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Paul Zakowski sitzt seit dem frühen Morgen in der Abgangszelle seines Gefängnisses, in dem er ein paar Jahre verbracht hat, und hofft und flucht und betet. Er wartet auf seine Entlassung. Aber die darf eigentlich nicht sein. Nicht, dass er ein Unhold wäre oder ein Gewalttäter. Nein, Zakowski ist Einbrecher, erfolgreicher Einbrecher, und das hat ihm der Staat mit insgesamt acht Jahren und vier Monaten Haft vergolten. Allerdings in drei verschiedenen Prozessen. Von der ersten Strafe hat er inzwischen zwei Drittel verbüßt, der Rest wurde zur Bewährung ausgesetzt. Eigentlich müsste die Staatsanwaltschaft jetzt die anderen beiden Strafen in Vollzug setzen. Zakowski ist sich im Klaren, dass die Telefondrähte in der Anstalt heiß laufen. Jeder will verhindern, dass er freikommt. Bis 17.00 Uhr haben sie Zeit, dann müssen sie ihn rauslassen. In der Abgangszelle, neben dem großen Tor in die Freiheit, harrt Zakowski aus. Während sich draußen die Weichen für seine Zukunft stellen, gerät Zakowski in den Sog seiner Erinnerung: Unerhörte Geschichten und Ereignisse aus seinem Leben steigen in ihm auf, und seine nicht gerade tadellose Vergangenheit fliegt an ihm vorbei.
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Seitenzahl: 739
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Über dieses Buch:
Paul Zakowski soll aus dem Gefängnis entlassen werden, er ist Einbrecher, erfolgreicher Einbrecher, und das hat ihm der Staat mit insgesamt acht Jahren und vier Monaten Haft vergolten. Von der ersten Strafe hat er zwei Drittel abgesessen, und ein Richter hat ihm am 23. Dezember den Rest zur Bewährung ausgesetzt. Dem müsste die Staatsanwaltschaft zustimmen oder es ablehnen, genauso wie sie die anderen beiden Strafen jetzt sofort in Vollzug setzen müsste, um ihn für weitere Jahre hinter Gitter zu bringen. Doch kein Staatsanwalt arbeitet über die Feiertage und die wenigen Brückentage. Nun sitzt Zakowski in der Abgangszelle neben dem großen Tor in die Freiheit und hofft und flucht. Kommt er frei, will er sich nach Jamaika absetzen. Er ist sich im Klaren, dass die Telefondrähte in der Anstalt heiß laufen. Bis 17 Uhr haben sie Zeit, dann müssen sie ihn rauslassen. Wartend gerät Paul in den Sog seiner Erinnerungen und erzählt uns seine fast unglaubliche, abenteuerliche Lebensgeschichte.
Peter Zingler, der bekannte Drehbuchautor und Grimme-Preisträger, hat einen großen autobiografischen Roman geschrieben. Turbulent, spannend, amüsant und lehrreich erzählt Zingler mit seinem Alter Ego Paul Zakowski von »der brutalen Kunst des Überlebens« (FAZ), wie er als Vierjähriger im harten Nachkriegswinter 1947 für Tabakschmuggler anschaffte und in der Trümmerlandschaft von Köln ›fringsen‹ ging. Womit eine wahrhaft abenteuerliche Karriere als ›Intensivtäter‹ begann.
Im Gefängnishof befinden sich ein großer und ein kleiner Kreis. Im großen Kreis laufen während der Freistunde die Gefangenen alleine oder in Gruppen und können miteinander kommunizieren.
Im kleinen Kreis, inmitten des großen, laufen nur die Abgesonderten, Ausbrecher, Renitente und Psychopathen, mit denen niemand kommunizieren darf. Es gilt das absolute Sprechverbot.
Lebenslauf: Lauf ums Leben
Erst lief mein Vater davon
Dann, vielleicht, Tränen meiner Mutter
Später lief sie mit mir im Bauch
Aus dem brennenden Haus in die Bombennacht
In die Evakuierung
Lief im letzten Moment ins Hospital
Zur Entbindung
Danach lief sie davon
Vor der Schande
Und der Verpflichtung
Ließ mich zurück bis
Nach langen Monaten meine Oma kam
Und mit mir floh
Vor den Russen
Und als ich selber laufen lernte
Lief ich gleich
Vor den Bauern davon
Drei Kartoffeln in der Tasche
Vor den Bahnpolizisten
Mit Kohlen im Rucksack
Vor den Nachbarn
Gestohlene Äpfel in der Hand
Oder vor andern Kindern
Die mich Zwerg Nase nannten
In der Schule lief es
Normal
Bis ich richtig laufen lernte, weglaufen
Vor der Familie
Vor der Polizei
Vor der Realität
Vor mir selbst
Ich lauf heute noch weg
Das Ziel kann nicht mehr weit sein
Neulich sah ich Marathonläufer ins Ziel kommen
Sie brachen zusammen
Die Vorfreude gilt als die schönste Freude, weil man sich auf etwas freut, was es eventuell nicht gibt, aber dennoch die Phantasie beflügelt.
Niemand, aber auch niemand, weder der Papst noch der Dalai Lama oder irgendeiner dieser Gottesvertreter, Gurus, Wahrsager, Sternedeuter oder Esoteriker kann voraussagen, was das Leben in der nächsten Stunde für einen bereithält. Und auch ein Bauer weiß nur: Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt, wie es ist.
Natürlich versuchen Menschen, seitdem es sie gibt, in die Zukunft zu schauen. Alleine aus Angst, dass sich etwas zusammenbraut, was gefährlich werden könnte. Auch Paul hatte diese Angst, als ihm morgens um sechs, beim Frühstück auf dem Gefängnisflur der Abteilungsbeamte die erwarteten Worte zurief: »Zakowski, schon gepackt? Gleich geht’s zur Kammer, Sie werden heute entlassen.« Er grinste dabei. Das sollte wohl bedeuten, dass auch er sich freute, einen wie Paul von der Abteilung wegzukriegen. Aber was auch immer der Beamte wirklich dachte, interessierte niemanden, höchstens seine Frau, wenn er denn eine hatte.
Natürlich hatte Paul gepackt, obwohl er allen Regularien gemäß gar nicht hätte entlassen werden dürfen. Das war ihm klar, und deshalb hatte er sich schon einige Tage lang mit Vorhersagen beschäftigt, die ihm natürlich vor allem Schlaflosigkeit einbrachten. Was war passiert?
Vor einer Woche, am 23. Dezember, hatte ihm doch tatsächlich ein Richter der Vollstreckungskammer Darmstadt den Rest seiner zweijährigen Haftstrafe des Landgerichts München zur Bewährung ausgesetzt. Üblicherweise dauert es eine Woche, bis ein solcher Beschluss rechtskräftig wird, um der Staatsanwaltschaft Gelegenheit zu geben, Einspruch einzulegen. Doch bisher war nichts geschehen.
Aber die Sache war noch viel komplizierter. Die zwei Jahre waren nicht die einzige Strafe, die Paul Zakowski absitzen musste. Nach dem Ende der jetzigen warteten weitere zwei Jahre und vier Monate des Landgerichts Bonn und noch mal vier Jahre des Landgerichts Frankfurt auf ihn. Doch für keine dieser Strafen lag ein wirksamer Vollstreckungsbefehl vor, weil alle damit rechneten, dass Paul Zakowski noch bis zum nächsten Juli für die Strafe aus München einsitzen musste. Denn warum sollte man ihm Bewährung geben, wenn er eh nicht rauskam?
Pauls großes Pech, dass diese drei Strafen nicht zu einer einzigen zusammengezogen werden konnten, was mit den Verurteilungszeiten zusammenhing, erwies sich nun für ihn – zumindest vorübergehend – als eine Chance auf Freiheit. Aber für wie lange?
Der Vollstreckungsrichter hatte sich intensiv mit Paul unterhalten. Paul hatte ihm in der ihm eigenen Art einige Geschichten aus seinem Leben erzählt, die den Richter beeindruckten. Natürlich wusste er von den weiteren Verurteilungen, aber er wollte sich von anderen nicht unter Druck setzen lassen, unter diesen Umständen eine Strafaussetzung zur Bewährung zu verweigern, von der er überzeugt war, dass er sie geben musste. Das war am 23. Dezember.
Heute war Montag, der 30. Dezember. Dienstag ist Silvester und Mittwoch Neujahr. Also drei Tage Zeit zu verschwinden, dachte Paul, wobei ihm klar war, dass eine wirkliche Flucht, die ihn erst nach zehn Jahren mit Verfolgungsverjährung belohnen würde, nicht in Frage kam.
Paul war weit gereist und wusste, im Grunde konnte ihn kein Land der Welt gebrauchen. Ganoven hatten sie alle selbst genug. Außerdem war für ihn Deutschland nicht nur Heimat, sondern auch der beste Ort zum Leben.
In Privatkleidern, mit seinem kleinen Koffer in der Hand, führte ihn der Kammerbeamte über den Hof in die Entlassungszelle neben der Außenpforte.
Es war noch früh. Die Geschäftsstelle, in der Paul den Entlassungsschein, seine Personalpapiere und sein Geld bekommen sollte, öffnete erst um acht. Also setzte er sich in die Ecke der Zelle, ein ungastlicher Raum, der überwiegend dazu diente, Besucher auf harten Bänken warten zu lassen, bis sie in die eigentlichen Besuchsräume geführt werden konnten.
Paul kamen heute die kahlen Wände, das hochgelegene vergitterte Fenster, die kargen Tische vor wie das Wartezimmer zum Himmel, falls es dafür ein Wartezimmer gab. Er lehnte sich zurück und schaute auf seine Uhr, sieben Uhr fünfzehn. Um acht würden ihn also die Schreibtischgeier rufen, um ihn auszuzahlen. Laut Pauls Vorstellung konnte es sich nur um wenige Hundert Mark handeln, aber das Wichtigste war der Entlassungsschein.
Paul drehte sich eine Zigarette, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Jetzt nur nicht daran denken, dass er später noch mal in den Knast zurück musste. Die Tür öffnete sich, der Pfortenbeamte schaute herein: »Zakowski? SIE sollen entlassen werden?« Er grinste hämisch. »Wer’s glaubt, wird selig!« Er warf die Tür wieder zu. Paul schloss die Augen und sah dieses arrogante, wohlgenährte Gesicht unter der Dienstmütze vor sich. Er kannte ihn.
In diesem kleinen Knast kannten sich eh fast alle. Vierhundert Gefangene und hundertfünfzig Bedienstete konnten über Jahre nicht so einfach aneinander vorbeilaufen. Der Typ war ein besonders prächtiges Exemplar von Staatsdiener. Ein Bauernsohn aus dem Odenwald, als letzte Chance, mit fünfunddreißig Jahren, aufgesprungen ins Beamtenleben, als Sicherheit für den Rest des Lebens. Seine neue Klientel, Menschen in Haft, behandelte er wie früher seine Kartoffeln und Zuckerrüben. Der Typ hatte mal eine Woche lang den Werkmeister in dem Betrieb vertreten, in dem Paul Telefonapparate zusammenbaute. Der Mann hatte mit seiner barschen Art unter den Gefangenen fast eine Revolte ausgelöst. Paul versuchte zu schlichten, sprach mit dem Odenwälder Dickschädel, bis er merkte, dass das den gar nicht interessierte. Die Gefangenen gingen ihm schlicht am Arsch vorbei.
Sein Gesicht hatte Paul schon immer an jemanden erinnert. Und jetzt, hier, in der Zelle sitzend, fiel es ihm wieder ein. Mit seiner Dienstmütze sah er genauso aus wie der erste Polizist, mit dem Paul zu tun hatte, einem belgischen Militärpolizisten, als er vier Jahre alt war. Damals, in der schlechten Zeit direkt nach dem Krieg, waren alle Menschen hager bis dürr, dieser Belgier aber war als Besatzer gut genährt und hatte einen dicken Schädel, so wie dieser Odenwaldbauer in Uniform.
Paul schreckt hoch. Er war an die Wand gelehnt im Stehen eingenickt. Er stieß sich von der Wand ab und lief durch die Zelle. Durch das Oberlicht über der Außentür konnte er bis zur Außenpforte sehen. Er sah auf seine Armbanduhr. Es war sieben Uhr dreißig. Die Zeit verging überhaupt nicht. Er setzte sich hin und drehte sich erneut eine Zigarette. Francesco, tja …
Gino hatte seinen Vater nie wirklich erlebt, aber Paul konnte ihn nicht vergessen. Erst nachdem Gino im Alter von zwanzig Jahren einen Einberufungsbefehl des italienischen Militärs erhalten hatte, war klar, dass er Italiener war. Keiner hatte das bedacht. Später, als er Deutscher wurde, war auch der letzte gültige Name Francescos zu Tage gekommen: Rapisarda. Aus Acireale in Sizilien sollte er stammen.
1977 ist Paul dann nach Sizilien gereist. Er hätte viel darum gegeben, Francesco wiederzusehen. In Acireale gab es so viele Rapisardas wie Schmitz in Köln. Fakt war wohl, dass Francesco, als die Italiener 1943 die Fronten wechselten und zu den Alliierten überliefen, in Deutschland im Lazarett lag und Angst hatte, interniert zu werden oder ins KZ zu kommen. Deshalb nahm er den Namen eines ihm bekannten Faschisten an und wurde in die SS aufgenommen. Nur um zu überleben!
»Überleben«: überhaupt ein wichtiges Wort. Auch für die Menschen im Gefängnis. Wie überlebt man das? Paul war da Profi. Er hatte im Leben oft und lange im Gefängnis gesessen. Paul war zwar erst Mitte dreißig, aber schon mit fünfzehn kam er das erste Mal ins Jugendgefängnis. In den letzten zwanzig Jahren war er fast die Hälfte der Zeit im Knast gewesen. Er wusste, ohne es erklären zu können, dass der Rückzug ins eigene Ich der einzige Schutz war.
Die, die gegen die Inhaftierung protestierten und mit dem Kopf gegen die Wand liefen, brachten sich entweder schleichend um oder wurden irgendwann in der Beruhigungszelle erschlagen. Andere passten sich total an. Das war die Mehrzahl.
Paul war sich sicher, dass achtzig Prozent seiner Knastkollegen gar nicht in den Knast gehörten, sondern eigentlich in eine andere soziale Einrichtung. Sie waren einfach nur lebensunfähig und, ohne es sich selbst gegenüber zuzugeben, sogar gerne im Knast. Hier im Knast waren die Regeln einfach und durchschaubar: Sie bekamen drei Mahlzeiten am Tag, mussten arbeiten, durften eine Stunde am Tag an die frische Luft und hatten null Verantwortung. Draußen war das Leben weit schwerer. Deswegen kamen die meisten zurück. Und insgeheim waren sie dann auch noch über das Wort »kriminell« stolz. Sie waren wenigstens kriminell und nicht nur »Sozialpenner«!
Aber ihre Kriminalität hielt sich wirklich in Grenzen. Während sie drinnen voller Stolz Geschichten von Banküberfällen und ähnlichen Gelderoberungsaktionen erzählten, hatten sie sich in Wahrheit mit immer wiederholtem Kleinkram in die Nesseln gesetzt. Aber auch das zählt bei der Justiz. Wiederholungstäter! Und ist die Beute noch so klein, sperrt ihn ein, sperrt ihn ein.
Jede Verurteilung wird addiert, und jedes Mal gibt’s mehr Knast bis zur vielbeschworenen Sicherungsverwahrung. Dann nämlich, wenn er schon zehnmal oder mehr oder weniger vor dem Richter gestanden hat, und er ihnen lästig wurde, gab’s die SV, auch »Rucksack« genannt.
Die nach dem Ende der Strafe abzusitzende Sicherungsverwahrung, die bis zu neun Jahren dauert, war zwar in der Nazizeit ins Strafgesetzbuch gekommen, aber auch die bundesdeutsche Justiz nutzt den Paragraphen auch heute noch sehr gerne, um jemanden, ohne dass er speziell etwas getan hat, einfach länger festzuhalten: »Sicherungsverwahrung«.
So etwas mag verständlich sein, wenn ein Täter andere verletzt oder getötet oder massive sexuelle Übergriffe auf dem Konto hatte, aber das hatten die wenigsten in der Sicherungsverwahrung auf dem Zettel. Die meisten sitzen, weil sie immer wieder sitzen.
Im Gegensatz zu den meisten Knastkollegen fühlte Paul sich zwar nicht wohl im Knast, aber er jammerte auch nicht ewig rum und machte alle anderen dafür verantwortlich. Er wusste, er war Erwerbskrimineller, ein Einbrecher mit Erfolg, er konnte eine Zeitlang gut davon leben, davon zeugten elegante Eigentumswohnungen, Weltreisen und schicke Autos, Porsche oder Ferrari zum Beispiel. Problematisch war nur, dass die Polizei ihn als hochkarätigen Intensivtäter erkannt hatte und ihn daher ununterbrochen überprüfte und verdächtigte, alles, aber auch alles verbrochen zu haben, und ihn mit Festnahmen und Telefonüberwachungen einschränkte und belästigte.
Dabei war es doch ganz einfach: Wenn er beim Juwelier Wempe eingebrochen wäre, ihm aber der Einbruch bei Uhren Christ angelastet wurde, so war er ganz einfach UNSCHULDIG. Aber immer wieder fanden die Bullen einen Richter, der ihn einbuchtete. Und viele Versuche Pauls, auszusteigen und etwas anderes zu machen, wurden schon im Ansatz zerstört. Der Klassiker: eine Kneipe. Paul hatte sie gepachtet, die erste Frau die Konzession bekommen, und es sah aus, als werde alles gut, damals in der Altstadt von Bonn. Aber kaum begannen sie zu arbeiten, standen die Bullen an der Theke und stellten ihm ein Ultimatum: Entweder sie sorgten für Konzessionsentzug, weil er die Frau nur vorgeschoben habe und er als Vorbestrafter gar keine Gaststätte betreiben dürfe. Andererseits würden sie »ein Auge zudrücken«, wenn er bereit wäre, umfassend über seine Milieukollegen auszusagen. Das Lokal wurde geschlossen.
Paul hatte für sich eine gute Methode entwickelt, im Knast zurecht zu kommen: Nach jeder Festnahme war die Katastrophe da. Alles, was er draußen aufgebaut hatte, alles, was in der nächsten Zeit anstand, brach zusammen. Auch die Liebesbeziehungen, egal ob verheiratet oder nur verliebt. Und es dauerte etwa zwei Monate, bis sich Paul so weit erholt hatte, um sich im Knastalltag verstecken zu können. Er dachte dann kaum noch an draußen und befasste sich stattdessen mit dem Alltag drinnen. Wie sieht die Arbeit aus? Wer liegt mit auf der Abteilung? Wer ist interessant für ein Gespräch? Wer nicht? Wann gibt’s Einkauf? Wann Besuch? Wer von den Beamten ist erträglich? Wer ein Arsch? Und von wem könnte man wirklich Hilfe erhoffen, wenn es denn nötig war?
Das Draußen war für ihn nach einiger Zeit so weit weg, dass er auch jedes Zeitgefühl verlor. So benutzte er bei Gesprächen häufig den Ausdruck: NEULICH! Gemeint war aber der Zeitpunkt der Inhaftierung vor zwei Jahren und davon ausgehend NEULICH.
Am liebsten plünderte Paul die Gefängnisbibliotheken, die durchaus reichhaltig ausgestattet waren. Er las gerne, so wie schon als Kind.
Als Schüler war Paul Mitglied der katholischen Stadtbücherei und ein eifriger Leser. Sein Glück, dass die Bibliotheksleiterin lange Zeit krank war. Paul nahm sich, was er haben wollte, und brachte es gelesen zurück. Bis zu jenem Tag, als er mit den ausgesuchten Büchern an die Theke trat, um sie auf seine Karte eintragen zu lassen. Die Bibliothekarin warf einen Blick auf die Titel, dann auf Paul und fragte entrüstet: »Sag mal, wie alt bist du denn?« »Zehn.«
Entschlossen schnappte sie die Bücher und sagte im Weggehen: »So was darfst du noch gar nicht lesen! Da drüben, Enid Blyton, such dir so was aus!«
Paul kochte. »Die dumme Kuh!«, schimpfte er innerlich. Enid Blyton hatte er schon vor Jahren gelesen. So ein Kinderkram. Er wollte andere Sachen lesen. Leon Uris, Updike, Norman Mailer, John Steinbeck. Oder die Russen, Tolstoi und Scholochow oder Dostojewski. Und er musste zugeben, Raskolnikow, der Mörder aus Schuld und Sühne, war ihm sehr, sehr sympathisch. Den konnte er total verstehen. Und er wollte mehr davon. Heute hatte er sich Der Idiot von Dostojewski ausleihen wollen, sowie Von Mäusen und Menschen von John Steinbeck.
Die Bibliothekarin kam mit einem Stapel Kinder- und Jugendbücher zurück: »Hier, das ist was für dich!«
Paul zog seine Karte zurück, auf der sie die Bücher eintragen wollte, und sagte: »Die kenn ich schon alle!« – »Na, dann nicht!«, sagte sie kalt und legte die Bücher hinter sich.
Gott sei Dank hatte sich während ihrer Diskussion eine kleine Schlange hinter Paul gebildet und die Bibliothekarin war beschäftigt. Paul flitzte zurück in die Bücherei, holte sich die Bücher, die er sich ausgesucht hatte, wieder aus dem Regal, steckte sie in seine Schultasche und flitzte schnell an der Registrierstelle vorbei. Wieder war er gezwungen zu klauen, so dachte Paul damals, nie wollte man ihm geben, was er brauchte.
Natürlich hat Paul die Bücher immer wieder zurückgebracht. Genauso heimlich, wie er sie entwendet hatte.
Im Knast war das nicht nötig gewesen. Hier konnte er die ganze Weltliteratur rauf und runter lesen. Bei einem Knastaufenthalt war es ihm sogar gelungen, als Helfer des Gefängnislehrers in der Bibliothek zu arbeiten. Da war ihm der Stoff nie ausgegangen.
Paul schaute wieder auf die Uhr. Verdammt. Er sah sich in der Zelle um. Man merkte, dass hier kein Knacki wohnte. Die Wände waren sauber, der Boden auch und kein einziges Graffito. Nix wie Alles ist vergänglich, auch lebenslänglich oder Du findest eher bei einer Hure die Unschuld, als bei der Justiz Gerechtigkeit. Auch keine abgestrichenen Tage, Monate und Jahre. Nix. Einfach nix. Aber hier wohnte ja auch keiner. Außer ihm im Moment. Aber nicht mehr lange. Bald würde er rauskommen. Oder? Ein bisschen mulmig war ihm schon. Kein Einspruch aus München, obwohl sie ihm dort alles andere als freundlich gesinnt waren.
Damals, als Kind, musste er hamstern, klauen und wurde gar, wie seine Freunde und Kollegen aus der Nachbarschaft, von Erwachsenen auf einen LKW geladen und zur Himmelsleiter gefahren. Eine Straße an der belgischen Grenze. Dort wurden ihre kleinen Rucksäcke mit Kupfer, Blei, Messing und anderem Buntmetall aus den Ruinen vollgepackt. Dann schickte man sie durch den Wald, über die Grenze, nach Belgien.
Unter vierzehn Jahren ist man strafunmündig. Das hat Paul damals schon begriffen. Daher hätte ein Erwischen durch die deutschen Zollbeamten nur den Verlust des Rucksackes nach sich gezogen.
Auf dem Hinweg war der Rucksack immer sehr schwer, auf dem Rückweg waren nur ein Pfund Kaffee, Marke Mokka, oder ein, zwei Schachteln Belga-Zigaretten drin. Aber egal, ob Hin- oder Rückweg, es war gruselig, durch diesen zerschossenen Hürtgenwald zu laufen. Manchmal über Leichen zu stolpern, an den Bergen von Munition vorbei, die zwar eingesammelt, aber noch nicht abtransportiert und entschärft worden waren.
Es ging die Kunde, dass schon einige Rabatzer, so hießen die Jungs damals, die über die Grenze flitzten, von Minen zerfetzt worden waren.
Paul war einmal über einen Ast gestolpert, der sich im Nachhinein als Unterarmknochen in einer Uniformjacke entpuppt hatte.
Wichtig war: Jede Beute, jede Zigarette, jede Kippe, jedes gestohlene Ei, jede Kartoffel, jedes Brikett wurde zu Hause bejubelt. Und Paul kriegte so viel Dankbarkeit, Liebe und Wärme, dass diese Freibeutergesinnung in ihm ein fester Bestandteil seines Lebens werden sollte.
So fest, dass dreißig Jahre später ein Frankfurter Richter genau dieses Wort benutzte, um Paul zu charakterisieren: »Freibeutergesinnung«.
Auf dem Hof, vor der Zelle, viele Geräusche. Paul stand auf und versuchte, etwas zu entdecken.
Er zog den Tisch ans Fenster, stieg drauf und konnte sehen, wie etliche Angestellte ins Gefängnis kamen. Er erkannte die Werkmeister, die Sozialarbeiter und die beiden jungen Frauen von der Geschäftsstelle. Die anderen kannte er nicht. Jetzt öffnete sich das große automatische Schiebetor und ein LKW fuhr ein, Küchenlieferung.
Bevor das Tor wieder zufuhr, sah Paul einen Moment lang das seltsame Warnschild am Anschlagpfosten des Tores: Durchgang bei geöffnetem Tor verboten.
Jahre später würde es der Titel eines Buches der Sammlung Luchterhand werden mit Texten Inhaftierter, darunter auch einer von Paul.
Er stieg vom Tisch, setzte sich auf den Stuhl und drehte sich erneut eine Zigarette. Ah, jetzt wird’s bald losgehen, dachte er und schaute auf seine Armbanduhr. Ein edles Stück, eine weißgoldene Rolex, die er ganz offiziell in einem Juweliergeschäft gekauft hatte, weil er natürlich nicht so blöd war, eine der Hunderte von Uhren zu behalten, die er einige Jahre zuvor mit einem Kumpel in einem Laden erbeutet hatte.
Paul musste jetzt noch zufrieden schmunzeln, als er daran dachte. Er kannte das Uhrengeschäft seit Kindertagen, aber es war stets gut gesichert gewesen und lag auch in der Fußgängerzone, so dass ein Angriff, zumindest ein frontaler, schwer möglich war. Und dann wurde eines Tages das Haus eingerüstet, um die Außenfassade zu renovieren.
Paul und sein Frankfurter Kumpel Hubsi betrachteten vom gegenüberliegenden Café aus genau, was sich tat. Nach halb sieben verließen die beiden männlichen und drei weiblichen Angestellten das Geschäft.
Sorgfältig schlossen sie die Eingangstüre ab, machten die Alarmanlage scharf, zogen das Außengitter herunter und verriegelten es.
Da niemand sonst in dem Haus zu wohnen schien, war es Paul nicht möglich gewesen, den Flur zu inspizieren, um herauszufinden, ob der Laden vielleicht von hinten zu räumen wäre.
Aber es gab in der Nachbarstraße eine Kneipe mit Toiletten im Hof. Von dort aus war Paul über die Mauer geklettert und hatte sich dem Geschäft von hinten genähert. Es war dort genauso armiert wie vorne.
Hubsi und Paul hatten lange überlegt und dann beschlossen, es zu versuchen.
Da es in der realen Ganovenwelt selten so klappt wie im Kino, ist man gewohnt, dass höchstens jeder dritte Versuch Erfolg bringt. Also, öfter türmen als stürmen. Aber, warum nicht probieren?
Nun war in dieser Fußgängerzone auch am Abend noch sehr viel Betrieb, direkt neben dem Juwelierladen war eine Kneipe, schräg gegenüber eine andere. Und überhaupt gab es verschiedene Cafés und Imbisse, die auch spät noch Kundschaft hatten. Also verlegten Paul und Hubsi ihren Einbruch in die ganz späte Nacht, das heißt, in die frühe Morgenstunde.
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