Im Verlies - Maxi Hill - E-Book

Im Verlies E-Book

Maxi Hill

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Beschreibung

Ausgerechnet nach einem romantischen Date mit ihrer großen Liebe Fabian erwacht Joana Marley in einem dunklen Verlies. Ist sie Opfer eines Entführers? Zunächst vermutet sie, ihre anhängliche Freundin erlaubt sich nur einen bösen Scherz mit ihr, schließlich hatte Luisa mit fadenscheinigen Argumenten erfolglos gegen Fabian gewettert. Als Joana schließlich auf den Entführer trifft, nimmt die Sache gefährliche Ausmaße an. Sie sieht sich einem maskierten Monster ausgeliefert, das bedingungslose Liebe von ihr fordert. Joanas ganze Hoffnung liegt bei Fabian, doch wie soll er sie hier finden? Sie weiß ja selbst nicht, wo sie ist. Verunsichert, aber mit Zuversicht auf einen Fehler ihres Peinigers, erträgt sie das Martyrium ...

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Seitenzahl: 236

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Maxi Hill

Im Verlies

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Joana

Allein mit einer Bestie

Hinterm Gartenzaun

Im Verlies

Luisa

Von Hamburg in die Lausitz

Wo ist Joana

Stumpfe Waffen einer Frau

Der Mann

Besuch zu später Stunde

Ein Fall für die Polizei

Hoffen auf Fabian

Strich durch die Rechnung

Auf der Suche

Ein herber Schlag

Böses Erwachen

Bedauernswert

Das Schnippchen

Recht muss Recht bleiben

Luisas Bekenntnis

Aus der Anklageschrift

Maxi Hill

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Impressum neobooks

Joana

Sie fühlt sich müde und so schwer, dass sie nicht gerne die Augen öffnen möchte. Wenn nur der eigenartige Geruch nicht wäre …

Irgendetwas riecht nach Zement, irgendwie auch nach Hund. Sie fröstelt, will die Decke höher bis zu den Ohren ziehen, obwohl die Nacht so herrlich mild nach dem wärmsten Tag dieses Sommers war. Der schönste Tag ihres Lebens, wenn sie es richtig bedenkt.

Diese Decke? Welche Decke hat sie da bloß gegriffen? War sie so betrunken? Trunken vor Glück. Oh ja. Das wird Luisa nicht glauben …

Über ihre Haut zieht ein merkwürdiger Schauer. Ob sie Fieber hat? Eine Sommergrippe ist nicht das, was sie jetzt braucht. Nicht jetzt …

Verdammt, warum ist es heute Nacht so dunkel?

Die Ziffern ihres Weckers kann sie gar nicht erkennen. Im Halbschlaf will sie auf den verchromten Fuß der Nachttischlampe schlagen. Dieses Modell reagiert auf bloße Berührung, und dieser Umstand ist für eine Eule unerlässlich. Eule, so wird sie von ihrer Freundin Luisa genannt, weil sie morgens so schwer eine Orientierung bekommt.

Sie schlägt ins Leere und langsam beginnt das Erwachen.

Mannomann? Sekt und in Schokolade getauchte Erdbeeren… Das konnte nicht gut gehen …

Da muss sie durch. Es gibt wahrlich Schlimmeres, schließlich war es einfach himmlisch mit Fabian. Endlich ein Mann, der nicht ihren Körper beschwert, sondern ihren Geist beflügelt. Himmlisch

beflügelt. Das Kuriose ist, er ähnelt Felix ein wenig, anderenfalls wäre er ihr womöglich gar nicht aufgefallen. Felix hatte sie verlassen, wegen dieses zudringlichen Stalkers. Inzwischen ist sie darüber gar nicht mehr so traurig.

Halbwach tastet sie über ihren Körper. Nackt ist sie nicht. In der Regel erinnert sie sich an das erste Mal mit einem Mann. Dieses Mal nicht.

Noch einmal versucht sie sich zu orientieren. Wohl ist ihr nicht mehr.

Irgendwo in der Nachbarschaft schlägt ein Hund an. Ein dumpfes Bellen dringt durch die Wände.

Joana. Joana. Nicht einmal das Fenster hast du geöffnet.

Niemals zuvor hat sie dieses Bellen gehört. Kleine Köter gibt es viele in der Nachbarschaft, Schoßhunde, die von ihren Frauchen lächerlich herausgeputzt mehrmals am Tag auf die angrenzende Rasenfläche vor dem Kulturhaus geführt werden, auf dessen Dach sie aus ihrer kleinen Wohnung schaut. Dieses dumpf-donnernde Bellen gab es bisher nicht.

Schwerfällig setzt sich Joana Marley auf. Zum ersten Mal spürt sie, dass es nicht ihr Bett ist. Dass es nicht ihr Zimmer ist. Nicht ihre Wohnung mit den großen Fenstern zur pulsierenden Stadt, durch die immer ein Lichtschein fällt. Immer … Sogar in jener Nacht, als die Stadt ins totale Blackout fiel, zeichnete das Fenster beim Blick zum Himmel ein helles Rechteck in die Dunkelheit …

Ein Geräusch! Eine Art Schleifen, ein merkwürdiges Knacken. Es scheint, als kommt es von oben. Kürzlich ist über ihr ein Behinderter eingezogen. Sie glaubte lange, er lebt allein, dabei wusste ihre Nachbarin, er pflegt seine todkranke Mutter …

So sehr sie sich wünscht, sie möge nicht mehr alleine sein, so sehr fürchtet sie sich vor dem, was sie zu ahnen beginnt. Irgendetwas stimmt nicht …

Jemand atmet schwer ganz dicht bei ihr. Blitzartig fährt Joana herum und tastet um sich. Hier, wo sie ist, ist nichts als Dunkelheit und Fremde.

Sie ist hellwach. Es ist ihr eigener Atem, der sie erschreckt hat, weil er in einem vermutlich hohlen Raum hohl klingt.

Über ihrem Kopf erneut dieses Schleifen. Es kommt ihr auch vor, als bellt der Hund besonders tief und mit viel Resonanz direkt vor ihrer Tür. Absurd der Gedanke, sich rasch irgendwo zu verkriechen. Wo denn bloß?

Offenbar ist sie in einer fremden Umgebung. Sie weiß nicht, wo ihre Kleider sind und sie weiß nicht, wohin sie womöglich fallen könnte, sollte sie sich nur einen Schritt von dieser Stelle weg bewegen. Bisher war sie hier offenbar sicher.

Sie hätte sofort laut rufen sollen. Inzwischen ist da draußen Ruhe, es wird sie wahrscheinlich niemand hören. Ein leises Krächzen löst sich von ihren Stimmbändern, die nie so verkatert klangen wie eben jetzt, wo sie kräftig schreien sollten.

In ihrer Anspannung hat sie gar nicht gespürt, wie ihr Herz rast und bei jedem Schlag hart gegen die Rippen pocht. Kein guter Moment, um klar denken zu können. Sie muss all ihre Sinne zusammennehmen. Was ist geschehen …?

Luisa hatte am Abend angerufen. Wie so oft hat sie gewettert: Du kennst den Kerl doch gar nicht!

Luisa war in ihr Leben gestolpert, wie Luisa zumeist zu stolpern beliebt. Sie sahen sich eines Tages ganz unverhofft, wie ihr schien. Luisa lächelte, als blickte sie in das Gesicht köstlichster Kindheitserinnerungen. Sie war in strahlendes Weiß gekleidet. Ihre Augen leuchteten wie Vergissmeinnicht im Abendlicht und die perlweißen Zähne hinter den tiefroten Lippen waren makellos. Was Luisa von ihr wollte, weiß sie bis heute nicht. Immer wenn sie sie fragt, weicht Luisa lächelnd aus. Sie weiß noch genau, wie das fremde Mädchen ohne Unterlass redete, derweil ihr eigenes Höchstmaß an Mitteilung darin bestand, den Kopf zu schütteln oder dem aschblonden Mädchen nickend zuzustimmen. Manchmal vor Staunen beides zugleich.

Tatsächlich gelang es Luisa, dass sie so etwas wie Freunde wurden. Sie war nicht gerade der Typ Mädchen, mit dem sich Joana eine Blutsbruderschaft erträumt hätte. Illusionen macht sie sich keine, dass ihr ideeller Menschentyp zuhauf zu finden wäre. Zu zweit in einer fremden Stadt ist es allemal besser als ganz allein, einsam und womöglich verbiestert. So sah es nach ihrer Flucht von zu Hause schließlich aus. Nicht vor dem Zuhause war sie geflüchtet, auch wenn sie überstürzt die neue Stelle in der Lausitz angenommen hatte. Es war dieser Stalker, der sie beunruhigt hat. Leider ebenso der Ärger über Felix, der ihr den Stalker nicht glauben konnte …

Auf irgendeine Weise fühlt sie sich in dieser dunklen Stunde – oder sind es schon zwei oder drei? – wie damals beunruhigt. Was gibt es nur für perfide Methoden, einen Menschen von seinem Glück abzuhalten. Erst dieser Stalker, und jetzt …? Luisa? … Wahrscheinlich …!

Nach langem Grübeln und ermüdenden Blicken ins völlige Dunkel, gelangt Joana zu der Erkenntnis, dass ein Streich längst beendet sein müsste. Ein Streich ist ein Streich, keine Martyrium.

Langsam geht ihr die Sache zu weit. Aufkeimender Zorn schmerzt wie eine frische Wunde. Dahinter regt sich die erste Änderung, die sie hartnäckig in ihren Kopf hämmern muss, damit sie nicht in Vergessenheit gerät: Luisa darf sie nicht zu beherrschen trachten. Eine aufmüpfige Freundin kann ihrer jungen Liebe zu Fabian nur abträglich sein.

Diese entscheidende Konsequenz muss sie unbedingt in ihrem Bewusstsein verankern …

Im letzten Jahr war ihre Freundschaft mehr auf Abhängigkeit gegründet, als auf Eigenständigkeit oder gar Toleranz. Vermutlich ist das der Grund, dass sie das ganze Jahr über keinen einzigen Typ kennen gelernt hat – keinen, der es näher als eine Armlänge an sie heran geschafft hat. Als sie endlich begriffen hatte, dass sie von Luisa nie loskommen würde, dass sie nie einem Mann allein begegnen, schon gar keinem näher kommen würde, gab es diesen Wandel. Letztlich war es ein guter. Dennoch gab es einen ganz bestimmten Grund, warum sie sich - darin hatte Luisa Recht: Hals über Kopf – auf Fabian eingelassen hat …

Fabian. Ein seliges Lächeln löst sich von ihren Lippen. Sie spürt es genau, wie sie sanftmütig und locker wird ... Wärme fließt durch ihren Körper … Die Wärme des bezauberten Abends … Schon nach wenigen Stunden sehnt sie sich danach, dass sie dasselbe Gefühl noch oft erleben kann. Ihre innere Einsamkeit war wie weggewischt von seiner Nähe. Alles an ihm war ihr so vertraut, dass sie keine Sekunde zögerte. Im Gegenteil. Sie wartete nur darauf, dass er sich zu etwas Schönem bekannte. Sie musste ihm verschweigen, warum das so war. Nichts liegt ihr so fern, wie Aufdringlichkeit, egal in welchem Zusammenhang. Menschen, die ihr Innerstes ungefragt nach außen kehren, machen ihr Angst, wie dieser Stalker, dessen Namen sie nie mehr über ihre Lippen geschickt hat.

Dennoch: Etwas war anders als bei Felix, den sie geliebt hat, von dem sie letztlich enttäuscht wurde. Erst bei ihrem Date in ihrer Wohnung war es ihr aufgefallen. Fabians dunklen Augen und das exakt gestylte schwarzbraune Haar hatte wohl ihren Blick für den Unterschied verstellt. Fabians Mund scheint etwas zu sein, was man traurig schön nennen kann. Ebenso küsst er … Etwas unterscheidet ihn überdies von Felix. Seine sparsame Zärtlichkeit machte sie für einen kurzen Moment ganz traurig, ohne zu wissen, warum.

Noch immer kann sie ihre Gedanken nicht losreißen von seinem Angesicht, kann ihr Gefühl nicht verdrängen, wie sie seinen Schutz genossen hat, seine Wärme und Güte, seine nachtwandlerischen Schritte. Wenn er wüsste, wie sehr sie ihn jetzt vermisst …

Joana setzt sich auf die Kante des Bettes oder worauf immer sie aus einem komaartigen Schlaf erwacht ist. Sie zieht die Beine an und schlingt beide Arme um die Knie. Die Erinnerung an den Abend ist das Beruhigende, das Schöne, das Zuversichtliche. Das lässt sie Luisa dummen Streich verzeihen. Zugleich macht die Sache den Verlust der Freundin leichter. Tief unter der Haut fröstelt ihr dennoch. Sie weiß nicht, ob es die Kühle des Raumes ist, oder die quälenden Gedanken sind, die sie nicht zulassen will, nicht gegen Luisa …

Noch nicht.

Es gibt zu viele Fragen, mit deren Beantwortung sie nicht im Reinen ist. Weshalb ist Luisa an diesem Abend – nicht wie vermutet – bei ihr aufgekreuzt, um Fabian in Augenschein zu nehmen? Zumindest hatte sie wie erwartet unter einem Vorwand angerufen – vor dem Date.

»Du machst also ernst.« Ihre Stimme klang scharf. Immerhin war das Vibrieren tief in Joanas Herz gedrungen. Niemals würde sie leichtfertig tun, was ihre Freundin tief verletzen könnte, aber in diesem Falle …?

Luisa ist für viele ihrer Lebenspläne ein unsicherer Kandidat, wenngleich sie eine treue Freundin gewesen ist – bis jetzt.

Sie hatte zu früh angerufen. Fabian kam kurz nach zehn. Sie hat gesagt, sie hätte Angst um mich. Es war rührend. Luisa hatte jedoch keine Angst. Sie war wütend, und vielleicht war es das, was mir gesagt hat: Jetzt erst recht. Niemand hat ein Recht darauf, einem Menschen, den er als Freund ansieht, das Glück zu versagen. Niemand. Nicht einmal der ärgste Feind …

Im Nachhinein begreift Joana, dass ihre abstrusen Gedanken über Luisa eine tiefe Berechtigung haben. Sie ahnt, dass genau dieser Zustand typisch für ihre Freundschaft werden könnte – sofern die Freundschaft überhaupt noch länger Bestand haben kann. Wenn Luisa nicht bald kommt und Schluss mit dem Blödsinn macht, kann sie für nichts garantieren …

Die Nacht muss längst vorüber sein. Wie spät kann es sein? Egal. Luisa wird gleich kommen und sie wird sehr theatralisch erzählen, wie sie mich aus den Klauen eines mädchenverschlingenden Ungeheuers befreit hat. Diesmal werde ich nicht über ihre Dreistigkeit hinwegsehen. Diesmal nicht … Fabian wird es verstehen. Fabian ist anders als alle Männer vorher.

Ganz sicher macht Luisas dummer Streich die Sache mit Fabian einfacher. In diesem Falle kann Joana ihrer Freundin einmal die kalte Schulter zeigen und sich ihre eigenen Sehnsüchte erfüllen, in denen Luisa nur mittelbar vorkommt. Seit kurzem hat sie Fabian und sie ist so froh, einen so sanften, gutherzigen und äußerst ansehnlichen Mann getroffen zu haben …

Warum sie dennoch umdisponiert hatte, wie Luisa es nennen würde, bleibt unergründlich. Aber sie hat. Sie war nicht zu Fabian gegangen, wie er es vorgeschlagen hatte. Sie hat ihn zu sich kommen lassen. Gegen jede Gewohnheit…

Wie viele Stunden wartet sie nun schon in dieser widerlichen Dunkelheit? Vorsichtig setzt sie einen Fuß auf den Boden. Den zweiten. Zentimeter für Zentimeter tasten ihre nackten Zehen den Untergrund ab, derweil die Arme weit ausgestreckt den oberen Spielraum ertasten. Nach einem halben Meter schlägt ihr Schienbein gegen etwas Knisterndes. Sie stößt es beiseite. Es scheppert. Nach Minuten sinnlosen Fühlens trifft ihre Handfläche auf eine kalte Wand. Diese Kühle sagt ihr, sie befindet sich nicht auf gleichem Niveau wie das Leben an sich. So, wie sie sich nicht auf gleichem Niveau versteht, das Luisa zu diesem blöden Scherz veranlasst hat.

Bei dem ganz banalen Gedanken an Luisa zuckt ihr Körper. Auf ihrer Kopfhaut bilden sich kleine Pusteln.

Was, wenn Luisa etwas zugestoßen ist. Es kann nur so sein. Wie schnell erwischt es einen Menschen und er kann nicht zu Ende bringen, was er leichtfertig angezettelt hat …Vielleicht ist sie verletzt … gestürzt … im Aufzug stecken geblieben…

Wieder das Schleifen und der Hund bellt aufgeregt. Das Knacken über ihrem Kopf gleicht dem eines Mauerbruches. Instinktiv hebt sie beide Arme und schützt ihren Kopf … Unverhofft trifft sie ein Lichtschein, der weniger Hoffnung bringt, als zu erwarten wäre. Er trifft ihre Augen und schmerzt wie Messerstiche. Willenlos vergräbt sie ihr Gesicht in die eiskalten Hände. Sie krümmt sich in die schützende Dunkelheit, kann ein Jammern nicht mehr unterdrücken. Durch den winzigen Zwischenraum ihrer Finger erkennt sie, wie von oben her eine Metallstiege herunterstößt, in deren Sprossen ein Seil klemmt. Sie hört diesen Hund. Er bellt jetzt nicht, er knurrt ärgerlich, wie sie meint. Sie sieht, wie ein Fuß rücklings die erste Sprosse erreicht und sie hört, wie ein Mund etwas flucht …

Ganz langsam gewöhnen sich ihre Augen an dieses Licht, das oberhalb der Luke den nahenden Körper umspielt, als sie die Hand am rechten Holm ausmacht, die eine stählerne Klinge umschließt …

Allein mit einer Bestie

Inzwischen weiß Joana, der Montag ist weit fortgeschritten. Der Kerl trägt eine platternarbige Gummi-Maske und spricht in hohen Tönen, wie diese Comic-Figur Donald Duck, die ihr als Kind höllisch auf die Nerven ging. Wegen des umgestoßenen Picknickkorbes, für den sie nicht kann, rügt er sie – beinahe erhebt er seine Hand gegen sie.

»War dir wohl nicht gut genug. Bist besseres gewöhnt. Nicht jeder Tag ist einer mit Sekt und Kaviar …«

Gegen solch eine Begrüßung kann man nur motzen: »Sekt und Erdbeeren …«, erwidert sie scharf, weil sie seit Stunden an nichts anderes denken kann, als an die seligen Stunden mit Fabian, die nicht die letzten mit ihm und schon gar nicht die letzten ihres Lebens bleiben dürfen. Sie weiß nicht, ob der hohle Klang in diesem Verlies ihrer Stimme den grantigen Unterton gibt. Sie weiß jedoch eines ganz genau: Einen überlegenen Peiniger sollte man nicht reizen. Überlegen ist er in jeder Hinsicht. Ob er ebenso unmenschlich ist, wird sich zeigen. Immerhin hatte er dafür gesorgt, dass sie nicht verhungert, während er nicht anwesend ist. Wie hätte sie bei der Dunkelheit …? Ein intelligenter Mann hätte wenigstens ein Notlicht angelassen.

Ihr ist kalt und sie muss pinkeln, aber alles an ihr ist wie gelähmt.

»Von mir aus, auch Sekt und Erdbeeren«, sagt er nach merkwürdigem Zögern. Offenbar bringen genau diese drei Worte, die in Joana eine so wohlige Erinnerung erzeugen, diesen Kerl aus der Fassung. Irgendetwas stimmt nicht an dem, was da vor ihr steht. Die fistelnde Stimme passt nicht zum derben Tarnanzug und die feuchten Hände, die der Kerl von Zeit zu Zeit an seinen Hosenbeinen abwischt, passen nicht zum gefährlichen Messer. Dieses Messer macht ihr Angst – nichts sonst. Wohl deshalb muss sie ständig hinsehen, womöglich nur, weil die künstliche Fratze vor seinem Gesicht so abscheulich ist.

»Setzt dich«, sagt die Fratze, die jetzt beinahe wie ein Mann klingt, aber im selben Moment anbiedernd, aalglatt und überheblich wird. »Oder darf ich Schätzchen zu dir sagen?«

Es ist wahrlich besser für ihre Blase, wenn sie sich hinsetzt. Im Schein des Lichtes, das von oben hereindringt, erkennt sie augenblicklich einen Tisch, einen Schrank und einen abgenutzten Plüsch-Sessel im aschfahlen Raum. In dieser morbiden Einrichtung war sie die ganze Zeit gefangen, nicht nur eine Nacht. Vermutlich viel länger als sie glaubt. Womöglich war sie die meiste Zeit durch irgendetwas außer Gefecht gesetzt, so sehr wie ihr Kopf schmerzt. Ihre Glieder versagen ebenso. An einen derben Schlag kann sie sich nicht erinnern. Vermutlich hat er ihr etwas gespritzt, obwohl ihr nicht klar ist, warum man das im Tiefschlaf nicht merken sollte.

Sie riskiert ein paar Blicke seitwärts. Eine Fallgrube, in die sie hätte stürzen können, erkennt sie nicht.

Aber sie erkennt: Nicht nur der Rest jener Nacht ist vorbei, die sie nicht vergessen möchte. Auch den nachfolgenden Tag über ist sie schon hier. Als sie erwacht war, hatte sie keine Ahnung, wie lange sie schon in diesem unfreundlichen Zimmer vegetieren musste. Die Leuchtzeiger ihrer Uhr waren purer Nonsens und das abwesende Handy nicht minder.

Sie setzt sich auf den Rand der Liege und zieht die raue Decke um ihren Körper, ob vor Scham oder vor Kälte, das beantwortet sie sich nicht. Außer, dass sie dringend Wasser lassen müsste, interessiert sie momentan nichts. Das sagt sie diesem Scheusal auf den widerlichen Kopf zu.

Sogar durch die Maske hindurch erkennt sie, wie er grinst. Er zeigt auf die Nische, in der ein Klobecken steht. Sie denkt nicht daran, sich in seiner Anwesenheit auf dieses Ding zu setzen.

»Hattest Angst hier im Dunklen so allein, ohne Luisa?« Es klingt höhnisch und das macht sie noch wütender, als sie ohnehin ist.

»Luisa also. Dachte ich ΄s mir doch. Wo ist das kleine Biest …«

Er antwortet nicht, spielt mit dem Messer herum und wartet. Währenddessen wechselt sein Blick zwischen der Stelle unter der Decke, wo ihr Slip sitzt, und der Kloschüssel hin und her. Doppelt so lange verweilt er beim Slip.

»Wie du willst, aber beklag dich nicht, wenn es danebengeht. Hier hilft dir niemand – auch nicht Luisa.«

Tausend Fragen gehen durch ihren Kopf. Sie kann sich nicht konzentrieren, das Messer in seiner Hand ist alles, worauf sie jetzt achtet. Wenn sie daran denkt, dass diese Hand letzte Nacht ihren willenlosen Körper in dieses Verlies bugsiert hat, ihr die Kleider vom Leib genommen, womöglich noch mehr mit ihr angestellt hat, als sie sich vorzustellen vermag, ist die Übelkeit komplett. Aber wie ist er ausgerechnet auf sie gekommen?

»Sag Luisa, sie kann mich mal …!« So viel Mut hätte sie gar nicht in sich vermutet, nicht in dieser aussichtslosen Lage.

Die Maske ist abstoßend. Seinen Körper erkennt sie kaum unter diesem Tarnanzug, wie ihn Soldaten tragen.

»Es gefällt mir, wenn du Angst hast. Also, hast du Angst? Sag es. Los, sag es …«

Sie möchte ihm eine gehörige Abfuhr erteilen und zugleich auch Luisa wegen dieser saublöden Idee einer Entführung. Sie weiß nicht mehr, was Spiel und was Ernst ist. Ein Teil von ihr ist in Panik, ein anderer Teil fischt in ihrem Kopf nach der ersten Logik: Man sollte einem, der momentan die Gewalt hat, gehorchen. Es kommen schließlich wieder andere Zeiten. Die zweite Logik kreist fortwährend um Luisa.

»Nicht mein erster Kontakt mit einem Kriminellen, aber nie mit einem solchen Dreckskerl wie dich.«

»Entspann dich. Wir wollen schließlich ein bisschen Spaß miteinander haben.« Spott klingt anders. Also muss auch sie nicht spotten: »Kann es sein, dass du etwas limitiert bist?«

Für einen Augenblick spannt sich sein Körper und die Hände streichen fahrig über das braun-grün-gefleckte Tarnzeug. Als er die Fassung wiedererlangt, tritt er auf sie zu.

»Limitiert? Jedenfalls bin ich nicht bescheuert. «

Sie hört ein leises Keuchen und weiß sofort, dass alles kein Spaß ist. Sie muss ihn ablenken … muss irgendetwas tun … irgendetwas sagen…

»Wo bin ich hier?«

»Bei mir, Schätzchen. Und das bleibt so, bis du vernünftig geworden bist. «

Das Messer in seiner rechten Hand zeigt auf ihre Brust, seine linke greift an die Stelle, wo gemeinhin der Hosenschlitz zu finden ist, den Joana durch das Tarnmuster nicht ausmachen kann.

»Warum sollte in diesem Kellerloch nur einer vernünftig sein«, schleudert sie ihm entgegen.

Das hätte sie nicht tun sollen. Mit derber Hand greift er nach ihr. Ein psychotischer Killer, schießt ihr durch den Kopf, der gar nicht mehr richtig denken kann. Noch tut er ihr nichts, hält sie nur fest, unschlüssig, wie es scheint. Abwartend. Wenigstens will er als Killer gelten, damit er bekommt, was er will. Was er will, ist ihr augenblicklich klar. Warum sollte er sie unter diesen Umständen töten wollen? Er will sie als willenlose Sexsklavin. Womöglich hat Luisa einen Deal mit dem Kerl. Er soll sie vögeln, bis sie genug von Männern hat und für immer Single bleibt und somit Luisa nicht verloren geht. Wie perfide ist das denn?

Obwohl ein Teil von ihr schreckliche Panik erleidet, sucht sie in einem ganz bestimmten Hirnareal nach Möglichkeiten, wie sie die Sache schadlos übersteht. Eines weiß sie. Schaden wird sie nehmen, so oder so. Mit Sexbesessenen ist nicht gut Kirschen essen, und erzwungener Sex ist schlimmer als Untreue oder Verrat.

Gib ihm keinen Anlass mehr, paukt ihr Verstand in sie hinein. Das ist leichter beschlossen als umgesetzt.

»Woher weiß ich, dass es nur das ist, und du mich am Leben lässt.« Sie schluckt, obwohl sie das Gegenteil tun müsste: Speichel zu sammeln, um ihm gehörig in die Suppe zu spucken.

Sein kurzes Zucken bei ihrem Lapsus «nur» bleibt ihr nicht verborgen. Ein gefährlicher Fehler. Womöglich leckt er gerade Blut und glaubt, ihr mache Sex mit einer Maske nichts aus. So dicht, wie er neben ihr steht, kann sie seine Erregung spüren. Ihr Körper wird steif, die Nerven stellen um, zurück auf erbitterte Abwehr. Als seine Hand nach der Decke greift, schreit sie ihn an: »Bist du vielleicht taub! Hast du nicht gehört, dass ich pinkeln muss. Bist du ein perverses Schwein, dem es Spaß macht, wenn sein Schwanz angepinkelt wird?«

»Halt dein Maul, wenn du jemals wieder das Sonnenlicht sehen willst. Wenn du das willst, mach gefälligst keine Sperenzchen, ich habe mir nicht umsonst für deine Wohnung so viel Mühe gegeben. Wenn du brav tust, was ich von dir verlange, werden wir gut miteinander auskommen. Und noch etwas. Dich wird weder jemand hören noch hast du eine klitzekleine Chance, ohne mich hier raus zu kommen. Schon wenn du es versuchst, dann …« Er schnalzt mit der Zunge, was über ihren Köpfen ein dumpfes Bellen auslöst, was Joana mindestens dasselbe ungute Gefühl bereitet wie das Messer.

Damit sie keine seiner Gesten übersieht, geht er einen Schritt zurück und zückt das Messer. »Ich werde jetzt kurz nach oben gehen und den Hund füttern. Du pinkelst solange. Wenn ich zurückkomme, will ich mehr von dir als nur ein freundliches Gesicht sehen.«

Seine Hand greift unter ihr Kinn, zieht es in seine Richtung. Dafür beugt er sich zu ihr herunter. Mit unverhoffter Kraft schnellt sie nach oben und versetzt ihm einen Stoß mit dem Knie in die Weichteile. Dass er sie mit dieser Maske nicht küssen würde, fällt ihr zu spät ein. Erst krümmt sich sein Körper vor Schmerz, dann greift er nach ihrer Gurgel und drückt zu. Zum Glück nur kurz. Mit einem wütenden Schrei stößt er sie rabiat zu Boden: »Hat dir ΄ne Maus ins Gehirn gepinkelt? Schlampe!«

Hinterm Gartenzaun

Drei Jahre zuvor hatte Maria Hanschkatz betreten zum Gartentor geschaut und über die Hecke rechts und links davon, hinter der ihr Mann Dietrich wütend verschwunden war. Am Morgen hat es ein Wortgefecht zwischen ihr und Dietrich gegeben. Danach hat er stracks das Haus verlassen, ohne seine Zeitung zu lesen und ohne den eigens dafür gekochten Kaffee zu schlürfen. Beides ließ sich Dietrich nie entgehen, weil es im Hause Hanschkatz seit eh und je nach dem Frühstück für den Hausherrn so üblich war, zumindest seit sie beide nicht mehr arbeiten müssen.

Heute war sie stur geblieben. Warum soll ich immer einstecken? Warum denkt er nicht einmal darüber nach, warum es so weit gekommen ist mit ihm und mir. Es ist nie nur einer schuldig.

Es gab Jahre, in denen es so schlecht lief, dass sie den Wunsch hatte aufzugeben, alles hinter sich zu lassen. Sie spielte keine Rolle mehr für ihn, war wie ein altgewordenes Möbelstück. Damals konnte sie alles noch schlechter verkraften als jetzt, weil sie jung genug war für die Liebe. Sie wusste sehr wohl, dass es diverse Methoden gab, einem Mann Lust auf eine Frau zu machen; leider hatte sie keine Erfahrung in unkeuschen Dingen. Allenfalls gab es Vorstellungen, was sie gerne gemacht hätte, was Dietrich nie mit ihr getan hat. Maria hatte Scham, derlei einzufordern. Nur einmal fühlte sie sich beflügelt. Deswegen sprach sie davon, ob es möglich sei, den alten Zauber neu zu beleben.

Hatten wir beide den jemals? Das war Dietrichs enttäuschende Antwort. Er sah sie nicht als das, was sie gerne für ihn sein wollte. Er stellte sehr früh schon alle ihre Fehler in den Vordergrund, als ob er selbst keine hätte. Es brauchte viel Vernunft, das Gute an ihm zu erkennen.

Freilich hat sie auch ihre Fehler. Sie wollte geliebt werden, nicht nur Sex haben. Die schönsten Worte fand er in ihrem gemeinsamen Leben lediglich vor der Erwartung auf ihre Hingabe. Ansonsten war sie für ihn ziemlich ungenügend. Immerzu hatte er irgendetwas an ihren Liebesspielen zu nörgeln, bis sie keine Lust mehr hatte. Schließlich herrschte totale Funkstille. Damals hätte sie ihn noch herumkriegen können, aber sie wollte keine erzwungene Intimität. Dann lieber gar keine. Die letzten Jahre ihres Lebens waren nicht mehr die eines Ehepaares, sie waren das Nebeneinander zweier Menschen, die eine Arbeit, eine Aufgabe, ein bestimmter Weg zusammengeführt hat. Sie redeten nicht mehr – außer über die Banalitäten des Lebens. Er berührte sie nicht und sie berührte ihn nicht.

Manchmal dachte Maria, für Dietrich sei das Zusammenleben mit ihr nur noch Gewohnheit, bestenfalls Verantwortung, wie früher bei den adligen Zwangs-Ehen. Wenn damals einer gekommen wäre, der sie entführt hätte, sie hätte sich nicht gewehrt …

Marias Augen blickten feucht in den einsamen Vormittag. Hin und wieder erhaschte sie kleine Farbtupfer eines hellroten Kleides. Sie wusste sofort, wer diese unvorteilhafte Farbe jeder anderen vorzog. Sie wusste auch, was es bedeutete, wenn die dicke Beyerlein von der anderen Straßenseite hier vor ihrem Gartentor auf und ab ging. Im Augenblick konnte nur sie das Ziel von Frau Beyerleins vormittäglicher Absicht sein. Das war nach Dietrichs vermaledeitem Abgang gar kein so schlechter Ersatz, wenngleich es sein konnte, die Beyerlein weiß Bescheid …

Maria zögerte, ob sie der Nachbarin einen Wink geben sollte. Dem Kaffee täte es gut, der Beyerlein und deren Mundwerk nicht minder. Vor allem ihrer eigenen Wissbegierde würde ein Kaffeeplausch nicht schaden.

Im Verlauf des letzten Jahres war die Beyerlein oft auf eine Plauderei herübergekommen, bis sich die beiden Ehemänner überworfen hatten. Maria würde sich nicht trauen, Dietrich in die Parade zu fahren und so zu tun, als scherte sie sich nicht um die Männerfehde. Schließlich führten sie nach außen hin eine glückliche Ehe.

Die Beyerlein dagegen sagte einmal über sich und ihren Mann: Kann es mehr Ausdruck von glücklicher Ehe geben, als zweimal die Scheidung zu verschieben? Wenn man nicht hat, was man liebt, bleibt nichts, als zu lieben, was man hat. Bis dass der Tod uns scheidet.

Darüber war Maria anderer Meinung. Ihr leiser Verdacht, die Beyerlein sei eine Frau, die den Preis von allem aber den Wert von sich selbst nicht kennt, hielt Einzug in Marias feste Überzeugung.

In einem Punkt war sie sich mit der Nachbarin immerhin einig: Die Männer ahnen gar nicht, wie viel Geist vonnöten ist, sich dumm zu stellen.

Und die Beyerlein hatte wie stets etwas zu erwidern. Männer suchen stur nach Problemen für jede Lösung, an der sie tagelang tüfteln. Dafür hat sie die Evolution geformt. Frauen kämpfen mit zwei Generationen-Problemen zugleich: Dem Kind und dem Kind im Manne …

Das traf Marias Erfahrung, wenn auch nicht im Detail. Bei dieser Erinnerung an die weibliche Einigkeit öffnete Maria mit einem Ruck das Fenster: »Ach Frau Beyerlein, schon so früh auf den Beinen?«

Die Frau hob ihre unbedeckten Arme, an deren Unterseite das Fleisch wie die Fahne im Wind schwenkte, was Maria dazu brachte, heimlich ihre eigenen Muskeln an selbiger Stelle zu befühlen.

»Es ist leider unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen bei diesem Lärm, den der da veranstaltet …«

Frau Beyerlein drehte ihren Daumen zum Nachbargrundstück hinüber, wo Falk Rube das Grundstück seiner verstorbenen Eltern mit viel Mühe und Akribie verschönerte. Schon Wochen lang. An diesem Vormittag hatte er einen Bagger dabei, der die Mühsal von Schaufel und Spaten beenden sollte.