Im Turm - Josiah Bancroft - E-Book

Im Turm E-Book

Josiah Bancroft

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Beschreibung

Der Turm von Babel ist das gewaltigste Bauwerk des Seidenen Zeitalters: er ragt so hoch in die Wolken hinein, dass niemand weiß, wo er endet; in seinem Inneren gibt es ganze Königreiche und unzählige Labyrinthe voller geheimnisvoller Kreaturen und tödlicher Gefahren. Eigentlich wollte der furchtsame Thomas Senlin nur einen kurzen Blick auf dieses Weltwunder werfen und dann weiterreisen. »Falls wir uns in der Menschenmenge verlieren, treffen wir uns auf der Spitze des Turmes wieder«, sagt seine frisch angetraute Frau Marya noch kokett zu ihm, kurz darauf ist sie tatsächlich spurlos verschwunden. Senlin bleibt keine Wahl: Er muss rein in den Turm und rauf auf die Spitze, wenn er seine Frau wiederfinden will. Das Abenteuer beginnt ...

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Seitenzahl: 635

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Das Buch

Er ist das berühmteste Bauwerk des Seidenen Zeitalters: der Turm von Babel. Er ragt soweit in den Himmel hinauf, dass niemand genau weiß, wo er endet. Manch ein Luftfahrer oder Mystiker behauptet zwar, er habe einen Blick auf die Spitze erhaschen können, doch das sind nur Gerüchte. In seinem Inneren beherbergt der Turm ganze Königreiche und unzählige Labyrinthe voll tödlicher Gefahren und seltsamer Wesen. Niemand weiß das besser, als der ebenso pedantische wie ängstliche Dorfschullehrer Thomas Senlin. Schließlich hat er alles, was es über den Turm zu lesen gibt, gründlich studiert. Nun, auf seiner Hochzeitsreise mit der schönen Marya, will sich Senlin seinen Lebenstraum erfüllen und einmal den Turm besichtigen. Doch trotz seiner Lektüre ist er auf die gewaltigen Dimensionen des Turmes und das Gewimmel des Marktes, der sich rund um ihn erstreckt, nicht vorbereitet. Falls sie sich aus den Augen verlieren sollten, könnten sie sich einfach auf der Spitze treffen, schlägt Marya noch kokett vor, kurz darauf ist sie tatsächlich spurlos verschwunden. Als sie nach zwei Tagen immer noch nicht zurückgekehrt ist, wird Senlin klar, dass er den Turm wirklich besteigen muss, wenn er seine Frau jemals wiedersehen will. Es beginnt das größte Abenteuer seines Lebens. Ein Abenteuer, das ihn für immer verändern wird …

Der Autor

Josiah Bancroft begann bereits im Alter von zwölf Jahren mit dem Schreiben. Sein großer Traum ist es, seinen Lesern das gleiche Geschenk zu machen, das seine Lieblingsautoren ihm gemacht hatten: Sie auf eine faszinierende Reise in eine Welt voller Wunder und Gefahren mitzunehmen. Wenn er sich nicht gerade dem Schreiben widmet, arbeitet er als Dozent und Comiczeichner. Mit seinem ersten Fantasy-Roman Im Turm eroberte er sich in England und den USA eine riesige Fangemeinde.

Mehr über Josiah Bancroft und seinen Roman erfahren Sie auf:

www.thebooksofbabel.com

JOSIAH BANCROFT

IM TURM

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetztvon Sabine Thiele

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

SENLIN ASCENDS

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 09/2018

Redaktion: Martina Vogl

Copyright © 2013 Josiah Bancroft

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe

und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock/Slav Gerj

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-22636-7V001

www.heyne.de

Für Sharon, die in einer Menge nie verloren geht.

»Der Turm von Babel wird manchmal auch der Abfluss der Menschheit genannt. Seine Größe, die Vielfalt seiner Ringreiche, seine mysteriösen und verschwenderischen Ausmaße üben eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf alle Besucher aus. Wir werden davon angezogen wie Wasser von einem Abfluss.«

Aus der Einleitung des Allgemeinen Führers durch den Turm von Babel (14. Auflage)

Erster Teil

Das Untergeschoß und der Salon

1

»Der Turm von Babel ist vor allem berühmt für die prächtigen Dinge aus Seide und die überwältigenden Luftschiffe, die hier produziert werden, doch Besucher werden noch andere, nicht greifbare Exportgüter entdecken. Schrullen, Abenteuer und Liebe sind die wahren Handelsgüter des Turmes.«

Allgemeiner Führer durch den Turm von Babel, I.V

Die Reise von der Küste in die Wüste, in der der Turm von Babel wie ein Stoßzahn aus dem Kiefer der Erde aufragte, dauerte mit dem Zug vier Tage. Zuerst waren sie durch Weideland gefahren, auf dem verstreut Rinder und reizlose Dörfer standen, dann hatte sich der Zug über einige mit Schnee überzogene Berge gekämpft, auf denen Kondore in Nestern so groß wie Heuhaufen brüteten. Schon hier waren sie weiter weg von daheim als je zuvor. Sie fuhren durch schiefergraue Gebirgsausläufer, die ihn an ein Feld voll zertrümmerter Tafeln erinnerten, durch Zypressenhaine, die für sie wie offene Schirme aussahen, und kamen schließlich in dem ausgedörrten Talkessel an. Der Boden hatte die Farbe von verrosteten Ketten, und alles war von rotem Staub überzogen. Die Wüste war jedoch alles andere als eine Wüstenei. Ganze Karawanen begleiteten den Zug, jede ein sich dahinschlängelndes Band aus Rädern, Hufen und Füßen. Im Lauf des Morgens verdichtete sich der Verkehr zu einer so festen Masse, dass der Zug nur noch im Schritttempo fahren konnte. Ihr Waggon schob sich durch die lärmende Woge aus Kutschen und von Ochsen gezogenen Karren, durch die Touristen, Pilger, Migranten und Händler aus jedem Teil der weiten Nation von Ur.

Thomas Senlin und Marya, seine frisch angetraute Ehefrau, musterten die menschliche Menagerie durch das offene Fenster ihres sonnigen Schlafwagens. Ihre porzellanweiße Hand lag zart auf seinen langen Fingern. Eine kleine Gruppe Soldaten mit rotem Uniformbesatz auf der Brust ritt langsam vorbei und drängte dabei eine Familie mit karierten Kopftüchern auf Kamelen auseinander. Das Trompeten der Elefanten übertönte das Rattern des Zuges, und hier und da schwebten Luftschiffe über ihnen im heißen Wind unaufhaltsam auf den Turm von Babel zu. Die Ballone, die die Schiffe in der Luft hielten, waren so farbenfroh wie Maibäume.

Seit sie auf den Turm zusteuerten, war es den Senlins nicht gelungen, die hoch aufragende Spitze von ihrem Fenster aus zu sehen. Nichtsdestotrotz beschrieb Senlin sie äußerst anschaulich. »Es wird viel darüber diskutiert, wie viele Ebenen es eigentlich gibt. Manche Gelehrte gehen von zweiundfünfzig aus, andere von sechzig. Vom Boden aus lässt sich das ganze Ausmaß nicht erkennen«, sagte er und fuhr damit mit seinem Vortrag fort, den er seiner jungen Frau bereits die ganze Reise über gehalten hatte. »Einige Männer, vor allem Luftfahrer und Mystiker, sagen, dass sie die Turmspitze gesehen hätten. Natürlich kann keiner mit einem Beweis für diese Behauptung aufwarten. Manche Abenteurer behaupten sogar, dass der Turm immer noch weiter in die Höhe gebaut wird, wenn man das denn glauben kann.« Diese trivialen Fakten gaben ihm Halt, wie Fakten generell. Thomas Senlin war ein reservierter und von Natur aus schüchterner Mann, der sein Selbstvertrauen aus Plänen, einer gesunden Lebensweise und schriftlichen Informationen bezog.

Marya nickte pflichtbewusst, war jedoch offensichtlich von der farbenprächtigen Menge vor dem Fenster abgelenkt. Ihre großen grünen Augen zuckten aufgeregt von einer exotischen Zerstreuung zur nächsten: Was ihrem Mann kaum auffiel, saugte sie in sich auf. Senlin wusste, dass Marya im Gegensatz zu ihm Spektakel und Menschenaufläufe belebend fand, auch wenn es davon zu Hause herzlich wenig gab. Das Treiben vor ihrem Fenster war nicht mit Isaugh zu vergleichen, einem salzgepeitschten Fischerdorf, das mittlerweile viele Hundert Meilen hinter ihnen lag. Isaugh war die einzige Heimat, die sie kannte, abgesehen von dem Musikkonservatorium für junge Damen, das sie vier Jahre besucht hatte. Isaugh hatte zwei Wirtshäuser, einen Whist-Klub und ein Rathaus, das gelegentlich auch als Ballsaal fungierte. Eine Metropole konnte man den Ort ganz gewiss nicht nennen.

Marya wich erschrocken zurück, als ein Kamel seinen Kopf unerwartet zu ihr drehte. Senlin versuchte mit gutem Beispiel voranzugehen und sie zu beruhigen, doch auch ihm entfuhr ein leiser Schrei, als das Kamel schnaubte und warmen Speichel auf sie verspritzte. Senlin räusperte sich, frustriert, weil er die Fassung verloren hatte, und scheuchte das Tier mit seinem Taschentuch weg.

Das Teetablett, das ihnen zu ihrem Frühstück serviert worden war, klirrte, Löffel zitterten in leeren Tassen, als der Zugführer die Bremsen betätigte und der Zug beinahe zum Stehen kam. Thomas Senlin hatte während seiner gesamten Berufslaufbahn auf diese Reise hingearbeitet und gespart. Er wollte die Wunder sehen, über die er so viel gelesen hatte, und auch wenn es eine Belastungsprobe für seine Nerven werden würde, hoffte er, seine Haltung und sein Intellekt würden ihn das Abenteuer überstehen lassen. Sein größtes Ziel war, den Turm von Babel zu besteigen, und wenn auch nur ein kleines Stück, und er war rechtschaffen aufgeregt. Nicht dass man es ihm angemerkt hätte: Er hatte es sich zur Regel gemacht, immer eine stoische Fassade an den Tag zu legen und den Aufruhr an Gefühlen in seinem Inneren zu verbergen. So verhielt er sich im Klassenzimmer, und er wusste schon gar nicht mehr, wie er sich noch verhalten könnte.

Ein Luftschiff zog so tief über den Köpfen der Menge hinweg, dass die Halteseile die Menschen berührten. Senlin fragte sich, warum es so weit abgesunken war oder ob es gerade erst aufstieg. Marya schlug die Hand vor den Mund und erstickte ein Lachen. Thomas riss den Mund auf, als er sah, wie der Kapitän des Luftschiffes seiner Mannschaft wild gestikulierend bedeutete, einzufeuern und die Halteseile einzuholen. Ein junger Mann bekam eines der losen Seile zu fassen, und Panik brach aus, als der abenteuerlustige junge Kerl über die Menschenmenge emporgehoben wurde. Seine Füße berührten gerade noch eine Kiste auf einem Wagen, bevor er in die Höhe gerissen wurde und außer Sicht geriet.

Vom Boden aus wirkte die Szene beinahe komisch, doch Senlins Magen verkrampfte sich, als er sich vorstellte, wie der junge Mann sich fühlen musste, weit oben über der sich ausbreitenden Menge, allein auf die Kraft seiner Arme angewiesen. Der Vorfall war tatsächlich so bizarr gewesen, dass Senlin beschloss, ihn kurzerhand zu verdrängen. Der Allgemeine Führer hatte den Markt ein raues Pflaster genannt. Das war vielleicht sogar noch eine Untertreibung.

Er hätte nie gedacht, dass er die Reise in seinen Flitterwochen unternehmen würde. Genauer gesagt, hätte er nie gedacht, eine Frau zu finden, die ihn heiraten würde. Marya war zwölf Jahre jünger als er, doch da er selbst Mitte dreißig war, fand Senlin ihre vor Kurzem geschlossene Ehe wenig bemerkenswert. In Isaugh hatte sie allerdings für einige hochgezogene Augenbrauen gesorgt. Das Dorf drängte sich an die Klippen am Niromeer, und seine Bewohner misstrauten allem, was nicht dem gewohnten Rhythmus der Gezeiten und der Fischerei entsprach. Doch als Rektor – und einziger Lehrer – der örtlichen Schule schenkte Senlin dem Gerede keine Beachtung. Davon hatte er bereits genug gehört. Seiner Meinung nach war Gerede das Theater der Ungebildeten, und er hatte nicht geheiratet, um für Gesprächsstoff an den Frühstückstischen des Dorfes zu sorgen.

Nein, er hatte rein aus praktischen Gründen den Bund der Ehe geschlossen.

Marya war eine gute Partie. Sie war gutmütig und belesen; nachdenklich, aber nicht grüblerisch; mit guten Manieren, ohne unnahbar zu sein. Sie tolerierte seine langen Studierzeiten und seine Schweigsamkeit, die andere oft für Gleichmut hielten. Er dachte, sie hätte ihn geheiratet, weil er freundlich war, ausgeglichen und in sicherer Anstellung. Er verdiente fünfzehn Schekel in der Woche, im Jahr dreizehn Minas. Beileibe kein Vermögen, aber ausreichend für ein bequemes Leben. Wegen seines Aussehens hatte sie ihn bestimmt nicht geheiratet. Seine einzelnen Körperteile waren einigermaßen ansprechend, doch zusammengenommen entstand ein etwas langgezogener und schlecht proportionierter Eindruck. Sein Spitzname unter seinen Schülern war »der Stör«, weil er so dünn und groß und knochig war.

Marya hatte natürlich auch ein paar ungewöhnliche Angewohnheiten. Sie las Bücher, während sie in der Stadt herumlief – wovon viele zerrissene Röcke und aufgeschlagene Knie zeugten. Sie hatte keine Angst vor Höhen und stieg manchmal aufs Dach, um die Segel der einfahrenden Schiffe am Horizont zu beobachten. Sie spielte wunderschön, aber auch sehr energisch Klavier. Sie sang wie eine wahnsinnige Meerjungfrau, während sie Balladen und Reels in die Tasten hämmerte und reihenweise verstimmte Klaviere zurückließ. Dennoch bewunderte man sie für ihre Eigenheiten. Die Stadtbewohner fanden sie hinreißend und baten sie oft, in den Wirtshäusern zu spielen. Nicht einmal das unerbittliche Grau des Winters in Isaugh konnte ihre Lebhaftigkeit dämpfen. Ihre Hochzeit mit dem Stör war daher gelinde gesagt eine Überraschung.

Heute trug Marya ihre Reisekleidung: einen knielangen Khaki-Rock und eine weiße Bluse mit einem latent exzentrischen Tropenhelm, der auf ihren kastanienbraunen Locken saß. Sie hatte ihn rot gefärbt, wovon Senlin nicht gerade begeistert war, doch sie hatte es ihm schmackhaft gemacht, indem sie ihm erklärte, dass sie so viel leichter in einer Menschenmenge zu finden sei. Senlin trug einen grauen Anzug aus dünnem Cord, den er eigentlich für zu leger befand, selbst für die Reise, doch sie hatte gesagt, er sei modisch und ein bisschen verrückt, und war das denn nicht der Sinn einer Hochzeitsreise?

Ein Junge in einer groben Ziegenfellweste kletterte geschickt am Zug entlang, eine Reihe von Brotringen am Arm. Senlin kaufte einen Ring, und er und Marya teilten sich das warme, weiche Brot mit der knusprigen Kruste, während der Zug auf den Hauptbahnhof zusteuerte, an dem so viele Gleise endeten.

Der natürliche Lauf des Schuljahres hatte ihre Hochzeitsreise verzögert. Er hätte sich für ein komfortableres und einfacheres Reiseziel entscheiden können, ein Hotel am Meer oder ein Cottage auf dem Land, in das sie sich für ein Wochenende hätten zurückziehen können, doch der Turm von Babel war so viel mehr als ein schnödes Urlaubsziel. Eine ganze Welt erstreckte sich auf dem massiven Fundament in die Höhe. Als junger Mann hatte er von dem kulturellen Einfluss des Turms auf Theater und Kunst gelesen, seinen Fortschritten in der Wissenschaft und den grundlegenden Technologien. Selbst Elektrizität, sogar in den größten Städten von Ur eine noch nicht verbreitete Bequemlichkeit, sollte in den höheren Ebenen frei verfügbar sein. Der Turm war der Leuchtturm der Zivilisation. Ein altes Sprichwort besagte: »Die Erde erschüttert nicht den Turm, der Turm erschüttert die Erde.«

Der Zug hielt an, auch wenn sie weit und breit keinen Bahnsteig sehen konnten. Der Schaffner kam vorbei und erklärte, dass sie aussteigen müssten; die Gleise waren zu verstopft, als dass sie weiterfahren könnten. Keiner der Reisenden reagierte überrascht. Nach vielen Tagen, in denen man auf den Sitzen durchgerüttelt worden war, war die Aussicht auf einen Spaziergang verlockend. Senlin nahm ihrer beider Gepäckstücke, eine abgesteppte Ledertasche für seine Habseligkeiten und einen mittelgroßen Überseekoffer mit großen Rollen am einen und einem Griff am anderen Ende. Senlin bestand darauf, beide ins Freie zu manövrieren.

Bevor sie ihr Abteil verließen, und während Marya am Schaft ihrer braunen Lederstiefel zupfte und ihren Rock glattstrich, rezitierte Senlin die drei Grundregeln, die er aus seiner Ausgabe des Allgemeinen Führers durch den Turm von Babel entnommen hatte. Erstens: Behalten Sie Ihr Geld dicht am Körper. (Vor ihrer Abreise hatte er den örtlichen Schneider beauftragt, versteckte Taschen in den Bund seiner Hosen und ihren Rocksaum einzunähen.) Zweitens: Geben Sie Bettlern nichts. (Es ermutigt sie nur.) Drittens: Behalten Sie Ihre Begleiter stets in Sichtweite! Senlin bat Marya, diese Regeln zu wiederholen, während sie den mit einem goldfarbenen Teppich ausgelegten Gang entlanggingen, der die Waggons miteinander verband. Sie gehorchte, ließ sich aber einen Scherz nicht nehmen.

»Viertens: Küssen Sie nicht die Kamele!«

»Das ist nicht die vierte Regel.«

»Sag das den Kamelen!«, erwiderte sie lachend und leichten Schrittes.

Und trotzdem war keiner von ihnen auf den Anblick vorbereitet, der sich ihnen bot, als sie die Zugtreppe hinabstiegen. Die Menge war wie Gelee, das sich um sie schloss. Zuerst konnten sie sich kaum bewegen. Ein glatzköpfiger Mann mit einem riesigen Hanfsack über der Schulter und einem eisernen Ring um den Hals drängte Senlin in eine Frau mit rotunterlaufenen Augen; sie stieß ihn mit alkoholgetränktem Lachen zur Seite und verschmolz wieder mit den Menschenleibern. Ein Käfig mit aufgeregten Kanarienvögeln wurde über ihren Köpfen weitergereicht, wobei übelriechende Federn auf sie herabsegelten. Die Hüften eines Dutzend Frauen in schwarzen Gewändern, Pilger irgendeines abseitigen Glaubens, stießen gegen sie wie enorme Kugellager. Ungewaschene Kinder mit Tabletts voller duftender Papierblumen, Spielzeugwindräder und kandierter Früchte schoben sich wendig an ihnen vorbei; sie waren mit Seilen aneinandergefesselt. Abgesehen von den Gleisen gab es keine erkennbare Straße, kein Kopfsteinpflaster, keine Gehsteige, nur die rostrote Erde unter ihren Füßen.

Die Fülle an Eindrücken war überwältigend, und einen Moment blieb Senlin stocksteif stehen. Das Bellen der Verkäufer, das Klatschen von Planen im Wind, das Klirren von Geschirren und das Vibrieren Zehntausender fremder Stimmen bildeten eine Lärmdecke, die man nur überbrüllen konnte. Marya packte ihren Mann von hinten an seinem Gürtel, schreckte ihn damit aus seiner Abwesenheit und spornte ihn an. Er wusste, dass sie hier nicht einfach stehen bleiben konnten. Er holte tief Luft und setzte sich in Bewegung.

Sie wurden in ein Labyrinth aus Händlerzelten, Karren mit Waren und wackligen Tischen hineingezogen. Die Gassen zwischen den Ständen waren so wirr wie die Kritzeleien eines Kindes. Provisorische Dachsparren aus Bambus ragten überall über ihnen heraus, bogen sich unter Jutematten, Zwiebelketten, Laternen aus gehämmertem Zinn und geflochtenen Ledergürteln. Leuchtend bunt gestreifte Sonnensegel verdeckten einen Großteil des Himmels, doch auch im Schatten vergaß man die sengende Sonne keinen Moment. Die trockene Luft war so heiß wie frische Asche.

Senlin stapfte weiter, in der Hoffnung, eine Straße oder einen Wegweiser zu finden, jedoch vergeblich. Er gestattete der Menge, einen Weg zu öffnen, statt sich selbst einen zu bahnen. Nachdem er etwa hundert Schritte vorangekommen war, wusste er nicht mehr, in welcher Richtung die Bahngleise waren. Sie hätten ihnen bis zum Hauptbahnhof folgen können. Es war beunruhigend, wie schnell er die Orientierung verloren hatte.

Dennoch drehte er sich in regelmäßigen Abständen um und setzte für Marya ein Lächeln auf, deren Strahlen unerschütterlich war. Es gab keinen Grund, sie mit diesem kleinen Rückschlag zu beunruhigen.

Vor ihnen wedelte ein Junge mit nacktem Oberkörper an einem Fleischerstand die Fliegen von den herabhängenden Lämmern und Hasen. Die Fliegen und der süßliche Gestank, der von dem Schlachter herüberwehte, hielt die Menge auf Abstand, was Senlin und Marya die Gelegenheit zu einer kurzen Pause bot, auch wenn der Geruch wirklich Übelkeit erregend war. Senlin stellte Maryas Koffer zwischen sich und seine Frau und trocknete seinen verschwitzten Hals mit einem Taschentuch.

»Hier ist wirklich viel los«, sagte er und versuchte, nicht so überwältigt zu wirken, wie er sich fühlte, auch wenn Marya ihm kaum Beachtung schenkte; sie starrte mit verträumtem Ausdruck auf ihrem hübschen Gesicht auf etwas über seinem Kopf.

»Wie wunderschön«, sagte sie.

Durch eine Lücke zwischen den Sonnensegeln war etwas Blau zu sehen, und da, wie ein Pfeiler, auf dem der Himmel ruhte, war der Turm von Babel.

Die Oberfläche des Turms war weiß, grau, rostrot, hellbraun und schwarz gefleckt, was auf die vielen Arten von Gestein und Ziegel hinwies, mit denen das Gebäude errichtet worden war. Die verschiedenen Farben erinnerten Senlin an eine Glückskatze. Die Silhouette des Turms war kein architektonisches Meisterwerk, voller Dellen und Ausbuchtungen, doch sie war mit opulenten Friesen geschmückt, von denen jedes höher als ein Haus war. Eine dichte Wolkendecke hüllte die Spitze des Turms ein. Der Allgemeine Führer merkte an, dass die oberen Ebenen ständig im Nebel lagen, doch ob das alte Bauwerk die Wolken selbst hervorbrachte oder sie anzog, wurde immer wieder diskutiert. Die Spitze war vom Boden aus jedenfalls nie zu sehen.

Die Beschreibung des Turms im Allgemeinen Führer hatte Senlin nicht auf seine wahren Ausmaße vorbereitet. Die Zikkurate von Süd-Ur und die Zitadellen der Westlichen Ebenen wirkten dagegen wie etwas, das Kinder aus Zuckerwürfeln bauten. Es hatte tausend Jahre gedauert, den Turm zu errichten. Oder sogar noch mehr, nach Meinung einiger Historiker. Senlin schauderte vor Ehrfurcht und wegen des dichten Gedränges des Marktes. Marya drückte beruhigend seine Hand, und er straffte die Schultern. Immerhin war er Schuldirektor, ein Anführer einer schlichten Gemeinschaft. Ja, diese Menschenmenge mussten sie überwinden, doch sobald sie den Turm erreicht hatten, würde sich das Gedränge lichten. Sie würden ein bisschen mehr Platz haben und sich ganz sicher in angenehmerer Gesellschaft befinden. In ein paar Stunden würden sie ein Glas Portwein in einer preiswerten, aber einladenden Unterkunft auf der dritten Ebene des Turms zu sich nehmen – die Bäder, wie die Einheimischen den Bereich nannten –, genauso wie sie es geplant hatten. Aus bequemer Entfernung würden sie dann auf den Markt herabblicken.

Zumindest hatten sie ein Ziel, eine Richtung, in die sie sich fortbewegen konnten.

Senlin entdeckte auch eine effizientere Art, sich durch die Menge zu drängen. Wenn er stehen blieb, kam er schwer wieder in Bewegung, doch setzte er seine Schritte weiter und bestimmter, so kam er besser voran. Nach ein paar Minuten fühlte sich Marya sicher genug, um seinen Gürtel loszulassen, woraufhin beide entspannter voranschreiten konnten.

Bald schon fanden sie sich in einem der vielen Kleiderbasare des Marktes wieder. Mit Spitze besetzte Kleider, bestickte Schürzen und Hemden mit Manschetten hingen an einem Labyrinth aus Haken und Seilen. Anzüge in jeder erdenklichen Farbe, von Pfauenblau bis Osterglockengelb. Unterkleidung für Frauen baumelte von Bambusleitern wie die Häute exotischer Schlangen. Zu Quadraten gefaltete Taschentücher bedeckten einen Tisch in einem hohen Berg wie eine Schneewehe.

»Ich werde dir etwas zum Anziehen kaufen. Die Abende hier sind wärmer, als wir gewohnt sind«, sagte er dicht an ihrem Ohr.

»Ich hätte gern ein kurzes Kleid«, erwiderte sie, während sie ihren Tropenhelm abnahm und ihr etwas plattgedrücktes kastanienbraunes Haar enthüllte. »Etwas Skandalöses.«

Er runzelte nachdenklich die Stirn, um seine Überraschung zu verbergen. Er wusste, dass sich selbst anständige Paare in ihren Flitterwochen dieser Art Anzüglichkeit hingaben. Dennoch war er nicht darauf vorbereitet und konnte nicht auf ihren spielerischen Ton eingehen. »Skandalös?«

»Nichts, was deine Schüler wissen müssten. Nur etwas, um unsere Wäscheleine zu Hause ein wenig zum Erröten zu bringen«, sagte sie und strich mit ihrem Finger über seinen Arm, als würde sie ein Streichholz entzünden.

Er fühlte sich unwohl. Vor ihnen erstreckten sich Unmengen von Ständen mit weiblicher Unterwäsche. Kein Mann war zu sehen.

Nach fünfzehn Jahren als Junggeselle war er nicht auf die Invasion von Maryas Unterkleidung in sein Schlafzimmer vorbereitet gewesen. Es war ein Schock, ihre Wäsche an den Bettpfosten und Türgriffen seines ehemaligen Heiligtums hängen zu sehen. Doch diese Masse an Nachthemden, Miedern, Korsetts, Strümpfen und Büstenhaltern, die von unzähligen fremden Frauen durchwühlt wurden, war um ein Vielfaches unangenehmer. »Ich glaube, ich bleibe lieber bei unserem Gepäck.«

»Was ist mit deinen Regeln?«

»Nun, wenn du diese rote Schüssel aufbehältst, kann ich dich auch von hier aus sehen.«

»Wenn du weggehst, treffen wir uns an der Spitze des Turms«, sagte sie mit übertrieben dramatischem Nachdruck.

»Das werden wir nicht. Wir treffen uns genau hier neben diesem Karren mit Socken.«

»Wie romantisch du bist!«, sagte sie und ging um zwei untersetzte Frauen herum, die die blau-weißen Schürzenkleider trugen, die viele Jahre zuvor modern gewesen waren. Senlin bemerkte amüsiert, dass sie mit einem dicken Seil um die Taille miteinander verbunden waren.

Er fragte sie, ob sie aus dem Osten stammten, und sie nannten ihm ein Fischerdorf nicht weit von Isaugh. Sie tauschten die üblichen nostalgischen Bemerkungen von Küstenbewohnern aus: Sonnenaufgänge, Seesterne, das sanfte Plätschern der Brandung in der Nacht. Dann fragte er: »Verbringen Sie Ihren Urlaub hier?«

Sie antworteten mit leicht mütterlichem Lächeln, bei dem er sich herabgesetzt fühlte. »Urlaub haben wir schon lange nicht mehr.«

»Gehen Sie überall aneinander gebunden hin?« Ein leicht neckender Unterton hatte sich in seine Stimme geschlichen.

»Ja, natürlich«, erwiderte die ältere der beiden. »Seit wir unsere kleine Schwester verloren haben.«

»Mein Beileid. Ist sie erst kürzlich verstorben?«, fragte Senlin ernst.

»Ich hoffe doch nicht. Doch es sind mittlerweile drei Jahre vergangen. Vielleicht ist sie ja inzwischen gestorben.«

»Oder sie hat einen Weg gefunden, nach Hause zurückzukehren?«, sagte die jüngere Schwester.

»Sie würde uns nicht zurücklassen«, erwiderte die ältere in einem Ton, der darauf hindeutete, dass dieses Gespräch schon oft zwischen ihnen geführt worden war.

»Es ist mutig von Ihnen, allein hierherzureisen«, sagte die jüngere Frau.

»Oh, danke, aber ich bin nicht allein«, erklärte er. Der Unterhaltung langsam müde wollte er nach dem Koffergriff greifen, nur um festzustellen, dass er nicht mehr da war.

Verwirrt drehte er sich im Kreis, suchte zuerst den Boden, dann die Menge ausdrucksloser Gesichter um ihn herum ab. Doch Maryas Koffer war verschwunden. »Ich habe mein Gepäck verloren«, sagte er.

»Besorgen Sie sich ein gutes Seil«, empfahl die ältere Schwester und tätschelte seine bleiche Wange.

2

»Kluge Einkäufer werden in dem Markt schwelgen, der sich um den Fuß des Turms erstreckt. Scheuen Sie sich nicht, während des Feilschens weiterzugehen; ein kleiner Rückzug kann zu einem großen Schnäppchen führen.«

Allgemeiner Führer durch den Turm von Babel, I.IV

Senlin setzte sich auf einen Sandsteinfelsen in der Nähe des Fußes des Turms und aß die Pistazien, die er zum Frühstück gekauft hatte. Seine aufgesprungenen Lippen brannten. Kleine braune Vögel hüpften zwischen den Schalen umher, die er zu Boden fallen ließ, und pickten daran herum. Er erkannte die Art nicht. Einige Stunden zuvor hatte er eine Kelle Wasser gekauft, die so viel kostete wie ein Gläschen guter Brandy in Isaugh. Schon jetzt war er wieder durstig.

Er hatte ein kleines Notizbuch mitgenommen, um seine Eindrücke festzuhalten, wie jeder Amateuranthropologe dies wahrscheinlich tun würde, doch er hatte es noch nicht geöffnet, seit sie aus dem Zug ausgestiegen waren. Er wollte nichts von alldem hier festhalten. Seine aufgeschlagene Ausgabe des Allgemeinen Führers hing schlaff in seiner Hand. Ein unordentliches Bündel Damenunterwäsche lag neben ihm. Ihm war schwindelig vor Erschöpfung, seine Finger zitterten. Wenn er sich auf den sonnenwarmen Felsen zurücklegen und die Augen schließen würde, wäre er im Nu eingeschlafen. Genau deshalb tat er es nicht.

Zwei Tage waren vergangen, seit sie aus dem Zug ausgestiegen waren, zwei Tage, seit er das erste Mal den Turm durch die löchrigen Sonnensegel gesehen hatte, zwei Tage, seit sie lachend weggegangen war auf der Suche nach einem Kleid. Irgendetwas Skandalösem.

Der Turm von Babel erhob sich vor ihm wie die Stufe eines riesigen Plateaus, ein steinernes Gesicht, das schier endlos vor ihm aufragte. Bis auf den bogenförmigen Eingang, hinter dem sich ein tief in den Schatten liegender Tunnel knapp hundert Meter entfernt erstreckte, wies der untere Bereich des Turms keine Fenster oder Vorsprünge auf. Weiter oben erkannte Senlin ein paar Auswüchse wie Dornen von einem alten Rosenbusch. Daran waren Luftschiffe befestigt, die Gondeln in der Entfernung klein wie Blattläuse. Lufthäfen, vermutete Senlin. Er hatte gelesen, dass die meisten Ebenen des Turms, auch Ringreiche genannt, über diverse solcher Anlegestellen verfügten. Wenn er mit Marya nur mit dem Luftschiff angereist wäre! Doch eine solche Reise war ungeheuer kostspielig, zwei Fahrscheine kosteten fast das Einkommen eines Jahres. Schlimmer war jedoch, dass er leicht an Seekrankheit litt. Die Einheimischen in Isaugh zogen ihn oft damit auf: Der Schuldirektor einer Fischerstadt kann die Glocke läuten, aber mit den Wellen kann er nichts anfangen. Er hatte seine Hochzeitsreise nicht damit beginnen wollen, über der Reling eines Luftschiffes zu hängen und die Landschaft unter ihm mit seinem Mageninhalt zu düngen. Außerdem war der Aufstieg zu ihrem Reiseziel, den Bädern, ein Teil des Abenteuers gewesen, und Marya hatte sich darauf gefreut.

Plötzlich kam ihm ein Gedanke, er schreckte auf und rutschte beinahe von dem Felsen. Die Papiertüte mit den Pistazien glitt aus seiner Hand und fiel zu Boden, die Früchte rollten in alle Richtungen über die rote Erde.

Noch bevor er sich versichert hatte, wusste er, dass es da sein würde, und trotzdem durchwühlte er seine Reisetasche, das Seitenfach, berührte Stifte, seine Kleiderbürste und unbeschriebene Postkarten, bis sich seine Hand schließlich um den Grund seiner Aufregung schloss. Er holte die beiden Zugfahrkarten heraus.

Er hatte ihr Ticket nach Hause.

Nur einen Moment lang war er von dem Verlust ihres Koffers verwirrt gewesen und hatte sich sofort auf die Suche unter den Händlern und Touristen gemacht. Doch ohne einen Anhaltspunkt, in welche Richtung die Diebe verschwunden waren, gab er bald auf. Er kehrte zu dem Karren zurück, beinahe sicher, dass es sich um dieselbe Sockenauslage handelte, bei der er bis vor Kurzem noch gestanden hatte, und verbrachte dort den ersten Nachmittag und dann die erste Nacht seiner Hochzeitsreise in Babel, allein und auf seinen Fußballen auf- und abwippend. Er war sich sicher, dass sie hierher zurückfinden würde. Er konzentrierte sich darauf, ausgeglichen zu sein, rational und sogar gelegentlich optimistisch. Das hier war keine besondere Unannehmlichkeit. Vielleicht war es ein Abenteuer von der Art, die die Urlaubserzählungen würzten. Sie würde sicher zurückkehren.

Doch im Lauf der ersten Nacht sah er, wie der erste Stand schloss, der zweite, der dritte, wie die Waren von Kamelen und Mauleseln auf Schlitten und Wagen weggefahren wurden. Neue Händler trafen ein. Neue Sonnensegel wurden gespannt, neue Tische und Karren aufgestellt, die den Gassen zwischen den Händlern ein neues Aussehen verliehen und sogar die Himmelsausschnitte über ihm veränderten. Jetzt wusste er, warum der Allgemeine Führer keine Karte des Marktes enthielt. Man könnte stattdessen genauso gut ein Diagramm des morgigen Sonnenunterganges zeichnen. Der Markt befand sich in ständiger Veränderung. Als sich der Sockenkarren, an dem er zu warten versprochen hatte, in einen Stand mit Öllampen verwandelt hatte, erkannte er, dass sie niemals den Weg zu ihm zurückfinden würde. Er konnte nicht einfach länger untätig herumstehen.

Am nächsten Tag begann er eine systematische Suche mit Ausgangspunkt in dem Seidenviertel des Marktes, in dem Marya verschwunden war. Er bewegte sich, so gut er konnte, in einer immer größer werdenden Spirale und kaufte bei diversen Ständen einen Seidenschlüpfer oder ein Paar Strümpfe, um die Aufmerksamkeit der Händler lange genug für die Frage zu fesseln, ob sie am vorherigen Tag eine Frau mit einem roten Tropenhelm gesehen hatten. Er war froh, Marya wenigstens einfach beschreiben zu können: eine Frau mit einem roten Hut. Sie war schlauer und vernünftiger gewesen, als er ihr zuerst zugestanden hatte. Nach einiger Zeit hatte er ein peinlich umfangreiches Bündel an Damenwäsche angesammelt, jedoch nichts über Marya erfahren. Die Kleiderstände verwandelten sich zu Töpferständen, die Tische mit Seide wurden von Geschirr und Steingut ersetzt.

Wo die Sonnensegel und Zelte größere Lücken ließen, kletterte er auf Fässer und Kisten, um die Menge nach seiner Frau abzusuchen, in der Überzeugung, dass sie so deutlich wie ein Kardinal auf einem Baum zu sehen wäre. Doch in dem Gedränge war es schwierig, überhaupt einen Menschen klar zu erkennen. Fast unbewusst führte ihn seine Suche näher an den Turm, der in weiterer Entfernung lag, als es auf den ersten Blick gewirkt hatte. Oder vielleicht hatte er sich auch nur weiter von ihm entfernt. Er konnte es nicht sagen.

Während die Stunden der zweiten Nacht verstrichen, wurde er immer unorganisierter, weniger kontrolliert. Er wanderte kopflos über den Markt und rief ihren Namen. Bei jedem roten Schimmer rannte er zwischen Ständen hindurch, drängte Verkäufer und Passanten zur Seite und rief atemlos: »Marya! Marya!«, nur um sich dann einem Mann mit einem roten Fez oder einem Jungen mit einer roten Papierlaterne an einem Stab gegenüber zu sehen, oder einer roten Decke unter einem Pferdesattel …

Er war es nicht gewohnt, Panik zu empfinden, und er wusste auch nicht, wie er sich beruhigen sollte, wenn die Verzweiflung ihn zu überwältigen drohte. Die Hochzeitsreise war ruiniert, so viel war sicher. Sie würden eine Geschichte voller Luxus für ihre Freunde erfinden, und er würde natürlich alles mit einem ruhigen Wochenende in einem ländlichen Cottage wiedergutmachen, doch für den Rest ihrer Ehe würde sie sich daran erinnern, wie furchtbar ihre Hochzeitsreise gewesen war. Ein ungünstiger Start für die gemeinsame Zukunft.

Überall fielen ihm Menschen auf, die mit Seilen aneinandergebunden waren, was die Fortbewegung durch die Menge erheblich erschwerte. Warum hatte der Allgemeine Führer dieses kleine bisschen Weisheit verschwiegen? Bringen Sie ein gutes Seil mit.

Senlin schob die Zugfahrscheine zwischen die Seiten des Allgemeinen Führers und verfluchte sich, dass er so kurzsichtig gewesen war und beide Fahrkarten bei sich trug. Er fragte sich, ob sie über genug Geld verfügte, um sich ein neues Ticket zu kaufen, und rechnete kurz im Kopf nach. Er hatte vier Mina, sechzehn Schekel und elf Pence, und solange sie nicht ausgeraubt wurde, dürfte sie in etwa dasselbe bei sich haben. Eine Fahrkarte nach Isaugh würde selbst in der dritten Klasse mindestens sechs Mina kosten. Nein, sie hatte nicht mal annähernd genug Geld bei sich. Marya war hier gestrandet.

Ein dürrer alter Mann, glatzköpfig und mit nacktem Oberkörper, schwankte an Senlins Felsen vorbei, tief gebeugt unter einer schweren Last. Schwarze Bäche rannen seinen Rücken entlang, wo sich der Schweiß mit dem Kohlestaub aus seinem Sack mischte. Der alte Sklave hatte den Kopf tief gesenkt und sah nur die Absätze des gut gekleideten Touristen vor ihm. Beide gehörten zu einer Reihe von Reisenden, die auf den Eingang des Turms zusteuerten. Abgesehen davon war der Bereich um das Fundament bemerkenswert leer. Dieses Niemandsland erstreckte sich hundert Schritte vom Fuß des Turms. Senlin konnte sich keinen Grund für diese Brachfläche vorstellen, während der Markt hinter ihm vor Menschen aus allen Nähten platzte.

»Haben Sie sich verirrt?«, fragte ein junger Mann, der plötzlich neben dem Felsen aufgetaucht war.

»Warum fragen Sie?«, erwiderte Senlin. Der junge Mann blinzelte im Sonnenlicht, das dichte dunkle Haar glänzte vor Öl. Er hatte breite Schultern und war klein, mit der schmalen Taille eines Akrobaten, seine Haut von einem dunklen Olivton, gegen die sich die goldenen Flecken in seinen Augen abzeichneten.

»Die meisten Menschen halten sich nicht in den Randgebieten auf. Dieser Felsen, auf dem Sie sitzen …«

»Ist er heilig?«

»Nicht heiliger als ein Grabstein. Er ist vor ein paar Tagen herabgestürzt und auf einem Besucher gelandet.«

»Von wo herabgestürzt?«, fragte Senlin entsetzt. Der junge Mann deutete schweigend nach oben.

Senlin fühlte sich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und ließ sich die glatte Oberfläche des Felsens hinuntergleiten. »Ich verstehe nicht«, sagte er, während er sich das Hinterteil abklopfte und das Jackett zurechtrückte. »Der Turm von Babel ist das sicherste Bauwerk der Welt. Er ist auf einem tiefen Fundament erbaut. Er wirft nicht einfach Felsen ab wie eine Eiche ihre Eicheln. Er ist ein Wunderwerk der Ingenieurskunst!« Senlin wedelte mit seinem Allgemeinen Führer in Richtung des jungen Mannes, als würde das Buch seine Aussage beweisen.

»Auf jeden Fall ist er ein Wunder. Doch manchmal lässt er eben auch ein kleines Wunder auf uns fallen«, erwiderte der junge Mann. »Es ist egal, ob etwas vom zweiten oder dem zweiundzwanzigsten Ring stürzt. Alles kommt auf demselben Boden auf: den Randgebieten. An Ihrer Stelle würde ich hier nicht mein Zelt aufstellen.«

Diese Entdeckung passte in keiner Weise zu Senlins Recherchen und auch nicht zu dem, was er seinen Schülern über den Turm beigebracht hatte, sein immerwährendes Lieblingsthema. Er skizzierte den Turm und das Netzwerk aus Gleisen, das von ihm ausstrahlte. Er referierte die düstere Geschichte des Turms und die ehrwürdigen Historiker, die über sein Alter diskutierten, die ursprünglichen Architekten, die Machenschaften im Inneren und seinen Zweck. Er erzählte den Schülern sogar von den Bädern, die berühmt für ihre therapeutischen Quellen waren und zu denen er Marya hatte bringen wollen. »Ich habe Dutzende Abhandlungen über den Turm gelesen und noch nie von den Randgebieten gehört.«

»Vielleicht sind Ihre Bücher veraltet.« Der junge Mann wurde wieder ernst, als Senlin sein Lächeln nicht erwiderte. »Ich heiße Adamos Boreas. Nennen Sie mich Adam.« Senlin schüttelte die starke Hand des jungen Mannes und stellte sich ebenfalls vor. Der erwachsene Tonfall und das Selbstbewusstsein seines Gesprächspartners waren etwas entwaffnend. Auch wenn sein Bart noch sehr flaumig und lückenhaft war, schien Adam durchaus erwachsen zu sein. »Ich vermute, Sie handeln mit Seide.« Adam nickte zu dem Bündel aus Damenwäsche, das immer noch auf dem morbiden Felsen lag. Schwarze Seidenstrümpfe baumelten herunter.

Senlin packte verwirrt das Bündel, und seine Verlegenheit wurde nur noch durch seine Antwort gesteigert: »Die sind für meine Frau.«

»Wo ist Ihre Frau denn?«, fragte Adam und reckte suchend den Hals.

Senlins Zunge war so trocken und steif wie ein Ledergürtel. Er glaubte, würgen zu müssen, wenn er zu schlucken versuchte. Er würde ein Vermögen für etwas zu trinken geben, doch schlimmer als sein Durst war das Eingeständnis, das in seiner geschwollenen Kehle drängte. Er fühlte sich wie an seinem ersten Tag vor einer Klasse: wie ein Betrüger. Was für ein Ehemann verliert seine Frau?

Er schob sich das Wäschebündel unter den Arm, bedachte Adam mit einem traurigen Lächeln und sagte: »Seltsam, dass Sie meine Frau erwähnen. Ich scheine sie verloren zu haben.«

3

»Der kluge Reisende wird sich nach dem breitesten, am meisten begangenen Weg richten, sich am Verhalten seiner Mitreisenden orientieren, ein Echo sein, aber nicht selbst seine Stimme erheben. Es ist gefährlich, sich seinen eigenen Weg zu bahnen, wenn die Richtung doch bereits klar vorgegeben ist.«

Allgemeiner Führer durch den Turm von Babel, I.VI

Die Koje in ihrem Schlafwagen war kaum breit genug gewesen, dass sie beide gleichzeitig darauf liegen konnten. Sie mussten sich dicht Schulter an Schulter drängen, die Decke kaum eine Armlänge über ihnen. Das Mondlicht zuckte in regelmäßigen Abständen durch das Fenster, wenn sie durch die Kiefernhaine fuhren, der Waggon schwankte leicht und beruhigend.

Senlin war in jeder Hinsicht unvorbereitet auf die Ehe. Er verfügte weder über die Vorstellungskraft noch die emotionale Wärme, die Intimität voraussetzte. Er lag auf dem Rücken wie ein gestrandeter Fisch, ein Stör, der nach dem Wasser lechzte. Der Mond schien, der Waggon schaukelte wie eine Wiege, nur er und seine Frau – so viel Romantik, wie ein Mann sich nur wünschen konnte, und was tat er? Ertrank in den Möglichkeiten.

Marya lag neben ihm, aufgestützt auf einen Ellbogen, und betrachtete ihn, wie er vorgab, mit offenen Augen zu schlafen. Sie legte einen Finger an seine Wange, zog seinen Mundwinkel zur Seite wie mit einem Angelhaken, versuchte, ihm eine Reaktion zu entlocken. Sie zupfte an seinem Ohrläppchen, biss leicht in seine Schulter und hauchte ihren warmen Atem an seinen Hals. Er lag weiterhin nur da, verzog manchmal das Gesicht, reagierte aber sonst nicht.

»Sag mir, Tom, wie tief ist der Brunnen unter dem Turm?«

Senlin schluckte und antwortete krächzend: »Fast zwei Kilometer, soweit ich mich erinnere.«

»So viel! Wenn der Brunnen breit genug wäre, um den Turm …«

Senlin unterbrach sie stotternd. »Unmöglich. Er würde einstürzen, wenn …«

Marya fuhr beharrlich fort, ihr Wispern kaum hörbar: »Wenn er breit genug wäre, wäre der Turm hoch genug, um ihn auszufüllen?«

Er dachte darüber nach. »Ich vermute, es wäre möglich, wenn es sechzig Ebenen zu je hundert Fuß Höhe sind …«

»Ist es möglich?«, fragte sie, den Mund nahe an seinem errötenden Ohr.

»Möglich«, bestätigte er. Das Mondlicht schien in ihr Abteil, unterbrochen von den an ihnen vorbeiziehenden Espen, der Waggon schwankte sanft hin und her und brachte sie immer weiter weg von vertrauten Dingen.

Der dunkelhaarige junge Mann neigte den Kopf, entweder aus Respekt oder vor Verlegenheit wegen Senlins offensichtlicher Überwindung, sein Malheur einzugestehen. Der Schuldirektor hatte den Hals derart gestreckt, dass die Sehnen deutlich hervortraten. »Wenn es Sie tröstet, Sie sind nicht der Erste, der jemanden verliert.«

Senlin hielt Adam für einen Einheimischen oder vielleicht einen Besucher, der vor so langer Zeit eingetroffen war, dass er mittlerweile als Immigrant galt. Für einen Touristen wusste er zu viel. »Ich hatte gehofft, sie würde hier vorbeikommen. Sie haben nicht zufällig eine Frau mit einem roten Tropenhelm gesehen?«

»Das ist keine besonders exakte Beschreibung.«

Das war das erste Mal, dass man ihn ermunterte, mehr über seine verschwundene Frau zu sagen. All seine bisherigen Nachforschungen waren mit wegwerfenden Gesten bedacht worden, einer Handbewegung oder einem oberflächlichen Schulterzucken. Auch wenn ihm nicht wohl dabei war, siegte die Hoffnung über sein Bedürfnis nach Diskretion. Er zwang sich, seine Frau ausführlicher zu beschreiben. »Sie hat etwa Ihre Größe. Schlank mit kastanienbraunem Haar, helle Haut. Hübsch.«

»Kein Gepäck?«, fragte Adam, und Senlin schüttelte den Kopf. »Etwa in Ihrem Alter?«

Senlin zögerte. »Jugendlicher.« Ein kleiner Vogel mit dunklem Schwanz flatterte zwischen die beiden Männer und begann ungerührt an den verstreuten Pistazien zu picken. »Das ist ein Schwarzschwanz«, sagte Senlin. Er war dankbar für die momentane Ablenkung. »Eine sehr zielbewusste Spezies, was ich gelesen habe. Haben vor kaum etwas Angst.«

Wie um den Vogel auf die Probe zu stellen, schob Adam seinen Fuß in seine Nähe. Das Tierchen hüpfte auf die Stiefelspitze und weiter in den roten Sand. Adam schnaubte vor Belustigung. »Sind Sie ein Vogelbeobachter?«

Senlin schüttelte den Kopf. »Nur ein Sesselnaturalist. Bisher habe ich noch nie einen in echt gesehen.« Er spürte, wie ihn der junge Mann von oben bis unten musterte.

»Ich schätze, Sie haben unser kleines Schwarzes Brett bereits aufgesucht«, sagte Adam Boreas schließlich und fügte als Erklärung auf Senlins fragenden Gesichtsausdruck hinzu: »Wo die Verschollenen Nachrichten hinterlassen.«

Senlins Miene erhellte sich. Natürlich! Sicher hatten bisher schon unzählige Menschen ihre Begleitungen verloren. Er war nicht der Erste, der nach jemandem suchte. Es war völlig logisch, dass es einen Treffpunkt gab, an dem man sich wiederfinden konnte. »Würden Sie mich dorthin bringen?«

»Das werde ich«, sagte Adam, »aber es wird nichts helfen.«

»Das lassen Sie mal mich entscheiden. Bitte«, sagte Senlin und verstaute den Reiseführer in seiner Tasche. »Gehen Sie voran.«

Als er Boreas zum Fuß des berghohen Turms folgte, fühlte Senlin kurzzeitig Hoffnung in sich aufkeimen. Die Bereitwilligkeit, mit der Adam seiner Aufforderung nachgekommen war, erinnerte ihn daran, wie seine Befehle im Klassenzimmer angenommen wurden. Vielleicht war er doch nicht so unfähig.

Die Randbereiche waren so ausgedörrt wie eine Salzebene, flach wie ein Bügeleisen und beinahe so heiß. Die Sonne schien sowohl vom Himmel als auch von der Erde zu brennen.

Als Senlin den Turm durch ihr schwankendes Zugfenster zum ersten Mal entdeckt hatte, vor vielen Meilen, hatte er wie ein schwarzer Kratzer auf der blauen Linse des Himmels ausgesehen. Jetzt wirkte er, als habe sich die Erde zusammengeballt und wider jegliche Schwerkraft in die Höhe geschraubt. Der Markt fand daher in zweierlei Nacht statt – die natürliche Nacht der Erde und die Düsternis im Schatten des Turms. Sie hatten Glück, sich dem massiven Bauwerk im Sonnenlicht zu nähern, auch wenn sein Schatten wie die Hand einer monströsen Sonnenuhr immer näher kroch. Bereits in wenigen Minuten würde die Turmnacht sie eingeholt haben.

Boreas führte ihn an die Seite des Eingangs, wo sich das Gedränge ein wenig lichtete. Entlang der Rundung des Turmfundaments lehnten und knieten Menschen an der Mauer, die Gesichter an den Stein gelegt, wie Pilger, die zu einem Schrein beteten. Die Mauer war übermannshoch mit Zetteln und Papierstücken bedeckt, in mehreren Schichten und verschiedenen Graden der Vergilbtheit. Sie bildeten eine Papiermaché-Hülle um die riesigen Granitblöcke.

»Haben diese Menschen keine Angst, von einem herabstürzenden Stein erschlagen zu werden?«, fragte Senlin und deutete auf die Lesenden.

»Manche Bedürfnisse sind stärker als die Angst«, erwiderte Boreas.

Erst nach einem Moment erkannte Senlin, dass die unzähligen Nachrichten das Schwarze Brett des Turms darstellten. Er vermutete, dass Boreas ihn beobachtete und seine Reaktion abwartete, weshalb er trotz sinkender Hoffnung die Schultern straffte und das Kinn in seine Lehrposition anhob. »Es ist nur logisch, dass so viele hier sind. Ich schätze, die Wand führt um den ganzen Turm herum?«

»Ich bin noch nicht ganz herumgegangen, aber ich vermute es«, sagte Adam.

»Natürlich. Und all diese Menschen, die der Gefahr von oben trotzen, sind auf der Suche nach Nachrichten von geliebten Menschen.« Senlin beugte sich vor und las einen der neuer aussehenden Zettel. Die zarte Schreibschrift deutete auf eine gute Bildung des Verfassers hin. Der Text lautete: »Robert, ich werde mich allein nach Hause aufmachen. Folge mir. In Liebe, Mrs. K. Proffet.« Die nächste Nachricht war mit Bleistift und sehr viel ungelenker geschrieben: »Meine liebe Lizzy, ich warte jeden Tag um zwölf Uhr mittags am Eulentor auf dich. Ich stehe unter deinem gelben Sonnenschirm. Dein dich liebender Ehemann Abraham Weiss.« Auf der nächsten Nachricht stand einfach: »Hu Lo, ich gebe dich frei für dein neues Leben. Such mich nicht. Jie Lo.«

Senlin las eine Botschaft nach der anderen, bewegte sich von einem gebrochenen Herzen oder einer Hoffnungsäußerung zur nächsten. Wie ein Zwang war das Bedürfnis, sich durch die Nachrichten zu arbeiten. Die nächste könnte von Marya sein. Oder die übernächste.

Doch schließlich musste er erkennen, dass er den Rest seines Lebens mit dem Lesen der Botschaften an der Mauer verbringen konnte und dennoch niemals ein Lebenszeichen von Marya finden würde. Das vielleicht nicht einmal existierte oder möglicherweise existiert hatte, jetzt aber unter dem Schreiben einer anderen verzweifelten Seele verborgen war.

Die Inhalte der Botschaften brachten ihn zu einer viel beunruhigenderen Erkenntnis. Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass ihre Trennung mehr als nur eine Unannehmlichkeit sein könnte. Vielleicht fand er Marya nie wieder. Sie könnte sterben, den Elementen ausgesetzt, an einer Krankheit oder durch Gewalteinwirkung. Sie würde vielleicht ein anderes Leben führen, die Frau eines anderen Mannes werden, eines jüngeren Mannes … eines Mannes, der sie nicht so schnell verlieren würde. »Nutzlos«, sagte er.

In der Annahme, er beziehe sich auf die überwältigende Größe des Schwarzen Brettes, sagte Boreas: »Ich habe auch schon nicht gerade wenige Stunden an dieser Wand verbracht.«

»Sie haben jemanden verloren?«

»Meine Schwester Voleta.«

»Wann?«

»Vor zwei Jahren und einem Monat.«

»Ach herrje.« Senlin hatte das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. Seine Knie gaben nach, und er kauerte sich an die Turmmauer. »Was ist mit den örtlichen Behörden, den Beamten der Justiz? Wer hat Polizeigewalt über den Markt?«

»Es gibt ein paar Wachtmeister, die herumlaufen. Ab und zu sieht man einen Mann in einer Khakiuniform. Doch meistens sind es keine offiziellen Polizisten, sondern Verbrecher, die die Uniform gestohlen oder gekauft haben. Selbst die echten Wachtmeister können Betrüger sein. Ich kenne einige Männer, die von ihnen verprügelt und ausgeraubt wurden.« Adam rieb sich den Nacken und enthüllte dabei eine runde Narbe am Unterarm. Ein perfekter Kreis, wie mit einem Zirkel gezogen.

»Wird der Turm überhaupt nicht regiert?«

»Im Inneren ist es ein wenig besser, vor allem in den höheren Ebenen. Es gibt viele Ringreiche, in denen die eine oder andere Partei das Gesetz in die Hände genommen hat.«

Eine Frau mit tiefen Augenringen und abwesendem Blick, die die Wand neben Senlin abgesucht hatte, begann nun die Nachrichten über seinem Kopf zu lesen, als wäre er gar nicht da. Er musste um sie herumkriechen, um wieder auf die Beine zu kommen. Der völlig leere Gesichtsausdruck der Frau hätte das Werk eines Hypnotiseurs sein können. Doch das Gefühl des Mitleids mit ihr wandelte sich rasch zu Entschlossenheit. Er musste die Benommenheit abschütteln, die ihn seit Maryas Verschwinden befallen hatte. Die letzten Tage war er mit einem für ihn untypischen Mangel an Überlegung herumgerannt. Anfangs hatte er die Situation nicht ernst genug genommen, und dann hatte er die Panik seinen Weg bestimmen lassen. Wenn er Marya finden wollte, dann musste er sich auf seinen Verstand verlassen, sein Talent zur Beobachtung und Analyse. Er war nicht so hilflos wie die arme Frau, die ihr Leben damit zubrachte, die Schriften der Verdammten zu studieren. Mit seinem Verstand wusste er sich zu helfen. Der Mut dazu würde noch kommen. Jetzt musste er erst einmal nachdenken.

Wie hätte Marya nach dem ersten Schock wohl reagiert? Ohne ihre Fahrkarte nach Hause würde sie sich allein zwischen den Händlern und Dieben durchschlagen müssen. Natürlich würde sie nach einem sichereren Ort suchen. Sie war nicht völlig mittellos, schließlich hatte sie noch das Geld, das in ihren Rockbund eingenäht war – keine überwältigende Summe, doch genug für Verpflegung und ein Dach über dem Kopf. Auf dem Markt gab es keine dauerhaften Unterkünfte, und er bezweifelte, dass sie sich ein Zelt mieten würde. Logisch wäre daher, wenn sie sich in den Turm begeben würde, natürlich in dem Wissen, dass sie auf der dritten Ebene, in den Bädern, logieren wollten. Sie hatten sich noch nicht für ein bestimmtes Hotel entschieden, da man aus einem so entfernt liegenden Dorf wie Isaugh keine Reservierungen tätigen konnte, doch sie würde ohne Probleme ein Zimmer finden. Was hatte sie noch gesagt, bevor sie sich getrennt hatten? Wir treffen uns an der Spitze des Turms. Waren nicht die Bäder ihr gemeinsamer höchster Punkt? Waren sie nicht ihr Reiseziel? Adams Auskunft, dass der Turm organisierter und besser verwaltet war als der Markt, gab Senlin neue Hoffnung.

Ihm blieb nur eines zu tun: seiner Frau zu folgen, die ihm garantiert vorausgegangen war.

»Mr. Boreas, Sie scheinen sich gut auf dem Markt auszukennen. Wie vertraut sind Sie mit den Ringreichen des Turms?«

»Die unteren vier kenne ich sehr gut.«

»Mehr brauche ich nicht. Wären Sie willens, einen Tag oder zwei Ihr Wissen mit mir zu teilen? Ich würde Sie auch für Ihre Zeit entschädigen.«

»Die Arbeit käme mir sehr gelegen, wie ich zugeben muss.«

»Können Sie gleich anfangen?«

»Einen Moment noch, bitte.« Boreas holte ein leuchtend weißes Stück Papier aus seiner Tasche und entfaltete es.

Als er es an der Mauer befestigte, konnte Senlin nicht umhin, die deutlichen Blockbuchstaben zu lesen. »Voleta: Rettung naht. Adam.« Boreas bemerkte Senlins Blick und sagte mit ironischem Lächeln: »Eine abergläubische Angewohnheit.«

Senlin versuchte, nicht herablassend zu lächeln, doch ihm kam es wie eine Schwäche vor, ein Zwang, den Boreas fälschlicherweise für Hoffnung hielt. Er wollte gerade einige hilfreiche Bemerkungen zu den Vorzügen des Pragmatismus machen, als sie von Schreien unterbrochen wurden, die aus der Ferne zu ihnen drangen. Schon bald wurde daraus ein ganzer Chor. Senlin drehte sich gerade rechtzeitig um, um etwas herabstürzen zu sehen, das so groß wie eine Scheune war. Mit einem lauten Donnern kam es auf dem Erdboden auf, inmitten der Menschenmenge.

4

»Die Gemeinschaft der Reisenden wird greifbarer, je mehr man sich dem Turm nähert. Seien Sie nicht überrascht, wenn Sie von einer spontanen Parade mitgerissen werden.«

Allgemeiner Führer durch den Turm von Babel, II.XIV

Die Wolke aus rotem Staub hüllte sie so schnell ein, als würden sie hineinfallen. Senlin schützte sein Gesicht gerade noch rechtzeitig, bevor Splitter und Kiesel auf ihn einprasselten. Ein Stück Schrapnell traf durch seine gespreizten Finger hindurch seine Wange. Rasch legte er seine Hand auf die Stelle, als ihn Schmerz durchzuckte. Die Trümmer flogen überall umher, gegen seine Haut, gegen den Turm. Eine Reihe hohler Schläge ließ die Erde vibrieren und erzittern wie bei einem Meteorenschauer.

Als er es wagte, in die Schwaden aus rotem Sand zu blinzeln, sah er nicht weiter als bis zu seiner Hand. Das Blut an seinen Fingern verwandelte sich schon bald in Schlamm. Kurz darauf änderte der Hagelsturm seine Richtung und traf die Menschen nicht mehr von der Seite, sondern von oben, bedeckte Köpfe und Schultern mit Schotter.

Adam tauchte aus dem sandigen Nebel neben Senlin auf und hustete in seine Armbeuge. Er wirkte erschüttert, aber nicht verletzt. Senlin zog sich den Aufschlag seines Cordjacketts über Mund und Nase und versuchte so, inmitten des sich langsam auflösenden Sandnebels Luft zu holen. Die Schreie, die während des Aufpralls verstummt waren, flammten wieder auf, hatten jedoch ihren Ton geändert. Angst und Überraschung wurden von Aufregung, Eifer und … Entzücken abgelöst. Eine Windböe zerstreute die rote Wolke und enthüllte das Wrack, das kaum einen Steinwurf von ihnen entfernt auf der Erde lag.

Ein Großteil des Wracks war in zerfetzte Seide gewickelt, die sich wie Spinnweben im Wind blähte. Als die Sicht klarer wurde, machte Senlin ineinander verschlungene Gliedmaßen aus: eine schlaff an einem gebrochenen Gelenk baumelnde Hand, ein Knie, das unnatürlich unter einem verdrehten Fuß gebogen war, ein Mann, dessen Rückgrat wie der Rücken eines Buches gebrochen war; sein Hinterkopf ruhte zwischen seinen Fersen. Die Aufpralle, die er gehört hatte, waren keine fallenden Sterne gewesen, sondern zum Tode verurteilte Luftfahrer.

Senlin liebte auf der Welt nichts mehr als einen warmen Ofen, auf dem er seine Füße ablegen, und ein gutes Buch, in das er sich völlig vertiefen konnte. Während ein abendlicher Sturm an den Fensterläden rüttelte und ein Glas Portwein seine Hand wärmte, las er bis in die frühen Morgenstunden. Besonders erfreute Senlin sich an den alten Sagen, den Epen, in denen sich die Helden zu einer unmöglichen und noblen Mission aufmachten und sich den Gefahren auf ihrem Weg mit fatalistischem Mut entgegenstellten. Oft starben die Männer dabei, wurden auf brutale und unnatürliche Weise getötet; sie wurden von Kriegsmaschinerien massakriert, von Rössern niedergetrampelt und von ihren erbarmungslosen Feinden in Stücke gerissen. Ihre Tode waren großspurig und lyrisch und immer sehr viel romantischer als im echten Leben. Der Tod war nicht das Ende. Er war eine Ellipse.

Die Szenerie vor ihm hatte jedoch nichts Romantisches an sich. Hier gab es keine Ellipsen. Die Leichen lagen auf dem Boden wie gebrochene Ausrufezeichen.

Das Wrack war einmal ein Luftschiff gewesen, die verdrehten Körper die Mannschaft. Senlin wusste nicht, was den Absturz verursacht hatte, doch er wusste mit absoluter Sicherheit, dass erst Minuten zuvor noch ein anmutiges Luftfahrzeug den blauen Himmel durchkreuzt hatte.

Während er diese morbiden Gedanken hegte, wurde das Wrack von Marktbesuchern geentert. Korpulente Händler und steifbeinige Soldaten krochen durch die gesplitterten Rippen des Schiffsrumpfes und durchwühlten die Ladung. Gut gekleidete Männer mit gebürsteten Bowler-Hüten und Frauen mit Urlaubskleidung folgten dicht dahinter, von der Aussicht auf fette Beute in die Randbereiche gelockt. Die Schreie, die Senlin gehört hatte, waren keine Hilfe- oder Trauerrufe gewesen, sondern dienten rein der Besitzergreifung: »Meins!« »Ich habe es zuerst gesehen!« »Ich hatte es vor dir in der Hand!« Die Meute räumte das Wrack mit der Effizienz von Krabben ab, die die Gräten eines gestrandeten Fisches säuberlich abnagen. Manche rannten mit Armvoll von Seide davon, der unteren Hälfte eines Getreidefasses, einem aufgerollten Seil, einer eisernen Kanonenkugel, einem verbogenen Messingaffen oder einem Paar Stiefel. Dann kamen Männer mit Brecheisen und bargen Planken, Reling, Klappen und sogar eine wundersamerweise unbeschädigte Scheibe Buntglas.

Senlin konnte den Blick nicht abwenden, auch wenn ihm das Geschehen Übelkeit verursachte. Solch Barbarei am Fuß des Turms von Babel schockierte ihn. Solch Verzweiflung! Am liebsten hätte er die Plünderer gezwungen, sich in ordentlichen Reihen vor ihn zu setzen und sie an ihre Menschlichkeit erinnert. Schlechte Zeiten wurden niemals dadurch besser, dass man seine Grundsätze aufgab!

Nach wenigen Minuten war von dem Unglück nur noch ein Krater übrig, eine feine Staubschicht sowie die beinahe nackten Leichen der Mannschaft.

Und dann breitete sich der Schatten des Turms über sie, als würde ein Vorhang vor diesen schändlichen Anblick gezogen.

Senlin schauderte in der Düsternis, als die Turmnacht anbrach. Er räusperte sich und wandte sich an Adam, dessen Umriss er im rasch schwindenden Sonnenlicht gerade noch erkennen konnte. »Wer wird sie beerdigen?«, fragte er, während er vorsichtig die mit Staub verklebte Wunde an seiner Wange berührte.

»Die Geier«, erwiderte Adam grimmig. »Wir sollten gehen. Der Weg ins Untergeschoss ist nicht gerade kurz.« Er zog den Ledergürtel aus seiner Segeltuchhose und formte eine kleine Schlinge, die er sich um das Handgelenk legte. Das andere Ende des Gürtels reichte er Senlin. Leicht verärgert ergriff dieser die Behelfsleine. »Halten Sie sich fest. Der Weg ist eng.«

Er folgte Adam wie ein verschlafener Hundeausführer oder wie ein verschlafener Hund. Als er einen Blick über die Schulter warf, sah er die Frau mit den dunklen Ringen unter den Augen, wie sie einen Kerzenstummel aus ihrer Kleidtasche zog. Sie zündete ein Streichholz an, entflammte den Docht und las im gelblichen Licht der Kerze weiter die Anschläge der Verlorenen.

Drei Monate zuvor hatte Senlin vor seiner Klasse gestanden und mit einem winzigen Kreidestück zwischen den Fingern eine Zeichnung des Turms von Babel vervollständigt.

Die Schule war ein fensterloses Haus mit großen Giebeln und befand sich auf Blöcken am Ende von Isaughs Hauptstraße. Jedes Frühjahr wurde das Schulhaus weiß wie eine Braut gestrichen, und jedes Jahr entkleideten es die Elemente an der Küste aufs Neue. Senlin liebte jeden Knoten in jedem Brett dieses zugigen, undichten Hauses.

Er trug seinen langen schwarzen Mantel und enge schwarze Hosen – seine Uniform und gleichzeitig seine liebste Kleidung. Seine Stimme füllte den Raum bis zu den hohen, freiliegenden Dachsparren. Auf dem mittleren Balken nistete ein Vogel. »Am Fuß des Turms von Babel sind die Mauern eine Viertelmeile dick«, dozierte er. »Was bedeutet, dass die Turmeingänge – davon gibt es acht – die Besucher durch eine Viertelmeile massives Gestein leiten müssen.« Er drehte sich mit wirbelnden Rockschößen auf dem Absatz um und musterte die vier Reihen alter Zederntische vor ihm. Seine derzeitigen Schüler waren wie üblich mit gestrafften Schultern und müden Augen dasitzende Jungen und Mädchen im Alter von acht bis sechzehn. Er tippte mit dem Kreidestummel gegen seine Schläfe. »Stellt euch das vor. Ihr kommt nach Hause, öffnet die Haustür und müsst dann noch fünfhundert Schritt gehen, bis ihr auch nur in der Diele seid. Das ist eine ganz schön große Schwelle! Und dann seid ihr erst im ersten Ringreich des Turms.«

Als sie nicht mit der Überraschung reagierten, die das Thema seiner Meinung nach verdiente, rief er den Jungen in der letzten Reihe auf, Colin Weeks, der vor Müdigkeit beinahe schielte. »Mr. Weeks, könnten Sie der Klasse bitte in Erinnerung rufen, was ein Ringreich ist?«

Aus seiner Träumerei gerissen zuckte Colin nach vorne und stieß mit seinem Bauch gegen die Tischklappe, worauf er ein leises Stöhnen von sich gab. Stühle knarrten, als die anderen Schüler die Köpfe zu ihm drehten. Die Rauchschwalbe über ihnen trällerte unpassend.

»Miss Stubbs, ich nehme an, dass Sie die Hausaufgabe gelesen haben. Können Sie Ihrem Mitschüler helfen?«, sagte Senlin und wandte sich an ein Mädchen mit spitzer Nase, die wie eine stolze Galionsfigur in der ersten Reihe saß.

»Ja, Mr. Senlin. Die Ebenen des Turms werden Ringreiche genannt, weil sie wie kleine runde Königreiche aufgebaut sind«, erwiderte sie mit schneidender, aber intelligenter Stimme. »Sie sind wie die sechsunddreißig Staaten von Ur, jedes auf seine Weise einzigartig, doch statt nebeneinander zu liegen, sind die Ringreiche übereinander aufgebaut, wie die Schichten einer Geburtstagstorte.« Die Klasse kicherte bei ihrer spontanen Analogie, erheitert von der Vorstellung des großen Turms von Babel als mehrlagiger Kuchen.

»Genau. Und hat der Turm von Babel einen König?« Senlin wischte sich den Kreidestaub von den Handflächen.

»Der Turm verfügt über verschiedene Monarchien, Demokratien und auch Bürokratien«, antwortete das Mädchen. »Er ist wie eine Hackfleischpastete – voller exotischer Zutaten.« Wieder lachte die Klasse, und dieses Mal verzog auch Senlin die Lippen zu einem schmalen Lächeln, worauf die eifrige Ms. Stubbs errötete.

»Sehr gut, auch wenn ich mich bei Ihren Analogien frage, ob Sie gerade ein wenig Hunger haben.« Er presste die Lippen aufeinander und ging an der Tafel entlang, die mit Gleichungen und korrigierten Knittelversen sowie einem Querschnitt durch die unteren Ebenen des Turms bedeckt war: das Untergeschoss, der Salon, die Bäder. »Natürlich wissen wir nicht, wie viele Ringreiche es insgesamt gibt, weil dazu keine verlässlichen Dokumentationen existieren. Die ständigen Wolken um seine Spitze machen eine Zählung vom Boden aus unmöglich.«

»Warum fliegt man nicht mit einem Luftschiff nach oben und hisst die Flagge von Isaugh?«, ertönte eine Stimme aus der mittleren Reihe.

»Eine gute Frage …« Senlin reckte den Hals, um zu sehen, wer sich da zu Wort gemeldet hatte. »Mr. Gregor. Doch sehen Sie es einmal so: Ich weiß, dass Sie ein kleines Ruderboot haben, ich habe gesehen, wie Sie das ganze Wochenende damit in der Bucht gerudert sind. Was würde passieren, wenn Sie Ihr Boot auf den besten Slipplatz im Hafen ziehen würden? Sie wissen, welchen ich meine, der direkt in der Mitte, der so breit wie ein Schulhof ist.«

»Der alte Captain Cuthbert würde seinen Anker darauf fallen lassen!«

»Warum?«

»Weil es seine Anlegestelle ist!«, rief der Junge und warf entnervt die Hände in die Höhe.

»Genau. Und wenn Sie mit Ihrem Boot über das Niromeer ruderten, zu einem exotischen Hafen, der von Festungen und Gewehren und einer Flotte von Kriegsschiffen bewacht wird, wie würde man Sie da wohl empfangen? Was, wenn ihnen der Anblick eines jungen Herumtreibers wie Ihnen in seinem Ruderboot nicht gefiele?« Der Junge lächelte und schnaubte, während er die Arme verschränkte. »So ist es wohl auch mit dem Turm, Mr. Gregor. Man kann nicht erwarten, dass einen jeder Hafen mit offenen Armen empfängt.«

Er beendete den Unterricht für den Tag. In der Garderobe zogen sich die Schüler ihre Stiefel an und unterhielten sich fröhlich. Draußen regnete es, wie so oft im Frühling. Das Wasser gurgelte unter den Dielenbrettern des Schulhauses und erfüllte das Klassenzimmer mit dem Geruch nach Erde. Seine Schüler wussten sehr gut, dass sie die Tür auf dem Weg nach draußen nicht zuschlagen durften, doch sie verließen das Haus dennoch übermütig. Nicht einmal der kalte Regen konnte ihre Erleichterung dämpfen, für den Tag in die Freiheit entlassen zu sein.

Sie wussten nicht, dass auch er diese Freiheit genoss.

Träumerisch wischte er die Kreide von der Tafel, darunter auch die Zeichnung des Turms von Babel, und stellte sich vor, er stünde an Deck eines Luftschiffes, das den Turm umkreiste, ein Fernglas ans Auge gedrückt …

Er verzog verärgert das Gesicht. Nein, der Stör würde niemals zu einem Vogel werden.

Das harte Leder von Adams Gürtel verursachte Blasen an Senlins Hand, und trotzdem griff er noch fester zu.

Der Weg war tatsächlich eine Viertelmeile lang, hatte ansonsten aber nichts mit Senlins Fantasie gemein. Er hatte einen sorgfältig angelegten Gang sowie eine geordnete Passage erwartet. Stattdessen fand er sich in einem Tunnel wie einem Minenschacht wieder. Es gab keine Gehwege oder Geländer. Die hineingehenden Menschen drängten gegen die, die den Turm verließen, wie Schafe auf einer Brücke.