In all deinen Farben - Bolu Babalola - E-Book

In all deinen Farben E-Book

Bolu Babalola

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Beschreibung

»Ein subversives Korrektiv für die westliche Vorstellung davon, wer in der Liebe den Ton angibt.« NEW YORK TIMES Bolu Babalola hat die schönsten Liebesgeschichten der Mythologie mit unglaublicher Frische und Lebendigkeit neu erzählt. Sie konzentriert sich auf die magischen Volksmärchen Westafrikas und erfindet auch griechische Mythen, alte Legenden aus dem Nahen Osten und Geschichten aus Ländern neu, die in unserer Welt nicht mehr existieren. Die Frauen in ihren Love Stories sind kämpferische Verfechterinnen ihrer Leidenschaft, verlieren aber nie den Blick darauf, dass die wichtigste Liebe von allen die Selbstliebe ist. Während in der Mythologie Frauen oft die Opfer männlicher Begierde sind, geben bei Bolu Babalola immer die Frauen den Ton an und nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand. In all deinen Farben wechselt aufregend Perspektiven, Kontinente und Stile, durchschreitet Grenzen von Zeit und Raum – und feiert die Romantik in all ihren Formen.

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Seitenzahl: 422

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Das Buch

Bolu Babalola hat die schönsten Liebesgeschichten der Mythologie mit unglaublicher Frische und Lebendigkeit neu erzählt. Die Frauen in ihren Love Stories sind kämpferische Verfechterinnen ihrer Leidenschaft, verlieren aber nie den Blick darauf, dass die wichtigste Liebe von allen die Selbstliebe ist. Während in der Mythologie Frauen oft die Opfer männlicher Begierde sind, geben bei Bolu Babalola immer die Frauen den Ton an und nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand. In all deinen Farben wechselt aufregend Perspektiven, Kontinente und Stile, durchschreitet Grenzen von Zeit und Raum – und feiert die Romantik in all ihren Formen.

Die Autorin

Bolu Babalola ist eine britisch-nigerianische Frau mit einem irreführenden Bachelor in Rechtswissenschaften und einem Master in Amerikanischer Politik und Geschichte. Sie schrieb ihre Dissertation über Beyoncés Lemonade

BOLU BABALOLA

IN ALLDEINENFARBEN

AUS DEM ENGLISCHEN

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde im Rahmen des Programms »NEUSTARTKULTUR« aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.eisele-verlag.de

ISBN978-3-96161-139-3

Die Originalausgabe »Love in Colour« erschien 2020 bei Headline.

© 2020 Bolu Babalola

© 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

Julia Eisele Verlags GmbH, München

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagillustration: © Camila Pinheiro

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis
Über das Buch / Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Vorwort
Ọṣum
Scheherazade
Psyche
Attem
Yaa
Siya
Nofretete
Naleli
Zhinü
Thisbe
Eigene Geschichten
Tiara
Orin
Alagomeji
Nachwort
Literarische Vorlagen
Dank
EMPFEHLUNGEN

Für meine Eltern, die mich Liebe gelehrt haben,

VORWORT

ZU BEHAUPTEN, ich würde die Liebe lieben, wäre in etwa so, als würde ich sagen, dass ich ziemlich gerne Sauerstoff einatme. Liebe ist das Prisma, durch das ich die Welt betrachte. Ich bin der festen Überzeugung, dass sie uns Halt und Ansporn ist. Dieses Buch ist nicht der naive Versuch, das Dunkel zu leugnen, das bekanntermaßen auf der Welt existiert, sondern vielmehr die Weigerung, zuzulassen, dass uns Verzweiflung, Entsetzen und Kummer überwältigen. Ich will meine Leserschaft in dem Wissen bestärken, dass es auch Licht gibt. Die Liebe ist dieses Licht. Romantische Liebe versüßt uns die bitteren Seiten des Lebens, mit denen wir bisweilen konfrontiert werden; sie verleiht Alltäglichem Glanz und Profanem eine geheimnisvolle Note. Ein Kuss, selbst wenn er nur Millisekunden dauert, kann sich doch wie eine kleine Ewigkeit anfühlen; wir werden dabei in eine andere Welt versetzt, in unsere Welt – eine, die nur für uns und den von uns geliebten Menschen existiert. Wir werden uns sowohl unseres Körpers als auch unseres Geistes überdeutlich bewusst, fühlen uns geerdet und zugleich gestärkt. Liebe bereichert die Welt, in der wir leben.

Ich hatte im vorliegenden Buch die Ehre und das Privileg, auszuleuchten, auf welch mannigfaltige Art und Weise die Kraft der Liebe in unterschiedlichsten Kulturen weltweit Ausdruck findet. Meine Geschichten sind eine Verbeugung vor den literarischen Vorlagen, aber auch eine an unsere neue, moderne Welt angepasste Weiterentwicklung des Stoffs. Im Zuge meiner Arbeit habe ich versucht zu ergründen, welche Lehren und Erkenntnisse wir aus ihnen über uns selbst und die Liebe ziehen können. Meine persönliche Mission bestand darin, zu illustrieren, wie wunderbar vielfältig Liebe und Zuneigung sein können, sowohl auf universeller als auch auf ganz individueller Ebene. Ihre Ausdrucksformen sind so nuanciert, divers und komplex wie die Menschheit selbst.

Liebe kann zärtlich und zögerlich, brutal und beherzt sein. Sie ist Misere und Magie. Sie vermag das Furchteinflößendste auf der ganzen Welt zu sein, allein deshalb, weil sie ein Gefühl von Sicherheit vermittelt, doch diese Sicherheit setzt voraus, dass wir dem Menschen, dem unser Herz gehört, hundertprozentig vertrauen, dass wir uns ihm öffnen und es ihm erlauben, uns so zu sehen, wie wir wirklich sind. Und wenn wir es uns erlauben, einem anderen Menschen so viel Vertrauen zu schenken, werden wir dafür reich belohnt, mit einem Gefühl von Freiheit und strahlender Glückseligkeit.

In diesem Buch geht es darum, gesehen zu werden, klar und deutlich, in allen Farben und Facetten und mit sämtlichen Wesenszügen. Es geht um die Freude und die Hoffnung, die das feierliche Zelebrieren dieses Phänomens mit sich bringt. Möge die Lektüre euch, lieben Leserinnen und Lesern, Freude bereiten.

In Liebe,

Bolu Babalola

ỌṢUN

ỌṢUN WAR ES GEWOHNT, angestarrt zu werden. Ehrfürchtig, lüstern, neugierig. Sie spürte instinktiv, wenn jemand den Blick über sie wandern ließ in dem Bestreben, anhand ihres Äußeren möglichst viel über sie zu erfahren. Ihr leicht vorgerecktes Kinn, ihre schlanken, athletischen Arme und Beine, ihre breite, sich wiegende Hüfte, von der eine durch und durch natürliche, nicht zu bändigende Weiblichkeit ausging – für manche kam all das einer Frage gleich, auf die sie einfach antworten mussten, für andere war es eine Machtdemonstration, etwas, das ihnen Furcht und Verehrung einflößte. Als Wettkampfschwimmerin der Ifá Academy verfügte Ọṣun über eine angeborene Ausstrahlung, die sie auch dann umgab, wenn sie vor dem Sprung ins Becken durch die Luft segelte. Sekunden später glitten ihre preisgekrönten Gliedmaßen majestätisch durch das gechlorte Wasser, als wäre es das Meer und sie die Strömung selbst. Die Energie. Die Anziehungskraft des Mondes. Sie verwandelte das Becken in einen von der Sonne beschienenen See. Obwohl ihre flinken Bewegungen von messerscharfer Präzision waren, verlieh Ọṣun ihren übernatürlichen Fähigkeiten eine unbeschwerte Note, eine lässige Eleganz. Jeder Armzug, jeder Beinschlag wirkte, als beziehe sie ihre Kraft direkt aus dem Wasser. Wer ihr zusah, der gewann den Eindruck, als existierte das Wasser ausschließlich, um ihr als Auf- und Antrieb zu dienen.

Ọṣun war daran gewöhnt, dass sie Aufsehen erregte, dass die Leute sie staunend beobachteten und allerlei Vermutungen über sie anstellten. Genau deshalb war sie in sich gekehrt und darum bemüht, so wenig wie nur irgend möglich von sich preiszugeben. Das Schwimmen war ihre Zuflucht. Schade nur, dass es ein Publikum erforderte. Bei den Wettkämpfen achtete sie weder auf das Johlen auf der Zuschauertribüne noch auf die überflüssigen Befehle ihres Betreuers (der lediglich schmückendes Beiwerk war, ein Symbol für die Macht der Akademie über Ọṣuns Triumphe, als hätte sie nicht bereits im Alter von drei Jahren mit ihrer an einen Tanz erinnernden Darbietung ein ödes Becken in einen Teich verzaubert). Sie konzentrierte sich bei diesen Schwimmwettbewerben ganz auf das klatschende Geräusch, mit dem die Wellen auf ihre Haut trafen und das an die Schläge einer Hand auf das straff gespannte Fell einer Sprechtrommel erinnerte. Aus ihren Bewegungen wurde eine Choreographie zu dem Rhythmus, den sie mithilfe des Wassers selbst vorgab. Mit jedem Auf und Ab der Hüfte glitt ein Arm klingengleich durchs Wasser, bis sie nicht mehr bloß einer von zahlreichen Körpern in einem sterilen, gefliesten Becken war, nein, sie war der Körper, der einzige Körper, dynamisch und schwer atmend. Wenn die Musik verstummte, war sie am Ziel, allein. Nur sie selbst wusste, dass sie eine Tänzerin war; alle anderen sahen in ihr lediglich eine herausragende Athletin.

Ọṣun war es gewohnt, angestarrt zu werden und das Starren zu ignorieren. Die meisten Menschen würden behaupten, sie sähen bei einem Blick ins Wasser sich selbst, doch was sie wirklich sehen, ist ihr Spiegelbild, zurückgeworfenes Licht. Die Reflexion ist nichts weiter als eine Abwehrreaktion des Wassers gegen unwillkommene Eindringlinge. Wasser ist geduldig, aber im Grunde will es in Ruhe gelassen werden. Begib dich hinein, wenn du willst, trink davon, wenn du willst, aber spähe nicht teilnahmslos hinein. Ọṣun jedoch sah sich selbst, wenn ihr Blick auf die Wellen traf. Ihr Haar war weich, eine üppige, dunkle Mähne aus dichten Locken, die sich wie schäumende Gischt um ihr Gesicht bauschten. Ihre geheimnisvollen, mandelförmigen Augen, unergründlich wie der Ozean, fielen zur Nase hin leicht ab, gerade so, als wären sie zu schwer, um auf einer geraden Linie zu bleiben. Sie bargen allzu viel in sich – das gesamte Universum. Ọṣuns Haut war glatt und von einer satten dunklen Farbe wie ein riesiger See, unter dessen glitzernder Oberfläche sich in unermesslichen Tiefen eine ganze Welt verbirgt. Sie waren vom gleichen Schlag, sie und das Wasser, das sie lockte. Ọṣun war eine Hochwohlgeborene, undurchschaubar, unantastbar, unbezähmbar. Ein Genuss, ein Erlebnis, aber niemandes Eroberung oder Eigentum.

Doch eben hatte ein seltsames Gefühl von ihr Besitz ergriffen: Auf ihr ruhte ein alles verzehrender Blick, der ihr im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut ging; ein Blick, der in ihrem tiefsten Inneren etwas wachkitzelte und an die Oberfläche holte. Von wem er ausging, konnte sie nicht ausmachen, obwohl sie ihn deutlich spürte. Ọṣun saß, umringt von Menschen, die sich gerne als ihre Freunde bezeichneten, auf einer großen Tierhaut und beobachtete die Feierlichkeiten der Akademie anlässlich des alljährlichen Ojude-Oba-Festivals. Sie trank Palmwein aus einem Kokosschalenbecher, und ihre Lippen waren fettig von frittierten Backwaren. Gelächter, Musik und der Duft von Kochbananen, geröstetem Fleisch und gewürztem Reis lag in der Luft. Ebenholzschwarze Pferde, in buntes Leder gehüllt und mit roten, gelben und grünen Bändern in den Mähnen, bewegten sich wiegenden Schritts durch die Menge, auf die Parade zu. Sie wurden geführt von den Reitern der Akademie, die in ihren bodenlangen Agbadas aus leuchtend bunten, fließenden Stoffen und mit Fila-Kappen auf dem Kopf ebenso majestätisch wirkten wie die Pferde. Elegant vollbrachten sie mit den Tieren komplizierte Choreographien, ihren schweren, hinderlichen Roben zum Trotz. Sprechtrommeln führten laute Unterhaltungen, sorgfältig orchestriert von den »Tellers«, der Trommel-Elite der Akademie, die mithilfe von Musik Geschichte erlernte und überlieferte, Botschaften verbreitete und mit Spottgedichten und dergleichen mehr für Unterhaltung sorgte. Ihre nackten Oberkörper glänzten, die Muskeln spielten unter der Haut ihrer Arme, während sie den Trommeln durch Schläge mit Krummstöcken oder mit der flachen Hand Klänge in ständig wechselnder Tonhöhe entlockten und dennoch mit jedem Schlag Harmonie erzeugten. Die Studierenden tanzten zu Legenden über die Gründung ihrer Stadt und zu rhythmisch erzählten Liebesgeschichten, ließen lachend die Hüften kreisen, während ihre stampfenden Füße roten Staub aufwirbelten. Sie feierten die Göttinnen und Götter der Akademie; jene, die in die höchsten Sphären aufgestiegen waren. Und die ganze Zeit über spürte Ọṣun diesen Blick, der ihr die Haut versengte und ihr Herz schneller schlagen ließ, sodass ihr Puls dem Klang der Trommeln vorausjagte.

Dass sie nicht wusste, von wem besagter Blick ausging, hatte einen recht banalen Grund: Sie konnte sich nicht umdrehen, denn um ihre Schultern lag der sehnige Arm ihres Freundes Ṣàngó, angehender Vorsitzender der Studentenvertretung der Ifá Academy, gefeierter Kapitän (aller Mannschaftssportarten) und erklärter Liebling (aller Mädchen). Ṣàngós Charme war so ungestüm wie sein Temperament, seine grauen Augen wurden je nach seiner Laune dunkler oder heller. Sowohl innerhalb der Akademie als auch im ganzen County war allgemein bekannt, dass Ọṣun die Einzige war, die ihn zu beruhigen vermochte, wenn er lospolterte und -donnerte, sei es wegen einer vermeintlichen Respektlosigkeit, sei es, weil jemand gewagt hatte, seine angeborene Autorität anzuzweifeln.

Ọṣun war die Einzige, die je aus nächster Nähe erlebte, wie das Schiefergrau seiner Augen zu Silber changierte. Wenn eine Prügelei dräute, marschierte sie an den Umstehenden, die ihr bereitwillig Platz machten, vorbei und geradewegs auf Ṣàngó zu. Sobald sie zu ihm hochsah und ihm über das energisch vorgeschobene Kinn strich, wich seine mörderische Wut der Glut der Verliebtheit, aus zornigen Luftstößen wurde ein sanfter Hauch, und dann nahm sie ihn an der Hand und führte ihn fort von dem Tumult, der in seinem Inneren tobte. Seine anderen Mädchen spielten keine Rolle, denn Ọṣun wusste, sie war ein Vielfaches von ihnen allen zusammen und noch mehr. Sie waren lediglich Replikate von ihr, ein billiger Abklatsch. Unweit von Ṣàngós Anwesen lebte eine stets lächelnde junge Frau, mit der Ṣàngó gern Zeit verbrachte. Ọṣun störte sich nicht daran. Ihr eigenes Lächeln – sie lächelte selten, aber es kam vor – war so intensiv wie die Sonne zur Mittagszeit, das wusste sie. Es hatte eine geradezu berauschende Wirkung, und sobald es nachließ, meinten jene, die es gesehen hatten, in ein tiefes Loch zu stürzen, in dem alle Verzweiflung der Welt gebündelt war. Ọṣun wusste nicht, was geschähe, sollte sie je lachen. Sie tat es nie. Dann war da die Nebenbuhlerin, die Ọṣun von der Unterweisung in Sternbildbeobachtung kannte. Ṣàngó besuchte dieses Mädchen häufig nach Feierlichkeiten, wenn er dem Palmwein tüchtig zugesprochen hatte. Besagte Nebenbuhlerin benahm sich stets, als hätte sie seit ihrer Geburt keinen Tropfen getrunken und als könnte ihr Durst nur durch Ṣàngós Schweiß auf ihrer Zunge gestillt werden. Auch das machte Ọṣun nichts aus. Sie wusste, wenn sie selbst mit Ṣàngó zusammen war, dann ertrank er in ihr, starb in ihr und wurde in ihr wiedergeboren. Es glich dem Wogen des Meeres im Sturm, wenn sich ihre Leiber gemeinsam bewegten – allmächtig, aufregend, Furcht einflößend. Sie wusste, dass sie süß schmeckte wie Honig und stark wie Likör. Sie wusste, dass sie beim Stillen seines Begehrens sogleich einen neuen unstillbaren Hunger in ihm entfachte. Dass er ihr hilflos ausgeliefert war, trunken. Ọṣun wusste, sie war alles, was Ṣàngó jemals wollen würde, und noch mehr. Und sie wusste, es war dieses Mehr, das ihm Angst einjagte, ihn quälte. Sie wusste, wer alles bekommt, was er begehrt, fragt sich bisweilen, ob er es auch verdient hat. Ṣàngó behagte der Geschmack seiner Verunsicherung nicht. Er zerbrach sich nur ungern den Kopf darüber, ob er genug war für ihr Zuviel. Um dieses Ungleichgewicht auszubalancieren, benötigte er die verwässerten Derivate von Ọṣun. Bis vor einer knappen Woche, genauer gesagt, bis zur feierlichen Begehung der Erdreise ihrer Schwester Yemoja, die sechs Tage vor dem Ojude-Oba-Festival stattfand, war es ihr herzlich egal gewesen.

Während dieser Feier, die auf ihrem Anwesen stattgefunden hatte, war Ọṣun zu einem nahegelegenen Wäldchen spaziert, um etwas Ruhe zu finden. Sie bewunderte ihre Schwester, die ein Jahr zuvor die Akademie abgeschlossen hatte, und zugleich empfand sie ihre Gegenwart oft als überwältigend. Yemojas Lachen klang wie Wellen, die sich krachend an der Küste brachen, und nicht selten fühlte sich Ọṣun wie die zerklüfteten Klippen, an denen sie mit jedem Aufprall nagten. Ihre Gesichter glichen sich fast aufs Haar, nur in der Form unterschieden sie sich, doch Yemoja wirkte insgesamt eleganter als sie, wie Ọṣun fand – sie war größer und schlanker als Ọṣun, deren gedrungener Körper mit seinen üppigen Kurven so gar nicht dem athletischen Figurentypus entsprach. Yemoja war eine herausragende Seglerin und führte auf Entdeckungsfahrten nicht selten Gruppen von vierzig bis fünfzig Booten an. Sie beherrschte die Gewässer derart meisterhaft, dass es aussah, als würde sie über dem Wasser schweben. Ọṣun betrachtete es als eine Schwäche, dass sie selbst die Wellen auf ihrer Haut spüren musste. In Yemojas Gegenwart traten Ọṣuns Makel zutage, und obwohl sich die beiden innig liebten, kam sich Ọṣun neben Yemoja unwillkürlich kleiner vor, schwächer. Die Menschen hingen verzückt an Yemojas Lippen, und Ọṣun sah ihnen dabei zu, wie sie sich an ihren Worten geistig aufrichteten, sah die ermutigende Wirkung, die Yemoja auf sie ausübte. Bei dem Fest vor einer Woche hatte sie ebenfalls versucht, sich mit den anderen Gästen zu unterhalten, tapfer darum bemüht, dem Beispiel ihrer charismatischen Schwester zu folgen. Allein, wann immer sie den Mund aufgemacht hatte, war offensichtlich gewesen, dass ihre Gesprächspartner sie zwar interessiert musterten, doch statt ihr zuzuhören, beobachteten sie lediglich, wie ihr Mund die Wörter formte. Also hatte Ọṣun dem Getümmel den Rücken gekehrt und sich aufgemacht zu einem Spaziergang in den Wald, zum Fluss, wo sie stets Frieden fand. Und dort, im Gebüsch am Ufer, hatte sie zu ihrer Überraschung die breiten, muskulösen Schultern ihres Freundes erspäht, der ihr keine halbe Stunde vorher den kräftigen Arm um die Taille geschlungen und sie an sich gezogen hatte, um ihr zuzuflüstern, dass sein Herz nur ihr, Ọṣun, gehöre. Es sei eine Qual für ihn, sich unters Volk mischen zu müssen, wo er doch viel lieber Zeit mit ihr verbringen wolle, hatte er gesagt und behauptet, er müsse mit einigen seiner Männer noch mehr von dem Bier holen, das aus Kolanüssen gewonnen wurde. Und nun lag sein Arm um die Taille einer anderen. Zwischen den Zweigen hindurch, die sich vor Scham zu neigen schienen, sah Ọṣun, wie Ṣàngó das Haupt beugte und dieser Anderen etwas zuflüsterte, ehe er sie aufs Ohr küsste.

Dann sagte er, nun deutlich hörbar: »Ọṣun tanzt nicht gern. Das Tanzen fehlt mir. Tanz mit mir.«

Er trat einen Schritt zur Seite, und hinter ihm kam Ọṣuns Vorgängerin Oba, seine ehemalige Geliebte und Freundin, zum Vorschein. Oba mit den dümmlichen, runden Kinderaugen und dem hübschen blumenförmigen Mund. Sobald Ṣàngó auffordernd im Takt zum Klang der fernen Trommeln mit den Hüften zu zucken begann, reagierte sie artig mit geschmeidigen, ehrerbietigen Bewegungen der Körpermitte, doch es wirkte höflich und geziert, rhythmisch, aber ohne Leidenschaft. Selbst beim Tanzen verhielt sie sich Ṣàngó gegenüber demütig. Ọṣun verdrehte die Augen. Das war ihr nun nicht mehr egal. Oba war duckmäuserisch und geradezu aufdringlich liebenswürdig – eine Liebenswürdigkeit, die Ọṣun penetrant fand. Auch nachdem Ọṣun erfolgreich Ṣàngós Aufmerksamkeit erregt hatte, war Oba gleichbleibend freundlich zu ihr gewesen und hatte behauptet, sie sei ihr nicht böse, sie wolle bloß, dass Ṣàngó glücklich sei. Ọṣun fand dieses Verhalten ausgesprochen würdelos – sie hätte Oba weit mehr respektiert, wenn sie Rache geschworen hätte, wenn sie ihr – wie eine Kriegerin – ins Gesicht gesagt hätte, sie sei nicht bereit, auf Ṣàngó zu verzichten. Doch es war nicht das Stelldichein der beiden, sondern Ṣàngós Behauptung, die Ọṣun so schwer getroffen hatte, dass sie beinahe nach hinten getaumelt wäre. Denn er hatte gelogen. Ọṣun tanzte für ihr Leben gern. Mit Yemoja tanzte sie jeden Abend bei Sonnenuntergang am Ufer des Meeres zu den Klängen, die aus dem Ozean für sie aufstiegen, und ihr Gelächter vermischte sich mit dem Brüllen der Gezeiten. Und sie tanzte, wann immer sie im Wasser war. Ọṣun hatte angenommen, zumindest Ṣàngó könnte das sehen. Das war auch der Grund, warum sie trotz allem bei ihm blieb: Weil er sie sah. Weil sie einander sahen. Manchmal – nicht oft, aber hin und wieder – empfand sie, wenn sie mit Ṣàngó zusammen war, beinahe dasselbe, wie wenn sie schwamm. Doch das war eine Illusion gewesen, wie sie nun erkannte. Manchmal, wenn man nur hungrig genug ist, meint man den Geschmack von süßem Gebäck im Mund heraufbeschwören zu können. Doch in der Folge spürt man den Hunger und die Leere nur noch stärker. Und manchmal bemerkt man erst, wie ausgehungert man wirklich ist, wenn es zu spät ist.

Es dauerte nicht lange, bis Oba Ọṣun zwischen den Zweigen hindurch erspähte und erstarrte. Ṣàngós Blick folgte dem ihren, und als er Ọṣun erkannte, blitzten seine Augen alarmiert auf, und der Silberglanz in ihnen wich dem Schiefergrau. Er machte einen Schritt auf sie zu, doch Ọṣun hob die Hand und setzte, weil ihr Obas mitleidige Miene Übelkeit bereitete, ein strahlendes Lächeln auf, so schön, betörend und Furcht einflößend, dass Ṣàngó die Regenwolken zu Hilfe rief, damit sie ihm Rückhalt gaben. Der Himmel wurde grau, und Oba war plötzlich, als befände sie sich unter Wasser, in dem Fluss hinter ihr – sie konnte nicht atmen, nicht sprechen, nichts sehen. Ọṣun wandte sich ab und kehrte zu der Feier zurück, als sei nichts geschehen. Tags darauf hatte Oba ein dumpfes Gluckern in dem Ohr, in das Ṣàngó geflüstert hatte, doch es floss kein Wasser heraus, was auch immer sie unternahm. Die Kräuterkundigen konnten ihr nicht helfen, den Priestern jagte es Angst ein. Das Gefühl, unter Wasser zu sein, ließ sich einfach nicht abschütteln. Seither wagte Ṣàngó es nicht mehr, mit Oba zu sprechen, und auch seine anderen Mädchen besuchte er nicht mehr. Ọṣun blieb bei ihm; warum, konnte sie niemandem erklären. Und noch immer forderte Ṣàngó sie nicht zum Tanzen auf.

Im Moment palaverte er mit seinen Freunden, und Ọṣun verdrehte die Augen, als der Palmwein über den Rand seines Bechers schwappte. Ṣàngó schwang gern große Reden; er liebte es, Hof zu halten und alle mit Geschichten von sportlichen Wettkämpfen zu ergötzen, mit Erzählungen über die Orte, die er besucht hatte oder zu erobern gedachte. Sein Gefolge, der Chor im klassischen Frage-und-Antwort-Spiel, lachte artig, unfähig, etwas anderes als schmeichelnde Erheiterung an den Tag zu legen, etwa, wenn Ṣàngó wie jetzt von dem Tag berichtete, an dem sich ein Mann auf dem Markt geweigert hatte, ihm einen Löwenfellumhang zu verkaufen, mit dem Argument, der Umhang sei für Ehrenmänner gedacht, und er sehe noch nicht genügend Ehre in Ṣàngó.

»Ich habe ihm gesagt, dass ich eines Tages über ihn herrschen werde. Das wisse er, meinte der alte Narr, und er hoffe, dass ich mir die Bezeichnung Ehrenmann und damit auch den Umhang bis dahin verdienen werde; dass mein Rücken noch breit genug dafür werde. Ist das zu fassen? Das sagte er zu mir, der ich einen ganzen Ochsen tragen kann – was sage ich, zwei Ochsen! Ich dachte bei mir: Der Tölpel beliebt wohl zu scherzen.« Ṣàngó spuckte aus, und seine Augen wurden dunkel – dunkler als Schiefer – bei der Erinnerung daran. »Also habe ich ihm ins Gesicht gelacht.«

Blitze zuckten, Donnergrollen untermalte sein grimmiges Gelächter.

»Allerdings war damit der Umhang nach dieser Beleidigung besudelt. Verseucht mit Dummheit.«

Sein Gefolge brüllte vor Lachen. Ọṣun wurde flau.

Sie befreite sich von Ṣàngós Arm, vorgeblich, um die bunten Perlenketten zu ordnen, die um ihren Hals hingen. Das Gefühl, beobachtet zu werden, wurde noch stärker. Sie drehte sich um und erspähte zwischen den schwitzenden Tanzenden eine groß gewachsene, schlanke, muskulöse Gestalt. Der Unbekannte lehnte an einem Baum, und seine verschränkten Arme gemahnten an zwei miteinander verschlungene Stämme, sodass es aussah, als wollte er sich über die Kraft der Akazie mokieren. Er lächelte schelmisch und biss in einen Rosenapfel, und sein Blick ruhte auf Ọṣun, während seine weißen Zähne in der Haut und dann im Fruchtfleisch des Apfels versanken. Der halbmondförmige silberne Ring in seinem linken Ohrläppchen funkelte mit seinen Augen um die Wette. Dies war ein ganz anderer Glanz als bei Ṣàngó, dessen Blick bereits alles über ihn und seine Laune verriet. Ṣàngós Augen sandten Blitze, wenn er in der Stimmung war, sich in Ọṣun zu verlieren, doch er fragte nie, ob die Flammen der Leidenschaft auch auf sie übergegriffen hatten. Der durchdringende Blick dieses Fremden hatte etwas Lockendes. Dieser Mann sah in sie hinein, ohne sich ihr zu unterwerfen. Die linke Seite seiner muskulösen Brust wies drei auffällige Narben auf. Ọṣun hätte zu gerne die Finger darüber wandern lassen. Er lächelte, als wüsste er das.

Sie wandte sich alarmiert ab, packte ihre Schwester, obwohl sie in eine Unterhaltung vertieft war, am Arm und zog sie davon. Yemoja war Ọṣuns engste Freundin, oder vielmehr ihre einzige; ihre Verbindung fußte nicht nur auf ihren Blutsbanden, sondern auch auf der Liebe zum Wasser.

»Dreh dich ganz langsam um, als würdest du nach jemandem Ausschau halten. Kennst du den schlaksigen Jungen dort drüben?«

Ọṣun bezeichnete ihn als »Jungen«, um sich selbst zu beschwichtigen und sich einzureden, sie hätte zumindest ansatzweise das Sagen, was diesen Mann anging, unter dessen Blick sich sorgsam unterdrückte Teile ihrer selbst streckten und zu ihrer vollen Größe aufblühten.

Yemoja blinzelte zwei- oder dreimal vor Verwunderung, weil Ọṣun mit einem Mal so offen und ungeniert über Dinge sprach, über die Schwestern normalerweise miteinander sprechen. Ọṣun war nämlich nicht nur von außergewöhnlicher Schönheit, sondern auch von außergewöhnlicher, betörender Rätselhaftigkeit. Einmal, als sie nebeneinander auf der Tribüne am Sportplatz der Akademie gesessen hatten, während sich Ṣàngó unten auf dem Rasen dafür rüstete, mit seiner Mannschaft die Mannschaft aus einem anderen County zu schlagen, hatte Ọṣun mit einem merkwürdig leeren Blick gesagt: »Wusstest du, dass es auch Gewitter ohne Regen gibt? Sie sind wie eine leere Versprechung – die Flüsse vernehmen das Donnern und sehen die Blitze und erwarten, gefüllt zu werden, doch sie werden enttäuscht. Gewitter ohne Regen sind reines Imponiergehabe. Sie schrecken die Vögel auf und stecken Bäume in Brand, während die Flüsse nach Regen lechzen. Dabei gäbe es ohne Flüsse keine Wolken, und ohne Wolken keine Gewitter.« Während sie das sagte, hatte sie kein einziges Mal den Blick vom Spielfeld abgewendet. Wenig später hatte Ṣàngó den entscheidenden Treffer erzielt.

Wenn Ọṣun derlei mysteriöse Bemerkungen machte, wusste Yemoja oft nicht so recht, worauf sie hinauswollte, also lächelte sie meist bloß und nickte, wohl wissend, dass sich die Augen ihrer Schwester bei jedem wie auch immer gearteten Nachhaken verdunkeln würden. Dass sich Ọṣun rasch wieder zurückziehen würde, wenn sie bemerkte, dass ihre seelenvollen Gedanken für ihr Gegenüber nicht nachvollziehbar waren. Yemoja war für die Ozeane, was Ọṣun für die Flüsse war, doch Yemoja war bodenständig und lebensnah, mit irdischen Angelegenheiten betraut. Sie war für die Normalsterblichen zuständig, sie verstand sie, bemutterte sie. Ihre jüngere Schwester dagegen genoss die Freiheit, jenseits dieser Gefilde zu wandeln, mit den himmlischen Sphären verbunden zu bleiben. Yemoja war die Wurzel, Ọṣun die Blüte, die sich stets dem Firmament entgegenreckt. Und so gab Yemoja oft vor, zu verstehen, worauf Ọṣun hinauswollte, und Ọṣun gab vor, verstanden worden zu sein. Es war eine auf gegenseitigem Wohlwollen basierende Übereinkunft, von der sie beide profitierten. Diesmal jedoch hatte Yemoja ihre Schwester klar und deutlich verstanden, und das stimmte sie froh. Ọṣun brauchte mehr als Ṣàngó, der sich, statt selbst wachsen zu wollen, lieber mit Frauen umgab, die weniger mächtig waren als Ọṣun.

Yemoja ließ beiläufig den Blick über die Anwesenden wandern, wie ihre Schwester es ihr aufgetragen hatte, und wandte sich dann vergnügt lächelnd wieder Ọṣun zu.

»Ah, das ist Erinlẹ, der sich beim landesweiten Wettstreit einen Platz an der Akademie erkämpft hat. Er wird im kommenden Semester dazustoßen, wurde aber schon jetzt zum Festival eingeladen.« Sie hatten sich ein wenig von Ṣàngó und seinen Freunden entfernt, was gar nicht nötig gewesen wäre; die Männer hätten ihr Gespräch ohnehin nicht mit anhören können, bei der Lautstärke, mit der sie sich unterhielten, ganz zu schweigen vom Gekicher der Mädchen, die sie umringten.

Ọṣun nickte und nippte an ihrem Palmwein, was Yemoja ein noch breiteres Lächeln entlockte, denn Ọṣun trank kaum je Alkohol. »In welcher Disziplin ist er angetreten?«

Die Ifá Akademy war eine elitäre Ausbildungsstätte, ihr Besuch war den Besten der Besten vorbehalten. Wer nicht hineingeboren wurde, weil er – wie Ọṣun, Yemoja und Ṣàngó – eine Gottheit oder von edlem Geblüt war, der musste über besondere Fähigkeiten verfügen. Diese Kandidaten, die »dem Reich der Wurzeln entstammten«, wurden landauf, landab gesucht und oft aufgrund ihrer legendären Heldentaten auserwählt.

»Im Jagen, mein Herz«, erwiderte Yemoja.

Ọṣun nickte (zu Yemojas Freude, ohne in Anbetracht des Kosenamens das Gesicht zu verziehen) und schenkte ihnen beiden aus einer Kalebasse Palmwein nach. »Dann ist er also irdischer Abstammung.«

Yemoja zuckte die Schultern. »Das hat nichts zu bedeuten, aburo mi. Hier sind wir alle gleich. Und manch ein Ach-so-Hochwohlgeborener verhält sich, als käme er von tief unter der Erde.« Sie blickte zu Ṣàngó hinüber, der sichtlich bezecht vor sich hin grölte. Ọṣun unterdrückte ein Schmunzeln.

»Erinlẹ ist ein meisterhafter Bogenschütze; und Landwirt außerdem«, fuhr Yemoja fort und trat noch etwas näher an ihre Schwester heran, sodass sie sich an den Schultern berührten. Für Außenstehende mochte es aussehen, als wären sich die beiden seit jeher so nah gewesen, als wären sie nicht nur Schwestern, sondern Gefährtinnen, Vertraute, enge Freundinnen, die regelmäßig zusammensaßen, um zu tratschen, während die eine der anderen die Haare flocht. »Es heißt, er hat magische Hände und kann Pflanzen mit einer Berührung zum Leben erwecken«, setzte Yemoja mit einem spitzbübischen Grinsen hinzu, und zu ihrer Überraschung huschte der Anflug eines Lächelns über Ọṣuns Gesicht. Dieses seltene Erfolgserlebnis verlieh Yemoja den Mut, weiterzusprechen: »Angeblich stammen die Narben auf seiner Brust vom Kampf gegen einen Löwen. Es heißt, der Löwe habe Erinlẹs Herz fressen wollen, um genauso tapfer zu werden wie er.«

Wieder nippte Ọṣun an ihrem Wein. »Vielleicht wollte er es aber auch bloß fressen, weil er ein Löwe war.«

Das entlockte Yemoja ein Glucksen, das sich alsbald zu ihrem unverkennbaren Gelächter steigerte, sehr zu Ọṣuns Verblüffung, denn es kam nicht allzu oft vor, dass jemand in ihrer Gegenwart lachte. Ọṣun konnte sich nicht entsinnen, etwas Amüsantes gesagt zu haben, doch es sollte ihr nur recht sein, wenn Yemoja ihre Gesellschaft genoss.

»Tja, Erinlẹ hat eindeutig gewonnen, wie du siehst.«

Ọṣun hob den Kopf und stellte fest, dass sich Erinlẹ nun direkt vor ihr befand. Eine Sprechtrommel zwischen einen Arm und den muskulösen Oberkörper geklemmt, stand er in der Mitte des Hofes, im Begriff, in die Musik einzustimmen. Ọṣuns Blick fiel auf einen breiten Streifen aus sandbraunem Leder, den er sich über dem rostbraunen Webstoff seiner Beinkleider um die Taille gewunden hatte. Die Haut eines Löwen.

Lächelnd brachte Erinlẹ seine Sprechtrommel zum Singen, und es gelang ihm mühelos, mit der Truppe mitzuhalten, die dafür bekannt war, dass sie sich gegenüber Neuzugängen nicht eben aufgeschlossen zeigte, bestand sie doch aus erfahrenen Musikern, die ihrerseits von erfahrenen Musikern abstammten. Doch siehe da, Erinlẹ wurde mit offenen Armen aufgenommen, und er fügte sich nicht nur nahtlos ein, er machte sie sogar noch besser. Aus der Nähe konnte Ọṣun ihn besser in Augenschein nehmen. Seine Haut war von einem satten Rotbraun, ein Farbton, der sie an die Erde am Flussufer erinnerte, an der Stelle, an der sie am liebsten badete.

»Gestattest du mir, das Wort an dich zu richten?«

Ọṣun erstarrte. Sie wusste intuitiv, dass die leise, gelassene Stimme, die sie soeben vernommen hatte, Erinlẹ gehörte, obwohl sich seine Lippen nicht bewegt hatten. Sein eindringlicher Blick ruhte auf ihr. Er hatte zu ihr gesprochen, ohne den Mund zu öffnen; sie war ganz sicher.

»Mir scheint, du warst bereits so frei«, gestattete sie sich zu denken – nur zum Spaß, vielleicht konnte er es ja wirklich hören. Seinem breiter werdenden Lächeln und den erfreut aufblitzenden Augen nach zu urteilen, tat er das.

»Ich habe lediglich angeklopft, vorgefühlt, mein Glück versucht. Wenn du nicht wollen würdest, dass ich mit dir spreche, dann wäre ich nicht hier, das weißt du so gut wie ich.«

Ọṣun war, als hätte jemand die Zeit angehalten oder zumindest verlangsamt, als würde sie träumen. Sie nahm ihre Umgebung nur noch verschwommen wahr. Die rote Erde und das tiefe Grün des Waldes vermengten sich zu einem dichten Nebel, Yemojas Wärme verpuffte, Ṣàngós Gelächter klang gedämpft, wie von weit her. Dafür war Erinlẹ ihr mit einem Mal ganz nah – so nah, dass sie die Narben auf seiner Brust hätte berühren können, wenn sie gewollt hätte.

Sie zwang sich, den Kopf zu heben und ihm in die Augen zu sehen. »Warum sollte ich dich in meinem Kopf haben wollen? Ich kenne dich nicht.«

Erinlẹs Blick setzte das Blut unter ihrer Haut in Brand.

»Ich dich ebenso wenig, aber du warst in meinen Gedanken, wenn auch nicht so wie jetzt, im buchstäblichen Sinne.«

Ọṣun versuchte, ihre Neugier hinunterzuschlucken – ein ungewohnter Geschmack, denn das, was Männer sagten, war für sie selten von Interesse –, doch die Neugier wehrte sich und machte sich in einer Frage Luft: »Wie dann?«

»So, wie ein junger Mann sich fragt, wie wohl die Frau sein könnte, an die er einmal sein Herz verlieren wird.«

Ọṣun verdrehte die Augen, darum bemüht, sich zumindest eine Spur abweisend zu verhalten, obwohl jede Zelle ihres Körpers wohlig schauderte bei der Erkenntnis, dass die Worte dieses Mannes nicht bloß platte Schmeicheleien waren. Dass ihn mehr an ihr reizte als die Aussicht auf das Gefühl, sie zu der Seinen gemacht zu haben. Er sprach die Macht, die sie über ihn hatte, unverhohlen an, doch er machte sich dabei weder klein, noch versuchte er, zum Ausgleich die Brust aufzublasen.

»Und woher willst du wissen, dass ich diese Frau bin?«

Erinlẹ zuckte die Schultern. »Woher wissen die Krähen, dass ein Erdbeben bevorsteht?«, erwiderte er schlicht.

Ọṣun hob eine Augenbraue. »Du hast also deine Zerstörung vorausgeahnt?«

Erinlẹ lachte mit glänzenden Augen. »Ich habe geahnt, dass meine Welt aus den Fugen geraten wird.«

Das heftige Pochen von Ọṣuns Herz, das sonst stets ruhig und gleichmäßig schlug, wollte so gar nicht zu der Stille und Regungslosigkeit passen, die sie umgab.

Sie räusperte sich, obwohl es gar nicht nötig war. »Darin besteht also deine besondere Fähigkeit – andere aus ihrem Schneckenhaus hervorzulocken oder sie darin zu besuchen?«

Erinlẹ trat näher. »Es ist deine Macht. Du hast mich gerufen. Ich bin nur ein gewöhnlicher Sterblicher, dem gewisse Talente in die Wiege gelegt wurden. Aber ich habe gelesen, dass derlei geschehen kann, wenn sich zwei Energien voneinander angezogen fühlen.«

»Und was an dir sollte mich anziehen?« Einmal abgesehen von seinem Lächeln, seiner Aufrichtigkeit und der Tatsache, dass sie in seiner Gegenwart ganz sie selbst sein durfte … »Ich brauche niemanden.«

Erinlẹ lachte und nickte. »Das ist mir bewusst. Es geht um Begehren, nicht darum, was du brauchst.«

Ọṣun schluckte. »Ich begehre zu erfahren, wie sich ein Fremder derart vergessen konnte, mich, Ṣàngós Liebste, dreist und ungeniert anzustarren.«

Erinlẹ zuckte erneut die Schultern. »Ich habe mich nicht vergessen; ganz im Gegenteil. Ob du Ṣàngós Liebste bist oder nicht, ist für mich unerheblich. Du gehörst ihm nicht. Das redet er sich nur ein, um sich besser zu fühlen, wichtiger. Mein Blick galt mitnichten Ṣàngós Liebster. Er galt dir.«

Ọṣun musterte ihn bewegungslos und spürte, wie tief in ihr etwas aufwallte, das sie erneut drängte, die Finger über seine Narben wandern zu lassen, sie drängte, die selbst gesteckten Grenzen zu überschreiten, jene Regel zu brechen, die es ihr untersagte, ihre geheimsten Wünsche auszusprechen. Als sie der Versuchung schließlich nachgab und die Striemen berührte, die die neidische Kreatur auf seiner Brust hinterlassen hatte, begannen die längst verheilten Risse unversehens bernsteinfarben zu schimmern.

Erinlẹ beobachtete sie, und sein eben noch verschmitzter Blick wurde ernst. Er hob Ọṣuns Kinn an und sah ihr in die Augen, offen und unerschrocken.

»Was willst du, Ọṣun?«

Ọṣun öffnete den Mund, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie hatte sich lange nicht mehr gestattet, etwas zu wollen. Sie war dazu verpflichtet, ihrem Können den letzten Feinschliff zu verpassen, dazu verpflichtet, die Akademie zu repräsentieren, und in vielerlei Hinsicht fühlte sie sich auch verpflichtet, gemeinsam mit Ṣàngó die Höchsten der Hochwohlgeborenen zu repräsentieren. Ọṣun konnte sich nicht entsinnen, wann sie zuletzt jemand gefragt hatte, was sie wollte. Alle wollten sie berühren, sie besitzen, ohne ihre Sehnsucht nach Zärtlichkeit, nach einer schlichten Umarmung zur Kenntnis zu nehmen. Sie sahen sie an, ohne sie zu sehen.

Erinlẹ dagegen betrachtete sie so eingehend, als könnte er ihr Mehr sehen, und sein Lächeln sandte Sonnenstrahlen durch ihren Körper.

»Ọṣun, oh, Ọṣun …«

Ọṣun erstarrte. Sang er etwa? Seine Lippen bewegten sich. Er schlug die Trommel, blickte ihr in die Augen und hatte, wie es aussah, eine Art Refrain angestimmt. Auf einen Schlag sah sie die Welt wieder scharf, und ihre Ohren nahmen die Geräusche ihrer Umgebung mit beinahe schmerzhafter Klarheit wahr – und auch, dass Ṣàngó und seine Männer jäh verstummten.

»Hat er gerade deinen Namen gesungen?«, polterte Ṣàngó nach einem Moment ungläubigen Staunens.

»Ja, das hat er«, erwiderte Yemoja, die noch immer neben Ọṣun stand, zufrieden grinsend. Ọṣun zwang sich hastig, vollends in die Wirklichkeit zurückzukehren. Sie fühlte sich nach der Unterhaltung mit Erinlẹ, die nicht viel länger als ein paar Sekunden gedauert haben konnte, so lebendig wie noch nie, und zudem seltsam geerdet. Es war, als würde sie alles einschließlich sich selbst klarer und deutlicher wahrnehmen.

Es war ein kühner Schachzug von Erinlẹ, dass er sang. Gesang war den Tellers vorbehalten. Wer singen wollte, musste entweder von ihnen auserwählt werden oder sich vor Publikum um die Aufnahme bemühen. Und es war höchst unüblich, ein Lied an jemanden zu richten; derlei geschah höchstens unter Freunden, in Gestalt von Spottgesängen oder Glückwünschen – oder im Rahmen einer Brautwerbung. Singen, das war mehr, als den richtigen Ton zu treffen. Die Lieder durften nicht vorab erdacht werden, sondern ausschließlich spontan; nur so war erwiesen, dass das Gesungene von Herzen kam. Und dass es von Herzen kam, war von größter Wichtigkeit.

Ṣàngó hatte noch kein einziges Mal für Ọṣun gesungen, und auch für sonst niemanden. Weil er es nicht nötig habe, sagte er stets voller Stolz. Als er nun ein Knurren von sich gab, das an Donnergrollen erinnerte, wandte sich Ọṣun mit einem unergründlichen Blick zu ihm um. »Schweig.«

Seine Züge verkrampften sich, doch das bedrohliche Grollen verstummte auf der Stelle. Ob es ihm gefiel oder nicht, Ọṣun hatte sein Herz in der Hand, und sie machte ihm Angst. Mittlerweile war die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf das Schauspiel gerichtet. Erinlẹ trommelte mit seinem kleinen Krummstock eine raffinierte Melodie, mit der er Ọṣuns Bild heraufbeschwor: sacht und zahm wie die Wellen eines dahinplätschernden Flusses, dann wieder wild und verschwenderisch. Er ging bedächtig auf Ọṣun zu, den Gurt, an dem seine Trommel hing, um den Oberkörper geschlungen, das Instrument selbst so fest unter den Arm geklemmt, wie sein Blick auf Ọṣun ruhte.

»Ọṣun, darf ich dich entführen?Als Mitgift will ich tausend Löwen niederstrecken,will Berge erklimmen und Sterne pflücken,die dich zur Vermählung schmücken,will die Wolken zum Weinen bringen,um deine Flüsse zu beschicken.«

Ọṣun lachte. Denn genau das wollte sie. Sie wollte lachen, wollte allem, womit sie an sich gehalten hatte, freien Lauf lassen. Wollte dem Gefängnis der Erwartungen entfliehen und einfach sein. Die Umstehenden glotzten. Keiner von ihnen, nicht einmal Ṣàngó, hatte je ihr Lachen vernommen. Es klang wie das Zwitschern der Vögel und das Plätschern des Flusses. Erinlẹ sah ihr geradewegs in die Augen, mit einem lockenden Blick. Beim Klang seiner Stimme jagte das Blut durch ihre Adern, und die Härchen an ihren Armen stellten sich auf. Es war ein im wahrsten Sinne des Wortes erhebendes Gefühl, so wie beim Schwimmen; der Rhythmus der Trommel war das Wasser, das sie lockte, sie, die vom gleichen Schlag war.

»Heb stolz das Haupt, meine Königin.Ich legte dir das Universum zu Füßen,doch wie soll ich dich dir selbst als Geschenk darbringen?Also schenke ich dir mein Herz, tapfer und treu.Ich vermag keinen Donner erklingen zu lassen,doch will ich einen Wald für dich pflanzen,mit Bäumen, deren Früchte nach dir schmecken,will Blumen säen, die für dich blühen.«

Der Text musste kitschig sein, das waren derartige Weisen zumeist. Doch so, wie Erinlẹ ihn vortrug, sandte er Wellen der Erregung durch Ọṣuns Körper. Es war eine andere Art der Erregung als die, die sie vom Zusammensein mit Ṣàngó kannte, denn diesmal gingen die Wellen von ihr aus. Es war, als würde Erinlẹs Energie beim Kontakt mit ihr Funken sprühen. Als müsste sie ihre Zustimmung geben, damit die Flammen aufloderten.

Erinlẹ stand nun direkt vor ihr.

Ọṣun, o Ọṣun,meine Trommelschläge locken deine Hüften.Zier dich nicht länger!Zier dich nicht länger!Mir scheint, du liebst es, zu tanzen.

Ọṣun erhob sich flugs und streckte die Beine. Über ihr türmten sich Wolken, doch sie beachtete Ṣàngó nicht weiter, sondern folgte Erinlẹ in die Mitte des Hofes. Sie schwang Hüften und Arme zum Takt der Musik, und Erinlẹ ging mit seiner Trommel auf ihre Bewegungen ein, beugte die Knie, richtete sich wieder auf, reagierte auf jedes auffordernde Zucken ihrer Körpermitte. Donnergrollen erklang, doch Erinlẹs Trommel und Ọṣuns Gelächter übertönten es. Blitze zuckten, doch Ọṣuns Lächeln überstrahlte sie. Ọṣun war es gewohnt, angestarrt zu werden, doch fortan sollte sie sich daran gewöhnen, gesehen zu werden.

SCHEHERAZADE

ICH SCHÄTZE, wenn ich unsere Geschichte erzähle, dann sollte ich am Anfang anfangen. So macht man das normalerweise, oder?

Once upon a time … Es war einmal. Allerdings fühlt sich das zwischen dir und mir nicht so an, als wäre es der Zeitlichkeit unterworfen. Und das meine ich nicht in irgendeinem prätentiösen, mystischen Sinn, weil ich davon kein großer Fan bin, sondern ganz lapidar: Wir sind kein »Es war einmal«, waren nie einer bestimmten Zeit verhaftet.

So empfand ich das schon damals, als ich mir noch einzureden versuchte, wir hätten nur eine flüchtige Affäre. Ich glaube, ich konnte mir schlicht und einfach nicht mehr vorstellen, ihn nicht zu kennen – nicht ganz, nicht vollumfänglich. Zunächst hatte ich angenommen, ich würde ihn bald abservieren und vergessen, weil ich das immer so handhabe, und weil ich das gut kann. Ich tue im Allgemeinen gern Dinge, die ich gut kann. Ich ging ganz selbstverständlich davon aus, dass das Ende vorprogrammiert war. Alles endet irgendwann, und dementsprechend versah ich meine Affären von vornherein mit einem Ablaufdatum. Je kürzer, desto besser, lautete meine Devise. Besteht eine Staffel der Lieblingsserie nur aus sechs Folgen, so reduziert das die Wahrscheinlichkeit, enttäuscht zu werden, etwa wegen mangelhafter Figurenentwicklung oder jäh gekappter Handlungsstränge. Meine Fähigkeit zur Figurenentwicklung hatte ihre Grenzen, und ich sorgte gerne dafür, dass alle Handlungsstränge straff gespannt waren. Ich dachte, im Vergänglichen liege eine Schönheit, und hielt mich für eine Ästhetin, weil ich den Tod meiner Beziehungen beschleunigte. Aber wenn ich ehrlich sein soll – und ich schätze, das kann ich ruhig sein, ich habe nichts zu verlieren –, habe ich mich nie hingesetzt und darüber nachgedacht, was es für mein Leben bedeuten würde, wenn er kein Teil davon wäre. Ich hatte wohl Angst davor. Dabei habe ich normalerweise vor nichts Angst. Schon da hätte ich mir eigentlich denken können, was für eine Art Liebe das hier ist.

Tja, was ist nun »unser Anfang«? Unsere erste Begegnung? Der Moment, in dem wir uns ineinander verliebt haben? Aber sich zu verlieben ist ein kontinuierlicher, ein unaufhörlicher Prozess, eine Aktivität, die, wenn es »die ganz große Liebe« ist, nie zu Ende geht. Vielleicht fing es an, als wir das erste Mal Liebe gemacht haben, wie er es nannte. Ich nannte es unseren ersten Fick, was ihm gewaltig gegen den Strich ging. Er sagte, diese Formulierung verunglimpfe es, ich sagte, sie sei »flapsig«. Es war sagenhaft gewesen – ekstatisch, überirdisch und urknallartig zugleich. Unser erster Fick hatte unleugbar etwas von einem Funken, der ein Lauffeuer entfacht. Es war die Sorte Sex gewesen, die dafür sorgt, dass man sich tags darauf schöner fühlt und mit selbstgefälliger Miene die Straße entlanggeht, mit wiegenden Schritten und einem kessen Hüftschwung, eingehüllt in eine Aura aus Macht und Lebensfreude, als wäre man eine Gottheit unter Sterblichen, weil man in der Nacht zuvor in höheren Sphären gewandelt ist. Weil man das Einzige war, was der Andere gesehen, geschmeckt, gehört und gefühlt hat.

Am darauffolgenden Morgen schickte ich meinen besten Freundinnen eine Nachricht.

Ich: »Gott, was hab ich getan?«

Sie: »So schlimm?!!«

Ich: »So gut! Zu gut. Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht.«

Unsere erste Begegnung fühlte sich weder an wie ein Kennenlernen noch wie ein Wiedersehen; wir waren schlicht zwei Seelen, die dafür bestimmt sind, eine Verbindung einzugehen. Ich könnte wohl mit dem einleitenden Flirt beginnen, mit dem Knistern bei der leichten Berührung unserer Knie, doch selbst das war lediglich das formale Erlernen der Grammatik einer Sprache, die unsere Körper und Seelen bereits beherrschten. Mir fällt nur eines ein, was man am ehesten als unseren Anfang bezeichnen könnte oder vielmehr als den Zeitpunkt, an dem wir zum ersten Mal erkannten und uns eingestanden, dass wir in der Tat ein Wir waren, nämlich unser erster Streit.

»Sag etwas«, sagte ich.

Wir saßen uns an meiner Kücheninsel gegenüber, und ich verfolgte, wie er einen Schluck von dem Wein trank, den wir gemeinsam ausgesucht hatten. Ich dachte daran, wie er mir im Supermarkt mit hochgezogener Augenbraue und einem anzüglichen Grinsen den Text auf dem Etikett vorlas – »Dunkle, süße Aromen, vollmundig« –, ehe er die Flasche in den Einkaufskorb stellte. »Genau mein Geschmack.«

Es war kitschig bis dorthinaus, und das wusste er auch, und ich ebenfalls. Ich tat, als müsste ich würgen, woraufhin er mich um die Taille fasste und vor dem aus Sauvignon- und Pinot-Flaschen bestehenden Publikum küsste – nur kurz, weil wir uns in der Öffentlichkeit befanden, aber kurz war nicht gleichbedeutend mit leidenschaftslos. Er küsste mich, und ich kriegte weiche Knie, und mir war, als hätte ich ein ganzes Regal edelster Weine geleert. Er küsste mich, und meine zweitliebste Jeans passte mir automatisch besser, schmiegte sich noch enger an meinen Körper, als er eine Hand in meine hintere Hosentasche steckte. Er küsste mich, schob mir die Zungenspitze zwischen die Lippen – nur eine kleine Verheißung, ein Vorgeschmack, der einen unbändigen Appetit in mir weckte, und flüsterte es mir noch einmal ins Ohr: »Genau mein Geschmack.«

An besagtem Abend nahm er einen Schluck von besagtem Wein, an meiner Kücheninsel sitzend. Seine Miene war von ausgesuchter Teilnahmslosigkeit.

Der Geruch von geschmortem Fleisch und einer Vielzahl an Kräutern hing in der Luft, vermischt mit dem Duft meiner Kerze (Rose-und-Pfingstrose) und seines Rasierwassers. Leise R&B-Klänge erfüllten den dezent beleuchteten Raum, ein laszives Säuseln, mokant, fast quälend: »… nobody else but you …«

Er zuckte die Schultern. »Was willst du von mir hören, Scheherazade?«

Ich verdrehte die Augen angesichts seiner Theatralik – kein Scher, keine Vertraulichkeiten. Er musste mich bei meinem vollen Namen nennen, um auf Distanz zu bleiben. Er redete mit mir, als wäre ich eine seiner Studentinnen, als hätte ich versucht, mit ihm zu flirten. Warum nannte er mich nicht gleich Miss Shirvani?

Er war Forscher und Universitätsprofessor, der jüngste der gesamten Fakultät und die beste Partie der gesamten Fakultät. Er unterrichtete iranische Politik und Geschichte (die perfekte Mischung aus rau und weich). Er sah (zu) sagenhaft aus, (zu) bilderbuchmäßig; er sah aus wie ein Prinz, den Jungfern auf dem Markt anschmachten. Er verströmte eine auratische Vornehmheit mit seinem dichten schwarzen Lockenschopf und seinem Sonnenaufgangslächeln und seiner karamellbraunen Haut, die beinahe golden schimmerte. Er wirkte so rein und perfekt, dass es ungemein befriedigend war, ihm das Haar zu zerzausen oder mit anzusehen, wie sich seine schönen Augen vor Leidenschaft verdunkelten, wenn er im Begriff war, mich zu küssen; ihm, der stets mit ruhiger Stimme sprach, mit einem zärtlichen Biss in die Halsbeuge ein unbeherrschtes Knurren zu entlocken.

In diesem Moment jedoch blieb sein Tonfall gelassen. Es war höchst irritierend.

»Dein Verhalten ist gerade ausgesprochen passiv-aggressiv, Shaharyār.«

Er bedachte mich mit einem jovialen Lächeln und schob sich dann eine Gabel voll Safranreis mit Kräutereintopf in den Mund. Seine Augen waren hell.

»Mein Verhalten ist passiv-aggressiv? Findest du nicht, dass man das viel eher von deinem Verhalten sagen könnte? Du hast mir doch gerade gestanden, dass du auf der Party eines gemeinsamen Freundes mit deinem Ex rumgemacht hast, und das ausgerechnet heute, wo es Ghormeh Sabzi gibt! Du weißt, das ist mein Leibgericht.«

Oh, er war gut. Besser als erwartet.

Ich schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck Wein. »Das war kein Geständnis. Das Wort Geständnis würde implizieren, dass ich meiner Ansicht nach etwas falsch gemacht habe. Ich dachte eben, es würde dich vielleicht interessieren. Entschuldige. Wäre es dir lieber gewesen, wenn ich es dir bei einer Pizza erzählt hätte?«

Shahryār nickte. »Ja, das wäre mir in der Tat lieber gewesen. Ich hätte es vorgezogen, künftig nicht jedes Mal beim Verzehr von Ghormeh Sabzi daran denken zu müssen, wie du deinen pestilenzialischen Ex-Freund vögelst. Bei Pizza wäre das etwas anderes gewesen, auf die kann ich gut und gern verzichten. Ich glaube, ich habe ohnehin eine Laktoseintoleranz.«

»Pestilenzialisch? Pestilenzialisch! Wer verwendet denn solche Ausdrücke? Außerdem haben wir nicht gevögelt, sondern bloß geknutscht. Mit Zunge. Zwei oder drei Busengrapscher maximal.«

In meiner Wut über seinen hochgestochenen Ausdruck hätte ich beinahe den Faden verloren, aber ich war stolz auf mich und darauf, dass ich wieder festen Boden unter den Füßen und sogar etwas Land gewonnen hatte. Dieses pestilenzialisch regte mich höllisch auf. Wie konnte es sein, dass er die Geistesgegenwart besaß, sich derart gewählt auszudrücken, nachdem ich ihm gerade eröffnet hatte, dass ich mit meinem trashigen Ex-Freund rumgemacht hatte, den ich einmal als Billigversion des Wolf of Wall Street bezeichnet habe (»Ein Coyote of Canary Wharf also?«, hatte Shahryār lachend gefragt). War es ihm egal? Oder warum sonst war sein Hirn so entspannt, dass ihm Ausdrücke wie pestilenzialisch so mir nichts, dir nichts über die Lippen kamen? Er machte mich wahnsinnig.

Shahryār betrachtete mich, und nach drei langen Sekunden nickte er, und einer seiner Mundwinkel wanderte nach oben. Wir starrten uns an, während er sich eine weitere Gabel voll Essen in den Mund schob und bedächtig kaute, und in seinem Blick lag etwas, das die Zeit langsamer verstreichen und mein Herz schneller schlagen ließ. Es ließ etwas in mir aufflackern. Ich nahm einen weiteren großen Schluck Wein, um es im Keim zu ersticken, doch stattdessen wurde eine Flamme daraus.

Ich hatte ganz vergessen, dass er mich durchschaute. Ich war so daran gewöhnt, mit Männern zusammen zu sein, denen das nicht gelang. Ich war so daran gewöhnt, dafür zu sorgen, dass alles nach einem bestimmten Schema ablief, dass ich unvorsichtig geworden war. Ich hatte meine Undurchschaubarkeit fälschlicherweise für eine unumstößliche Tatsache gehalten. Ich hatte mich zu sehr auf ihren Schutz verlassen.

Zum Zeitpunkt dieses Streits ging das zwischen Shahryār und mir drei Monate. Wir hatten uns bei einem politischen Brunch kennengelernt – er war als Rechercheur und Community Organiser da gewesen, ich in meiner Funktion als Strategin. Meine Aufgabe bestand darin, mit Leuten wie ihm kurzen Prozess zu machen. Er war mir während der Rede meines Klienten (ein vielversprechender Staatsmann mittleren Ranges mit Ehrgeiz und Drive) aufgefallen. Ich saß wie immer im Publikum und beäugte die Leute in meiner Nähe, als sich unsere Blicke kreuzten. Er setzte ein kleines Lächeln auf. Ein etwas eckiges, aber pfiffiges, wissendes Lächeln, das nicht zu seinem restlichen Erscheinungsbild passte. Sein Outfit – kariertes Hemd, weicher Pullover und Chinohose, dazu eine schicke Schildpattbrille – ließ ihn liebenswürdig, sympathisch und auf charmante Weise leutselig wirken, und attraktiv obendrein. Man hätte meinen können, die Quellenangaben eines in letzter Minute eingereichten Vortrags zu überprüfen sei das Bedrohlichste, zu dem er fähig war. Dieses Lächeln während der Rede hatte etwas, das mich ansprach, einen Beigeschmack, den ich nicht so recht einordnen konnte. Einen Hauch von Umami. Es regte in mir einen Appetit an, von dem ich bis dahin nichts geahnt hatte. In dieser Phase dachte ich noch, mein Interesse wäre rein beruflicher Natur: Es galt, potenzielle Probleme zu lokalisieren und zu neutralisieren, ehe sie detonierten.

Nach der Rede marschierte ich auf den Tisch im Café des Konferenzzentrums zu, an dem er saß. Ich wollte ein Statement abgeben, also stellte ich meine edle Statement-Lederhandtasche entschlossen neben seinen Laptop. Er hob wie in Zeitlupe den Kopf und sah mich an.

»Also gut, Sie dürfen mir einen Kaffee ausgeben.«

Seine Augenbrauen wanderten nach oben. »Das klingt ja beinahe wie ein Befehl.«

Ich lächelte. »Nur beinahe? Dann muss ich es wohl noch einmal versuchen.«

Shahryār lehnte sich zurück und musterte mich eingehend. Ich trug mein Business-Outfit: Bleistiftrock, Bluse, Pumps. Das dunkle Haar hatte ich mir mit einem ockerfarbenen Tuch kunstvoll hochgebunden, die Lippen mit einem satten Herbstbraun nachgezogen, obwohl Sommer war. Doch das war nicht der Grund, warum er mich so ansah.

»Scheherazade Shirvani.«