In den Himmel springen und die Sterne fressen -  - E-Book

In den Himmel springen und die Sterne fressen E-Book

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Beschreibung

Menschen mit Goldfischen im Haar und Sicheln im Kopf, auf Scheiterhaufen halbverkohlte Feen, die in einem Wasserglas ertrinkende Ophelia, Schach spielende Kühe, grausig gutzende Golze und Zugreisende, die ihre Beine im Gepäck mitführen: Alfred Lichtenstein, Christian Morgenstern, E. T. A. Hoffmann, E. A. Poe, Paul Scheerbart, Ror Wolf, Laurence Sterne, Flann OʼBrien, François Rabelais, Karl Valentin, Friedrich Dürrenmatt, Kurt Schwitters, Hunter S. Thompson, Gustav Meyrink, Daniil Charms und viele andere geniale Vertreterinnen und Vertreter des grotesken und absurden Genres, der "Königsklasse des Humors" (Dürrenmatt-Spezialist Peter Rüedi), laden ein zu einer schaurig-komisch-unheimlichen Geisterbahnfahrt durchs Reich der Satansbraten, Exzentriker, Dummbatzen, Hexen und Dämonen. Gleichzeitig furiose Lektüre und wirksame Medizin gegen den real existierenden Schwachsinn.

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Der Herausgeber:

Walter Gerlach, Jahrgang 1943, Autor in Frankfurt am Main. Letzte Buchveröffentlichung: Frankfurter Walzer. Eine Groteske. Waldemar Kramer Verlag, Wiesbaden 2016 / Als Herausgeber: Dem Kuttel sein Daddel sein du. Komische Gedichte. Marixverlag, Wiesbaden 2014 / Schwarzbuch Rassismus (zus. mit Jürgen Roth). Wallstein Verlag, Göttingen 2012

In den Himmel springenund die Sterne fressen

99 Grotesken aus allen Zeiten

Ausgewählt von Walter Gerlach

»Es regnet Blut und ich hab keinen Schirm.«

Karl Kraus, Mein Weltuntergang

Inhalt

»CHINESEN STÜRZEN AUS DEN BETTEN,MAN HÖRT AUCH EUROPÄER MUHN«

KOPF & KRAGEN

Reinhard Umbach: Fragen an einen bergsteigenden Sherpa

Alfred Lichtenstein: Der Barbier des Hugo von Hofmannsthal

Christian Morgenstern: Himmel und Erde

Selma Lagerlöf: Die Hexe vom Hochgebirge

Alfred Lichtenstein: Capriccio

Franz Hohler: Ein ganz schwerer Transport

Vasko Popa: Vor dem Spiel

Vasko Popa: Spiele des Verführers

Wilhelm Busch: Der Bleistift als Mordinstrument

Franz Kafka: Die Brücke

Detlev von Liliencron: Der Hunger und die Liebe

Heinrich Heine: Ein Weib

Ror Wolf: ruhe ruhe

H. C. Artmann: nun kommt der schreckliche taifun … *

Joachim Ringelnatz: Zum Aufstellen der Geräte

»AN BÄNDERN VOLL HONIG KLEBEN DIE MENSCHEN«

FLORA & FAUNA

Flann O’Brien: Das Schwein Ambrose*

Paul Scheerbart: Singende Schlangen

Wolfgang Hildesheimer: Warum ich mich in eine Nachtigall verwandelt habe

Paul Scheerbart: Glaubt mir!

Christian Morgenstern: Auf dem Fliegenplaneten

Gustav Meyrink: Blamol

Peter Hammerschlag: Der Tierfreund an der Arbeit

Paul Scheerbart: Ein Säufertraum

Bernhard Lassahn: Baby Gorilla

E.T.A. Hoffmann: Von dressierten Flöhen, geheimnisvollen Tulpen und verliebten Disteln*

Christian Morgenstern: Im Tierkostüm

Franz Kafka: Der Geier

Christoph Meckel: Goldfisch

»REICH MIR MEINE PLATZPATRONEN,DENN MICH PACKT DIE RASEREI«

TOHU & WABOHU

Paul Scheerbart: Groglied

Hugo Ball: Bagatelle

Alfred Lichtenstein: Gespräch über Beine

Christian Morgenstern: Mondendinge

Lukian: Beinbauch*

Gisbert Haefs: Der Eremit im Pfälzer Wald

Joseph Victor von Scheffel: Der Tazzelwurm

Mynona (Salomo Friedlaender): Von der Wolke, welche so gern geregnet hätte

Jakob van Hoddis: Hymne

Hanns von Gumppenberg: Liebesjubel

Franz Kafka: Die Nachteile großer Reiche

Christian Morgenstern: Der Schaukelstuhl auf der verlassenen Terrasse

Paul Scheerbart: Donnerkarl, der Schreckliche

Jakob van Hoddis: Im Saale weiße Fliegenschwärme

Richard Huelsenbeck: DADA-Schalmei

Kurt Schwitters: Nießscherzo

Anne Sexton: Mit dem Fahrstuhl in den Himmel

François Rabelais: Gargantua und Pantagruel

Richard Huelsenbeck: Ende der Welt

Paul Scheerbart: Der einbeinige Trinker

Mynona (Salomo Friedlaender): Der zarte Riese

Hanns von Gumppenberg: Die entscheidende Schlittenpartie

Bohumil Hrabal: Bafler*

Gottfried Benn: Nachtcafé

Paul Scheerbart: Ingrimm

»SOPHIE, MEIN HENKERSMÄDEL, KOMM,SCHAU MIR IN DEN SCHÄDEL!«

TOTE & UNTOTE

Mynona (Salomo Friedlaender): Verstellung

Christian Morgenstern: Nein!

Heinrich Heine: »Wie viel Grässliches mag sich schon zugetragen haben auf diesem Flecke, wo du eben liegst?«*

Hanns von Gumppenberg: Ballade

Georg Heym: Die Dämonen der Städte

Heinrich von Kleist: Mutwille des Himmels / Eine Anekdote

Adolf Glassbrenner und Moritz Gottlieb Saphir: Fürchterliche Ballade in drei schauderhaften Abteilungen und mit einigen überflüssigen Versfüßen

Daniil Charms: Vater und Tochter

Daniil Charms: Pakin und Rakukin

Nikolaj Gumiljow: Der verirrte Trambahnwagen

Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Die Nonne

Friedrich de la Motte Fouqué: Undine weint den Ritter tot*

Christian Morgenstern: Galgenbruders Lied an Sophie, die Henkersmaid

Georg Trakl: Romanze zur Nacht

Hanns von Gumppenberg: Schwerer Unglücksfall

Klabund: Regen

Karl Kraus: Mein Weltuntergang

Erich Mühsam: Idyll

Franz Kafka: Der Jäger Gracchus

»ICH SCHÜTTELTE SO HEFTIG MIT DEM KOPFE,DASS ER ABFIEL«

SEIN & NICHTS

Alfred Lichtenstein: Café Klößchen

Christian Morgenstern: Das Knie

Franz Kafka: Der Ausflug ins Gebirge

Paul Scheerbart: Was nie ein Mensch gesehn!

Ulrich Holbein: Wie glücklich sind Musiker?

Anonym: Die Rabenklippen

Wilhelm Klemm: Abrüstung

Jaroslav Hašek: Schwejk als Simulant

Kurt Tucholsky: Wo kommen die Löcher im Käse her –?

Konstantin Balmont: Die Nixe

E. T. A. Hoffmann: Geschichte des Schneiderleins aus Sachsenhausen

Pórdís Björnsdóttir: Am Strand

Nikolai Gogol: Die Nase

Georg Heym: Die Professoren

Franz Kafka: Eine Gemeinschaft von Schurken

Max Dauthenday: Der Metzgerlehrling Paul

Alfred Lichtenstein: Der Rauch auf dem Felde

Hans Arp: Willkommen Willkommen

Joachim Ringelnatz: Zum Keulenschwingen

Frank Wedekind: Marasmus

Alfred Lichtenstein: Die Zeichen

Jakob van Hoddis: Weltende

Klabund: Das Schreibmaschinenbureau

Autoren- und Quellenverzeichnis

Editorische Notiz

»CHINESEN STÜRZEN AUS DENBETTEN, MAN HÖRT AUCHEUROPÄER MUHN«

KOPF & KRAGEN

Reinhard Umbach

Fragen an einen bergsteigenden Sherpa

Sherpa, Sherpa in der Wand!

Hast du denn kein Seil zur Hand?

Glaubst Du, nur mit Klammeraffen

den K2 im Sturm zu schaffen?

Und der Gips ums rechte Bein

scheint ein frischer Bruch zu sein.

Von dem Holzbein links zu schweigen …

Tapfer, damit bergzusteigen!

Und das schwarze Ding auf Dir –

ist das etwa ein Klavier?

Trägt man das jetzt so im Nacken,

ohne was drumrumzupacken?

Klar, dass sich beim Aufwärtsstemmen

Finger in der Klappe klemmen!

Das sind, Sherpa, nur’n paar Fragen …

Doch den Kindersitz zu tragen,

drin sich ein Herr Messner lümmelt –

hat noch jeden Stolz verstümmelt!

Und der Kerl isst auch noch Kuchen … –

Yeti hilf! Geh Reinhold suchen!

Alfred Lichtenstein

Der Barbier des Hugo von Hofmannsthal

So steh ich nun die trüben Wintertage

Von früh bis spät und seife Köpfe ein,

Rasiere sie und pudre sie und sage

Gleichgültge Worte, dumme, Spielerein.

Die meisten Köpfe sind ganz zugeschlossen,

Sie schlafen schlaff. Und andre lesen wieder

Und blicken langsam durch die langen Lider,

Als hätten sie schon alles ausgenossen.

Noch andre öffnen weit die rote Ritze

Des Mundes und verkünden viele Witze.

Ich aber lächle höflich. Ach, ich berge

Tief unter diesem Lächeln wie in Särge

Die schlimmen, überwachen, weisen Klagen,

Dass wir in dieses Dasein eingepresst,

Hineingezwängt sind, unentrinnbar fest

Wie in Gefängnisse, und Ketten tragen,

Verworrne, harte, die wir nicht verstehen.

Und dass ein jeder fern sich ist und fremd

Wie einem Nachbar, den er gar nicht kennt.

Und dessen Haus er immer nur gesehen hat.

Manchmal, während ich an einem Kinn rasiere,

Wissend, dass ein ganzes Leben

In meiner Macht ist, dass ich Herr nun bin,

Ich, ein Barbier, und dass ein Schnitt daneben,

Ein Schnitt zu tief, den runden frohen Kopf,

Der vor mir liegt (er denkt jetzt an ein Weib,

An Bücher, ans Geschäft) abreißt von seinem Leib,

Als wäre er ein lockrer Westenknopf –

Dann überkommts mich plötzlich … Dieses Tier

Ist da. Das Tier … Mir zittern beide Knie.

Und wie ein kleiner Knabe, der Papier

Zerreißt (und weiß es nicht, warum),

Und wie Studenten, die viel Gaslaternen töten,

Und wie die Kinder, die so sehr erröten,

Wenn sie gefangner Fliegen Flügel brechen,

So möchte ich oft wie von ungefähr,

Wie wenn es eine Art Versehen wär,

An solchem Kinn mit meinem Messer ritzen.

Ich säh zu gern den roten Blutstrahl spritzen.

Christian Morgenstern

Himmel und Erde

Der Nachtwindhund weint wie ein Kind,

dieweil sein Fell von Regen rinnt.

Jetzt jagt er wild das Neumondweib,

das hinflieht mit gebognem Leib.

Tief unten geht, ein dunkler Punkt,

querüberfeld ein Forstadjunkt.

Selma Lagerlöf

Die Hexe vom Hochgebirge

So ist die Hexe durch viele Ortschaften gewandert. Jetzt ist sie nach Borg gekommen, und sie zaudert nicht, das Grafenschloss zu besuchen. Durch die Küche geht sie nur selten. Sie steigt geradewegs die Terrassenstufen hinan, sie setzt ihren breiten Holzschuh auf die blumenumhegten Kieswege, so ruhig, als wandere sie den Sennpfad hinan.

Und es trifft sich gerade so, dass Gräfin Märta auf die Terrasse hinausgetreten ist, um sich an der Pracht des Junitages zu erfreuen. Auf dem Kiesgange unterhalb der Treppe sind gerade zwei Mädchen auf dem Wege zum Vorratshause stehen geblieben. Sie kommen aus der Räucherkammer, wo der Speck im Rauch hängt, und tragen die frisch geräucherten Schinken auf einer Stange zwischen sich. »Will die gnädige Frau Gräfin die Schinken einmal besehen und riechen, ob sie stark genug geräuchert sind?« fragt eins der Mädchen.

Gräfin Märta, die zurzeit Hausfrau in Borg ist, beugt sich über das Treppengeländer und betrachtet den Speck, aber im selben Augenblick legt die Finnin die Hand auf einen der Schinken.

Ei, seht doch diese braune, glänzende Schwarte, diese dicke Fettschicht! Dieser frische Duft von Wacholderzweigen, der dem Schinken entströmt! Das ist ein Festschmaus für die Götter! Den muss die Hexe haben! Sie legt ihre Hand auf die Speckseiten.

Die Tochter der Berge kennt kein Bitten oder Betteln. Ist es nicht die Folge ihrer Gnade, dass die Kräuter wachsen, dass die Menschen leben? Frost und Unwetter und Hochflut – alles vermag sie zu senden. Deswegen geziemt es sich nicht für sie, zu bitten oder zu betteln. Sie legt ihre Hand auf das, was sie wünscht, und es gehört ihr.

Aber Gräfin Märta weiß nichts von der Macht der Alten. »Weg mit dir, du Bettelweib!« ruft sie.

»Gib mir den Schinken!« sagt die Wolfsreiterin aus dem Hochgebirge.

»Sie ist verrückt!« ruft die Gräfin und befiehlt den Mägden, mit ihrer Last ins Vorratshaus zu gehen.

Die Augen der Hundertjährigen flammen vor Zorn und Begierde. »Gib mir den braunen Schinken«, ruft sie, »oder es wird dir übel ergehen!«

»Lieber gebe ich ihn den Elstern als so einer wie dir!«

Da erbebt die Alte vor Zorn. Sie hebt ihren Stab mit den Runen in die Höhe und schwingt ihn wild. Ihre Lippen stoßen wunderliche Worte aus. Das Haar steht ihr zu Berge, die Augen sprühen Funken, ihr Antlitz verzerrt sich.

»Dich selbst sollen die Elstern fressen!« schreit sie schließlich.

Und dann geht sie, Flüche murmelnd und den Stab schwingend. Sie wendet ihre Schritte heimwärts, weiter nach Süden wandert sie nicht. Jetzt hat die Tochter der Wildnis den Zweck erfüllt, um dessentwillen sie aus den Bergen herabgestiegen ist.

Gräfin Märta bleibt auf der Gartentreppe stehen und lacht über ihr verrücktes Gebaren, aber das Lachen soll gar bald auf ihren Lippen verstummen. Denn da kommen sie! Sie kann ihren eigenen Augen nicht trauen. Sie glaubt, dass sie träumt, aber da kommen sie, die Elstern, die sie fressen sollen.

Aus Park und Garten kommen sie auf sie herabgesaust, Elstern zu Dutzenden mit ausgestreckten Klauen und gierigen Schnäbeln, bereit, auf sie einzuhauen. Sie kommen mit Lärmen und Schreien. Schwarze und weiße Flügel flimmern vor ihren Augen. Sie sieht wie im Schwindel hinter diesem Schwarm alle Elstern aus der ganzen Gegend heranfliegen, sieht den ganzen Himmel voll schwarzer und weißer Flügel. Die Metallfarben der Federn schimmern in der scharfen Mittagssonne. Die Schwanzfedern brausen wie bei kämpfenden Raubvögeln. In dichteren und dichteren Kreisen umfliegen die Ungetüme die Gräfin und zielen mit Schnabel und Krallen nach ihrem Gesicht. Sie muss auf die Diele fliehen und die Tür hinter sich schließen. Sie taumelt gegen die geschlossene Tür, atemlos vor Angst, während die schreienden Elstern draußen flattern und fliegen.

Damit war sie aber abgeschlossen von der lichten Schönheit des Sommers, von allen Freuden des Lebens. Für sie gab es hinfort nichts mehr als geschlossene Türen und herabgelassene Rouleaus, für sie gab es nur Verzweiflung, Angst, Verwirrung, die an Wahnsinn grenzte.

Alfred Lichtenstein

Capriccio

So will ich sterben:

Dunkel ist es. Und es hat geregnet.

Doch du spürst nicht mehr den Druck der Wolken,

Die da hinten noch den Himmel hüllen

In sanften Sammet.

Alle Straßen fließen, schwarze Spiegel,

An den Häuserhaufen, wo Laternen,

Perlenschnüre, leuchtend hängen.

Und hoch oben fliegen tausend Sterne,

Silberne Insekten, um den Mond –

Ich bin inmitten. Irgendwo. Und blicke

Versunken und sehr ernsthaft, etwas blöde,

Doch ziemlich überlegen auf die raffinierten,

Himmelblauen Beine einer Dame.

Während mich ein Auto so zerschneidet,

Dass mein Kopf wie eine rote Murmel

Ihr zu Füßen rollt …

Sie ist erstaunt. Und schimpft dezent. Und stößt ihn

Hochmütig mit dem zierlich hohen Absatz

Ihres Schuhchens

In den Rinnstein –

Franz Hohler

Ein ganz schwerer Transport

Als die Maschinenfabrik Schaffner in Stilli den neuen Superthronger für das Atomkraftwerk Beznau fertiggestellt hatte, feierte die Belegschaft ein kleines Fest. Zum erstenmal in der Geschichte des Betriebs war ein 800 Tonnen schwerer Superthronger fabriziert worden. Chefschlosser Sägesser hatte ihn mit seinen Gehilfen aus einem unmäßigen Klumpen Gußstahl herausgeformt und blickte nun gerührt auf den mit Margeriten und Nelken bekränzten Doppelsattelschlepper, auf dem das Ding ruhte. Alle stießen mit dem Chauffeur auf eine gute Fahrt an, und dann setzte sich der Doppelsattelschlepper zitternd und dröhnend in Fahrt, begleitet von zwei blinkenden Kleinwagen der Aargauer Kantonspolizei.

Von Stilli bis Beznau sind es sechs Kilometer, darum hatte man die Bestellung auch bei der sonst ziemlich kleinen Firma Schaffner aufgegeben. Eine geringe Komplikation ergab sich nur daraus, daß die Brücke, die bei Stilli über die Aare nach Beznau führt, für eine solche Belastung zu schwach war. Zum Glück gab es aber wenige Kilometer flußabwärts die starke Aarebrücke von Kleindöttingen nach Döttingen, welche dieses Gewicht ohne weiteres aushielt. Bei den paar Kilometern nach Kleindöttingen mußte man einzig darauf achten, die Schmittenbachbrücke vor Villingen zu vermeiden, aber auch dieses Problem war lösbar. Man umfuhr den ganzen Schmittenbach, indem man über den Bözberg auswich und bei Stein in die Route nach Laufenburg einbog, über welche man mühelos nach Kleindöttingen gelangte. So hatte es das Schwertransportbüro vorgesehen, und wenn alles gut ging, war der ganze Transport die Sache einer Nacht.

Um zwei Uhr in der Frühe fuhr der Superthronger bereits durch Stein, und eine halbe Stunde später war er im Schrittempo in Sisseln angelangt. Wie man weiß, fließt durch Sisseln die Sisseln, und als der Chauffeur, Herr Lätt, zur Überquerung der Sisselnbrücke ansetzte, mußte er brüsk bremsen und fuhr sofort wieder von der Brücke zurück. Was war geschehen? Herr Lätt hatte gespürt, wie sich auf der Höhe des Brückenkopfes der Boden unter ihm leicht zu senken begann, und war daraufhin sogleich wieder rückwärts gefahren. Eine Prüfung der Lage ergab, daß sich einzelne Steine aus dem Unterbau gelöst hatten. Man beschloß hierauf, bis zum Morgen zu warten und dann einen Geologen kommen zu lassen, der ein Gutachten abgeben sollte. Herr Lätt konnte bei einer Familie Jegge übernachten und war am andern Morgen zeitig auf den Beinen, um das Urteil des Geologen zu hören. Der ließ sich aber Zeit, stocherte mit Sonden in den Böschungen herum, watete mit hohen Stiefeln durch den Bach, hantierte mit Meßbändern und Latten und machte sogar eine kleine Sprengung, bei der das Eisengeländer ein bißchen beschädigt wurde. Gegen Abend erklärte er, er habe nun genug gesehen und notiert und müsse sich zu den Berechnungen zurückziehen, berichten könne er frühestens in einer Woche. Für Herrn Lätt, der die ganze Zeit unruhig dabeigestanden hatte, war das ein unangenehmer Bescheid. Aber er schickte sich darein, ließ den Superthronger in Sisseln stehen, kettete ihn diebstahlsicher an den Wagen und ging nach Suhr zurück, wo er wohnte.

Neun Tage später traf das Schreiben des Geologen bei der Aargauer Kantonspolizei ein. Der Wissenschaftler legte darin ausführlich dar, weshalb die Brücke, vielmehr ihr geologischer Unterbau, das Gesamtgewicht des Transports nicht vertrüge, und untermauerte die Aussage mit Diagrammen und Tabellen. Damit hatte man allerdings nicht gerechnet, aber Herr Lätt wußte, was er dem Atomkraftwerk Beznau schuldig war.

Er setzte sich mit der Kantonspolizei zusammen und arbeitete eine neue Route aus, die direkteste von Sisseln nach Beznau. Die Brücke nach Döttingen war jetzt unerreichbar geworden, und so gab es keinen andern Weg, als von Norden her, also über den Rhein, nach Beznau zu stoßen, und zwar über die Brücke bei Schaffhausen, die einzige in der Nähe, die stark genug war. Einmal in Schaffhausen, galt es nur noch, die Töss zu umfahren, wegen ihrer durchwegs ungenügenden Brücken, somit über Wil. Das Toggenburg kam auch nicht in Frage, hauptsächlich wegen der Brücke bei Dietfurt, und so ging die Route über St. Gallen ins Rheintal bis nach Sargans, dann Richtung Zürich bis Sihlbrugg, von dort über Baar, Zug, Cham nach Affoltern am Albis und Dietikon und anstatt über die hohe Brücke bei Baden über die kleine, jawohl die kleine Holzbrücke bei Wettingen, die immer noch stark genug war, man mußte ihr bloß vorübergehend das Dach abnehmen und dazu eine Bewilligung des Heimatschutzes einholen, und schon war man in Beznau. Die Bewilligung würde allerdings einige Zeit brauchen, vielleicht mußte sich der Große Rat noch damit befassen, weil es ins Ressort des Baudepartements fiel, aber es würde ohnehin noch einige Zeit dauern, bis man mit dem Superthronger in Wettingen war, denn erst mußte man in Schaffhausen sein, und dazu mußte man den Rhein überqueren. Nun gab es ja die neue Rheinbrücke in Basel, die auch diesem Anspruch gewachsen war, und von dort brauchte man bloß über Freiburg durch das Höllental via Hüfingen nach Schaffhausen zu fahren.

Sofort machte sich Herr Lätt daran, die Genehmigung zu dieser Fahrt in Deutschland einzuholen, und füllte die elf Begleitformulare aus, die hierzu erforderlich sind. Nach zehn Wochen erhielt er die Erlaubnis zur Durchfahrt und holte seinen Superthronger in Sisseln wieder ab, sehr zum Leidwesen der Sissler, die daraus bereits eine Attraktion gemacht und ihn gegen Geld gezeigt hatten. Die Bewilligung des Heimatschutzes zur Entfernung des Daches auf der Wettinger Holzbrücke war zwar noch nicht eingetroffen, aber Herr Lätt nahm an, daß sich das schon ergeben werde, wenn er einmal mit seinem Superthronger dort sei, und machte sich auf den Weg. Beim Zollübergang in Basel suchte man den Superthronger kurz nach Rauschgift ab, doch sonst gab es keine Schwierigkeiten, da es sich um eine reine Transitangelegenheit handelte. Zu einer heiklen Situation kam es erst im Höllental. Herr Lätt hatte nämlich bei seinen Berechnungen immer nur das Gewicht des Wagens in Betracht gezogen und hatte vergessen, daß sich auch aus der Länge Probleme ergeben könnten. Sein Doppelsattelschlepper war aber insgesamt 42 Meter lang. Resigniert mußte Herr Lätt mit den Hinterrädern voran aus der ersten schmalen Kurve der Ravennaschlucht herausfahren und die ganzen 23 Kilometer nach Freiburg zurück im Retourgang hinter sich bringen. Dort überprüfte er die Situation neu und stellte fest, daß er gebirgige Gebiete wegen der engen Kurvenradien unbedingt vermeiden mußte. Als beste Ausweichmöglichkeit bot sich der Weg über Karlsruhe, Ulm, Singen an, den Herr Lätt auch schon in der nächsten Nacht in Angriff nahm. Aber er hatte kein Glück. Sein 800 Tonnen schwerer Superthronger drückte bei Offenburg einige Asphaltplatten ein, und er wurde mit der Weisung von der Autobahn geschickt, sie erst wieder von Karlsruhe an zu benützen.

Das war ein harter Schlag. Es zeigte sich nämlich, daß die beiden gewöhnlichen Straßen nach Karlsruhe in tiefgreifenden Reparaturen waren, so daß Herr Lätt nur mehr der Umweg über Straßburg offenblieb. In Kehl wartete er vier Monate auf die französische Durchreisebewilligung, während die Forderungen der Beznauer immer dringlicher wurden. Jeden Tag sprach er auf dem Straßburger Polizeisekretariat vor, jeden Tag wurde er mit dem Hinweis auf Paris weggeschickt. Als er die Bewilligung endlich in den Händen hielt, wollte er es zuerst gar nicht glauben, setzte sich jedoch unverzüglich in seinen Doppelsattelschlepper und machte sich auf den Weg.

Nun war aber in der Wartezeit die Brücke zwischen La Wantzenau und Drusenheim vorübergehend abgebrochen und durch eine provisorische Holzbrücke ersetzt worden, so daß an eine direkte Weiterfahrt Richtung Karlsruhe nicht zu denken war. Herrn Lätts Erhebungen ergaben, daß nur der Weg über Nancy und Metz in Frage kam, und als er nach fünf Tagen Nachtfahrt von Metz nach Saarbrücken abzweigen wollte, überraschte ihn der Metzer Polizeikommandant mit der Frage, ob er eigentlich wisse, daß vor Longeville-les-St.-Avold eine Unterführung komme, die nur 3,80 Meter hoch sei. Herr Lätt wußte bloß, daß sein Wagen mit der Bepackung 4,23 Meter hoch war, daß es also mit Saarbrücken vorderhand nichts war. Nach einer eingehenden Besprechung mit dem Polizeipräfekten fuhr Herr Lätt nach Luxemburg weiter. Das Warten an der Grenze machte ihm jetzt schon weniger aus, er verdingte sich in Evrange als Lastwagenchauffeur und verdiente einige Wochen ganz gut. Da es ihm mit der Zeit zu teuer kam, immer in Hotels zu übernachten, schlief er in einem Schlafsack im Innern des Superthrongers, wo er sich ein gemütliches Eckchen mit einer Petroleumlampe und einem Foto von seiner Frau und seinen beiden Töchterchen Rösli und Marianne eingerichtet hatte. Luxemburg ist ein kleines Land, und so brauchte er nur anderthalb Monate auf die Transitbewilligung zu warten.

Jetzt mußte er aber unbedingt danach trachten, wieder nach Deutschland zu kommen, damit er endlich die Richtung nach Schaffhausen einschlagen konnte. Bei Trier war der Übergang nicht möglich, weil die Brücke bei Wasserbillig über die Sauer nur 600 Tonnen aushielt, und auch das nur bei extrem tiefem Wasserstand, während die Moselbrücke bei Remich als solche der Belastung wohl standgehalten hätte, nicht aber der Belag, der gegenwärtig versuchsweise von einem Pfälzer Kies- und Quetschwerk aufgelegt war und die Schleudergefahr bei Asphaltschmelzung erheblich herabsetzen sollte. Auch Anfragen in Echternach, Roth und Dasburg wurden negativ beantwortet, und Belgien, das die ganze Zeit drohend im Hintergrund gelegen hatte, war nun nicht mehr zu vermeiden.

In Wemperhardt, diesem traurigen luxemburgischen Grenzdörflein, wartete Herr Lätt neun Wochen auf die Einfuhrerlaubnis für Belgien. Es war Winter geworden, und den Heiligen Abend feierte er allein in seinem Superthronger mit einem Tannenbäumlein, das er auf dem Christbaummarkt von Tois-Vierges gekauft hatte. Seine Frau schickte ihm einen Pfeifenstopfer und die Töchterchen ein paar selbstgestrickte Pulswärmer. Herr Lätt schrieb einen langen Brief und versprach, es werde nun nicht mehr lange dauern, denn einmal in Deutschland, sei er im Hui in Schaffhausen, und ob die Bewilligung zum Abdecken der Wettinger Holzbrücke schon eingetroffen sei.

Ende Januar kamen seine 18 Fragebogen mit sämtlichen Stempeln versehen zurück, und Herr Lätt steuerte frohgemut über St. Vith nach Aachen, wo die sichere Autobahn wartete. Daß er den verschneiten Straßen des Hohen Venn über Lüttich ausweichen mußte, brachte ihn nicht aus der Fassung, ebensowenig die Tatsache, daß in Belgien Schwertransporte auf der Autobahn verboten sind. Unruhig wurde er erst, als man ihm die Höhe der Autobahnunterführung bei Herve mitteilte, 4,20 Meter, und er nach dem schon bedenklich weiter nördlich gelegenen Visé abdrehen mußte.

Die niederländischen Formulare waren etwas einfacher, es waren nur sechs, und da jedes Formular eine Woche zur Behandlung brauchte, öffnete sich der Schlagbaum für Herrn Lätt schon nach sechs Wochen. Die 48 Kilometer bis zur deutschen Grenze legte er in einer Nacht zurück, aber am anderen Morgen erwartete ihn bei der Zollstelle in Aachen eine unangenehme Überraschung. Seine seinerzeitige Transitbewilligung durch Deutschland war nämlich, wie im Kleingedruckten deutlich vermerkt, längstens acht Monate gültig, und da seit seiner damaligen Einreise über ein Jahr verstrichen war, mußte ein neues Durchreisegesuch gestellt werden, im Verkehr mit Holland auf zwölf Formularen. An eine Verlängerung der alten Bewilligung war auch nicht zu denken, da es sich jetzt um die Zollabteilung NordrheinWestfalen handelte und nicht mehr, wie zuvor, um diejenige von Baden-Württemberg.

Herr Lätt arbeitete dreieinhalb Monate in Vaals als Torfstecher, bis er aus Düsseldorf die Genehmigung zu seiner neuerlichen Einreise erhielt. Um nun diesmal wirklich sicherzugehen, fuhr er gleich zum Bundesfernstraßenbelastungsamt in Köln, welches, wie er inzwischen durch Schwertransportkollegen erfahren hatte, über Probleme dieser Art erstaunlich informiert sei. Dort machte man ihm auf seine Gewichts-, Längen- und Höhenangaben hin innerhalb weniger Minuten klar, daß der einzige Weg in die Schweiz über die Autobahn nach München führe, und zwar wegen schlechten Straßenzustands bei Heidelberg und zu geringer Belastungsfähigkeit der Aischbrücke bei Adelsdorf über die Zonenautobahn Berlin-Leipzig-Hof. Beim Wort Zonenautobahn knickte Herr Lätt ein bißchen zusammen, und einen Moment lang hätte er fast den Mut verloren. Dann aber dachte er daran, daß er in den neunzehn Jahren seiner Chauffeurlaufbahn noch keinen einzigen Transport nicht zu Ende geführt hatte, und nahm sich vor, entweder mit dem Superthronger in die Schweiz zurückzukehren oder gar nicht. Entschlossen füllte er die Gesuchsformulare für die Zonendurchfahrt aus, vergaß auch den kleinen gelben Zusatzzettel nicht und schickte alles nach Ost-Berlin. Dann fuhr er nach Helmstedt, wo er eine Stelle als Garndreher fand.

Da er ein zuverlässiger und solider Arbeiter war, der sich in Abendkursen weiterbildete, stieg er schon nach zwei Jahren zum pensionsberechtigten Garndrehermeister auf und hatte alle Aussichten, es zum Obergarndreher zu bringen, als die Bewilligung aus Ost-Berlin eintraf. Für Herrn Lätt war klar, was er tun mußte, und nach einer kleinen Abschiedsfeier im engsten Garndreherkreise bestieg er die Führerkanzel seines Doppelsattelschleppers und fuhr nach einer zweitägigen Zollkontrolle in die DDR ein. Einmal drin, waren die Schwierigkeiten gering, es reute ihn bloß, daß er fast seine ganzen Ersparnisse vom Garndrehen in die nach Transittonnenkilometern berechnete Transitgebühr stecken mußte, die sich in den zwei Jahren verfünffacht halte. Erleichtert legte er nach wenigen Tagen an der Grenzstelle Juchhöh bei Hof an und stellte sich zur Ausfahrt in die Bundesrepublik ein. Als ihn aber der Zollbeamte nach Durchsicht der Formulare ins Zollgebäude kommen ließ, ahnte Herr Lätt Schlimmes, und das mit Recht, hatte er doch tatsächlich auf dem vierundzwanzigsten Formular den schräggesetzten Zusatz übersehen, daß diese Transitpapiere nur für die Durchreise in ein weiteres sozialistisches Land gültig seien, nicht aber zum Austritt in die Bundesrepublik. Da die Papiere zudem nur für die Autobahn Gültigkeit besaßen, war die Ausreise über Stettin oder Frankfurt an der Oder nach Polen die einzige Möglichkeit.

Von da an werden die Nachrichten über Herrn Lätt spärlicher. Ein paar Jahre hindurch erhielt Frau Lätt in Suhr noch Postkarten aus östlichen Ländern, einmal aus der Nähe von Warschau mit dem Satz »Auf in die Tschechoslowakei!«, später aber, viel später, aus Riga, mit der Feststellung, es sei doch schwieriger gewesen, als er gedacht hätte, da es ihm nicht möglich gewesen sei, die Weichsel zu überqueren. Er berichtete kurz, daß er sie mit einem Riesenfrachter durch die Ostsee umschifft habe und jetzt von Riga aus Kurs auf die Slowakei nehme, um durch das ungarische Flachland über Wien ins Rheintal zu fahren. Rheintal war übrigens »Reihntal« geschrieben. Zwei Jahre danach traf eine Karte aus Saratow an der Wolga ein, auf der Herr Lätt in zittriger Schrift die Hoffnung ausdrückte, demnächst über die Türkei und den Balkan … Seitdem fehlt von ihm jede Nachricht.

Das Beznauer Kraftwerk hat sich inzwischen einen Superthronger von der Firma Sulzer an Ort und Stelle fabrizieren lassen, Frau Lätt hat nach der Verschollenheitserklärung ihres Mannes wieder geheiratet, einen Elektrowickler aus Buchs, und ihre beiden Töchter besuchten das Seminar Aarau und sind jetzt beide Lehrerinnen, die eine in Zuzgen, die andere in Turgi.

Kürzlich aus der Sowjetunion zurückgekehrte Volkskundler berichten von einer neuen Sage im Ural, wonach ein brüllendes Eisenungeheuer, von einem weißbärtigen Fremden geritten, des Nachts die Straßen verwüste und sich langsam nach Osten bewege.

Vasko Popa

Vor dem Spiel

Man kneift das eine Auge zu

Man späht in sich hinein in jeden Winkel

Sieht man ob keine Nägel ob keine Diebe

Ob keine Kuckuckseier da sind

Man kneift sich das andere Auge zu

Man hockt sich hin dann springt man auf

Springt man hoch sehr hoch sehr hoch

Bis zur Spitze seiner selbst

Von dort fällt man zurück mit ganzem Gewicht

Tagelang fällt man tief sehr tief

sehr tief Auf den Grund der eigenen Tiefe

Wer nicht in tausend Scherben zerspringt

Wer heil bleibt und heil heraufkommt

Kann spielen

Vasko Popa

Spiele des Verführers

Der eine streichelt das Stuhlbein

Solange bis der Stuhl sich rührt

Mit dem Bein ihm ein süßes Zeichen gibt

Der andere küsst das Schlüsselloch

Küsst es und küsst es wie verrückt

Bis ihm das Schlüsselloch den Kuss zurückgibt

Der dritte hält sich abseits

Glotzt auf jene zwei

Er schüttelt den Kopf schüttelt ihn

Solange bis der Kopf ihm abfällt

Wilhelm Busch

Der Bleistift als Mordinstrument

In Madrid lebt’ einst ein Jüngling,

Der Pedrillo war genannt,

Dieser zeichnete und malte

Mit sehr kunstgeübter Hand.

Keiner trug wie Don Pedrillo

So ’nen hohen, steifen Hut,

Und den edlen Bleistift spitzen

Konnt’ er aus dem Grunde gut.

Meistens nahm er Nummer sieben,

Spitzt’ ihn an zwei Seiten an,

Was man sehr bequem, indessen

Niemals praktisch finden kann.

Bald bemerkte dies sein Meister,

Sprach zu ihm: »Als Mensch und Christ

Sag ich dir, dass das gefährlich

Und auch gar nicht nötig ist!«

Doch Pedrillo, welcher wenig

Von des Meisters Lehren hält,

Zeichnet fort, zu welchem Zwecke

Er sich ein Modell bestellt.

Abends aber, wenn ein jeder

Gerne seine Ruhe hat,

Führt Pedrillo dieses Mädchen

Dann spazieren vor der Stadt.

Bald bemerkte dies sein Meister,

Sprach zu ihm: »Als Mensch und Christ

Sag ich dir, dass das gefährlich

Und auch gar nicht nötig ist!«

Doch Pedrillo schlug die Lehren

Lirum, larum in den Wind,

Und spaziert schon nächsten Tages

Wieder mit dem schönen Kind.

Und er spricht: »Ich lieb dich, Rosa!«

Diese sagt nichts, doch sie lässt

Ruhig zu, dass sie Pedrillo

Fest und fester an sich presst.

»Au!« schreit plötzlich Don Pedrillo,

Und das Mädchen schreit es auch,

Sterbend sinken beide nieder

Unter einem Myrtenstrauch.

Als Pedrillos Meister dieses

Hörte, sprach er sorgenschwer:

»Spitz, o Jüngling, an zwei Seiten

Keinen harten Bleistift mehr!

Führ auch Mädchen nicht spazieren,

Denn dies Beispiel zeigt es klar,

Dass sowohl es sehr gefährlich

Als auch gar nicht nötig war!«

Franz Kafka

Die Brücke

Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einem Abgrund lag ich. Diesseits waren die Fußspitzen, jenseits die Hände eingebohrt, in bröckelndem Lehm habe ich mich festgebissen. Die Schöße meines Rockes wehten zu meinen Seiten. In der Tiefe lärmte der eisige Forellenbach. Kein Tourist verirrte sich zu dieser unwegsamen Höhe, die Brücke war in den Karten noch nicht eingezeichnet. – So lag ich und wartete, ich musste warten. Ohne einzustürzen kann keine einmal errichtete Brücke aufhören, Brücke zu sein.

Einmal gegen Abend war es – war es der Erste, war es der Tausendste, ich weiß nicht, –– meine Gedanken gingen immer in einem Wirrwarr und immer in der Runde. Gegen Abend im Sommer, dunkler rauschte der Bach, da hörte ich einen Mannesschritt! Zu mir, zu mir. – Strecke dich, Brücke, setze dich in Stand, geländerloser Balken, halte den dir Anvertrauten. Die Unsicherheit seines Schrittes gleiche unmerklich aus, schwankt er aber, dann gib dich zu erkennen und wie ein Berggott schleudere ihn ans Land.

Er kam, mit der Eisenspitze seines Stockes beklopfte er mich, dann hob er mit ihr meine Rockschöße und ordnete sie auf mir. In mein buschiges Haar fuhr er mit der Spitze und ließ sie, wahrscheinlich wild umherblickend, lange drin liegen. Dann aber – gerade träumte ich ihm nach über Berg und Tal – sprang er mit beiden Füßen mir mitten auf den Leib. Ich erschauerte in wildem Schmerz, gänzlich unwissend. Wer war es? Ein Kind? Ein Traum? Ein Wegelagerer? Ein Selbstmörder? Ein Versucher? Ein Vernichter? Und ich drehte mich um, ihn zu sehen. – Brücke dreht sich um! Ich war noch nicht umgedreht, da stürzte ich schon, ich stürzte, und schon war ich zerrissen und aufgespießt von den zugespitzten Kieseln, die mich immer so friedlich aus dem rasenden Wasser angestarrt hatten.

Detlev von Liliencron

Der Hunger und die Liebe

(Gänsehautballade im Bänkelsängerton)

Tunkomar und Teutelinde,

Welch ein zärtlich junges Paar.

Er gemächlich, sie geschwinde;

Furie sie, er Dromedar.

Er phlegmatisch und platonisch:

»Süßes Lindchen, Mündchen her.«

Sie, dämonisch, denkt lakonisch:

»Er ermannt sich nimmermehr.«

Sonntags: Ausflug. Treubeflissen

Jedes Mal ein leckres Fest.

Er häuft ihr die besten Bissen,

Sich bescheidend mit dem Rest.

Dann nach Hause. Vor der Klause

Küsst er ihr galant die Hand.

Sitzt die arme, kleine Mause

Stets allein vor ihrer Wand.

Hindernisse aller Sorten

Türmen sich der schönen Braut,

Hier die Eltern, Geldschwund dorten,

Und der Bräutigam steht benaut.

Mais la femme: Teutelinden

Wird es glücken klipp und klar,

Sich mit Tunkomarn zu binden,

Wos auch sei, am Traualtar.

Sie beschließen, zu entfliehen,

Nicht zu warten, nein, sogleich!

Und Poseidon sieht sie ziehen

Durch sein großes Wasserreich.

Ihre Sehnsucht höchster Höhe

Heißt das Land Amerika.

Schicksalswanzen, Fehlschlagsflöhe

Weichen dort, Halleluja!

Glatter als des Spiegels Glätte

Breitet sich der Ozean.

Plötzlich fuchtelt durch die Stätte

Ein entsetzlicher Orkan.

Wale wimmern, Aale toben;

Wogenberg und Wogental.

Mast nach unten, Kiel nach oben;

Munter hält der Hai sein Mahl.

Tunkomar und Teutelinde,

Ach, erklettern mühsam nur

Eines Eilands Felsenrinde,

Triefend von der nassen Spur.

Unter einer Sykomoren

Ruhen sie die erste Nacht.

Und sie sehen sich verloren,

Als sie morgens aufgewacht.

Nur Korallen, nur Gerölle;

Selbst der alte Feigenbaum

Zeitigt auf der Inselhölle

Keine Frucht im Blätterraum.

Kaffee wünscht sich Teutelinde,

Und ein Brötchen Tunkomar.

Nirgends wächst ein Obstgebinde,

Grässlich, auf dem Steinaltar.

Strandschildkröten, Vögel, Eier,

Nichts von allem kommt hier vor,

Und der Hunger zieht als Freier

Frech ins kahle Siegestor.

Wer wird wohl den Ausgang finden?

Wo macht Stopp des Schicksals Lauf?

Tunkomar küsst Teutelinden.

Aber diese pfeift darauf.

Eilends wird der Hunger stärker,

Immer stärker, ganz enorm;

Endlich wird er Feuerwerker

Und zersprengt die Anstandsform.

Tunkomar springt aus der Tute,

Wird Berserker! Goliath!

Teutelindchen schwimmt im Blute,

Tunkomarchen frisst sich satt.

Heinrich Heine

Ein Weib

Sie hatten sich beide so herzlich lieb,

Spitzbübin war sie, er war ein Dieb.

Wenn er Schelmenstreiche machte,

sie warf sich aufs Bett und lachte.

Der Tag verging in Freud und Lust,

des Nachts lag sie an seiner Brust.

Als man ins Gefängnis ihn brachte,

sie stand am Fenster und lachte.

Er ließ ihr sagen: O komm zu mir,

ich sehne mich so sehr nach dir,

ich rufe nach dir, ich schmachte –

sie schüttelt’ das Haupt und lachte.

Um Sechse des Morgens ward er gehenkt,

um sieben ward er ins Grab gesenkt;

sie aber schon um achte

trank roten Wein und lachte.

Ror Wolf

ruhe ruhe

aus der ferne grüßt der watzmann spitz.

und hans waldmann fällt in einen schlitz.

waldmann hat sich nichts daraus gemacht.

er steht auf und fällt in einen schacht.

waldmann steigt heraus und lacht, jedoch

danach fällt hans waldmann in ein loch.

schon erhebt er sich, in alter frische,

gleich danach fällt er in eine nische.

ja, sagt waldmann, gut, in diesem sinne,

und fällt gleich danach in eine rinne.

er steht auf und kommt heraus zum glücke

und fällt gleich danach in eine lücke.

er steht auf, hans waldmann, ja das tat er.

und er fällt hinab in einen krater.

nicht so schlimm, sagt waldmann, doch dann bricht er

plötzlich ein und fällt in einen trichter.

als er aufsteht, sagt er: na, ich denke,

das genügt; und fällt in eine senke.

nein, sagt waldmann, jetzt ist schluss, ich dulde

so was nicht; und fällt in eine mulde.

schluss, sagt waldmann, ich will das nicht haben.

er steht auf und fällt in einen graben

ende, sagt er, das wird mir zu bunt.

und er fällt hinunter in den grund.

waldmann, hans, er wirbelt durch die luft.

scheiße, schreit er und fällt in die kluft.

scheiße, schreit er und verliert den halt,

und ist schließlich aufgeprallt im spalt.

er steht auf und sagt: der ganze kram

kotzt mich an, und fällt in eine klamm.

aufgestanden schreit er: gott verflucht,

und rutscht ab und fällt in eine schlucht.

als er aufsteht sagt er: arsch und zwirn,

leckt mich fett, und fällt in einen firn.

wie erträgt man, ruft er, dieses leben?

und man sieht ihn in die tiefe schweben.

nun ist sense, ruft er, nun ist ende,

und er stürzt hinunter ins gelände.

als er aufsteht, waldmann, wieder mal,

ruft er nichts und fällt hinab ins tal.

Waldmann sagt: da ist wohl nichts zu machen.

und er klopft den schnee von seinen sachen.

er erhebt sich, schüttelt sich und lacht,

siehe oben, lacht, wie abgemacht.

und der fremde, der das alles sieht,

steht am watzmann, schwarz, und spielt ein lied.

schiebt den bogen auf der violine.

donnernd kommt vom gipfel die lawine.

waldmann lacht, jetzt fällt der sogenannte

fremde ab vom berg auf eine kante.

waldmann, von dem hier die rede ist,

sieht den fremden liegen, aufgespießt.

auch die violine fällt hinunter.

waldmann lacht und sagt: das ist kein wunder.

waldmann, hans, verlässt die gegend schnell

und bezieht ein anderes hotel.

H. C. Artmann

nun kommt der schreckliche taifun … *

nun kommt der

schreckliche taifun,

chinesen stürzen

aus den betten,

man hört auch

europäer muhn,

ein jeder will

sein leben retten.

der sturmwind biegt

den mangobaum,

es fliegen flöten,

clarinetten,

delphine schweben

wie im traum,

der orang utan

sprengt die ketten.

ein schatten flitzt

fassadentlang,

er weht vor sich

zwölf nofreteten,

durch küch und keller

dringt sein sang,

in flutterzinen,

rauchsonetten.

der luftzug stört

die yacht beim landen,

aus kirchen qualmen

cigaretten,

ein altes bankhaus

kommt abhanden.

aus tanzbars purzeln

omeletten,

ein kartenturm

geht flott zu schanden,

die nacht fällt

gelblich auf manhattan.

Joachim Ringelnatz

Zum Aufstellen der Geräte

(Ein Muster)

So unterwegs in einem schönen Hechtsprung

Erblickte er das Licht der Welt, das Leben,

Und hat – obwohl er damals doch noch recht jung –

Sich doch sofort in Hilfsstellung begeben.

Den Kniesturz übend und manch andre Tugend,

Verging ihm eine turnerische Jugend

Im Wachen teils und teils im Traum

Und Freitagnachmittags am Schwebebaum.

Vorturner wurde er und Löwenbändiger,

Seemann und Schornsteinfeger, Akrobat

Und schließlich turnerischer Sachverständiger