In Between Two Worlds - Tina Hutzler - E-Book

In Between Two Worlds E-Book

Tina Hutzler

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Beschreibung

"Komm, ich zeige dir etwas schrecklich Wundervolles" - Menschen mit magischen Fähigkeiten, die sogenannten Andersartigen, leben unerkannt inmitten der Gesellschaft. Während die einen sich problemlos einfügen können, stellen sich anderen gleich mehrere Herausforderungen: Ihr Anderssein, ihr Umfeld und Gleichgesinnte. Die Morrison Memorial School ist ein Ort, an dem Menschen aus aller Welt auf eine erfolgreiche Zukunft vorbereitet werden. Ihr größtes Geheimnis sind die andersartigen Schüler, die vom Personal besonderen Schutz und Beistand erhalten, um ihnen ein unbeschwertes Leben zu ermöglichen. Doch der normale Schein trügt, denn es läuft längst nicht alles harmonisch im Londoner Internat. Verborgen hinter dem Vorhang der Unwissenheit eröffnet sich eine magische Welt, die nicht nur gute Feen und böse Hexen bewohnen.

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Seitenzahl: 671

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Hana Born & Tina Hutzler

In Between Two Worlds

The Curtain Falls

1. Auflage, 2021© 2021 Hana Born und Tina Hutzler Autoren: Hana Born, Tina HutzlerInstagram: VulpilinaE-Mail: [email protected] Hana Bornc/o autorenglück.deFranz-Mehring-Str. 1501237 Dresden Kapitelzierde & Logodesign: Larissa MoritzCoverdesign: Renee Rott (Dream Design)E-Book-Formatierung: Stefanie ScheurichKorrektorat: Günther Langhammer(Die Autorinnen übernehmen selbst die Verantwortung für alle Ausbesserungen nach der Korrektur) Das gesamte Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autoren unzulässig. Dies gilt für jegliche Art der Vervielfältigung, Übersetzung, Verfilmung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Dieses Buch widmen wir jenen, die an uns und unser Projekt geglaubt haben. Dank eurer Unterstützung konnten wir den Weg zu unserem Debüt voller Vorfreude und Zuversicht bestreiten. Danke, dass ihr da seid!

Triggerwarnung

In der Reihe In Between Two Worlds gibt es Inhalte, die manchen Menschen zu nahe gehen können. Zum Schutz Ihres seelischen Wohlbefindens beachten Sie bitte, dass vereinzelt Themen wie psychische Erkrankungen, der Tod, Mobbing und jegliche Form von Gewalt vorkommen. Unser Fokus liegt auf den Erfahrungen und den Gefühlen unserer Charaktere, zu denen die erwähnten Themen gehören, aber ebenso positive, lustige und spannende Erlebnisse. Wir raten zu Achtsamkeit, aber wünschen auch viel Spaß bei ihren Abenteuern!

Die Andersartigen

Andersartige sind Menschen mit magischen Fähigkeiten, die so unterschiedlich sind wie die Andersartigen selbst. Als gewöhnliche Menschen geboren, kommt die Veränderung für die meisten in ihrer Kindheit unerwartet. Der Ursprung dieser Macht ist die sogenannte Quelle, die sich in Form von Tönen oder Gefühlen bemerkbar macht.

Unter den Andersartigen gibt es zwei Gesinnungen: die Parcatis und die Impater. Während sich die Parcatis eher durch ein friedliches Wesen auszeichnen und sich in die Gesellschaft einfügen können, ohne zu sehr aufzufallen, stechen die Impater zumeist durch ihr unsoziales, teilweise sogar aggressives Verhalten heraus. Es fällt ihnen schwer, sich in die Gesellschaft zu integrieren; manche wählen für sich sogar einen kriminellen Weg. Nur vereinzelt gibt es Ausnahmen bei beiden.

Neben den individuellen magischen Fähigkeiten, bringen die Quellen weitere Vorteile mit, die die Andersartigen von normalen Menschen unterscheidet. Die Parcatis verfügen über ein besonders ausgeprägtes Gehör, während die Impater eine überragende Sehkraft besitzen.

Schülerkartei

ERSTER JAHRGANG

Nellie Taylor

ist eine 17-jährige Amerikanerin und kommt mit ihrer Zwillingsschwester an die Morrison Memorial School.

Nancy Taylor

wird zusammen mit Nellie den ersten Jahrgang besuchen. Die beiden teilen sich auf den Wunsch ihres Vaters ein Zimmer.

Maxim Pietrov,

der von allen Max genannt wird, ist ein 17-jähriger Schüler aus Deutschland, der gebürtig aus Russland stammt. Er teilt sich ein Zimmer mit seinen beiden Kindheitsfreunden Felix und Zac Hohenfels und dem Australier Lewis Clavell.

Felix Hohenfels

hat trotz seiner 16 Jahre schon ein Jahr auf dem englischen Internat verbracht und wiederholt den ersten Jahrgang. Wie sein Kindheitsfreund Max nennt er Deutschland seine Heimat.

Gesamte Klassenliste:

Diez, Fernando • Diez, Zaida • Gilbert, Austyn • Gordon, Lilly • Hohenfels, Felix • Lanskaya, Galinda • Moseley, Ginny • Newton, Joshua • Paipa, Nikau • Pietrov, Maxim • Saade, Thea • Simões, Tiago • Taylor, Nancy • Taylor, Nellie • Wyss, Jovin

Schülerkartei

ZWEITER JAHRGANG

Zacharias Hohenfels

ist 19 Jahre alt und der große Bruder von Felix. Obwohl er wegen seines Alters in der Abschlussklasse wäre, beginnt er im zweiten Jahrgang.

Robin Carter

ist ein 18-jähriger Schüler aus dem zweiten Jahrgang, der sein Zweierzimmer widerwillig mit Dylan Wright aus dem dritten Jahr teilt. Robin ist in England geboren und aufgewachsen.

Gesamte Klassenliste:

Arnardóttir Sóley • Carter, Robin • Clavell, Lewis • de Pao, Corin Z. • Donnahue, Baylee • Georgiou, Thalia • Hohenfels, Zacharias • Hovland, Håkon • Johnson, Fynn • Kaczmarek, Mitzi • Küçük, Hassan • Northside, Aaron • Williams, Ophelia • Zhuo, Fei-Ling

DRITTER JAHRGANG

Gesamte Klassenliste:

Akintola, Fela • Dubois, Florimon • Fitzpatrick, Teddy • Giannopoulos, Hektor • Kapoor, Palita • Kapoor, Shiva • Kjærgaard, Alma • Miller, Elisabeth • Moldovan, Toma • Ricci Adamo • Varga, Mercédesz • Verbeek, Anissa • Wright, Dylan • Zorić, Rajana

Lehrerkartei

Mr. Albert Barnheim

ist der Direktor der Morrison Memorial School. Er leitet das Internat bereits seit vielen Jahren, während das Alter von 68 Jahren bei seinem Äußeren schon lange stillzustehen scheint. Er unterrichtet die Fächer Geografie und Geschichte.

Mr. Samuel Payne

bekleidet das Amt des Konrektors und ist 57 Jahre alt. Zudem betreut er den zweiten Jahrgang als Klassenlehrer und ist für die naturwissenschaftlichen Fächer Mathematik, Chemie und Physik zuständig.

Ms. Ellia Voigt

ist eine 37-jährige Deutsche, die sich neben ihrer Muttersprache auch auf Französisch spezialisiert hat. Ihr wohnt die Verantwortung der Klassenleitung des dritten Jahrgangs inne.

Dr. Marissa Peck

betreut die Schüler neben ihren Unterrichtsfächern Biologie und Gesellschaftskunde auch als Internatsärztin. Die Spanierin ist 51 Jahre alt und lebt in einem der Appartements des Internats.

Mr. Vincent Serra

hat sein Heimatland Spanien für England verlassen und unterrichtet seit seines Referendariats an der Morrison Memorial School Sport, Informatik und Wirtschaftswissenschaften. Der 35-Jährige hat die Leitung des ersten Jahrgangs übernommen und steht den Schülern als Vertrauenslehrer zur Verfügung.

Ms. Enya Kane

gehört mit ihren 28 Jahren zu den jüngsten Lehrkräften des Internats und bereichert das Kollegium und die Lernenden mit der Ausübung der kreativen Unterrichtsangebote sowie trotz irischer Wurzeln dem Pflichtfach Spanisch. Auch ihr Neffe Joshua Newton hat den Weg ins Internat gefunden.

Mr. Jason Coleman

ist ein aufstrebender 25-jähriger Referendar aus Amerika, der seinen Schülern Englisch und Sport näherbringen möchte.

Ms. Scarlett Kensington

übt die Tätigkeit als Erzieherin an der Morrison Memorial School aus. Die 24-jährige Amerikanerin bewohnt mit Jason Coleman ein Appartement im Obergeschoss des Internats.

Mr. Randall Reid

ist als Hausmeister tätig und lebt gemeinsam mit Schäferhündin Lucy auf dem Nachbargrundstück. Dank vielseitiger Berufserfahrung unterstützt der 58-jährige Engländer Mr. Barnheim unter anderem auch bei der Sicherheit der Schüler.

Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Morrison Memorial
Kapitel 2
Begrüßungsfeier
Kapitel 3
Morgenmuffel
Kapitel 4
Schlafwandeln
Kapitel 5
Spuk
Kapitel 6
Selbstverteidigung
Kapitel 7
Konkurrenz
Kapitel 8
Fürsorge
Kapitel 9
Anderswelt
Kapitel 10
Menschsein
Kapitel 11
Freund
Kapitel 12
Annäherung
Kapitel 13
Beute
Kapitel 14
Atemlos
Kapitel 15
Fuchsbrüder
Teaser
Danksagung

Prolog

Egal wie weit sie lief, die gierige Schwärze veränderte sich nicht. Sie zog den zierlichen Körper mit jedem Schritt mehr in ihren Schlund.

Es fühlte sich an, als würde Nellie seit vielen Stunden umherirren, ohne, dass sie etwas anderes zu sehen bekam. Sie vermutete, dass sie sich in einem Gang befand, weil sie bei jedem Versuch zur Seite auszuweichen, gegen ein unsichtbares Hindernis stieß. In Wirklichkeit sah sie nichts und war sich nicht einmal sicher, ob sie auf festem Boden lief. Denn hin und wieder gab er unter ihren Füßen nach oder ein Beben versuchte ihr Gleichgewicht zu rauben.

Das Einzige, das sie neben dem Rauschen ihres Blutes hören konnte, waren die bedrohlichen Schritte hinter sich.

Wann immer Nellie einen Blick über ihre Schulter wagte, erkannte sie die stechend roten Augen ihrer Verfolgerin. Das genügte, damit sie um ihr Leben fürchtete.

Nellie wusste, wer hinter ihr war und dass es bedeutete, dass sie sich in einem Traum befand. Dieses Wissen gab ihr jedoch keine Sicherheit. In dieser Welt war ihr Leben genauso in Gefahr wie in der realen.

„Nancy…“, wimmerte Nellie verzweifelt nach ihrer Rettung und hoffte, dass ihr schlafender Körper diesen Hilferuf aussenden würde, damit ihre Schwester sie wecken konnte.

Doch selbst nach endlos langen Sekunden, in denen ihre Lunge zu schmerzen begann, tat sich nichts. Jede Nacht, in der ein solcher Albtraum sie heimsuchte, fürchtete Nellie, es könnte ihr letzter sein. So auch jetzt.

Ihre magischen Kräfte hatten sich schon immer gegen sie gerichtet und je stärker sie wurden, desto mehr fürchtete das blonde Mädchen sich vor ihnen. Dies wiederum verstärkte sie weiter und bildete dadurch einen verhängnisvollen Teufelskreis, aus dem sie kein Entkommen sah.

Erschöpft vom Rennen und fürchtend, dass ihre Beine endgültig nachgeben würden, blieb Nellie stehen und legte eine Hand auf ihre Brust, in der ihr Herz heftig mit der hektischen Atmung um die Wette schlug.

Mit einem unterdrückten Schluchzen drehte sie ihren Kopf, in der verzweifelten Hoffnung, ihr möge sich ein Ausweg aufzeigen. Stattdessen hörte sie die melodische Stimme, die mit trügerischer Sanftheit ihren Namen nannte, was ihr ein weiteres Wimmern entlockte. Es gab eine Zeit, da hat sie diesen Klang als beruhigend und wohltuend empfunden. Doch seit sie wusste, was die Hexe wollte, löste er nur noch Grauen und Furcht aus.

„Bitte, lass mich aufwachen“, flehte Nellie mit zitternder Stimme und wagte es für einen kurzen Moment in Richtung der unheilvollen Augen zu sehen, die sie lauernd betrachteten.

Ein hinterhältiges Schmunzeln zeigte ihr, dass ihre Bitte nicht erhört wurde. Es schien, als würde sich das Schwarz hinter den roten Punkten verändern, jedoch nicht zum Positiven. Im Gegenteil gaben die dunklen Schwingen, die aus puren Schatten zu bestehen schienen, der Gestalt einen noch furchterregenderen Anblick.

Seit wann besaß die Hexe Flügel? In all den Jahren hat Nellie diese nie an der Schreckensgestalt bemerkt. Ob ihr Äußeres sich veränderte, wann immer sie stärker wurde? Das war eine besorgniserregende Vermutung.

Plötzlich erhellte sich die Dunkelheit neben ihr in einem Inferno aus ungezügelten Flammen, die den geschwächten Körper hungrig verschlingen wollten. Geistesgegenwärtig sprang Nellie zur Seite und stieß einen schrillen Schrei aus, während die Hitze sie überrollte. Wie ein aufgeschrecktes Reh begann sie wieder zu laufen, weit weg von dem Feuer zu kommen, das sie glücklicherweise nicht verfolgte. Doch es sollte weiterer Schrecken auf sie warten.

Ein Windstoß erfasste sie, nur kurz bevor eine Welle aus tiefschwarzem Wasser sie gegen eine unsichtbare Wand drückte und ihr die Luft zum Atmen raubte.

Ein hoher Ton erklang so laut, sodass sie ihre Hände schützend auf die schmerzenden Ohren presste. Dies sorgte dafür, dass ihre Schritte sie nur noch taumelnd trugen und sie sich nicht dagegen wehren konnte, als sich etwas um ihr Fußgelenk schlang und ihr jeglichen Halt raubte.

Ein klagender Laut verließ ihre Lippen, als Nellie auf dem harten Untergrund aufkam, aber wurde nur kurz darauf zu einem lauten Schmerzensschrei. Etwas hatte ihren Oberarm gestreift und drei blutende Schnitte auf der weichen Haut hinterlassen. Was geschah nur? Das war der schlimmste Albtraum, den sie jemals hatte und er verstärkte die Befürchtung, dass die Hexe dieses Mal gewinnen könnte.

Doch noch war das Mädchen nicht bereit zu sterben, schließlich gab es nach all den Jahren endlich einen Hoffnungsschimmer, an den sie sich klammerte. Deswegen biss Nellie fest die Zähne zusammen und versuchte die Schmerzen zu ignorieren, die sich hartnäckig in ihrem Körper ausbreiteten.

‚Hilf mir‘, flehte sie die Stimme in ihrem Kopf an, die der Ursprung ihrer Fähigkeiten war.

Wenn Nellie sie schon nicht zu kontrollieren wusste, dann musste es die Stimme können. Anders als die Horrorgestalten hat diese sich nie gegen das Mädchen gerichtet. Aber war eine Rettung überhaupt möglich, wenn ihr Ursprung der gleiche war?

Eine Antwort darauf sollte sie nicht bekommen, aber ihr Flehen wurde dennoch erhört. Gerade als sie einen alarmierenden Blick über die Schulter riskierte, sah sie in ihrem Augenwinkel ein Licht erscheinen. Furchtsam, da sie eine weitere Gefahr erwartete, schnellten ihre Augen nach vorne, weiteten sich dann vor Staunen. Das intensive Grün ihrer Iriden begann zu leuchten, als sie erkannte, was der Ausweg aus der Finsternis war.

Ein wunderschöner Garten breitete sich vor dem erschöpften Mädchen aus, der neben den mannshohen Hecken noch allerlei farbenfrohe Blumen beherbergte. Dahinter wuchsen drei Gebäude empor, die sie bisher nur auf Bildern gesehen hat, jedoch sofort erkannte. Schon lange verspürte sie das drängende Bedürfnis zu diesem Ort zu reisen, um dort Antworten auf ihre unzähligen Fragen zu bekommen. Ihn nun auch in ihrem Traum zu sehen, fühlte sich wie ein gutes Omen an.

„Nellie!“

Mit einem schwachen Kopfschütteln wollte sie die vertraute Stimme von sich schieben. Endlich war sie in Sicherheit, das konnte sie jetzt nicht aufgeben.

Wie hypnotisiert trat die Blonde mehrere kleine Schritte auf den Garten zu. Sie wollte zu dem größten Gebäude gelangen, das eine besondere Anziehungskraft auf sie ausübte.

„Wach endlich auf, Nellie!“

Erneut die besorgte Stimme, wegen der das Mädchen kurz innehielt und blinzelte. „Nancy?“

Bevor sie jedoch nach ihrer Schwester suchen konnte, ging ein Ruck durch ihren Körper und der Boden öffnete sich unter ihren Füßen. Ein erschrockener Schrei folgte dem freien Fall, den sie zu verhindern versuchte, indem sie ihre Arme nach den Hecken ausstreckte. Doch anstatt sie zu retten, entfernten sie sich nur von ihr.

„Beruhig dich doch, ich bin es.“

Keuchend riss Nellie ihre Lider auf und blickte auf die vertraute Zimmerdecke, auf die ihr Vater vor vielen Jahren unzählige kleine Sterne geklebt hat, die ihr sachte entgegen leuchteten. Durch den sanften Druck an ihren Handgelenken merkte sie, dass ihre Arme ausgestreckt waren, als wollten sie nach etwas greifen, aber stattdessen hätten sie beinahe ihre Schwester erwischt.

Langsam ließ sie ihre Arme sinken und setzte sich schwerfällig auf. Sie war dem Albtraum nochmal entkommen. Doch ein stechender Schmerz an ihrem Arm, auf den sie sich stützte, ließ sie zusammenzucken.

„Hat die Hexe dich wieder verfolgt?“, fragte Nancy mit einem missbilligenden Unterton, worauf Nellie nur schwach nickte.

Ihre Zwillingsschwester kannte diese Gestalt bereits von vielen Erzählungen und hatte sie sogar einmal persönlich zu Gesicht bekommen.

Vorsichtig schob Nellie den Ärmel ihres Nachthemdes hoch und presste weinerlich ihre Lippen aufeinander als sie die Wunden erkannte, die ihr im Traum zugefügt wurden. Nancy fielen sie ebenfalls auf, doch bevor sie die Verletzung näher betrachten konnte, schlang Nellie schluchzend die Arme um ihren Oberkörper.

Es wurde tatsächlich mit jedem Traum schlimmer. Irgendwann würde sie nicht mehr erwachen, davon war sie überzeugt. Sie könnte ihrer Verfolgerin nicht ewig davonlaufen. Vor allem nicht, wenn sie mächtiger wurde. Nellie war nicht so stark, dass sie wie heute immer und immer wieder aufstehen könnte. Was sollte sie tun, wenn sie das nächste Mal noch schlimmere Verletzungen davontragen würde?

Von der Furcht in ihrem Herzen angefacht, erstrahlte ein helles Licht von Nellies Handgelenk aus, das die Schwestern in seinen Schein hüllte. Frustriert betrachtete sie das Mal, das ihre Verletzlichkeit präsentierte. Gleichzeitig erklang neben ihrem Bett ein bekanntes Klappern. Sie brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, dass die Horrorpuppe erschienen war, die Nellie am liebsten heimsuchte, wenn sie Angst zeigte.

Sie war eine kleine Porzellanpuppe mit zerzausten schwarzen Haaren. Durch das Weiß ihrer Haut stachen die pechschwarzen Augenlöcher deutlich hervor. Ebenso wie die Blutflecken an ihrem gesamten Körper. Passend zu dem mörderischen Anblick war ihr einstmals elegantes Kleid mit weißer Schürze löchrig und hing hier und da in Fetzen hinab.

Das Furchterregendste jedoch war, dass sie sich selbstständig bewegen konnte. Wann immer sie aus dem Nichts auftauchte, war es ihr einziges Ziel Nellie zu erreichen und mit ihren kalten, steifen Fingern zu berühren. Sie war eine Figur, die aus einem Albtraum stammte und doch real für das Mädchen war.

Abschätzig sah Nancy die Illusion an, die versuchte nach der Matratze zu greifen, und schob sie achtlos von sich. Im Gegensatz zu diesem groben Verhalten verdeckte sie mit einer sanften Berührung das Mal mit der nach links geneigten Waage auf dem Handgelenk ihrer Schwester, wodurch das Leuchten gedämpft wurde. Die andere Hand legte sich auf Nellies Wange und zwang sie, zu ihr aufzusehen. Die vertraute Kälte, die von der Haut der Älteren ausging, hatte etwas Beruhigendes, sodass der stumme Tränenfluss versiegte.

„Ich werde einen Weg finden, die Hexe zu besiegen.“

Das zuversichtliche Lächeln konnte Nellie nicht erwidern, noch weniger, als ein Klopfen an ihrer Tür erklang und die Stimme ihres Vaters fragte: „Nellie? Ist alles in Ordnung?“

Alarmiert sah sie zu der Puppe, die sich wieder auf den Weg zu ihrem Bett machte und die ihr Vater sehen würde, sobald er eintrat. Auch Nancy war sich dessen bewusst, weswegen sie sofort handelte und einen Arm zur Tür streckte. Auf ihren lautlosen Befehl hin vereiste das Schloss und machte es unmöglich, den Griff zu betätigen. Gerade rechtzeitig, da das leise Rütteln verriet, dass der zweifache Vater eintreten wollte. „Mädchen? Was ist los?“

Es tat Nellie leid, die Sorge zu hören, die allein ihr galt, doch hinter das Geheimnis der beiden Andersartigen durfte er nicht kommen.

„Es ist alles okay, Dad“, antwortete die Ältere der Schwestern stattdessen, „Nellie hatte wieder einen Albtraum, aber ihr geht es gut.“

Schuldbewusst senkten sich Nellies Augen zu ihrem verletzten Arm. Sie hasste es, ihre Eltern anlügen zu müssen, aber wie sollte sie erklären, dass eine Gestalt in ihren Träumen sie regelmäßig terrorisierte und sogar in der Realität gewalttätig wurde? Das würden sie niemals verstehen können.

„Okay… Wenn du etwas brauchst, sag Bescheid, Engel.“ Zögernd erklangen die sich entfernenden Schritte von Henry.

Kapitel 1

Morrison Memorial

Maxim Pietrov

02.09.2018 – früher Nachmittag Morrison Memorial, Jungentrakt

Das alles fühlte sich wie ein Traum an. Wie einer dieser Träume, in denen man sich an magischen Orten befand und eine fremde Welt entdeckte. Oder in jenen, in denen man endlich ein lang ersehntes Ziel vor Augen hatte und seine geheimen Wünsche ausleben durfte. Trotz all der Freude oder Aufregung, die man dabei verspürte, wusste das Herz tief im Inneren immer, dass es nur Träume waren und man von einer Sekunde auf die andere in seiner bekannten Umgebung aufwachen würde.

Aber das hier war anders, so schwer es Maxim fiel, es zu realisieren. Noch vor vier Stunden war er in Deutschland gewesen und konnte sich am Flughafen kaum vor den tränenreichen Abschiedsküssen und Umarmungen seiner Mutter retten, während seine Geschwister darum wetteten, wie lange er es alleine in einem fremden Land aushalten würde. Der Mindesteinsatz waren zwei Wochen, während seine ältere Schwester ihm zumindest einen ganzen Monat zutraute.

Ein Hauch von Wehmut mischte sich in das breite Grinsen, das der Junge seit seiner Ankunft auf dem Schulgelände trug. Er war noch nie länger als eine Klassenfahrt lang von seiner Familie getrennt gewesen und er würde lügen, würde er sagen, dass er nicht bereits etwas Heimweh verspürte. Dennoch war das hier eine unglaubliche Gelegenheit, die nur wenigen Personen ermöglicht wurde. Es war eine Ehre für ihn unter den Auserwählten des Stipendiums und nun Teil einer der bekanntesten Eliteschulen der Welt zu sein. Ein gewisser Leistungsdruck machte sich bemerkbar, den er zuvor nie verspürt hat, doch Maxim war optimistisch, dass er sein Bestes geben würde.

Außerdem war er gar nicht allein, selbst wenn er viele hundert Kilometer von Zuhause entfernt war. Als wäre sein Glück nicht bereits groß genug, dass er an der Morrison Memorial School angenommen wurde, waren zwei seiner Freunde ebenfalls hier. Sie würden schon aufeinander aufpassen.

Maxim konnte die Freude, die drohte aus ihm herauszuplatzen, kaum bei sich halten und dass sein Grinsen von einem Ohr zum anderen reichte, genügte ebenfalls nicht, um das ganze Ausmaß zu erfassen. Ein letztes Mal blickte er auf das Namensschild, das neben der Zimmertür hing, hinter der er gerade seine Koffer verstaut hat. Neben den drei bekannten Namen war noch ein Fremder dabei, doch der Blondschopf hatte keine Zweifel daran, dass er sich auch mit seinem neuen Zimmergenossen gut verstehen würde.

Voller Tatendrang und unfähig seine Energie noch weiter zurückzuhalten wollte Maxim sich das Schulgelände ansehen, das in den nächsten drei Jahren sein zweites Zuhause sein würde. Am liebsten hätte er sich dafür seinen besten Freund geschnappt, der sich hier bereits auskannte, aber ihre Wege würden sich schon früh genug kreuzen.

Trotz all der Glücksgefühle, die er verspürte, entfloh ein leises Seufzen seinen Lippen. Er hatte Felix schon seit über eineinhalb Jahren nicht gesehen, da dieser plötzlich begonnen hatte sich zu distanzieren und jeden Annäherungsversuch beharrlich abzuwimmeln. Anrufe wurden weggedrückt, Nachrichten nicht beantwortet. Im Grunde war das ein deutliches Zeichen dafür, dass die Freundschaft nur noch einseitig war, aber das konnte Maxim nicht ohne eine Erklärung akzeptieren. Felix’ älterer Bruder hat ihn ermutigt, nicht aufzugeben und dem störrischen Esel ein wenig Zeit zu schenken. Das hat Maxim getan und endlich war die Zeit gekommen, dass die beiden Freunde wieder von Angesicht zu Angesicht miteinander reden konnten. Felix würde ihn nicht mehr abweisen oder die Tür verschließen können, da sie das gleiche Zimmer teilten. Es würde nun viele Gelegenheiten geben, die verlorene Zeit wieder aufzuholen.

Eine gewisse Nervosität wurde deswegen in dem gebürtigen Russen wach, weil er fürchtete, ihr Wiedersehen könnte anders verlaufen, als er es sich vorgestellt hatte, aber er wollte sich nicht die gute Stimmung ruinieren lassen und schob jegliche Bedenken vorerst zur Seite. Jetzt gab es schließlich eine neue Welt zu erkunden!

Maxims Erkundungsreise wurde jedoch schon kurz nach Beginn unterbrochen, als er den Trakt mit den Jungenschlafzimmern verließ. Fasziniert lag der Blick der leuchtenden Augen auf dem Flyer in seiner Hand, der deutlich benutzt aussah. Er hat ihn den ganzen Flug über wie einen Glücksbringer in Händen gehalten und so oft durchgelesen, dass er jedes Wort darauf auswendig konnte. Dennoch konnte sich der Blondschopf nicht an den aufgedruckten Bildern sattsehen und überlegte bereits, welchen dieser noch unbekannten Orte er zuerst aufsuchen sollte. Da spürte er bereits ein Hindernis, bevor er die Türschwelle hinter sich lassen konnte.

Erschrocken richteten sich die Pupillen auf sein Gegenüber. Kaum setzte er zu einer Entschuldigung an, wurde ihm bereits heftig ins Wort gefallen. „Bist du blind?!“

Erstaunt über diese offensichtliche Feindseligkeit, verstummte Maxim und kam nicht umhin den kleineren Jungen vor sich schweigend anzublinzeln. Die Kapuze des dunklen Hoodies verbarg einen Teil des Gesichts, sodass er sich ein wenig vorbeugen musste, um dem anderen in die Augen sehen zu können. Der stechende Blick der haselnussbraunen Iris gab ihm das Gefühl, dass er diese Begegnung lieber nicht hätte machen sollen. Aber Maxim vermutete, dass er den Kleineren nur auf dem falschen Fuß erwischt hatte. Wer wurde schon gerne angerempelt?

„Tut mir leid, manchmal bin ich wirklich blind“, setzte er wieder ein munteres Grinsen auf und streckte dem Fremden eine Hand entgegen. „Ich bin Maxim, aber aber alle nennen mich Max.“

„Interessiert mich nicht.“

Barsch wurde der Blondschopf erneut unterbrochen und grob zur Seite geschoben, damit er den Eingang zum Jungentrakt nicht mehr versperrte.

Mit leisem Schnauben sah Max dem unhöflichen Kerl noch nach, während die Tür erneut ins Schloss fiel. Vermutlich gab es sogar auf Eliteinternaten Schüler, die nicht zu der sozialen Sorte gehörten und denen man lieber aus dem Weg gehen sollte. Max hoffte zwar insgeheim, dass das nicht sein unbekannter Zimmergenosse war, doch beeindrucken ließ er sich davon nicht. Er war mürrische Gesellschaft gewohnt und würde es schon irgendwie schaffen, diese unfreundliche Fassade zu durchbrechen. Manche brauchten Zeit, um aufzutauen. Nichts, wovon er sich abschrecken ließ.

Diese unerfreuliche Begegnung bereits verdaut, machte er sich wieder auf den Weg seine Erkundungstour fortzusetzen. Sein erstes Ziel war das Hauptgebäude, dessen spitzes Dach mit der antik wirkenden Uhr von jedem Ort des Geländes zu sehen war. Vorhin war Max bereits dort gewesen, um sich im Sekretariat anzumelden, doch viel außer den Gängen und ein paar Türen hatte er nicht sehen können.

Die öffentlichen Räume, die für jeden Schüler zugänglich waren, befanden sich im Erdgeschoss. Ein Schild verwies bereits auf eine Mensa, in der die Schüler laut Flyer täglich frische Mahlzeiten serviert bekamen. Da die Lernenden aus aller Welt anreisten, wechselte das wöchentliche Angebot internationaler Speisen. So war für jeden Geschmack etwas dabei.

Neben einer Bibliothek mit einer stattlichen Auswahl an Büchern sowie einem Gemeinschaftsraum wurden noch einige andere Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung und Lernentwicklung angepriesen. Die einzelnen AGs planten themenbezogene Ausflüge und über das Jahr verteilt starteten Lehrer frei auswählbare Unternehmungen mit Schülern, um das Vertrauen in sie als Bezugspersonen zu stärken. Es sollte das Gefühl entstehen, dass die Morrison Memorial School nicht nur eine Schule war, sondern ein zweites Zuhause.

Max konnte es kaum erwarten alle Ecken des Schulgebäudes zu erkunden und malte sich bereits aus, wie es sein würde, in diesen frisch renovierten Gemäuern zu leben. Obwohl sowohl das Hauptgebäude, als auch beide Schlaftrakte nach außen hin  alt wirkten und einen nostalgischen Eindruck machten, war die Inneneinrichtung modern und gemütlich. Es wurde darauf geachtet, dass die Schüler sich wohlfühlten. Einzig die Eingangshalle, die nicht nur wegweisende Schilder, sondern auch ein schwarzes Brett sowie viele Aushänge bereithielt, zeigte mit den hohen Decken und dem bunten Kachelboden, wie das Internat noch vor vielen Jahren ausgesehen haben musste. Dennoch fügte es sich gut zu einem Gesamtbild, wie Max fand. Der Unterschied zu deutschen Schulen war enorm und der hohe Standard kristallisierte sich schon nach kurzer Zeit heraus. Noch immer war es für den 17-Jährigen schwer zu begreifen, dass er tatsächlich für drei Jahre an diesem fantastischen Ort leben und lernen würde dürfen.

„Entschuldigung?“

Es fiel Max schwer seinen staunenden Blick von der Eingangshalle zu reißen, obwohl er bereits Minuten damit verbracht hat, diesen Wandel zu begreifen. Dennoch wandte er sich der Quelle der weiblichen Stimme zu und sah direkt in das Gesicht eines Mädchens, deren große braunen Augen ihn neugierig musterten.

„Bist du zufällig auch neu hier?“, fragte sie und deutete mit einem Nicken auf den Flyer in Maxims Händen, ehe sie den gleichen – bloß in besserer Verfassung – anhob und verlegen grinste. „Hast du Lust dir die Schule gemeinsam anzusehen? Ich habe einen schrecklichen Orientierungssinn und werde mich sicher im Garten verirren, wenn niemand auf mich aufpasst.“

Max unterdrückte ein Schmunzeln und nickte stattdessen erfreut. Nach dem ungemütlichen Treffen mit dem Hoodie-Jungen war er erleichtert, dass es neben ihm auch noch weitere Schüler gab, die offen auf andere zugehen konnten. Daher zögerte er auch nicht zu antworten: „Gerne! Ich war eh auf der Suche nach Gesellschaft.“

Das Mädchen, das sich als Lilly vorstellte, begann sogleich zu strahlen und schien froh darüber zu sein, jemanden gefunden zu haben, der sie davon abhielt für immer in den Tiefen des Gartens verloren zu gehen. Er konnte zwar nicht versprechen, dass er sich problemlos zurechtfand, aber was könnte ihnen hier schon geschehen, außer dass sie das Abendessen verpassten?

Nancy Taylor

02.09.2018 – früher Nachmittag Morrison Memorial, Hauptgebäude

Nur noch langsam zogen die Bäume an ihr vorbei. Die grünen Augen bewegten sich gleichmäßig, um neue Punkte in der Umgebung zu fixieren. Nichts verdeutlichte schwindende Momente mehr, als sie während des Autofahrens an sich vorbeiziehen zu sehen.

Hinter ihr lag ein langer Flug von Kalifornien nach London mit nachfolgender Autofahrt zum Internat, die sie dank des geringen Verkehrsaufkommens außerhalb der Stadt zügig zurücklegen konnten. Es waren nur noch ein paar wenige Kilometer, die Nancy und ihre Zwillingsschwester von ihrem neuen Zuhause auf Zeit trennten. Sie konnte noch immer nicht davon sprechen, dass sie angespannt wegen der neuen Umgebung und den damit einhergehenden Veränderungen war. Nur die Wehmut, ihre alte Schule zurücklassen zu müssen, breitete sich langsam in ihren Gedanken aus.

Das Internatsgebäude erschien in ihrem Sichtfeld, das durch die angeordneten Bäume in helle und dunkle Farbtöne wechselte. Für viele mochte das Lichtspiel der Alleen eine Belastung für die Augen darstellen, für die blonde 17-Jährige stellte dies jedoch kein Problem dar. Seit sechs Jahren war sie durch ihre Verwandlung zu einer Andersartigen nicht nur mit besonderen Kräften ausgestattet, sondern auch mit einem viel besseren Sehvermögen gesegnet. Während sie die Andersartigkeit als Bereicherung für ihr Leben betrachtete, erging es ihrer Zwillingsschwester anders, die seit dem Tag dieser einschneidenden Veränderung unter ihren Fähigkeiten litt.

Mit einem lautlosen Seufzen senkte Nancy ihre Augenlider und sah ihrem Vater dabei zu, wie er an den Knöpfen der Klimaanlage drehte. Nancy, deren Körper auf jegliche Art von Wärme reagierte, hat mittlerweile gelernt, die Temperatur nahe ihres Körpers bis zu einem gewissen Grad selbstständig abzukühlen, um keine unschönen Flecken auf ihrer hellen, fast weißen Haut zu riskieren. Es war nicht immer leicht, das Geheimnis ihres kalten Körpers vor ihrer Familie zu schützen, doch die zweieiigen Zwillinge haben gemeinsam entschieden, dass die Andersartigkeit eine Sache zwischen ihnen bleiben musste, um ihre Lieben nicht zu verunsichern.

Als sie den Blick nur flüchtig hob, erkannte sie im Außenspiegel ihre Schwester, deren giftgrünen Augen sich nicht zu entscheiden vermochten, ob sie auf die unruhig spielenden Hände in ihrem Schoß oder auf das Geschehen hinter dem Fenster achten sollten. Fahrig glitten ihre Finger dabei immer wieder durch ihren blonden Haarschopf und ihre sonst weichen und gütigen Gesichtszüge waren so verunsichert, dass Nancy sich nicht anstrengen musste, um zu erkennen, dass Nellie unsagbar nervös war. In diesem Fall wusste die ältere der Zwillinge aber, dass es eine gute Art von Anspannung war. Es war Nellies sehnlichster Wunsch, die Morrison Memorial School zu besuchen. Für Nancy war es deshalb nicht infrage gekommen, ihre Schwester mit ihrem Vorhaben allein zu lassen und so hatte sie sich dazu entschieden, Nellie dabei zu unterstützen, ihre Eltern von einem Besuch des Londoner Internats zu überzeugen.

Im Hinblick auf ihre alte Schule bedauerte Nancy die Entscheidung insgeheim, doch sie stellte ihre Interessen gerne hinter Nellies Wohlergehen. Das war für die Andersartige viel bedeutender als ein Schulzeugnis der angesehensten Schule Kaliforniens.

Nicht daran denkend, Nellie mit ihrer Schwermütigkeit zu belasten, wandte sie ihren Blick ab und klappte den Blendschutz nach unten. Der angebrachte Spiegel half Nancy dabei, das Make-up zu überprüfen, das ihr schmales Gesicht edel in Szene zu setzen wusste. Leicht reflektierend schimmerte das bronzefarbene Rouge auf ihren Wangen, das abgestimmt zu dem zart goldenen Highlighter ihrer Augenlider war. Die tiefschwarze Wimpernfarbe setzte weitere Akzente, die sie in ihrer gesamten Erscheinung etwas älter wirken ließ als ihren Zwilling. Ihre Frisur abschließend kontrollierend, drehte sie ihren Kopf etwas zur Seite und fasste mit der Hand in das hellblonde gelockte Haar, um mit sanftem Druck nach oben das Volumen zu begünstigen.

„Wenn ich mal meine Meinung äußern dürfte, du siehst fabelhaft aus.“

Mit einem hörbaren Schmunzeln ließ Nancy die Hand sinken und schob den Blendschutz wieder zurück: „Sehr objektiv von dir, Dad“, erwiderte sie und betonte das letzte Wort säuselnd.

„Euer Onkel hat schon recht, wenn er sagt, dass ihr uns viel zu schnell erwachsen werdet.“ Henry seufzte, ließ seine Töchter aber mit einem munteren Lächeln auf den Lippen wissen, dass es ihn nicht traurig stimmte, mitzuerleben, wie aus ihr und Nellie junge Frauen wurden. „Und ehe Emily und ich uns versehen, seid ihr aus der Schule und macht uns damit deutlich, dass wir wirklich alt werden.“

„Aber Dad“, mischte sich Nellie mit leiser, amüsierter Stimme ein, die in ihrem Unterton auch ein wenig tadelnd klang. „Ihr seid im besten Alter und weit davon entfernt alt zu werden!“

Nancy stimmte ihrer Schwester mit einem bekräftigenden Nicken zu und beobachtete, wie der zweifache Vater seine Tochter durch den Innenspiegel liebevoll anlächelte.

„Danke, mein Engel.“ Dennoch verließ ein schweres Seufzen seine Lippen, gefolgt von einem amüsierten Schmunzeln. „Ohne euch wird es so ruhig werden. Ich werde es vermissen, jeden Tag Mace zu hören.”

Neckisch funkelten seine Augen zu der Jüngsten, die mit verlegener Röte den Blick senkte. Nancy betrachtete die Reaktion zärtlich. Jeder in der Familie kannte die Texte ihres Lieblingssängers bereits auswendig, aber keiner störte sich daran. Nancy wusste, dass Nellie diese Musik brauchte, wenn es ihr schlecht ging, und davon hatte es in der vergangenen Zeit zu viele Tage gegeben. Ihr würde es guttun, Ablenkung durch die Morrison Memorial School zu bekommen.

Nancy bemerkte, wie sich das Auto deutlich verlangsamte und der Parkplatz des Internats näher kam. Trotz ausgewiesener Reservierungen bot sich ein Platz zwischen anderen parkenden Autos unter einem schattenspendenden Baum, unter dem Henry den Leihwagen abstellte.

„Da wären wir.“

Kaum war der Motor verstummt, nahm der Familienvater die Hände vom Lenkrad. Nancy sah sich mit seinem liebevollen Blick konfrontiert und ahnte bereits, was er jetzt sagen wollte. Deshalb sprach sie das ermahnende „Dad“ auch im Interesse ihrer Zwillingsschwester aus.

„Noch könnt ihr es euch überlegen.“

Über den Rückspiegel tauschten die Schwestern einen belustigten Blick und Nellie schüttelte sogar den Kopf über ihren Vater.

„Schon gut“, sagte Henry und hob abwehrend die Hände, wirkte durch die Entschlossenheit seiner Tochter besänftigt, „aber ich habe es euch angeboten.“

„Wir kommen schon zurecht“, versicherte Nancy ihm abermals und stieg als Erste aus dem Auto.

Ein kühler Wind schlug ihr entgegen und bauschte ihre langen Haare auf, die sie nur zögerlich auf einer Seite hinters Ohr strich, zu abgelenkt war sie vom Anblick des Internats. In der Broschüre und im Internet gab es einige Bilder von außen und den Innenräumen des Gebäudes, dennoch wirkte dieser Ort in der Realität sehr viel einnehmender als Nancy es für möglich gehalten hätte. Sollte Nellie recht behalten? Hatte das Internat tatsächlich mit der Andersartigkeit zu tun?

„Es sieht noch viel beeindruckender aus als auf den Bildern.“

Durch Nellies ausgesprochene Faszination beendete Nancy den Versuch ihrer gedanklichen Stimme zu lauschen und beließ es dabei, dass ihr die neue Schule bereits jetzt das sichere Gefühl vermittelte angekommen zu sein. Wenn es sich für Nellie mindestens genauso anfühlte, konnte sie ihre geschundene Seele endlich heilen lassen und der Schulwechsel hätte sich gelohnt.

„Na, wie gefällt es euch?“, erkundigte Henry sich bei seinen Töchtern, woraufhin Nancys Blick entschlossen seine Augen suchten, die auf das Gepäck im Kofferraum aufmerksam machten. Der zweifache Vater lud die zwei schweren Koffer aus, wogegen seine Töchter sich nur um jeweils eine Tasche kümmern mussten.

Während Nellie begeistert schwärmte, betrachtete Nancy schweigend das Gelände und fiel hinter den beiden ein Stück zurück. Die auffallend große Uhr, die am mehrstöckigen Hauptgebäude angebracht war, würde sie als kennzeichnend für England betiteln. Die Außenfassade der Gebäude auf dem Grundstück beurteilte sie als gepflegt und es ließ sich erkennen, dass der Direktor um Ansehnlichkeit des äußeren Erscheinungsbildes seiner Privatschule bemüht war. Durch die Broschüre wusste sie, dass die rechte Seite den Mädchentrakt darstellte, weswegen sie diesem besondere Aufmerksamkeit schenkte. Die Doppeltür war bei beiden Trakten, die sich parallel gegenüber standen, einladend geöffnet und bei genauerem Hinsehen konnte sie die eine oder andere Person an den Fenstern vorbeihuschen sehen.

Vereinzelt fanden sich üppige Laubbäume im Innenhof, unter denen Bänke aufgestellt waren und den Sitzenden Schatten spendeten. Nancy konnte sich vorstellen, abends hier zu sitzen und den Tag in aller Ruhe ausklingen zu lassen. Würde sie nicht die gewünschte Stille finden können, bot das Schulgelände auch noch einen großen Wald, der sich hinter dem Mädchentrakt befand und dessen Größe sie nur abschätzen und nicht mit bloßem Auge erfassen konnte. Dazu war das ganze Gelände viel zu weitläufig. Es bot für Schüler die optimale Bedingung, sich nicht eingesperrt zu fühlen. Dieses Vorurteil von Internaten war weit verbreitet und auch Nancy hatte im ersten Moment daran gedacht, als Nellie sie mit dem Wunsch konfrontiert hat, auf die Morrison Memorial School gehen zu wollen.

Der Innenhof endete mit der Eingangshalle und verneigte sich auf diese Weise vor dem eindrucksvollen Hauptgebäude. Nancy, die zu ihrem Vater und ihrer Schwester aufgeschlossen hatte, betrat gleichzeitig mit ihnen die Halle und das Erste, was ihr auffiel, war der zarte Geruch von Blumen. Schnell war die Quelle des Duftes entdeckt. Auf jeder Fensterbank verteilt standen liebevoll hergerichtete Vasen mit Magnolien.

Eine große Willkommenstafel war an einer der Säulen angebracht, auf denen sich der schwere Beton des alten Bauwerks stützte. Überall gab es kleinere Nischen, in die Laternen gestellt wurden und die von verschnörkelten Mustern an den Wänden umrahmt waren. Ein glanzvoller Teppich schmückte die verschiedenen Gänge, die man von der Eingangshalle aus erreichen konnte.

„Es sieht alles so edel aus.“ Nellie kam nicht mehr aus dem Staunen heraus.

Die Eingangshalle würde Nancy nicht für eine Schule halten. Sie glich in ihren Augen eher einem festlich geschmückten Vestibül.

Ihrer Zwillingsschwester knapp zustimmend, richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf die Tafel, auf der die Stockwerke und die Räumlichkeiten aufgeführt waren. Henry tat es seiner Tochter gleich und stellte die zwei Koffer neben sich ab, um ihnen Zeit zu geben, alles in Ruhe anzusehen.

„Das Büro von Mr. Barnheim befindet sich im ersten Stock“, stellte Nancy fest.

Ihre Augen wanderten deshalb die Treppen hinauf, während sie Nellie weiter zuhörte, wie sie sich an den schönen Kleinigkeiten der Eingangshalle erfreute. Nancy konnte sie nichts vormachen, sie schaffte es ihren Zwilling problemlos zu lesen und wusste, dass sie versuchte, ihre Unsicherheit zu überspielen.

Den Blick wieder zur Tafel gewandt, um sich über die Räumlichkeiten zu informieren, bemerkte Nancy durch das plötzliche Verstummen ihrer Schwester, dass sich jemand nähern musste. Ein schwarzhaariger Junge, schlank und etwa in ihrem Alter, lief eilig die Treppen herab und hielt sich das Handy ans rechte Ohr. Er strich sich eine der halblangen Strähnen aus dem Gesicht, die ihm schräg über seine Stirn fielen.

Nancy sah, wie er seinen Mund bewegte und sich erbost über etwas ereiferte. Er drückte sich in deutscher Sprache aus, weshalb die hellblonde Amerikanerin nicht alles verstehen konnte. Nellie genügten der scharfe Tonfall und die wütenden Gesichtszüge des Fremden, um bestürzt die eigene Miene zu verziehen. Der Junge war definitiv nicht gekommen, um Neuankömmlinge willkommen zu heißen.

Als er fast im Erdgeschoss bei ihnen angelangt war, erfuhr Nancy den Grund für die schlechte Laune: Er war nicht freiwillig auf dem Internat. Gehässig wechselte der Junge in die englische Sprache und betonte, dass er diese schulische Einrichtung für eine Irrenanstalt hielt. Wollte er die Neulinge dadurch warnen? Abschreckend wirkte für Nancy bisher einzig der Fremde.

Der Deutsche schenkte ihnen keinerlei Beachtung, während er von hör- und sichtbarem Missmut begleitet wie ein kläffender Hund in sein Handy schimpfte und ausweichend auf den Boden schaute. Mit schnellen Schritten verließ er die Eingangshalle und hinterließ eine betroffene Nellie.

Nancy ging auf ihre Schwester zu und legte ihr beruhigend eine Hand an den Rücken. „Es kann nicht jedem hier gefallen.“

Das aufmunternde Lächeln schaffte es, Nellie zu erreichen, die zwar nur schwach nickte, nach Henrys ironischer Bemerkung aber auch leise lachen musste. „Scheint ja ein richtiger Sonnenschein zu sein, der Junge. Aber jetzt kommt, lasst uns diese Anstalt weiter besichtigen.“

Die Gelassenheit von Henry überraschte Nancy nicht. Als Mediziner war er es gewohnt, viele neue Menschen mit ihren ganz speziellen, merkwürdigen Verhaltensweisen kennenzulernen, sodass ihn das nicht schocken konnte. Auch Nancy blendete den schlecht gelaunten Bengel gekonnt aus und hoffte, dass auch Nellie sich durch das unfreundliche Verhalten nicht irritieren ließ. Ihre Schwester hatte große Hoffnungen und eine so gute Meinung über das Internat, die sie wegen der Begegnung mit dem Jungen nicht über Bord werfen sollte.

Der Gang im ersten Stock führte sie an mehreren verschlossenen Türen vorbei, die Nancy aufmerksam betrachtete. Auf den Metallschildern befanden sich die Namen, die ihr anhand der zugesandten Unterlagen, bereits vertraut waren.

Als sie ihren Blick wieder nach vorne richtete, erkannte sie eine ältere, kleine Dame, die vor der nächsten Tür den Kopierer bediente, der im Flur für alle zugänglich stand. In der freien Hand hielt sie einen Stapel Papiere fest und machte einen gehetzten Eindruck auf Nancy. Die Eile führte schließlich dazu, dass sie die Blätter achtlos ablegte, die gleich darauf von der Ablage rutschten. In Sekundenschnelle waren die Papiere schwebend zu Boden gesegelt und entlockten der Frau mit der kurzen, rötlichen Dauerwelle ein überfordertes Seufzen.

„Warten Sie, ich helfe Ihnen!“

Nancys Vater schritt sofort zur Tat und eilte zu der Dame, um ihr beim Aufheben der Unterlagen behilflich zu sein. Auch Nellie und sie reagierten höflich, wenngleich Nancys Reaktion zurückhaltender ausfiel. Trotzdem klaubte auch sie einige der Blätter auf und reichte sie der Frau, die sich mit einem erfreuten Lächeln bei ihren Helfern bedankte: „Das ist wirklich sehr nett von euch.“

„Misses Farrell?“ Ihr Vater erkannte die Stimme der Dame und ließ die Andere mit seiner Vorstellung nicht lange im Unklaren, „Mein Name ist Henry Taylor. Wir haben telefoniert.“ Henry reichte der Sekretärin zur Begrüßung die Hand und auch Nancy erkannte in ihr die Büroangestellte, mit der ihr Vater schon mehrere Telefonate geführt hat.

„Ah…, ja natürlich, Mister Taylor!“

Es dauerte nicht lange, bis die ältere Dame sie als die Neuankömmlinge aus Kalifornien erkannte und ihnen ein herzliches Lächeln schenkte.

„Ich werde Mister Barnheim sofort Bescheid geben, dass Sie angekommen sind.“

„Nur keine Eile. Herzlichen Dank“, erwiderte Henry knapp und wartete, bis sie zurück ins Sekretariat ging. Er schob derweil die schweren Koffer zur Wand, die er wegen seines beherzten Einsatzes mitten im Gang hatte fallen lassen.

Eingeschüchtert und überwältigt von den neuen Eindrücken, die erwartet und dennoch überraschend schnell vonstatten gingen, suchte Nellie nach Nancys Blick und sagte unsicher: „Mrs. Farrell scheint nett zu sein.“

Tatsächlich strahlte die ältere Sekretärin eine mütterliche Art aus und erinnerte Nancy an ihre eigene Großmutter, die sich tränenreich von den Zwillingen verabschiedet hatte. Nellie und sie hatten ihr versichern müssen, ihr mindestens einmal im Monat einen langen Brief zu schreiben und ihr vom Internat und ihrem Leben im fremden Land zu berichten. Auch Bilder wollten sie ihr schicken. Während des Flugs hat sie schon davon erzählt, sich so bald wie möglich die London Bridge und den Buckingham Palace aus nächster Nähe ansehen zu wollen.

Mit einem zärtlichen Lächeln auf den Lippen wandte sie sich Nellie vollständig zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie sachte zu sich zu drehen und ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen.

„Und der Rest wird es ganz sicher auch sein“, wusste Nancy zu antworten, um ein paar der nagenden Zweifel zu beseitigen.

Die Hand von der Schulter ihrer Schwester lösend strich sie ihr eine der welligen Haarsträhnen zurück, die sanft auf ihre Schulter glitten.

„Natürlich abgesehen von diesem Proleten von eben“, merkte Nancy mit erheitert klingender Stimme an, darauf abzielend in das ähnliche Gesicht ein Lächeln zu zaubern.

„Vielleicht ist er nur überfordert mit der neuen Situation und hat Angst“, verteidigte Nellie den schwarzhaarigen Jungen zweifelnd.

Nancy belächelte den Versuch liebevoll. Nellie war zu gut für diese Welt und wäre gar nicht imstande dazu, über jemanden etwas Böses zu denken.

Nur wenige Augenblicke später kehrte Mrs. Farrell mit dem Direktor des Internats zurück, dessen Erscheinungsbild einen sehr seriösen und adretten Eindruck erweckte. Seine Gesichtszüge wirkten ernst, was die Brille mit schmalem Rahmen zusätzlich verstärkte und die kantigen Wangenknochen hervorhob. Das ergraute Haar war ordentlich zurückgekämmt und ein grauer Bart, abgegrenzt an Wange und Kinn, rundete das Gesicht ab. Die breiten Schultern verstärkten sein autoritäres Auftreten.

„Mister Taylor, es freut mich sehr, Sie und Ihre Töchter heute persönlich kennenzulernen.“

Trotz der hart anmutenden Gesichtszüge schmückte sein Gesicht ein ehrliches Lächeln, als sie einander zur Begrüßung die Hand reichten.

„Folgen Sie mir doch bitte in mein Büro, dort können wir uns weiter unterhalten.“

Nancy ließ Nellie den Vortritt dem Direktor zu folgen und wollte das Schlusslicht bilden, doch dazu kam es erst gar nicht, da sich der schwarzhaarige Junge von eben energisch an ihnen vorbeidrängte.

„Das können Sie nicht machen!“, beschwerte er sich, nachdem Mr. Barnheim den neuesten Besucher bemerkt hatte, „Ich möchte sofort ein anderes Zimmer zugeteilt bekommen.“

Nancy hob erstaunt die Augenbrauen und tauschte einen verständnislosen Blick mit ihrer Schwester. Da er bei dem Telefonat mit seinem Erziehungsberechtigten, wie Nancy vermutete, seine Abneigung gegen das Internat ohne Umschweife geäußert hatte, suchte der Deutsche anscheinend Gründe, um sich zu beschweren.

„Nun, Felix“, setzte Mr. Barnheim ruhig an, „Du weißt, dass das Kollegium über die Zimmerverteilung entscheidet und wir Wünsche nicht berücksichtigen können.“

„Das ist mir völlig egal. Ich schlafe jedenfalls nicht in diesem Zimmer!“ Er wandte sich trotzig ab, wodurch sich Nancys und sein Blick einen kurzen Moment trafen.

Der Junge hatte auffallend helle blaue Augen, die durch die schwarzen Haare noch mehr herausstachen und die noch bubenhaften Gesichtszüge verstärkten.

Leise hörte sie, wie sich ihr Vater bei Mr. Barnheim erkundigte, ob sein Wunsch dennoch berücksichtigt werden konnte, Nellie und Nancy in einem gemeinsamen Zimmer unterzubringen. Zum Leidwesen aller bewies auch Felix gute Ohren und griff mit einem gehässigen „Ach“ das Gespräch wieder auf.

Nancy konnte die Wut des Schülers regelrecht spüren und die Feindseligkeit in den hellblauen Augen erkennen, als dieser wieder auf den Direktor zutrat, die Hand in Nellies und ihre Richtung ausstreckend.

„Offenbar können doch Wünsche berücksichtigt werden. Warum ist es bei den beiden möglich?“

Auf eine Erklärung lauernd, lag auch Nancys Blick auf dem Direktor, der sich trotz Felix’ Verhalten nicht aus der Ruhe bringen ließ. Im Internet hatte sie über ihn gelesen, dass sich Mr. Barnheim durch sein geruhsames Wesen auszeichnete und Konfliktsituationen mit Geduld und Verständnis lösen konnte. Dass er den Zwillingen seine Erfahrung als Leiter des Internats so früh beweisen musste, hatte die hellblonde Amerikanerin nicht erwartet. Dies löste eine gewisse Erwartungshaltung in ihr aus, die dem Besitzer dieser privaten Einrichtung keine Vorschusslorbeeren durch unbestimmte Bewertungen und Beschreibungen im Internet erteilen wollte.

„Es ist kein anderes Zimmer in eurem Trakt frei. Allerdings gibt es bei den Mädchen noch unbesetzte Betten. Wenn du also unbedingt der Meinung bist, umziehen zu müssen, steht es dir frei, dich im Mädchentrakt einzuquartieren.“

Obwohl Mr. Barnheim so gefasst erschien, glaubte die Andersartige seiner Aussage einen süffisanten Ton entnehmen zu können. Nancy konnte Felix’ Gesicht nicht vollständig sehen, weil sie schräg hinter ihm stand und nur sein Profil einfangen konnte, aber das genügte, um zu erfassen, dass dieser Vorschlag nicht auf Begeisterung stieß. Ob die dezente Provokation in diesem Fall das richtige Mittel war, um Felix’ Gemüt abzukühlen, vermochte Nancy nicht zu sagen und hielt Mr. Barnheims nächsten Worte deshalb für angemessener.

Die kurze Auseinandersetzung reichte aus, um Nellies Arm an ihrem zu spüren, die sich ängstlich neben sie gestellt hat und sich nicht traute, einen der Anwesenden direkt anzusehen. Die angespannte Situation war belastend für Nellie, nicht zuletzt, weil Felix auch zu der Sorte Andersartiger zu gehören schien, die sich nicht durch friedvolles Miteinander auszeichneten. Nancys innere Stimme blieb in dessen Gegenwart ruhig, was das sichere Indiz dafür war, dass er zur selben Gesinnung wie sie gehörte: den feindseligen Impater. Denen gegenüber standen die Parcatis, zu denen ihre Schwester zählte. Hatte ihre Stimme noch kurz nach ihrer Verwandlung zur Andersartigen im Beisein von Nellie regelrecht geschrien und wegen der gegensätzlichen Art Alarm geschlagen, war sie nun seit Jahren verstummt. Schon seit ihrer Kindheit hat Nancy sich um ihren Zwilling gekümmert, sie gestärkt und ihr Halt gegeben, weswegen sie nicht zugelassen hatte, dass die schwesterliche Liebe für Nellie durch die Andersartigkeit beeinflusst wurde.

„Das Gespräch ist beendet, Felix. Wir können nach meinem Termin gerne noch einmal in Ruhe darüber reden, aber die Zimmerverteilung bleibt bestehen, auch wenn sie nicht deinem Wunsch entspricht.“

Er ließ dem schwarzhaarigen Jungen nicht noch einmal die Chance, den Besuchern und dem Direktor dazwischenzufunken, sondern richtete seine Worte an Nancys Vater: „Entschuldigen Sie bitte die unvorhergesehene Unterbrechung.“

Während Mr. Barnheim mit Henry nach der Verzögerung das Sekretariat betrat, wollten auch Nancy und ihr Zwilling ihnen folgen. Wäre da nicht immer noch Felix, der zu zögern schien, ob er dem Schulleiter einfach folgen oder es erstmal auf sich beruhen lassen sollte.

Nancy legte ihre Tasche neben den beiden Koffern an der Seite ab und richtete ihren gebeugten Oberkörper ruckartig auf, als Nellies zaghafte Stimme erklang, die sich bei Felix erkundigte, ob alles in Ordnung sei. Sofort verfinsterte sich der Blick der blonden Impater. Statt die Hilfsbereitschaft dankbar schätzen zu wissen, murmelte der Schwarzhaarige maulend: „Auch das noch.“

Dass sich dies aber nicht auf Nellie, sondern auf den Jungen bezog, der sich ihnen näherte und allem Anschein nach auch zum Direktor wollte, stellte sich kurz danach heraus, indem Nancy Felix’ Blick beiläufig folgte. Kaum auf den Neuankömmling aufmerksam geworden, stellte die Amerikanerin eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Gesichtszügen der beiden Jungen fest. Ihre Haarfarben dagegen standen in starkem Kontrast zueinander. Hell und Dunkel.

Die Überlegung an eine mögliche Verbindung verwarf sie uninteressiert, als ihre Stimme ihr eine Abneigung gegen den blonden Jungen zuzuflüstern versuchte. So penetrant wie die Beeinflussung sich bemühte, musste Nancy davon ausgehen, dass es sich bei ihm nicht nur um einen gewöhnlichen Menschen, sondern um einen Parcatis handelte.

Diese Vermutung sprach sie nicht laut aus und nahm lediglich mit einem knappen Nicken als Antwort auf seinen freundlichen Gruß von seiner Anwesenheit Notiz. Nellie erwiderte jenen mit einem schüchternen „Hallo.“

Nur beiläufig nahm Nancy zur Kenntnis, dass trotz der ähnlichen Mimik der Blonde älter als Felix aussah und ein Stück größer war. Auch an dessen Ausdruck zeichneten sich sichtbare Unterschiede ab, die bei Nancy einen eher belustigenden Effekt erzielten.

Felix’ Mund war zu einem unbegeisterten Schmollen geformt und die hellblauen Augen funkelten die dunkleren böswillig an, als wäre er ein Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand. Der Größere hingegen teilte ihm mit, dass er sich freute, ihn wiederzusehen und breitete die Arme zu einer Umarmung aus.

„Komm, Dad wartet sicher schon auf uns.“ Nancy wandte sich an ihre Schwester und wollte sich von den beiden Jungs entfernen, um nicht etwas von der Lava abzubekommen, wenn der Vulkan tatsächlich ausbrach.

Sie wartete geduldig darauf, dass Nellie ihre Tasche zu dem anderen Gepäck stellte. Leider bewahrheitete sich Nancys Befürchtung und das Unglück nahm innerhalb einer winzigen Sekunde seinen Lauf, ohne dass sie es verhindern konnte.

Das hörbare Schnauben von Felix bildete eine perfekte Symbiose mit der abwehrenden Armbewegung, die genug Kraft hatte, den Blonden von sich zu stoßen. Der Größere versuchte Halt an der Wand zu finden und stützte seine Arme nach hinten ab. Dabei stieß er an Nellie, der die Tasche von der Schulter glitt und die gegen die Wand gedrückt wurde. Alarmiert durch den erschrockenen Laut ihrer Schwester eilte Nancy zu ihr.

„Idiot!“, schimpfte sie über den flüchtenden Impater.

Es passte ihr nicht, unfreiwillig in fremde Konflikte hineingezogen zu werden, die sie weder interessierten noch etwas angingen. Für die kontrollierte und stets gefasste Amerikanerin stellte es ein Unding dar, sich so flegelhaft zu benehmen. Ihre Meinung über diesen Felix sank ins Bodenlose.

„Wir bezeichnen ihn eher als Kobold, wenn er sich so benimmt“, entgegnete der blonde Junge scherzhaft auf die Beleidigung, die Nancy Felix hinterhergeworfen hat. Mit einem verlegenen Schmunzeln versuchte er die Situation noch zu retten. „Ich muss mich für meinen Bruder entschuldigen. Er… freut sich nur so unbändig mich zu sehen.“

Ein Fakt, der kaum zu übersehen war und zu dem Nancy Stellung beziehen wollte, wenn ihr ihre Zwillingsschwester nicht zuvorgekommen wäre.

„I-ist ja nichts passiert“, erwiderte Nellie schnell und freute sich über die Hilfsbereitschaft des Blonden, der ihr mit den Taschen half und sich besorgt vergewisserte, dass ihr durch den abrupten Zusammenstoß nichts geschehen war.

„Du solltest ihn besser einfangen, bevor er mit seiner Freude noch irgendwen versehentlich die Treppe hinunterstößt“, reagierte Nancy schnippisch auf den völlig unpassenden und deplatzierten Kommentar, an dem sie nichts Lustiges finden konnte.

Mit dieser Entgegnung schien der Blonde nicht gerechnet zu haben und blinzelte sie erstaunt an. Ausdruckslos trafen die grünen Augen auf die blauen ihres Gegenübers. Seine Mundwinkel zuckten schwach und offenbarten anschließend ein selbstbewusstes Lächeln. „Du hast recht. Mister Barnheim scheint sowieso noch beschäftigt zu sein.“ Und somit verabschiedete er sich von den Zwillingen. „Dann werd ich ihm mal hinterhergehen, bevor er wirklich noch was anstellt. Man sieht sich.“

Nancy verzog keine Miene, als er an ihr vorbeiging. Sie wollte den Gedanken an die ungleichen Brüder erstmal beiseiteschieben, auch wenn Nellie kleinlaut davon sprach, dass er doch ganz freundlich war. Dass sie dadurch unscheinbare Kritik an Nancys ablehnendem Verhalten äußerte, war ihr vermutlich nicht bewusst. Deshalb griff die blonde Impater eine von Nellies Einschätzungen auf, nachdem sie kurz im Türrahmen stehen geblieben war: „Denkst du immer noch, dass Felix nur unsicher ist?“

Nellie gab mit einem langsamen Kopfschütteln zu, dass die Unsicherheit nicht für so ein konfliktsuchendes, nahezu feindseliges Verhalten verantwortlich sein konnte. Dennoch hielt sie tapfer ihre Einstellung aufrecht und äußerte, dass er womöglich schlichtweg mit Problemen zu kämpfen hatte und sich nicht anders zu helfen wusste, als um sich zu schlagen.

Nancy zuckte unbeteiligt mit den Schultern und betrat nach der Verzögerung mit Nellie das Sekretariat. Hinter einem hohen Schreibtisch saß Mrs. Farrell, die auf die geöffnete Tür deutete, die den Durchgang zum Büro des Direktors darstellte. Gutmütig und die Situation im Gang offenbar missverstehend, erfreute sie sich daran, dass die Zwillinge schon ersten Anschluss gefunden haben.

Neben dem piependen Ton, der ein Fax ankündigte, hörte Nancy die Stimme des Direktors. Nach nur wenigen Worten kristallisierte sich heraus, über welches Thema sie gerade sprachen, weswegen sie Nellie einen aufmunternden Blick schenkte.

„Sie können unbesorgt sein. Mister Serra verfügt über außerordentliche pädagogische Fähigkeiten und seine Referenzen sind herausragend. Aber Sie können sich gerne selbst ein Bild von unserem geschätzten Kollegen machen. Ich habe ihn gebeten, unserem Gespräch beizuwohnen.“

Nachdem Nancy tröstend nach Nellies Hand gegriffen und sie kurz gedrückt hatte, klopfte sie behutsam an die Tür, um auf sich und ihre Schwester aufmerksam zu machen – außerdem konnte sie so die Unterhaltung unterbrechen, der Nellie mit ihrem ausgeprägten Gehör in ihrem gesamten Ausmaß ausgesetzt wäre.

„Nellie, Nancy, setzt euch doch.“ Mr. Barnheim bot ihnen einen Platz neben ihrem Vater an und lehnte sich selbst in seinen Bürostuhl zurück.

Der mittlere Stuhl wartete darauf, von Nellie besetzt zu werden. So hatte sie zur Linken ihren Vater als Stütze, während Nancy sich rechts von ihr hinsetzte. Die Impater ließ ihren Blick unauffällig schweifen, um sich ein Bild vom Zimmer des Direktors zu machen.

Der Raum verzichtete auf dunkle Farben, wirkte durch die hellgrünen Nuancen sehr offen und weit. Hinter dem ordentlich aufgeräumten Schreibtisch befand sich ein Doppelfenster, geschmückt mit Blumen und braunen Gardinen, die den Luftzügen zur Sichtbarkeit verhalfen. Außerdem erinnerten die Farben an den Wald, der vom Fenster aus gut sichtbar war. Platz für Ordner und Bücher bot das Regal, das bis an die Decke reichte und dem Raum aufgrund seiner Breite ein wenig die Größe nahm.

Bevor sie das Gespräch wieder aufnehmen konnten, betrat eine weitere Person das Büro. Der Direktor stellte den schwarzhaarigen Mann sogleich als Vincent Serra, den Vertrauenslehrer der Morrison Memorial School, vor. Obwohl er noch nicht zu den älteren Herrschaften gehörte, strahlte der Lehrer Autorität und Pflichtbewusstsein aus.

Mr. Serra begrüßte die Gäste mit einem Händedruck und beschaffte sich dann eine Sitzgelegenheit aus dem Sekretariat, um sich dazu setzen zu können. Dabei achtete Nancy auf die fein definierten Muskeln an seinen dezent gebräunten Armen, die durch das kurzärmelige Hemd gut sichtbar waren. Er besaß eindeutig eine sportliche Statur, was zu einem seiner Unterrichtsfächer passte.

„Euer Vater und ich haben uns gerade über die außerschulische Betreuung unterhalten“, fasste Mr. Barnheim für seinen Kollegen und die Zwillinge zusammen.

Nancy hatte befürchtet, der Direktor würde sich in Lügen verstricken, um Nellie nicht in Verlegenheit zu bringen, doch er blieb bei der abgeschwächten Form der Wahrheit. Es war mit ihren Eltern so abgemacht, dass sie nur unter der Bedingung Schule und sogar Land wechseln durften, wenn es sich um ein Internat mit besonderer Betreuung handelte und es jederzeit einen Ansprechpartner für Nellie gab. Seit einem Vorfall vor ein paar Jahren, bei dem Nellie nicht nur im Krankenhaus gelandet war, sondern auch ihren Eltern den Schrecken ihres Lebens verpasst hatte, waren sie besonders vorsichtig geworden.

Die Jüngere schien ebenfalls daran zurückerinnert zu werden und zog nervös ihre Ärmel nach vorne. Nancy legte ihr beruhigend eine Hand über die halb verdeckten Finger und lächelte aufmunternd.

„Unser Internat verfügt über eine kompetente Erzieherin, die stets ein offenes Ohr für die Probleme unserer Schüler hat.“

Um Mr. Barnheims Worte zu unterstreichen, nickte Mr. Serra und fügte hinzu: „Auch nachts gibt es fortwährend Ansprechpartner für die Schüler und Schülerinnen. Das Kollegium übernimmt abwechselnd die Nachtaufsicht.“

„Ist es durch den ständigen Wechsel der Betreuungspersonen nicht schwieriger, Vertrauen aufzubauen?“, äußerte Henry seine Bedenken, die der Vertrauenslehrer zu zerstreuen wusste: „Bei der Nachtaufsicht geht es hauptsächlich darum, ein Ansprechpartner zu sein und um unsere Erzieherin zu entlasten. Wir pflegen engen Kontakt zu unseren Schülern und wir sind sehr darum bemüht, nicht nur Lehrer, sondern auch eine Vertrauensperson für sie darzustellen. Vor allem außerhalb des Unterrichts.“

„Deshalb haben wir uns dagegen entschieden, mehrere Erzieher einzustellen. Die Lehrkräfte sind den Schülern bereits bekannt und wir achten darauf, sie in den zwischenmenschlichen und pädagogischen Bereichen regelmäßig fortzubilden“, pflichtete der Direktor seinem Mitarbeiter bei.

Nancy warf einen Blick zu ihrem Vater, der zufrieden mit der Antwort schien und gebannt den weiteren Informationen lauschte. Auch Nellie war um Sicherheit bemüht, was ihr kläglich misslang. Dass die Unsicherheit wie eine Klette an ihr hing und sie partout nicht loslassen wollte, zeigte sich auch durch die unkontrollierten Bewegungen ihrer Finger, die Nancy nicht verborgen blieben.

„Bei uns steht der Mensch mit seiner Persönlichkeit im Vordergrund. Wir lernen unsere Schüler kennen und passen die Betreuung den individuellen Bedürfnissen eines jeden an“, brachte Mr. Serra das Konzept des Internats auf den Punkt und lehnte sich aufgeschlossen nach vorne, die Arme dabei auf dem Schreibtisch ablegend. „Ebenso wenig müssen Sie sich um die medizinische Betreuung Gedanken machen. Die Schulärztin Doktor Peck besitzt einen eigenen Wohnraum im Internat und kann dadurch selbst in der Nacht schnell bei den Kindern sein. Sie verfügt über einen reichen Erfahrungsschatz. Sie können unbesorgt sein.“

„Das ist wirklich sehr beruhigend zu wissen“, erwiderte der Familienvater und wurde von Mr. Barnheim danach gefragt, ob er es richtig in Erinnerung hatte, dass seine Frau und er selbst Mediziner waren. In diesem Zuge entschuldigte Henry die Abwesenheit seiner Frau aus eben diesem Grund.

„Habt ihr zwei denn noch konkrete Fragen?“, wandte sich Mr. Serra an die Zwillinge.

Ermutigend sah Nancy zu ihrer Schwester, die sich mit einer brüchig klingenden Verneinung dagegen entschied, das Wort zu ergreifen.

„Das Meiste ergibt sich auch während der ersten Tage“, versicherte der Vertrauenslehrer überzeugt und griff nach den beiden Schnellheftern, die vor Mr. Barnheim auf dem Schreibtisch lagen. „In diesen Unterlagen findet ihr alles, was fürs Erste wichtig ist. Stundenpläne, einen Gebäudeplan mit der Raumbelegung für den Unterricht, die ausführliche Schul- und Hausordnung und ganz wichtig: Die Zahlencodes für den Mädchentrakt und den für euer Zimmer.“

„Ganz moderne Technik.“ Henry schmunzelte und schaute in Nellies Schnellhefter, den sie neugierig aufgeschlagen hat. Nancy suchte zunächst die Information zu ihrem Zimmer und den entsprechenden Zahlencode, um im Anschluss nicht im gesamten Mädchentrakt herumirren zu müssen.

„Wir versuchen eine ausgewogene Mischung zwischen Alt und Neu zu schaffen“, entgegnete der Direktor amüsiert und erhob sich in einer gemächlichen Bewegung von seinem Bürostuhl. Sein Ziel war ein dicker Ordner im Regal, den er konzentriert nach einer bestimmten Registerkarte abzusuchen schien. „Alle nötigen Unterlagen für die Aufnahme sind vorhanden, wir benötigen also keine weiteren Dokumente.“ Der Verkündung folgte das Zuschnappen des Ordners, nachdem er ihn auf dem Schreibtisch abgelegt hatte.

„Gerne würde ich Sie noch durch unsere Räumlichkeiten führen, aber heute erwarten mich noch einige Neuankömmlinge. Sie sind natürlich trotzdem herzlich eingeladen, sich im Internat noch genauer umzusehen, Mister Taylor. Auch unsere Mensa steht Ihnen selbstverständlich zur Verfügung“, bot der Direktor freigiebig an. „Sie werden sicher den restlichen Tag bei Ihren Töchtern verbringen wollen.“

„Würde ich gern“, antwortete Henry bedauernd, „aber der einzige freie Flug nach Kalifornien startet heute Abend.“

Damit betonte er, dass der Abschied unmittelbar näher rückte und sorgte für einen bedrückten Blick der Zwillinge. Auch wenn Nancy es nicht offen zeigte, würde sie ihre Eltern sehr vermissen und sich ein wenig im fremden Land verloren fühlen. Es war das erste Mal, dass sie ohne ihre Eltern für eine lange Zeit im Ausland lebten, weswegen sich der Internatsaufenthalt keinesfalls mit den Urlauben in anderen Ländern vergleichen ließ. Das Wissen, für Nellie stark sein zu müssen, gab der Impater jedoch den nötigen Antrieb, sich nicht anmerken zu lassen, dass auch sie Gefühle wie Heimweh und Sehnsucht nach den Eltern verspürte.

Felix Hohenfels

02.09.2018 – NachmittagNachbargrundstück von Mr. Reid

Immer noch aufgebracht überquerte Felix den Innenhof und bog kurz vor dem hohen Tor nach rechts ab. Geradewegs über den angelegten Rasen, auf dem sich langsam aber stetig ein unebener Trampelpfad abzeichnete. Felix hat diesen Weg eindeutig schon zu oft beschritten.

Sein Ziel war das Haus neben dem Internat. Dort lebte Randall Reid, der Hausmeister der Schule, der früher auch als Sicherheitskraft gearbeitet hatte. Deshalb erfüllte er im Internat beide Positionen und war um den Schutz der Schüler bemüht. Die dritte und wichtigste Stellung jedoch, die der 51-Jährige im Gegensatz zu den beiden anderen Tätigkeiten unentgeltlich bekleidete und die auch nicht in seinem Arbeitsvertrag verzeichnet wurde, war es Felix’ unvoreingenommene Bezugsperson zu sein, bei der er Zuflucht suchte, wenn er das Leben wieder als ganz besonders ungerecht empfand und das Internatsleben satt hatte. Mit Randall konnte er sich problemlos verständigen. Er sprach fließend die deutsche Sprache, verstand Felix, ohne dass er nach dem richtigen englischen Wort suchen oder es auf umständliche Art und Weise umschreiben musste.