie ihn denn noch … in diesem Wicki hat er seinen Meister gefunden.« »Sogar weniger gegessen hat er heute Abend«, warf die Mutter lachend ein. Klaus spürte ein Unbehagen in seiner Magengegend. Was redeten seine Eltern da? Was ging es diese beiden an, wer der Fußballstar der Schülermannschaften war? Der Mann schien sehr interessiert.

»Spielt Klaus in einem Club?«

»Das nicht. Aber jedes Jahr findet zwischen dem Gymnasium und der Realschule der Fußballkampf des Jahres statt. Eine Auswahl des Gymnasiums spielt gegen eine Auswahl der Realschule, und da geht es immer hoch her, sag ich Ihnen. Voriges Jahr war ich leider nicht dabei, aber dieser Jerrowicki soll schon eine Kanone sein. Die Mitschüler haben ihm den Namen ›Pele‹ gegeben.«

»Jerrowicki?«

Klaus wollte gerade das Fenster schließen, doch die Stimme des Mannes ließ ihn gespannt auf horchen. »Sagten Sie Jerrowicki, Herr Meißner?«

»So ist sein Familienname, er wird aber nur Wicki genannt.«

Der Mann wandte sich seiner Frau zu.

»Vor etwa zwanzig Jahren spielte ein Mann dieses Namens in unserem Fußballclub. Er war eine Kanone. Er könnte der Vater dieses Jungen sein; denn Jerrowicki ist immerhin kein alltäglicher Name.«

Herr Meißner nickte.

»Er wohnt erst seit gut einem Jahr bei uns, aber er mischt in der Kirchengemeinde schon tüchtig mit.« »Was? Soll das heißen, dass dieser Mann fromm geworden ist?«

»Es sieht ganz so aus. Er ist eifrig dabei, und auch sein Junge ist in der christlichen Jugendgruppe mit vornedran.«

»Das verstehe ich nicht …«

Die Stimme des Mannes wurde zunehmend leiser, als ob man sie mit einem Knopf zurückgedreht hätte. Die vier Erwachsenen unten auf der Terrasse steckten plötzlich die Köpfe zusammen. Der nächtliche Lauscher streckte seinen Kopf weit aus dem Fenster heraus. Einige Wortfetzen drangen an sein Ohr, aber diese wenigen Worte genügten. Sollte sich durch dieses Erlauschte die große Gelegenheit bieten, den gefürchteten Torjäger morgen auszuschalten? Klaus schlich leise in sein Bett zurück. Das war die Gelegenheit! Nun musste das Gehörte gründlich durchdacht und sortiert werden. Jetzt nur ruhiges Blut bewahren und keine Fehler machen! Klaus zog sich die Decke bis zum Hals, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und dachte nach. Wenn »Pele« nicht spielte, dann war die Niederlage für die Blauenbergs ziemlich sicher. Oder? Mit einem Ruck setzte Klaus sich in seinem Bett. Seine Blicke streiften die Armbanduhr.

»Kurz nach zehn.«

Entschlossen schlüpfte er aus dem warmen Bett und kleidete sich an. Seine Eltern würden mit dem Besuch noch auf dem Balkon bleiben, also könnte er unbemerkt das Haus verlassen. Mit klopfendem Herzen schlich er noch einmal leise an das Fenster. Es war noch Licht auf der Terrasse.

Wenige Sekunden später huschte er aus seinem Zimmer heraus, die Treppe hinunter. Die ganze Sache konnte in einer halben Stunde erledigt sein. Für den Notfall war es gut, wenn er für den Rückweg den Kellerschlüssel mitnahm. Sein Vater hatte die Angewohnheit, vor dem Schlafengehen die Sicherheitskette vor der Haustür zu befestigen. Einen Augenblick blieb er noch zögernd stehen. Von der Terrasse her vernahm er gedämpftes Lachen. Seine Hand ergriff die kalte Türklinke. Vorsichtig drückte er sie herunter.

Eigentlich war es furchtbar gemein, was er da vorhatte.

Es gab aber keine andere Wahl, und solch eine Gelegenheit schien ihm ein Geschenk des Himmels … wenn man diese Redensart auch auf solche Geschenke anwenden konnte. Also weg mit den Skrupeln, schließlich ging es um die Ehre der ganzen Schule. Auch Herr Sprenger, der Direktor, würde sich freuen, wenn die Blauenbergs das Maul gestopft bekämen.

Nachdem er fünf Minuten schnell gelaufen war, bog Klaus von der Hauptstraße in einen unbefestigten Wiesenweg ab. Er konnte in der Dämmerung noch das kleine Haus erkennen. Ein Fenster war erleuchtet. Klaus frohlockte innerlich. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er seinen Rivalen schon wiederholt hinter diesem Fenster sitzen sehen. In der Nähe des Hauses blieb er schwer atmend stehen. Erst ein bisschen verschnaufen. Im Schutz des Zaunes schlich er an das Haus heran. Etwa vier Meter über ihm war das erleuchtete Fenster. Klaus bückte sich und sammelte winzige körnige Steine. Hoffentlich war das »Peles« Zimmer.

Klaus hatte sich nicht geirrt. In diesem erleuchteten Zimmer schlief sein großer Gegner. Wicki lag in seinem Bett und las ein spannendes Buch. Plötzlich schreckte er zusammen. Ihm war, als ob etwas an die Fensterscheibe geprallt wäre. Da wieder … »klick, klick«. Er löschte das Licht aus und huschte an das Fenster. »Klick, klick.« Erneut trommelten einige kleine Steine gegen die Scheibe. Wicki riss das Fenster auf. Seine Blicke versuchten, die Dunkelheit zu durchdringen. »He, Pele, ich muss mit dir sprechen.«

Wicki traute kaum seinen Augen. Was wollte denn der Mannschaftskapitän der Realschule von ihm?

»Du hast wohl heute zu lange in der Sonne gelegen?«

»Dir wird dein Spotten gleich vergehen. In spätestens drei Minuten erwarte ich dich hier unten.«

»Ich denke ja nicht daran, hau ab.«

»Vielleicht muss ich deinem Gedächtnis ein wenig nachhelfen. Mir sind heute interessante Dinge zu Ohren gekommen.«

Klaus hatte sich hinter dem Zaun ganz aufgerichtet. Mit hämischem Grinsen verkündete er Wicki das Erlauschte.

»Jetzt begreifst du, dass ich keinen Spaß mache und auch keinen verstehe.«

Klaus stellte befriedigt fest, dass die Sätze, die er dem anderen zugerufen hatte ihre Wirkung nicht verfehlten, denn er sah, dass Wicki zusammenzuckte.

»Das saß, nicht wahr, kommst du jetzt runter?«

»Ich bin gleich da, Klaus, warte, zwei Minuten.«

»Na siehst du, warum denn erst so widerspenstig?« Klaus ließ sich auf dem weichen Grasboden nieder. Tatsächlich – kaum war eine Minute vergangen – trat Wicki sich vorsichtig umschauend auf die Straße hinaus. Klaus zog sich an dem stabilen Zaun hoch und schlenderte nachlässig auf den anderen zu. Er zog vor, jede Art von Vertraulichkeit oder gar Begrüßung durch Händeschütteln zu unterlassen.

»Was willst du von mir?«

Wickis Stimme bebte.

Am liebsten hätte er in dieses überlegen grinsende Gesicht hineingeschlagen. Der andere schien diese Gedanken mit Genugtuung zu lesen.

»Möchtest mich wohl am liebsten umbringen, aber das dürfte wohl kaum mit deinen christlichen Grundsätzen übereinstimmen.«

Er strich sein verschwitztes Haar zurück.

»Aber kommen wir zur Sache.«

»Und die wäre?«

Klaus tat verwundert.

»Ahnst du nicht, welches Anliegen mich zu dieser späten Stunde vor eure Hütte treibt?«

Wicki wich den spöttischen Blicken aus.

»Du möchtest, dass ich morgen nicht spiele, nicht wahr?« »Beinahe hast du es erraten, aber nicht ganz. Mitspielen musst du schon, aber …«

Klaus zog den Kellerschlüssel aus seiner Hosentasche und drehte ihn zwischen seinen Fingern.

»Manchmal hat man einen schlechten Tag. Man ist einfach nicht in Form. Selbst bei den Assen der Bundesliga kommt das ja hin und wieder vor.«

Wicki kämpfte gegen ein plötzliches Schwindelgefühl. Er lehnte sich an den Zaun. Unerbittlich kam die Stimme des anderen.

»Ich warte auf deine Antwort. Meine Alten wissen nicht, dass ich noch frische Luft brauchte.«

»Du Erpresser!«

Klaus zuckte zusammen. Er trat ganz dicht an Wicki heran. »Mach, was du willst, aber meine Erzählkunst wird in den nächsten Tagen allerlei hörbereite Ohren finden. Streng dich morgen an, ,Pele'.«

Bevor Wicki noch richtig denken konnte, hatte Klaus sich abgewandt und eilte mit schnellen Schritten den dunklen Weg entlang. Wicki stand wie erstarrt. Nein, das durfte nicht sein.

»Bleib stehen, Klaus, bleib stehen!«

Der Angerufene wandte sich um. Wieder standen sie voreinander. Auf Wickis Stirn standen einige dicke Schweißtropfen.

»Ich mache alles, was du verlangst, nur halt die Klappe.« Er streckte Klaus die Hand hin.

»Versprichst du mir, es keinem zu sagen?«

Klaus griff zögernd zu. ,Du bist hundsgemein', schrie es in seinem Innern. Aber nun konnte er nicht mehr zurück.

»Gut, ,Pele', es ist eine Art Notwehr, dass ich so handle. Ich werde es nie mehr wiederholen.«

»Wer hat dir denn davon erzählt?« stotterte Wicki.

»Das spielt wohl kaum eine Rolle. Ich habe so meine Quellen, verstehst du …«

Und ob Wicki verstand. Die beiden trennten sich. Klaus schritt langsam und nachdenklich seinem Elternhaus zu. Erpresser hatte Wicki ihn genannt. Erpressung gehört mit zu dem Gemeinsten, was es gibt. Und außerdem, die Garantie, dass sie morgen die Blauenbergs schlagen würden, hatte er auf keinen Fall. Klaus kamen in diesem Augenblick Bedenken, und ein schlechtes Gewissen hatte er auch.

Zum Glück war der Besuch noch da, und ohne bemerkt zu werden, gelangte er in sein Zimmer. Er lag noch lange wach. Vergeblich versuchte er, sein Handeln zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Er hatte gemein gehandelt, und nun musste er abwarten. Das fröhliche Lachen unten auf der Terrasse ging ihm stärker auf die Nerven.

»Wenn du wüssten, wenn die wüssten.« Endlich schlief er ein und erwachte erst spät am nächsten Morgen.

Die große Stunde war gekommen. Jubelnd wurden die beiden Mannschaften von den zahlreichen Zuschauern empfangen. Was war das für ein Gedränge und Durch einander! Nicht nur Schüler waren da, auch Lehrer, selbst Direktor Blauenberg, der Leiter des Gymnasiums, und Herr Sprenger, der Leiter der Realschule, wollten sich das Spiel nicht entgehen lassen. Die beiden Herren standen sogar nebeneinander. Sie waren in aus–gezeichneter Laune. Der Turnlehrer fungierte als Schiedsrichter. Die beiden Mannschaften standen alle um ihn herum und hörten sich seine letzten Verhaltensregeln an.

»Wer unfair spielt, fliegt vom Platz, meine Herren.« Ein aufgebrachtes Murmeln war die Antwort.

»Was denken Sie denn von uns«, empörte sich ein kleiner Junge der Sprenger–Mannschaft.

»Es war nur eine Warnung und jetzt verteilt euch!« Die Menge löste sich auf. Der Turnlehrer blickte auf seine Uhr. Pünktlich um 14.00 Uhr sollte der Anstoß sein. Er steckte seine Trillerpfeife in den Mund.

Die Blauenbergs spielten ganz in Weiß und die Sprenger–Elf in Schwarz. Klaus bemerkte, wie sich zahlreiche Augenpaare auf Wicki richteten, und in seinem Herzen regte sich der Neid. Wicki aber schien diese Blicke nicht zu bemerken. Er hatte den Kopf gesenkt und starrte wie abwesend auf den roten Sand des Sportplatzes. Die Blauenbergs hatten Anstoß. Sofort wurde Wicki angespielt. Klaus griff ihn an und versuchte, ihn mit seinen Blicken zu warnen. Wicki fegte los, umspielte einen der Verteidiger, täuschte den herbeispringenden Mittelläufer, und als ein dritter Abwehrspieler mit langen Sätzen herbeigehetzt kam, schob er den Ball seinem Kameraden Friedhelm zu, gegen dessen Bombenschuss von der Elfmetermarke aus keine Abwehrchance bestand. Die Blauenbergs jubelten los.

»Bravo! Bravo!« schrie der Direktor mit seiner lauten Stimme. Vor Begeisterung schlug er seinem Kollegen Sprenger auf die Schulter.

»Das war ein Schuss!«

Herr Sprenger lächelte gequält. Er zog ein blütenweißes Taschentuch hervor.

»Furchtbar heiß heute.«

Hinter ihm jubelten die Blauenberg-Anhänger.

»Das war echt ›Pele‹.«

In Klaus kochte ein ganzer Vulkan. Während die Blauenbergs noch jubelten, drängte Klaus sich an Wicki heran. Er war rot vor Wut und zischte ihm zu:

»Noch in der Halbzeit werden einige Schüler unser Geheimnis erfahren, das schwöre ich dir.«

Wie gut tut es seinem inneren Zorn, als er die plötzliche Blässe auf dem Gesicht seines Gegners bemerkte. »Ich halte mich ab jetzt an mein Versprechen«, keuchte Wicki und sah den anderen flehend an.

»Gut, die letzte Chance für dich.«

Schon den Anstoß fingen die Blauenbergs wieder ab. Klaus hielt sich in Wickis Nähe auf. Der durfte kein Tor schießen und auch keines mehr einleiten!

Das Spiel wurde ausgeglichen. Direktor Blauenberg griff in seine Brusttasche und zog zwei Zigarren heraus. Leutselig bot er seinem Kollegen eine davon an. Klaus steigerte sich immer mehr in Form. Er ließ Wicki nicht mehr aus den Augen. Wie ein Schatten umkreiste er seinen Gegner. Die Blauenbergs samt ihrem zahlreichen Anhang wurden langsam nervös. Sie hatten geglaubt, dieses Tor in den ersten dreißig Sekunden sei der Anfang zu einem Torreigen gewesen. Einige Pfiffe gellten über das Spielfeld. Ein Sprechchor bildete sich.

»Pele! Pele!«

»Die Suppe wird euch gründlich versalzen«, zischte Klaus zwischen den Zähnen. Immer wieder wurde er angespielt. Drüben am Rande standen einige Mädchen; auch Angelika, der er besonders imponieren wollte. Mit Stolz bemerkte Klaus, wie er nach und nach zum Mittelpunkt des Spielgeschehens wurde. Sein Selbstbewusstsein wuchs. Jetzt kam von rechts eine herrliche Flanke herüber. Klaus nahm sie geschickt auf und preschte los. Hinter sich hörte er das Keuchen des gegnerischen Verteidigers. Blitzschnell stoppte er den Ball ab, und der andere rannte an ihm vorbei. Eine geschickte Drehung und Klaus war an dem Verteidiger vorbei. Bevor der Torwart reagieren konnte, sauste die lederne Kugel flach und unhaltbar in die linke Torecke. Ein ungeheures Geschrei brach los. Angelika hatte ihr buntes Kopftuch in der Hand und schwenkte es voller Begeisterung. »Gut, der Meißner! Gut, der Meißner!«

Klaus musste an sich halten, um sich nicht vor dem Publikum zu verbeugen. Der Ausgleich war geschafft. Nach dem Halbzeitpfiff stürmten die Jugendlichen auf den Platz. Wicki war bald von einer Gruppe Klassenkameraden umringt.

»Mensch, Wicki, bist du krank? So schlecht warst du noch nie.« Auch Wickis Vater war zu dem Kampf gekommen. Aus einiger Entfernung beobachtete er seinen Sohn. Irgend etwas gefiel ihm nicht. Diese seltsam traurigen Augen. Was hatte Wicki nur?

Nach der Halbzeit griff die Sprenger-Elf pausenlos an. Für die Blauenbergs reichte es nur zu wenigen Konterangriffen. Da – eine große Möglichkeit für Wicki. Beide Zuschauergruppen hielten den Atem an. Doch das Unverständliche geschah. Wicki schoss aus etwa zehn Metern Entfernung hoch über die Querlatte. Wütendes Pfeifen setzte ein. Klaus kämpfte verbissen. Heute mussten sie den Sieg bekommen. Da – wieder eine Chance! Klaus spielte seinem Freund Willi einen herrlichen Paß zu. Willi stürmte auf das gegnerische Tor zu. Der Tormann der Blauenbergs lief ihm entgegen. Willi schoss, und mit einem wahren Panthersatz fälschte der Torwart das Leder zur Ecke ab. Die Blauenbergs-Anhänger jubelten.

»,Pele' vom Platz«, kreischte eine hohe Stimme.

Lautes Lachen antwortete. Herr Jerrowicki drehte sich nach dem vorlauten Rufer um. Inzwischen hatte sich einer der Flügelstürmer den Ball zur Ecke zurechtgelegt. Noch zehn Minuten waren zu spielen, und noch immer stand es 1 :i, unentschieden. Die Hintermannschaft der Sprengers war weit auf gerückt. Jetzt oder nie musste die Entscheidung fallen. Mindestens sechzehn Spieler standen im Strafraum. Schön kam der Ball herein. Mit einem todesmutigen Satz sprang ein Abwehrspieler der Blauenbergs hoch und köpfte den Ball aus der Gefahrenzone heraus, genau vor den verblüfften, weitaufgerückten Spielmacher der Sprenger-Elf. Es war Klaus. Ehe überhaupt jemand reagieren konnte, nahm er den Ball auf den Fuß und sein unhaltbarer Schuss knallte oben ins linke Dreieck. Genau wie diese Nacht im Traum, dachte Klaus voller Begeisterung, da wurde er schon von seinen triumphierenden Kameraden umarmt, Herr Meißner am Rande des Spielfeldes vollführte einen wahren Indianertanz. Wie stolz war er in diesem Augenblick auf seinen Sohn. Dieser Wicki konnte seinem Jungen nicht das Wasser reichen. Herr Sprenger klatschte so stürmisch, dass ihm die Hände weh taten. Direktor Blauenberg sog wütend an seiner ausgegangenen Zigarre.

»Ein herrliches Tor, aber auf der falschen Seite,« brummte er.

Er konnte nicht verhindern, dass die Jugend hinter ihm einen Mordsspektakel aufführte. Direktor Blauenberg drehte sich um. Sein Gesicht hatte sich gerötet, und es war nicht ganz auszumachen, ob es durch die Hitze oder durch die Aufregung kam. Unermüdlich bestürmten die Sprengers das gegnerische Tor. Noch fünf Minuten waren zu spielen.

»Die Tore hängen ja förmlich in der Luft«, begeisterte sich Herr Sprenger.

»Wenn sie hängen, ist das noch erträglich, Hauptsache, sie kommen nicht runter«, antwortete der Direktor mit kläglicher Stimme. Klaus war der Turm in dieser Schlacht. Immer mehr kam er zu der Überzeugung, heute unüberwindlich zu sein. Das machte ihn stolz und übermütig. Ein harmloser Ball brachte ihn drei Minuten vor Schluss noch in eine brenzlige Situation. Anstatt den Ball sofort abzuspielen, fummelte er etwas zu lange, und bevor er es fassen konnte, war ein gegnerischer Stürmer heran, köpfte den Ball weg und jagte auf das Tor los. Klaus stand wie erstarrt. Dann fegte er hinter dem anderen her. Das durfte doch nicht wahr sein. Bei einem Unentschieden sollte es zweimal zehn Minuten Verlängerung geben, so hatte man beschlossen. Und ob die Reserven dazu reichten? Mit Riesensätzen sprang Klaus hinter dem Stürmer der Blauenbergs her. Dieser holte zu einem seiner gefürchteten Schüsse aus. Da war Klaus auch schon heran. Und als letztes Mittel stellte er sein langes Bein. Der Stürmer überschlug sich zweimal, und der Ball rollte wirkungslos neben dem Tor ins Aus. Unter den Zuschauern brach ein Tumult los.

»Pfui! Pfui! Vom Platz. Der Kerl muss vom Platz!«

Der Schiedsrichter zeigt mit unbestechlicher Geste auf den Elfmeterpunkt. Er wandte sich dem unfairen Spieler zu.

»Klaus, musstest du in letzter Minute deine Sympathie auf diese Weise verscherzen? Eigentlich müsste ich dich vom Platz stellen.«

Klaus wandte sich trotzig ab.

»Pele soll ihn schießen.«

Der Vorgeschlagene schüttelte den Kopf.

»Nein, lasst mich heute aus, heute nicht.«

»Du hast noch keinen Elfmeter verschossen, du musst ihn schießen.«

Wickis Blicke trafen sich mit denen seines größten Gegners. Der andere hielt seinem Blick stand. Der Schiedsrichter legte den Ball auf die Elfmetermarke. Wicki spürte, wie ihm seine Knie zitterten. Hilflos blickte er sich nach seinen Kameraden um. Sie nickten ihm aufmunternd zu. Auf dem sommerlichen Sportplatz war es plötzlich so still geworden, dass man das Trillern einer Lerche hörte. Wieder trafen sich die Blicke der beiden. Der Torwart der Sprengers kauerte mit angewinkelten Knien in der Mitte des Tores. Der schrille Pfiff der Pfeife durchschnitt die Stille. Wicki lief an. In seinem Kopf dreht sich alles. Ungeheuer scharf jagte das Leder auf das Tor zu. Der Ball fegte nur wenige Zentimeter am linken Pfosten vorbei, ins Aus. Der Torschrei der Blauenberger-Anhänger erstickte, und dann brach der

Jubel auf der Gegenseite aus. Der Direktor schlug sich vor Entsetzen vor seine gerötete Stirn.

»Das gibt es doch nicht!«

Die Sprenger–Elf lag sich jubelnd in den Armen. Nach dem Abpfiff des Spieles liefen die Realschüler johlend auf den Platz. Klaus wurde begeistert hochgenommen und auf den Schultern seiner Kameraden vom Platz getragen. Als er sich triumphierend umdrehte, fühlte er Wickis braune Augen auf sich gerichtet. Diesen Blick würde er nie vergessen. Aber jetzt war er der gefeierte Mittelpunkt. Herr Sprenger strahlte vor Freude und Stolz.

»Meine Herren, ich danke euch für diesen Kampf. Den letzten Schönheitsfehler von Meißner wollen wir geflissentlich übersehen.«

»Es war die letzte Möglichkeit, Herr Sprenger«, verteidigte sich Klaus.

»Eben. Gut, dass der andere die letzte Möglichkeit verschoss. Im vorigen Jahr war es anders.«

Eine extra Belohnung bedeutete es für Klaus, dass Angelika ihn mit unverhohlener Bewunderung anstarrte. Dieser Kampf war gelaufen. In der Umkleidekabine ging es wie in einem Bienenhaus zu.

»Diesen Elfmeter hätte ich nicht gehalten. Ich stand wie erstarrt, als das Leder angeflitzt kam.« Der Torwart wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Überhaupt, mir scheint es ein besonderes Geschenk zu sein, dass ,Pele' heute solch eine Flasche war.«

»Und Klaus war der überragende Mann«, begeisterte sich Willi und schlug dem Freund wohlwollend auf die Schulter.

»Allerdings, das letzte Tor war eine Wucht.«

Klaus wurde zusehends stiller. Ein Glück, dass die Kameraden seine Gedanken nicht lesen konnten. Diesen entscheidenden Elfmeter hatte Wicki ganz bewusst vorbeigeschossen. Ihm fiel eine Geschichte ein, die sie kürzlich im Deutschunterricht gelesen hatten. ,Der Sieger geht leer aus’, von Ernest Hemmingway. Alle Freude begann sich wie Nebel aufzulösen. Wickis Blick war eine einzige Anklage gewesen. Vor der Umkleidekabine erwartete ihn sein strahlender Vater.

»Junge, ich bin stolz auf dich. Diese zwei Prachttörchen sollen nicht unbelohnt bleiben.«

Der Vater brach ab.

»Mensch, du guckst ja, als ob ihr eine Niederlage eingesteckt hättet? Was ist denn los? Ein bisschen fertig, wie?«

Er winkte ab.

»Hast ja auch gekämpft wie ein Löwe.«

Klaus unterließ es, den Vater anzuschauen. Gut, dass er ihm eine plausible Ausrede für sein Verhalten lieferte.

»Ja, Papa, es ist nur die ungeheure Anstrengung. Bald bin ich wieder ganz in Form.«

»Das will ich wohl meinen, und nun werden wie den Sieg mit einem großen Eisbecher im Dolomiti Café feiern. Du hast doch nichts dagegen?«

»Bestimmt nicht, Papa.«

Pfarrer Soldauer hielt jeden Samstag im Jugendraum des Gemeindehauses eine CVJM-Stunde ab. Die Schar war nicht besonders groß. Sein Vorgänger hatte keine glückliche Hand mit der Jugend, wie man so sagt, und so stand die Arbeit erst in den Kinderschuhen. Zu der Gruppe gehörten zwölf sogenannte Beständige, und acht weitere Jungen kamen gelegentlich. Der Pfarrer zog die Stunde mehr als Gespräch über die Bibel auf, anstatt die Jungen nur anzupredigen. Sie sollten mitarbeiten. Nach einer kurzen Einleitung zu dem vorliegenden biblischen Text gab er das Gespräch frei.

Wicki war mit seinen Gedanken abwesend. Der Pfarrer versuchte, ihnen anhand der Bergpredigt einige wichtige Gedanken zu erklären. Wicki hob seinen Kopf. Jetzt fiel ein Satz, der ihn aushorchen ließ. Der Seelsorger sprach langsam und eindringlich.

»Die größte Not für den Glaubenden erweist sich im Umgang mit seinen Mitmenschen. Wir reden schnell vom lieben Gott, von unserem Glauben an ihn, aber den Bruder könnten wir manchmal umbringen.«

Er wandte sich an seinen Nebenmann.

»Was meinst du, Rudi, worin könnte unsere Not in unserem persönlichen Leben bestehen? Versuch einmal diesen Text aus der Bergpredigt in unseren, oder meinetwegen ganz konkret, in deinen Alltag zu übertragen.

Der Angesprochene dachte nach.

»Ich würde sagen, das Wort Jesu in unserem Text zeigt unsere tiefste Not auf, nicht nur für die Menschen damals, sondern auch für uns heute.«

Er las einen Vers aus der Bergpredigt.

»Geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und opfere deine Gabe.« (Matthäus 5, 24)

»In der Tat, echte Frömmigkeit erweist sich im Verhältnis zu unserem Nächsten. Oder ist jemand anderer Meinung? Wie denkst du darüber, Wicki?«

Obwohl Wicki mit seinem richtigen Namen Uwe hieß, nannte der Pfarrer ihn so, wie er von allen genannt wurde. Der Angesprochene überlegte einige Augenblicke.

»Meiner Meinung nach gibt es außergewöhnliche Situationen, in denen Jesus andere Maßstäbe anlegt.«

Der Seelsorger verstand nicht ganz.

»Das musst du uns erläutern.«

»Ich meine, dass wohl ein Unterschied besteht, ob ich ein paar Äpfel gestohlen habe, oder wenn …« Wicki suchte nach Worten, … wenn einer bis in die Tiefe der Seele verletzt worden ist.«

»Hm, hm, was meint ihr?«

Die Blicke des Pfarrers kreisten in der Runde. Wicki brannte auf die Antwort, obwohl er nach außen hin den Gelassenen spielte. Hier lag doch sein Problem. Nach dem verschossenen Elfmeter hatte sich die Angst vor Klaus in einen grenzenlosen Hass verwandelt. Rachebrütend hatte er nach dem Spiel in seinem Zimmer gesessen.

Rudi meldete sich.

»Ich würde sagen, Wicki liegt richtig. Ich glaube auch, dass es leichte und schwere Sünden gibt.

»Gut, lassen wir das mal auf sich beruhen und gehen von dem Grundsatz aus, dass sie auf jeden Fall ausgeräumt werden müssen.«

Wicki erschrak.

»Jesus sagt: So gehe hin und versöhne dich mit deinem Bruder. Wie schwer solch ein Gang zum Bruder auch immer sein mag, ahne den Gang zu ihm bleibt doch die Trennung. Oder?«

Die Jungen nickten.

Wicki versuchte, die aufsteigenden Gedanken mit Gewalt zu verdrängen. Immer wieder sah er den Ball auf dem mit Sägemehl ausgestreuten Elfmeterpunkt liegen. Und dann diesen triumphierenden Blick seines Gegenspielers. Am liebsten wäre er nicht in die Jugendstunde gegangen. Aber er hatte gehofft, durch die Bibel abgelenkt oder gar getröstet zu werden. Und ausgerechnet heute musste ein Wort von der Vergebung kommen. Rudi fiel dieses Dahinbrüten seines Nachbarn auf. »Mensch, Wicki, ist dir der verschossene Elfmeter so in die Knochen gefahren? Das kann doch jedem passieren.« Wicki winkte ab.

»Es ist nicht der verschossene Elfmeter, Rudi.«

Nach dem Jungscharlied am Ende der Stunde blieb Wicki noch auf seinem Stuhl sitzen.

»Na, Wicki, willst du hier Wurzeln schlagen?«

Der Junge schüttelte den Kopf.

Er blickte den Seelsorger an.

»Was bedrückt dich denn?«

Wicki konnte sich nicht mehr beherrschen. Zwei dicke Tränen rollten ihm über sein blasses Gesicht.

»Ich muss mit Ihnen sprechen, Herr Pastor.«

Als die letzten zwei Jungen den Raum verlassen hatten, rückte der Seelsorger seinen Stuhl nahe an Wicki heran … Zunächst stand das Schweigen zwischen ihnen. Wicki wusste nicht, wie er beginnen sollte.

»Sie haben wohl das Wort heute extra für mich ausgesucht?«

Der Pfarrer blickte auf.

»Das habe ich nicht, es ist aber durchaus möglich, dass es in deine persönliche Lage gesprochen hat.«

»Genau, Herr Pastor. Nur, ich bringe es niemals fertig, nach dem Wort Jesu zu handeln: So gehe hin und versöhne dich mit deinem Bruder.«

Er erhob sich von seinem Stuhl und lief wie ein gefangenes Tier in dem Jugendraum auf und ab.

»Ich hasse einen Menschen unheimlich, und ich kann es nicht abstellen. Ich kann es einfach nicht abstellen!« So, das war es. Darum war Wicki so merkwürdig ruhig und verschlossen gewesen.

»Was hat man dir denn angetan?«

Wicki wich dem fragenden Blick seines Gegenüber aus. »Erpresst«, stieß er schließlich zwischen den Zähnen hervor. »Ganz gemein erpresst.«

Wicki trat an eines der Fenster und blickte hinaus. »Ich will es Ihnen erzählen.«

»Du brauchst es nicht, Wicki, es sei denn, ich habe dein Vertrauen.«

Der Junge nickte.

»Darum wollte ich ja mit Ihnen sprechen.«

Der Seelsorger hörte gespannt zu, als Wicki mit leiser Stimme begann. Nach fünf Minuten hatte er geendet. Die beiden blickten sich an.

»Sie sind einer der wenigen, die jetzt davon wissen. Können Sie meinen Hass ein bisschen verstehen?«

»Und ob, Wicki.«

Der Pfarrer rückte den Stuhl beiseite und erhob sich. »Ich werde niemals jemandem erzählen, was du mir gerade gesagt hast. Wir wollen nur hoffen, dass dieser Erpresser sein Versprechen nicht wieder bricht.«

»Ja, das wollen wir, und nun brauche ich nur noch die

Kraft, den Hass aus meinem Herzen zu reißen.«

»Du bringst das nicht fertig, Wicki, aber wir kennen ja den Herrn, der es schaffen wird.«

Er reichte dem Jungen die Hand.

»Und nun Kopf hoch. Grüß auch deine Eltern herzlich.« »Werde ich tun, Herr Pastor, und vielen Dank. Ich fühle mich schon viel besser.«

Einträchtig vereint saßen Vater und Mutter Meißner sowie ihr Sprössling Klaus um den Fernseher und verfolgten mit Spannung ein Länderspiel der deutschen Nationalmannschaft. Herr Meißner sah ab und zu auf seinen Sohn, der mit merkwürdig verschlossenem Gesicht in seinem Sessel hockte. Die deutsche Mannschaft legte ein enormes Tempo vor. Immer wieder beschworen sie vor dem gegnerischen Tor brenzlige Situationen. Da – ein Menschenknäuel im Strafraum, wirbelnde Arme, Beine und Köpfe, dann vergeblich emporgereckte Arme des Torwartes, und hinten im Tor zappelte der Ball. Ungeheures Getöse brach los. Fahnen wurden geschwenkt und Trompeten spielten im gefüllten Stadion.

»Tor! Tor!«

Vater und Sohn sprangen begeistert aus ihren Sesseln. »Junge, genau wie dein Tor heute Nachmittag. Mitten aus dem Gewühl heraus. Sagenhaft, sagenhaft!«

Klaus wandte seinen Kopf beiseite.

»Was hast du denn? Ich beobachte dich schon den ganzen Tag. Nichts, aber auch gar nichts, konnte dich erfreuen. Ich dachte erst, du wärest müde, aber du hast was anderes.«

»Was soll ich denn haben?«

»Das musst du wissen.«

Frau Meißner erhob sich aus ihrem Sessel und verschwand in der Küche. Die beiden waren allein.

»Wir … wir haben heute durch Betrug gewonnen, Papa«, quälte Klaus mühsam heraus und verbarg seinen Kopf in beiden Händen.

»Was habt ihr?«

Herr Meißner schien sich verhört zu haben.

»Das ist wohl ein Scherz und dazu noch ein ganz übler.« Herr Meißner wandte sich wieder dem Fußballspiel zu. Klaus sah seinen Vater von der Seite an. Wieder trafen sich ihre Blicke.

»Mir ist alle Lust und Freude genommen, dieses Spiel noch weiter anzusehen.«

Herr Meißner stand auf und schaltete den Apparat ab. »Und jetzt, glaube ich, kannst du mal auspacken.«

»Ich kann es nicht sagen, Papa, ich kann es nicht sagen, du …«

Das Gesicht des Vaters überzog sich mit einer eigentümlichen Röte. Er kannte seinen Jungen. Mit Gewalt war jetzt nichts aus ihm herauszubringen. Es musste sich um etwas Schwerwiegendes handeln. Im allgemeinen war Klaus ziemlich verschlossen. Ihn unter Zwang zum Sprechen zu bringen, war nicht drin.

»Junge, ich werde es dir in die Hand hinein versprechen, dass du keine Bestrafung bekommst, egal, was du mir berichten wirst.«

Klaus kämpfte einen schweren Kampf. Den ganzen Nachmittag hatte er Wickis anklagenden Blick vor sich gehabt. Er war eben kein schurkischer Typ, aber leider kann man Gewissensbisse nicht vorher ausprobieren. Sie stellen sich erst nach der Tat ein, und dann ist es meistens zu spät. Herr Meißner ahnte den inneren Kampf seines Jungen. Endlich begann Klaus.

»Gestern Abend, Papa, hatte ich einen bösen Traum. Wir hatten das Spiel verloren, und ,Pele/ war der Schütze des entscheidenden Tores. Zum Glück war es nur ein Traum, und ich wurde wieder hellwach. Da hörte ich dich reden, unten von der Terrasse herauf. Ich stand auf und schlich ans Fenster. Du und Mama mit den zwei Urlaubsbekannten«, er unterbrach sich, »… aber das brauch' ich ja alles nicht zu erzählen.«

»Doch, Junge, ich möchte es genau wissen. Nur, was hat das mit dem angedeuteten Betrug zu tun?«

»Sehr viel. Du sagtest heute Nachmittag im Eiscafé, das Wicki eine ›Flasche‹ war.«

»Allerdings, das habe ich gesagt, und es stimmt. Nee, wenn ich dran denke, diese große Chance in letzter Minute!«

»Er … er hat wegen mir vorbeigeschossen. Ich habe ihn dazu gezwungen!«

»Ich begreife nicht«, der Mann rieb sich über die Stirn, »… oder begreife ich doch?«

Er schüttelte den Kopf.

»Aber das traue ich dir einfach nicht zu.«

Die Stimme des Mannes schwoll an.

»Du hast unser Gespräch gehört, du hast gelauscht.« »Nicht das Gespräch, nur einige Sätze, die aber genügten mir. Wir durften das Spiel einfach nicht verlieren.« »Ich kann es nicht fassen, mein Sohn ein Erpresser, ein ganz gewöhnlicher, gemeiner Erpresser!«

Unbemerkt war Frau Meißner in das Wohnzimmer getreten, und betroffen blickte sie die beiden an.

»Was habt ihr denn, Albert, du hast ja sämtliche Farbe verloren.«

»Es ist gleich vorbei. Ich bin nur so furchtbar schockiert.«

»Warum denn?«

»Unser Sohn hat eine unwahrscheinliche Karriere vor sich.« Der Ton des Mannes war so sarkastisch und voller Bitterkeit, dass Klaus laut losheulte.

»Oh, Papa, das hättest du nicht sagen sollen. Jetzt kann ich dir nie mehr vertrauen, nie mehr, hörst du?«

Frau Meißner stand ratlos.

»Nun redet doch endlich und sagt, was geschehen ist.« »Ich hatte den aufschlussreichen Satz über Wickis Vater gehört, und daraus seinem Sohn einen Strick gedreht.«

Jetzt war auch die Mutter am Ende ihrer Kraft. Sie ließ sich mit einem langen Seufzer auf der Couch nieder. »Das kann doch nicht wahr sein, Albert. Sie haben es uns doch unter strengster Vertraulichkeit mitgeteilt.« »Eben, und außerdem hatte ich den Eindruck, dass der Mann den herausgesprudelten Satz bitter bereut hat.« Vater und Sohn blickten sich an.

Herr Meißner stellt mit Entsetzen fest, dass jegliches Vertrauen in seinem Sohn erloschen war. Aus den Kinderaugen blickte ihn ein Fremder an.

»Klaus, ich habe es nicht so gemeint. Ich war nur zu sehr entsetzt, verstehst du.«

Klaus nickte schwach mit dem Kopf.

»Ich weiß selbst nicht, welche Stimme mir riet, den Wicki zu erpressen. Die Idee kam mir ganz plötzlich. Nur ein Gedanke wirbelte in meinem Kopf herum: Die Blauenbergs dürfen dieses Mal nicht gewinnen! Sie würden es aber, wenn Wicki in Hochform war, und er war in Hochform.«

»Wie hat er denn auf deine Erpressung reagiert?«

Klaus zuckte mit den Schultern.

»Sein erbärmliches Spiel war Antwort genug. Ich bin so gemein, Papa, ich bin ja so gemein.«

Alle angestauten Gefühle brachen sich wie in einem reißenden Strom Bahn. Klaus weinte ungehemmt los, ohne sich von seinen Eltern beruhigen zu lassen.

»Es ist gar nicht leicht, so richtig gemein zu sein. Ach, hätte ich es doch drauf ankommen lassen!«

Die Frau strich ihrem Jungen sacht über die Haare. »Klaus, es kann alles gut werden. Du musst sich entschuldigen, ja du musst den Wicki um Verzeihung bitten.«

»Nein, nein, das könnt ihr von mir nicht verlangen.« »Verlangen nicht«, schaltete sich Herr Meißner ein, »aber vorschlagen und raten, das können wir. Erst dann wirst du Frieden finden.«

»Papa, du redest wie ein Pastor.«

Beide Eltern begannen laut zu lachen.

»Du weißt, Junge, dass ich die herausgestrichene Frömmigkeit vieler Leute nicht mag, aber die Anständigkeit, mein Junge, die steht bei uns, bei Mama und mir, sehr hoch im Kurs.«

Klaus wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Bleibt mir kein anderer Weg als der, um Entschuldigung zu bitten?«

»Ich glaube nicht. Und weißt du was, wir erledigen es heute noch. Ich werde dich begleiten.«

Klaus wehrte mit erhobenen Armen entsetzt ab. Aber warum eigentlich nicht? Seine Arme sanken langsam herab. Sein Vater hatte recht. Nach einer Aussprache mit Wicki würde auch dieser anklagende Blick ihn nicht mehr verfolgen, den Wicki ihm nach dem Spiel zugeworfen hatte.

Frau Meißner blickte auf die Uhr. »Es ist jetzt Abendbrotzeit. Ich schlage vor, dass ihr so gegen acht Uhr geht. Ob ich nicht auch mitgehe?«

Klaus winkte ab.

»Na gut, wenn du nur aus dieser bösen Sache etwas gelernt hast«, antwortete die Mutter.

Je mehr sich Vater und Sohn Wickis Elternhaus näherten, um so erbärmlicher wurde es Klaus zumute. Dass ihm diese Erniedrigung nicht erspart blieb! Andererseits aber hatte er hundsgemein gehandelt, und es war wohl der beste Weg, es so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen. Aber wenn Wicki stur blieb, oder wenn sein Alter ihn gar anzeigte, beim Sprenger zum Beispiel? Nicht auszudenken. Wenn er sich weigerte, sie überhaupt anzuhören? Der Blick auf dem Sportplatz hatte Bände gesprochen.

Plötzlich fiel es Klaus wie ein Stein vom Herzen. Wicki ging ja in den frommen Verein von Pastor Soldauer. Falls er ein richtiger Christ sein wollte, müsste er eigentlich zur Vergebung bereit sein. Klaus hatte schon wochenlang keine Kirchenorgel mehr gehört, geschweige denn gesehen, aber eines war ihm vom Konfirmandenunterricht hängengeblieben: Ein Christ lebt täglich von der Vergebung. Darum soll er bereit sein, seinen Widersachern zu vergeben. In seine Gedanken hinein kam die Stimme des Vaters.

»Wie willst du denn die Sache anfangen, oder soll ich für dich reden?«

»Ich weiß nicht, Papa, am besten, wir warten ab.«

Unwillkürlich verlangsamte Klaus sein Tempo.

»Dort drüben ist das Haus.«