In der Ruhe liegt der Wahnsinn - Adam Fletcher - E-Book

In der Ruhe liegt der Wahnsinn E-Book

Adam Fletcher

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Beschreibung

"Ich war mit einem Plan hergekommen - zehn langweilige Tage sitzen, darüber nachdenken, wie toll ich war, darüber nachdenken, wie meine Beziehung zu Evelyn in die Brüche gegangen war, nach Hause fahren und alles in Ordnung bringen –, aber wie der Philosoph Mike Tyson einmal sagte: ‹Jeder hat einen Plan, bis er eins aufs Maul bekommt." Adam und Evelyn stecken in einer Sackgasse, ihre Beziehung droht ihnen zu entgleiten. Hinter seinem Rücken meldet sie ihn für ein Vipassana-Retreat an: Zehn Tage Schweigen, zehn Tage Meditieren, zwölf Stunden am Tag! Ohne Bücher, ohne Handy, ohne Internet! Was in diesen zehn Tagen passiert, hat das Zeug dazu, sein Leben umzukrempeln – wenn er nur alles überlebt ... In seinem schonungslos offenen, komischen und berührenden Buch nimmt Adam Fletcher uns mit auf einen Roadtrip ohne Reiseversicherung: ins eigene Innere, wo er schließlich lernt, sich selbst zuzuhören – und wieder hinaus, zu den Menschen und zur Liebe seines Lebens.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Titel

Adam Fletcher

IN DER RUHE LIEGT DER WAHNSINN

Wie ich in einem 10-tägigen Schweige-Retreat den Verstand verlor, aber mein Glück und alles andere fand

Aus dem Englischen von Ingo Herzke

C.H.Beck

Übersicht

Cover

Inhalt

Textbeginn

Inhalt

Titel

Inhalt

Widmung

Motto

VORBEMERKUNG

1. KAPITEL

Bad Neudorf, Deutschland

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

5. KAPITEL

Berlin, ungefähr zwei Jahre vor dem Retreat

6. KAPITEL

7. KAPITEL

8. KAPITEL

9. KAPITEL

Die ersten fünf Minuten jeder Meditationseinheit des ersten und zweiten Tages

10. KAPITEL

Berlin, etwa anderthalb Jahre vor dem Retreat

11. KAPITEL

12. KAPITEL

13. KAPITEL

Berlin, ein Jahr vor dem Retreat

14. KAPITEL

15. KAPITEL

Berlin, drei Monate vor dem Retreat

16. KAPITEL

17. KAPITEL

Berlin, einen Monat vor dem Retreat

18. KAPITEL

19. KAPITEL

Berlin, zwei Tage vor dem Retreat

20. KAPITEL

21. KAPITEL

22. KAPITEL

23. KAPITEL

24. KAPITEL

25. KAPITEL

26. KAPITEL

27. KAPITEL

28. KAPITEL

29. KAPITEL

30. KAPITEL

31. KAPITEL

32. KAPITEL

33. KAPITEL

34. KAPITEL

35. KAPITEL

36. KAPITEL

Vier Monate nach dem Retreat

Zum Buch

Vita

Impressum

Widmung

***

All jenen gewidmet, die ich im Lauf der Zeit entfreundet habe. Es tut mir leid, dass ich kein besserer Mensch war.

Motto

«When there is nothing left to burn, you have to set yourself on fire.»

Stars, Your Ex-Lover Is Dead

VORBEMERKUNG

Ich habe Namen und Erkennungsmerkmale vieler Menschen in diesem Buch geändert (einem sogar einen Bart zugefügt!), weil ich fragwürdige Dinge über sie sage und nicht will, dass sie mich finden und verprügeln. Ich habe eine zarte Konstitution, die Prügel nicht gut verträgt. Auch den Namen meiner Partnerin habe ich verändert, weil sie mich darum gebeten hat und wir die Wohnung teilen, weshalb sie mich ganz leicht verprügeln kann, sogar im Schlaf.

In diesem Buch werden die beiden schlimmsten Jahre (Unfruchtbarkeit) und die beiden schlimmsten Wochen (Vipassana) meines Lebens auf eine Art und Weise vermengt und komprimiert, die meiner Meinung nach Ihren Lesegenuss erhöht, sich aber zugleich große Freiheiten mit dem Wie und Wann der tatsächlichen Ereignisse herausnimmt. Bitte verzeihen Sie mir dieses Glattbügeln der Geschichte.

Ich habe auf jeden Fall alle Ereignisse drin gelassen, bei denen ich so richtig dumm dastehe.

Gern geschehen.

Legen wir los …

1. KAPITEL

Bad Neudorf[1], Deutschland

In meinem Kopf war irgendeine Sicherung durchgebrannt. Ich packte die Zaunstangen am oberen Ende und schwang mein Bein darüber. Sie hatten gesagt, hier gebe es keine Zäune. Es sei kein Gefängnis.

Sie hatten gelogen.

Herzukommen war keine gute Idee gewesen. Ihre Idee. Ich war nicht stark genug für diesen Ort. Würde nicht bis zum Ende durchhalten, selbst wenn unsere Beziehung auf dem Spiel stand.

Ich sah auf die kahlen Felder jenseits des Zauns und in der Ferne dahinter diese Kleinstadt. Ein Ort, wo es ein normales Leben gab, normale Menschen, normale Cheeseburger.

GIN & TONIC.

Ich schwang das andere Bein über den Zaun, sodass ich auf den schmalen Holzlatten saß, die unter mir wackelten. Es war nur ein kleiner Sprung in die Freiheit. Wenn ich unten war, könnte ich rennen, was hier auch verboten war. Hier war alles verboten.

Wollte ich das wirklich tun?

Ja.

Moment, war das ein Pfiff? Ich sah mich um in Richtung Camp. Er war es. Der junge Uri Geller. Er kam mit dem breiten, durchgeknallten Grinsen auf mich zu, das er immer im Gesicht trug.

«Kommen Sie herunter», sagte er und knipste dann zu meinem Erstaunen das Lächeln aus. «Ich habe schlechte Nachrichten.»

Fußnoten

1 Ich habe vergessen, den Namen der Stadt zu notieren, aber alle Provinzstädte in Deutschland haben ein Bad vor dem und ein Neu- im Namen, also besteht eine etwa fünfzigprozentige Chance, dass sie Bad Neudorf hieß, und wenn nicht, dann hieße sie jedenfalls gern so.

2. KAPITEL

Evelyn: Wo bist du?

Adam: Büro.

Evelyn: Heute ist Samstag.

Adam: Deadline.

Evelyn: Du setzt deine Deadlines selbst.

Adam: Ich bin eben ein strenger Projektleiter …

Evelyn: Komm nach Hause. Ich hab eine Überraschung.

Ich richtete mich auf und klappte den Laptop zu. Ich lümmelte auf dem schwarzen Ledersofa im Büro und schaute mir eine packende Dokumentation über Aktivisten in Schottland an, die Widerstand gegen den Bau eines Golfplatzes leisteten. Heldinnen und Helden. Es war tatsächlich Samstag, aber das war kein Grund, diesen Ort nicht als Ausrede vorzuschieben, um nicht zu Hause zu sein, in der Wohnung, die ich mit meiner Freundin Evelyn teilte, einer Frau, die einmal vollkommen gewesen war und es, wie ich hoffte, auch wieder werden könnte.

In letzter Zeit kam ich meist hierher, um ihr auszuweichen.

Womit wollte sie mich überraschen? Wieso wollte sie mich überhaupt überraschen? Sie wusste doch, dass ich Überraschungen hasste. Es konnte doch nicht … oder doch? Ich blätterte in meinem geistigen Kalender. Nein. Es war noch drei oder vier Tage hin. Und sie erzählte zwar dauernd, wie normal sie sich fühlte, aber sie war auch ungeheuer pessimistisch geworden – sie war ihre eigene Regenwolke. Unser Leben war sehr nass geworden.

Ich ging auf die Straße und stieg auf mein Rad. Zehn Minuten und drei Beinahe-Zusammenstöße mit SUVs später öffnete ich die graue Eingangstür unseres Mietshauses und trottete die Treppe hinauf.

Erster Stock.

Zweiter Stock.

Dritter Stock.

Dauerte das sonst nicht länger? Wieso waren es plötzlich nur so wenige Stufen? Hatte jemand Stufen entfernt? Normalerweise wünschte ich mir weniger Treppensteigen; das war jetzt vorbei.

Vierter Stock.

Unsere Wohnungstür.

Ich zog mein Handy aus der Tasche, wischte ein bisschen herum, steckte es wieder ein, überlegte, die Treppen wieder hinunterzusteigen und noch langsamer wieder raufzukommen. Vielleicht auf dem Bauch kriechend. In was für einer Stimmung war sie wohl? Unmöglich einzuschätzen, aber sicher irgendwo zwischen stiller Verzweiflung und … sehr lauter Verzweiflung.

Ich machte die Tür auf. «Hey», rief ich durch den Flur.

«Hi», sagte sie und trat aus der Küchentür, die widerspenstigen blonden Haare zu einem losen Pferdeschwanz gebunden. Sie trug einen blauen Strickpullover und flauschige weiße Pantoffeln, hatte eine rote Teetasse in der Hand und sah aus wie eine Werbung für Kamillentee. Sie führte Krieg mit ihrem Körper und gönnte ihm keine schönen Sachen mehr, nur noch Schlabberklamotten. Zu ihren Füßen lag meine vollgestopfte Adidas-Sporttasche. Die normalerweise hinten unten in unserem Kleiderschrank lebte.

Warum liegt die da? Schmeißt sie mich raus? Möchte ich rausgeschmissen werden? Was ist das für ein Gefühl … Erleichterung?

Moment. Neben der Tasche. Aufgerollt und rot. Ein Kissen? Zwei Kissen? Eine Yogamatte? Ich besaß keine Yogamatte. Yoga war bloß synchrones Verbiegen; ich hasste Verbiegen.

«Willst du verreisen?» Ich neigte den Kopf in Richtung Reisetasche mit gespielter Gelassenheit, wofür ich sowohl ein angeborenes Talent als auch reichlich Übung hatte.

Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder. «Das ist deine Tasche, Sherlock.»

«Ach ja … stimmt.»

«Du verreist.» Sie lächelte verschmitzt, ihre schmalen Augenbrauen zuckten kurz nach oben. «Aber zuerst müssen wir reden. Couch?»

Ich wandte mich zur Wohnzimmertür. «O-o-kay?»

Sie folgte mir zu unserer weißen Vintage-Couch. Wir hatten den Dreisitzer zusammen entdeckt, in einem Trödelladen, der sich als Antiquitätenhandel aufspielte, gleich nach meinem Einzug vor zwei Jahren. Damals hatten wir so viele Abende darauf gekuschelt und geknutscht, während Hintergrundmusik aus den Boxen säuselte, hatten uns Geschichten erzählt und Wein getrunken und gegessen, was sie an dem Tag gekocht hatte. Ich hatte in fünf Monaten fünf Kilo zugenommen.

Inzwischen war es vor allem meine Couch. Sie saß lieber auf dem roten Sofa an der anderen Wand. Der flache, rechteckige skandinavische Couchtisch dazwischen war leer – bis auf einen Stapel Zeitschriftenartikel mit Unterstreichungen, Markierungen und Klebezetteln. Sie las offenbar wieder nächtelang, wühlte sich durch Fakten und Meinungen, tauchte mit neuen Zweifeln aus dem Kaninchenbau auf.

Ich setzte mich an die Wandseite, sie nahm auf der Türseite Platz. Der mittlere Sitz blieb leer: Niemandsland. Ich schaute auf die Deko-Wand, die wir fliederfarben gestrichen hatten. Dort hing ein gerahmtes Foto von uns in Winnie, dem Tuk-Tuk, mit dem wir gemeinsam in Indien ein Rennen gefahren waren, gleich nachdem wir uns kennengelernt hatten. Sie saß am Steuer, ich lehnte mich seitlich heraus und hielt den Selfie-Stick.

Der erste Rausch unserer Beziehung, noch bevor wir überhaupt wussten, dass daraus eine Beziehung werden würde. Ich erkannte uns nicht wieder. Das war ein goldenes Jahr gewesen – das Tuk-Tuk-Rennen, drei intensive Monate in der Türkei, eine gemeinsame Wohnung, weitere Abenteuer in Thailand und Sri Lanka, und die ganze Zeit blieb unsere Liebe hell, rein, unberührt. Eine Geschichte, die wir selbst kontrollierten, jedes neue Kapitel besser als das vorherige.

Auf der anderen Seite des Raums disharmonierte ihr öde gestreifter türkischer Läufer mit meinem herrlich gemusterten persischen Teppich, sie zankten sich wie ein altes Ehepaar, das weder alt noch verheiratet sein wollte. Warum hatten wir versucht, aus zwei absolut anständigen Wohnzimmern diesen krass überladenen Kulturkampf zu machen? Die Kerze in der Tischmitte war seit Monaten unverändert groß. Wann hatten wir zuletzt Gäste eingeladen? Wenn selbst ich nicht hier sein wollte, warum sollte es irgendjemand anderes wollen?

Sie stellte ihre Tasse auf den Couchtisch. «Also», sagte sie und kapselte sich ein, zog die Beine an, rückte nach hinten, lehnte sich an mehrere Kissen und die feste Seitenlehne, die Knie vor der Brust. Die Verteidigungshaltung für den wahrscheinlich folgenden Verbalkrieg. Ich hatte das Gefühl, in einen Bienenschwarm geworfen zu werden. Sie umschwirrten mich und stachen mir die Kehle zu. War’s das? War dies tatsächlich das Ende?

Ich verschränkte die Arme. Löste sie wieder. Verschränkte sie wieder. «Du kommst nicht gut mit der Sache klar.» Sie musste gar nicht ausführen, was die Sache bedeutete. Die Sache beherrschte unser Leben. Oder genauer gesagt, unsere immer invasiveren Versuche, die Sache abzuwenden.

«Ich?», entgegnete ich empört. «Ich komme sehr gut damit klar. Du hast Probleme.»

«Nein.» Sie wappnete sich, blinzelte eine Träne weg. Warum? In den letzten Monaten hatte ich sie so oft weinen sehen, dass es mich nicht mehr berührte. Das war wie das Wetter, es kam und ging wieder.

«Du arbeitest nicht daran», sagte sie.

«Wir haben daran gearbeitet. Sie haben gesagt, diesmal sei alles perfekt gelaufen. Es wird klappen. Du musst nur daran glauben. Have a little faith.» Und ich wackelte in Gedenken an George Michael mit den Hüften.

«Es wird nicht klappen. Wir hätten die ultra-lange Prozedur machen sollen, aber es wollte mich ja niemand lassen.»

«Ist noch viel zu früh, um sicher zu sein.»

Sie holte tief Luft und atmete resigniert aus. «Nein, ist es nicht. Jedenfalls: Erinnerst du dich an den Flyer, auf den wir in der Klinik gestoßen sind? Vipassana», sagte sie, ein Wort wie ein Pistolenschuss. «Ich habe da noch am selben Tag hingeschrieben, weil ich wusste, du würdest es nicht tun.»

Ich erinnerte mich. Ein zehntägiges Schweige-Retreat mit dem Versprechen, meinen Geist frei zu machen und meine Seele im Aufwind innerer Einsichten in die Höhe steigen zu lassen.

Meine Augen wurden schmal. «Du bist echt hinterhältig, weißt du das?»

Sie zuckte die Achseln. «Kann sein. Wir haben nur noch zwei Zyklen, wenn dieser hier scheitert. Du musst dich mal damit beschäftigen, was danach passiert.»

«Es wird wieder so, wie es mal war?», sagte ich etwas lauter. «Wir haben wieder Spaß? Wie früher? Als wir Spaß hatten? Du erinnerst dich doch, dass wir einmal Spaß hatten, oder?»

«Vielleicht sind wir über den Spaß hinaus. Post-Spaß, sozusagen.»

«Und wie soll Vipassana mir da weiterhelfen? Du hast doch deinen Humor verloren, nicht ich.»

«Der Humor ist ja vielleicht Teil des Problems.»

«Humor ist nie das Problem.»

«Humor ist ein Schutzschild. Und da du ja keine Paartherapie mit mir machen willst. Und auch keine allein.» Sie schüttelte den Kopf, als würde sie die Dummheit dieser Haltung immer noch schmerzen. Als wäre sie es, die von einem Bienenschwarm angegriffen wurde. «Muss das hier eben reichen. Bei so viel Zeit musst du einfach irgendwas über dich selbst erkennen. Und über uns. Ob es noch ein Uns geben wird.»

«ES WIRD EIN UNS GEBEN.»

«Dein Zug geht in einer Stunde», sagte sie.

«Was?» Mir wurde schwarz vor Augen. «Nein. Wieso?»

«Ich habe versucht, später im Jahr was zu kriegen. Für nach der … du weißt schon.» Ich wusste. «Aber es ist immer ausgebucht. Offenbar versuchen die Leute jahrelang, einen Platz zu kriegen. Heute morgen haben sie mich angerufen. Jemand hat abgesagt. Und wer kriegt schon so kurzfristig elf Tage frei?» Sie gluckste vergnügt. «Nur du.»

«Aber ich halte gar nichts vom Meditieren. Da sitzt man bloß mit geschlossenen Augen rum und darf nicht einschlafen.»

«Es geht doch nicht ums Meditieren.»

Ich sah mich hektisch im Zimmer um. «Aber wenn ich das tatsächlich machen sollte, was ich aber nicht werde, weil es bescheuert ist, dann bräuchte ich Zeit zum Vorbereiten, und in vier Tagen wissen wir Bescheid, richtig?»

Sie drückte an ihrem Ohr herum. «Es hat nicht geklappt. Es klappt nie. Wie lange versuchen wir es schon?»

«Sprich die Zahl nicht aus.»

«Und selbst wenn», sagte sie und verdrehte die Augen, weil es so unmöglich war, «und du es ein paar Tage später erfährst, das ist doch keine große Sache, oder?»

«Nein, stimmt.»

«Ich würde es mir nicht unbedingt so wünschen, aber ich wünsche mir das alles nicht so.»

Ich zupfte an den Härchen meiner Unterarme. «Ich kann zehn Tage schweigend herumsitzen, aber lernen werde ich nichts.»

«Wirst du. Wenn du durchhältst. Viele Leute brechen ab.»

«Abbrechen würde ich nicht. Ich kann mir vorstellen, wieso das vielen Menschen schwerfällt, aber mir nicht. Aber ich kann es mir sowieso nicht leisten. Das letzte Jahr hat uns ziemlich ruiniert.»

«Es kostet nichts», sagte sie. «Oder vielmehr: Du zahlst, so viel du willst.»

Mir fiel die Kinnlade herunter. «Warum bieten sie das denn gratis an?»

«Weil sie richtig davon überzeugt sind vielleicht?»

«Was für Trottel.»

Wir saßen uns schweigend gegenüber, musterten uns gegenseitig, hielten unbeirrt Blickkontakt. Es kam mir vor wie am Ende einer Pokerrunde, wenn man ganz sicher zu wissen glaubt, was der andere auf der Hand hat, aber jetzt entscheiden muss, wie viel man auf das zu setzen bereit ist, was man zu wissen glaubt. Ich wollte eigentlich nicht dahin, aber andererseits wollte ich auch nicht hier sein. Und mir gefiel auch nicht, dass sie dachte, ich würde nicht durchhalten. Ich wollte ihr das Gegenteil beweisen. Es ihr zeigen. «Ich brauche Zeit zur Vorbereitung.»

«Warum musst du dich auf etwas vorbereiten, was dir so leichtfällt?», konterte sie.

«Hmmm.»

«Und ich habe es ja selbst gerade erst erfahren. Und du warst wieder mal unterwegs, irgendwo, wie üblich.»

Ein kleiner Schuldblitz durchzuckte mich.

«Und ich musste Meditationskissen kaufen», sagte sie.

«Glaubst du wirklich, dass ich nicht zehn Tage lang allein in einem Zimmer sitzen kann?»

«Spielt es eine Rolle, was ich denke?»

«Über mich?» Ich runzelte die Stirn. «Ja.»

«Nein. Ich glaube nicht, dass du zehn Tage allein in einem Zimmer sitzen kannst. Jedenfalls nicht, ohne zu schreiben.»

«Darf ich denn schreiben?»

«Nein.»

«Mist.»

Sie zuckte die Schultern. «Tja.»

«Ich bin mit mir im Reinen», sagte ich. «Meine Gedanken greifen mich nicht ständig so an wie deine.»

«Doch, tun sie», antwortete sie. «Nur anders. Wir haben irgendwie die Kontrolle über diese Sache verloren.» Schon wieder diese Sache. «Und ich versuche zu verstehen wieso. Und du musst das bitte auch tun, okay? Und dort kannst du das. Das wird dich dazu bringen.»

«Aber meine Verteidigung steht felsenfest. Meine Bücher sind meine Therapie.»

«Nein», sagte sie. «Meine Güte, manchmal habe ich das Gefühl, ich kenne dich besser als du dich selbst.»

Ich lachte oder versuchte es jedenfalls, es kam aber nur ein Schnauben heraus. «Das ist ja eine kühne Behauptung.»

«Du musst über eine ganze Menge nachdenken», sagte sie.

«Wir haben immer noch Optionen.» Ich griff nach ihrer Hand, doch die wollte sie mir nicht reichen.

«Nicht wirklich», sagte sie. «Tut mir leid, dass es jetzt sein muss, aber das ist es wert. Mach es. Bitte.»

Ich wich ihrem Blick aus und schaute aus dem Fenster zum Haus gegenüber. Dort hatte ein Paar vor Kurzem ein Kind bekommen, und sie schaukelten es vor ihrem großen Fenster, bewegten die Lippen dabei.

«Fünfzig Minuten», sagte sie. «Dein Zug.»

«Scheiße.»

«Ja.»

3. KAPITEL

Nach einem irren Sprint mit Kissen im Schlepptau ließ ich mich im Zug auf einen Sitz fallen. Ein Pfiff ertönte, und bald verschwand die Stadt wie ein schlechter Traum von Moderne, wurde abgelöst von dem, was Deutschland am besten kann – flache braune Äcker. Will es das Bild ein bisschen aufpeppen, stellt es eine grasende Kuh hinein. Und wenn es mal so richtig verrückt drauf ist, stellt es die Kuh auf einen kleinen Hügel.

Ich setzte meine großen schwarzen Kopfhörer auf, hörte laut Kate Bush, um mich besser zu fühlen, und machte es mir für die Fahrt bequem. Manche Menschen wären vielleicht nervös geworden angesichts der Nummer, in die ich gerade eingewilligt hatte – vor allem, wenn ihre bessere Hälfte überzeugt war, dass es intensiv, anstrengend und herausfordernd werden würde –, aber ich war vor allem froh, elf Tage für mich zu haben. Elf Tage, die ich nicht in den Trümmern unserer Beziehung würde verbringen müssen. Es fühlte sich an, als wäre ich aus dem Gefängnis entlassen und sofort in den Urlaub geschickt worden. Zwar nicht kostenlos, aber fast genauso gut: So viel zahlen, wie man will.

Ich wollte sehr wenig zahlen.

Was Evelyn getan hatte, war seltsam, aber nicht untypisch. Sie hatte mich schließlich aus einer Laune heraus nach Indien mitgenommen, gerade mal einen Abend nachdem wir uns kennengelernt hatten. Kurz nach unserer Rückkehr hatte sie uns für drei Monate nach Istanbul entführt. Sie war impulsiv, das mochte ich an ihr. Und das hier war schließlich auch so eine Art Urlaub. Nur dass der Trip in die Tiefen meines Geistes gehen sollte, eines meiner liebsten Reiseziele.

Ich kenne dich besser als du dich selbst. Dieses Prachtexemplar von einem Satz unterhielt mich die ganze vierstündige Zugfahrt lang. Seit sechsunddreißig Jahren lebte ich in der Festung meines Denkens. Wie konnte eine Person, die nur deren gepflegten Vorgarten betreten hatte, etwas von den Überzeugungen und Wahnvorstellungen, den Träumen und Traumata, den Spleens und Neurosen ahnen, die sich hinter den hohen, gut bewachten Mauern verbargen?

Viele traurige Kühe später setzte der Zug mich in einer abstoßend mittelmäßigen deutschen Kleinstadt ab: ein zugiger, ungeheizter Bahnhof, zwei Billigbäcker (einander gegenüber und, so nahm ich an, im Krieg um Kunden), ein welker Blumenladen, ein griechisches Restaurant und Nieselregen, der auf makellos gepflasterte Straßen tröpfelte, über die alte Menschen in jungen Autos sausten. Eine Frau rammte mich mit ihren Kissen, als sie auf einen schmutzfleckigen Kleinbus zuhastete. Er war das einzige Fahrzeug auf dem Bahnhofsparkplatz. Warum hatte sie es so eilig, fragte ich mich, bis mir einfiel, dass sie das hier tatsächlich wollte. Sie wollte unbedingt Vipassana lernen, unbedingt ihren Geist aus den Fesseln seiner Gedanken befreien.

Ich folgte ihr.

Die Fahrt zum Retreat-Zentrum führte nur wenige Minuten über leere Landstraßen durch sanfte, grasige Hügel. Das Zentrum war wie ein großes I angelegt. An einem Ende stand ein neuer zweistöckiger Meditationssaal, am anderen Ende ein Speisesaal mit großer Terrasse nach hinten. Die Mitte bildeten vier einstöckige Backsteinbauten vor einem weiten bewaldeten Panorama, das sich bis hinunter zu einem Bauernhof erstreckte. Es sah aus wie eine Einrichtung, in der Prominente eine Menge Geld dafür bezahlten, Grünkohl-Smoothies zu trinken und mit hartnäckigen Dämonen zu ringen. Bloß war ich kein Promi. Ich würde bezahlen, was ich wollte. Und ich hatte keine Dämonen.

Ein dünnes rotes, in Hüfthöhe gespanntes Seil teilte den Fußweg in der Mitte. Ein Schild sandte Frauen auf die rechte Seite, zu ihrem Eingang, uns Männer nach links zu unserem. So war das ganze Retreat organisiert, streng nach Geschlechtern getrennt. Aber warum? Glaubten sie wirklich, ich könnte nicht neben einer Frau meditieren? Der Anblick ihres wohlgeformten Frauenhinterns in bequemen Yoga-Leggings würde mich vom Pfad der Erleuchtung abbringen?

Ich finde, ein bisschen mehr Vertrauen hätten sie schon in uns setzen können.

Mit beschwingtem Schritt folgte ich dem Seil und legte meine Tasche auf den Haufen vor dem Eingang. Ich lächelte fröhlich vor mich hin, weil ich von zu Hause weg war. Ich ging hinein und nahm eine Broschüre vom Tisch, ehe ich mich in eine lange Schlange einreihte, die schlimmste Sorte von Schlangen. Der Raum war sehr hell. Licht strömte durch die breiten Glasschiebetüren, die auf eine enorme Terrasse hinausführten. Die Wände waren orange gestrichen, es roch nach zitronenduftigen Putzmitteln. Nur wenige Leute redeten. Ich las zufrieden meine Broschüre, als der Mann hinter mir sich demonstrativ räusperte.

Ich ignorierte ihn.

«Ha», sagte er.

Ich ignorierte ihn weiter.

Er kicherte. Dann noch einmal. «Hahaha.»

Ich drehte mich ein ganz klein wenig um. Er war ein sehr bärtiger rothaariger Bär von einem Mann mit wundervollen, durchdringenden, leicht schielenden grünen Augen. Er trat von einem Bein aufs andere und wirkte irgendwie fahrig, zerfranst, so als wäre er gerade aus einem Baum gefallen und hätte womöglich eine Gehirnerschütterung. Obwohl er wie ein vollständig ausgebildeter Erwachsener aussah, trug er eine Jeans-Latzhose, eine Seite aufgeknöpft, und darunter ein langärmliges rotes T-Shirt.

«Das erste Mal?», fragte er.

«Ja.»

Wieder gluckste er vergnügt. «Die Erstlinge erkennt man gleich. Sie sehen noch nicht verängstigt aus.»

«Wie oft waren Sie denn schon dabei?»

«Dies ist meine fünfte Vipassana.»

Ich zuckte die Achseln. «Dann kann’s ja nicht so schwer sein.»

«Sie werden schon sehen», sagte er unheilschwanger.

«Okay», antwortete ich und wandte mich wieder meinem Faltblatt zu.

Vipassana ist eine der ältesten indischen Meditationstechniken. Nachdem sie der Menschheit lange Zeit abhandengekommen war, wurde sie vom Buddha vor über 2500 Jahren wiederentdeckt. Das Wort «Vipassana» bedeutet «die Dinge sehen, wie sie wirklich sind». Dies ist der Prozess der Selbstreinigung durch Selbstbeobachtung.

War ich unrein?, fragte ich mich, während ich Kate Bushs zeitlosen 80er-Klassiker Running Up That Hill pfiff. Dabei spürte ich den heißen Blick des Zottelbären am Hinterkopf, der unbedingt wollte, dass ich mich umdrehte und mit ihm redete. Doch ich brauchte keine Ratschläge. Das hier würde nicht schwierig werden. Bloß langweilig.

«Ja», sprach er in die Luft. «Ha.»

Ich ignorierte ihn weiter.

«Gute Broschüre?», fragte er.

Ich drehte mich sehr demonstrativ langsam um. «Hmm?»

«Ich erinnere mich noch gut an mein erstes Mal», sagte er.

«Ach ja?»

Er wippte auf den Fersen nach hinten und verdrehte die Augen himmelwärts. «Die Hölle.»

«Nein, die Broschüre ist nicht besonders gut.»

Man beginnt damit, seine natürliche Atmung zu beobachten, um den Geist zu fokussieren. Mit geschärftem Bewusstsein fährt man fort, die Veränderungen am eigenen Körper und Geist zu beobachten, und erlebt die universellen Wahrheiten der Vergänglichkeit, des Leidens und der Ichlosigkeit.

Ich mochte mein Ich eigentlich ganz gern. «Um ehrlich zu sein, hätte ich es fast nicht geschafft», redete er ohne jegliche Ermunterung weiter. «Es stand wirklich auf der Kippe, aber irgendwas hat mich hiergehalten.»

«Tatsächlich?», murmelte ich ganz leise. Ich wollte mich gern dafür interessieren, aber wir waren verschieden, er und ich. Ich hatte im Grunde keine Schwachstellen, er jedoch jede Menge, das merkte ich. Und damit meine ich gar nicht die Latzhose. Nein, eher seine Fahrigkeit – wahrscheinlich rang er mit einer traumatischen Vergangenheit inklusive Mobbing, Vernachlässigung und Abhängigkeit von Schokoladenkeksen. Natürlich war es hart für ihn gewesen, mit seinen Gedanken allein zu sein, aber mein Geist war von oben bis tief unten pure Zuckerwatte.

«Wollen Sie einen Rat?», fragte er, da er sein Ein-Personen-Publikum offenbar immer noch ganz falsch einschätzte.

«Mm-hmm», brummte ich fast unhörbar.

Sein Grinsen leuchtete auf wie ein Feuerwerk. «Geben Sie nicht auf. Machen Sie, was Sie wollen, aber bleiben Sie dran.»

Warum sollte ich aufgeben müssen?, fragte ich mich, und dann war er endlich so lange still, dass ich den täglichen Zeitplan studieren konnte.

4:00Morgendliches Wecken durch die Glocke

4:30–​6:30Meditieren im Saal oder im eigenen Zimmer

6:30–​8:00Frühstückspause

8:00–​9:00Gruppenmeditation im Saal

9:00–​11:00Meditieren im Saal oder im eigenen Zimmer, je nach Anweisung der Kursleitung

11:00–​12:30Mittagessen und Erholungspause

12:30–​14:15Meditieren im Saal oder im eigenen Zimmer

14:30–​15:30Gruppenmeditation im Saal

15:45–​17:15Meditieren im Saal oder im eigenen Zimmer, je nach Anweisung der Kursleitung

17:15–​18:00Abendessen

18:00–​19:00Gruppenmeditation im Saal

19:00–​20:15Vortrag der Kursleitung im Saal

20:15–​21:00Gruppenmeditation im Saal

21:30Rückzug auf das eigene Zimmer – Licht aus

Es gab offenbar jede Menge Meditation und sonst nicht viel.

«Richtig gut wird es erst ab Tag fünf oder sechs», sagte der Bärenmann.

«Cool», entgegnete ich, dachte aber eigentlich: WERZUMTEUFELTUTSICHDASFÜNFMALAN?

«Wird es mit jedem Mal einfacher?» Die Neugier hatte mich übermannt.

Er überlegte und strich sich über den langen, zotteligen Mittelaltermarkt-Bart. «Es wird … anders schwer.»

«Warum machen Sie es dann immer wieder?»

Er holte tief Luft, als käme gerade der berauschende Duft der Selbsterkenntnis hereingeweht. «Das werden Sie selbst sehen.»

«Super.» Ich wandte mich der letzten Seite der Broschüre zu, auf der die Regeln versteckt waren.

Die Meditierenden verzichten freiwillig auf:

Das Töten jeder Art von Lebewesen

Diebstahl

Sexuelle Aktivitäten

Lügen

Jede Art von Rauschmitteln

Die Meditierenden, die bereits hier waren, verzichten zudem auf:

Nahrungsaufnahme nach dem Mittag

Sinnliche Vergnügungen und Körperschmuck

Erhöhte oder luxuriöse Betten

Kein Wunder, dass der rothaarige Zauberer so angespannt war und Wildfremden abgestandene Ratschläge feilbot. Zehn Tage ohne Abendessen würden mir auch Angst einjagen. Ich habe einmal im Leben eine Mahlzeit ausgelassen, 1999 war das, aber da war ich auch nicht bei Bewusstsein, und am nächsten Tag habe ich zweimal zu Abend gegessen, um es wieder auszugleichen. Und was sollten eigentlich sinnliche Vergnügungen sein? Yoga? Pornos? Bauchtanz?

Ich wurde an einen Tisch gerufen. Dahinter saßen drei Freiwillige nebeneinander. Hier im Zentrum arbeiteten nur Freiwillige, hatte ich gerade gelesen. Und sie hatten alle eins gemeinsam – ein breites Schimpansengrinsen, als hätten sie gerade den besten Witz der Welt gehört, könnten ihn aber unmöglich weitererzählen. Den musste man schon selbst kennen, klar?

«Haben Sie die Broschüre gelesen?», fragte einer der Freiwilligen. Er sah aus wie der junge Uri Geller: schmale Nase, kantiges Kinn, stechender Blick aus schmalen Augen.

«Ja, hab ich.»

«Gut. Telefon?»

Ich griff in die Hosentasche und tastete an den Kanten meines Handys entlang. Zehn Tage lang würde sie mich nicht erreichen können, falls sie mich brauchen sollte. Wobei ich in letzter Zeit sowieso zu nicht viel zu gebrauchen war. War ich vielleicht noch nie. Und es würde ja ohnehin nicht klappen. Das hatte sie deutlich gemacht. Und ich dachte genauso. Ihr gegenüber hätte ich es bloß nie zugegeben. Ich zog das Telefon aus der Tasche und händigte es aus.

«Sie haben kein weiteres Telefon bei sich, oder?», fragte der Mann.

«Nein.»

«Kein Handy?», hakte er nach, wobei ihm sein Lächeln ganz kurz wegrutschte, bis er es merkte und sofort korrigierte. «Nirgends?»

«Verstecken Menschen wirklich ein zweites Handy am Körper?»

«Sie würden sich wundern», sagte er und schob mir ein Blatt mit den Regeln hin. «Hier unterschreiben.»

Ich griff zum Stift, doch meine Hand sträubte sich, wie ich feststellte. Wieso? Was hatte ich schon zu verlieren außer Hühnchen, Selbstbefriedigung und Zeit? Jedenfalls nichts Wichtiges wie den Verstand, richtig?

Ich zwang meine Hand auf die Linie und kritzelte meinen Namen hin.

4. KAPITEL

Nach dem Einchecken schleppte ich mich, Kissen unter die Achsel geklemmt, Tasche über der Schulter, den schmalen Weg zum ersten Gästeblock entlang und suchte Zimmer fünf. Keins der Zimmer hatte ein Schloss, fiel mir auf, und dann erinnerte ich mich, dass wir auch nichts Stehlenswertes bei uns hatten.

Zimmer fünf war auf der linken Seite des Ganges, gleich hinter den blitzsauberen gemeinsamen Waschräumen. Es roch nach Kiefer, Pollen schwebten in der schwülen Hitze. Ich betete stumm, dass ich keinen Zimmergenossen haben möge, denn Schnarchen war nicht verboten, und drückte die Klinke hinunter.

Hinter der Tür befand sich ein schmaler Raum mit zwei Kiefernholzbetten hintereinander an der linken Wand. Ein großes rechteckiges Brett dazwischen bot zumindest einen Hauch Privatsphäre, jedenfalls wenn wir beide im Bett lagen und uns an die Wand schmiegten. War das wirklich nötig? Wir würden sowieso kaum hier drinnen sein, und wenn, dann würden wir wahrscheinlich schlafen. Am Fuß beider Betten lag zusammengelegtes Bettzeug. Verdammt.

Der gedämpfte Raum versuchte so sehr, neutral und nichtssagend zu wirken, dass er im Gegenteil seine Traurigkeit laut herausschrie. Nirgendwo hingen gerahmte Sonnenuntergänge; keine auffälligen Farbtupfer; keine inspirierenden Zitate vom Buddha oder vom Dalai Lama. Die ländliche Lage, die vielen Regeln und die strenge Einrichtung gaben mir das Gefühl, meinen ersten Tag an einer Militärakademie zu verbringen.

Die Bienen waren inzwischen stiller geworden. Weit weg von Evelyn hatten sie sich beruhigt. Ich öffnete den Reißverschluss meiner Sporttasche und rechnete ständig damit, dass ein stämmiger Mann mit Mütze hereinstürmte und mir beleidigende Limericks an den Kopf warf. In die Tasche hatte sie Unterwäsche, ein paar T-Shirts, meine Wasserflasche, Waschzeug und drei neue, dicke Jogginghosen gepackt – vielleicht damit ich beim Meditieren meine Knie schonen konnte? Durfte man auf den Knien meditieren?

Wusste ich nicht genau. Ich hatte eigentlich noch nie meditiert. Ich würde einfach die anderen imitieren.

Die Tür ging auf, ich drehte mich um und wollte gerade die Hand zum Gruß an die Stirn legen, ehe ich mich besann und mir stattdessen die Stirn rieb. Mein Zimmergenosse war ein kleiner, glattrasierter Mann mit Sonnenbrille. Er hatte ordentlich und unauffällig geschnittenes braunes Haar, trug beige Chinos, schwarzglänzende Lederschuhe und ein blaues Poloshirt von Ralph Lauren. Gepflegt, aber gewöhnlich.

«Ah, gut», sagte er.

«Hallo», antwortete ich und streckte ihm die Hand hin. Er griff fest zu und versuchte, mir die Hand abzuschütteln. Sein Mund lächelte, nicht aber seine unruhig zuckenden Augen. Das Edle Schweigen begann erst am nächsten Morgen, also konnten wir uns unterhalten.

«Ich bin Freddy», fuhr er fort. «Ich weiß, in Deutschland trifft man nicht so viele Freddys. Mein Name ist das einzig Ungewöhnliche an mir.»

Ich hatte schon jede Menge Freddys in Deutschland getroffen, aber ich wollte ihm nicht das Einzige nehmen, was ihn seiner Ansicht nach auszeichnete.

«Sie sehen auch nicht aus wie die anderen», sagte er.

Ich sah an mir herunter – Jeans mit ein paar Schokoladenflecken, ein einfaches blaues T-Shirt, abgewetzte braune Lederschuhe. Mein Outfit drückte vor allem Gleichgültigkeit aus. Das Zimmer und ich hatten vieles gemeinsam.

«Wie sehen die denn aus?» Ich fragte mich, ob er wohl auch den rothaarigen Bären getroffen hatte. Er grinste breit. Sehr ebenmäßige Zähne.

«Ach, Sie kennen die Typen doch.» Er stützte sich an der Wand ab, was in einem so schmalen Raum nicht schwer war. «So Aussteiger. Hippies und so. Männer mit Dutt. Veganer. Jongleure.» Das Wort «Jongleure» klang bei ihm wie sonst nur die Bezeichnung «Pädophile».

Ich nickte, denn so eine gewisse Schmuddeligkeit und Erdverbundenheit war mir bei der Gruppe auch schon aufgefallen, ich hatte das Gefühl, sie schworen wahrscheinlich auf Homöopathie. Evelyn nannte solche Leute Vollkörner. Hier gab es mehr Vollkorn als in einem Bällebad voller Buchweizen.

«Ich bin bloß so ein typischer Kleinstadtmensch», sagte Freddy und wippte dabei auf und ab. «Eigentlich sogar eher ein Dorfmensch, wissen Sie? Keinen Blödsinn. Immer mit dem Strom schwimmen. Ich heule mit den Wölfen und bin ganz zufrieden damit.»

Ich war es gewohnt, dass Deutsche sofort ins Englische wechselten, sobald sie meinen Akzent hörten, aber Freddy blieb beim Deutschen, was wohl hieß, dass er nicht zu den Kreisen gehörte, in denen ich üblicherweise verkehrte. Er hatte einen leichten bayrischen Akzent, aber ich konnte ihm noch gerade so folgen, und auch wenn ich nicht jedes Wort verstand, lieferte er so viele davon, dass mir die Ohren dröhnten.

«Ich glaube, ein typischer Dorfbewohner macht kein Vipassana-Retreat», sagte ich.

Er warf sich in die Brust. «Na, da muss sich ja mal was ändern, oder?» Er senkte das Kinn auf die Brust. Ich spürte, jetzt entschied er, ob er mir seine ganze Wahrheit anvertrauen wollte. «Meine Frau hat mich gerade verlassen. Das wird meine dritte Scheidung.» Er hielt drei Finger hoch. «Verrückt, oder? Bei jeder Hochzeitsplanung denkt man, das wird die letzte sein. Das ganze Gewese. So viele Zuschauer.» Seine Lippen wurden schmal. «Es war meine Schuld. Jedes Mal.»

Die Panik stach mir in die Augen. Mit seiner stämmigen Figur blockierte er die Tür und lud jetzt seinen gesamten Unrat auf mir ab. Ich wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte. «Aber es kann doch nicht ganz allein Ihre Schuld gewesen sein?», probierte ich und dachte dabei an meine drei ernsthaften Beziehungen vor Evelyn. War ich an den Trennungen schuld gewesen? Zweimal, würde ich sagen. Die andere Freundin hatte mich irgendwie für jemand anderen verlassen. Komisch, aber ich dachte nie viel darüber nach. Es half ja nicht.