In der Schutzhütte - Johannes Proelß - E-Book

In der Schutzhütte E-Book

Johannes Proelß

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Beschreibung

Dieses eBook: "In der Schutzhütte" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Johannes Proelß (1853-1911) war ein deutscher Schriftsteller, Übersetzer, Journalist und Literaturhistoriker. Inhalt: In der Schutzhütte Eingeregnet Wanderzauber Hochgefreit Die Geschichte der Malersleute Der Bötzler Im ewigen Eise Heimkehr Im Sonnenschein Aus dem Buch: "Ach, Onkel; ich kam damals gerade, kaum sechzehnjährig, aus der Pension von Lausanne; es war mein Eintritt aus der Schule ins Leben. Und was für ein Eintritt! Ein herrlicher Mai, blühender Frühling ringsum, freundliche, liebe Menschen, Freiheit und Jugendluft - nie vergessen kann ich den Tag meiner Hinfahrt, meiner Ankunft; es war, als stände der Himmel offen! O Gott - es war eben zu schön, als daß es hätte so bleiben können!" Eine plötzliche Ueberwallung des Gefühls erstickte die Stimme des Mädchens, sie mußte schluchzen, weinen. Doch bald fand sie wieder die Herrschaft über sich. "Verzeiht," sagte sie leise, "ich bin heute so aufgeregt und reizbar trotz all der Schönheit, die mich umgiebt; weiß selber nicht warum..."

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Johannes Proelß

In der Schutzhütte

Novellenkranz
e-artnow, 2015 Kontakt: [email protected]
ISBN 978-80-268-4248-4

Inhaltsverzeichnis

In der Schutzhütte
Eingeregnet.
Wanderzauber.
Hochgefreit.
Die Geschichte der Malersleute.
Der Bötzler.
Im ewigen Eise.
Heimkehr.
Im Sonnenschein.

In der Schutzhütte

Inhaltsverzeichnis

Eingeregnet.

Inhaltsverzeichnis

Noch einmal wurde das flatternde Gewölk, das die schneeumwandeten Schrofen des Säntis, der Gyrenspitze und des Alten Manns zu umschleiern strebte, durch den Sturmwind verjagt, der nun schon seit einer Stunde von der Innerrhodener Hochebene in die Felsenwelt des Appenzeller Gebirgs emporfegte. Die mächtigen Wolkenmassen, welche das tiefe Seealpseethal gleich dicken Dämpfen ausfüllten, wurden von ihm, in einzelne Fetzen zerrissen, emporgetrieben; oben aber in der Sphäre des ewigen Schnees stießen sie noch eine Weile auf den Widerstand der Sonne. Doch immer dichter kam es nachgedrängt, immer dunkler wurde es auch dort oben – noch ein kurzer Kampf zwischen den Dämonen des Lichts und der Finsterniß, und die letztere hatte gesiegt. Jetzt war auch die schlanke Säntisspitze und das letzte Stückchen blauen Himmels verschwunden und die empordrängenden Nebel hatten sich mit den Gewitterwolken oben so eng vereinigt, daß der Blick auch die verschiedenartigen Bewegungen der Dunstmassen nicht mehr zu verfolgen vermochte. Ja, der Wanderer aus dem schmalen Fußpfad, der sich hoch ob dem See auf der linken Firstkette über die Felsabhänge der Maarwies nach der Meglisalp hinzieht, vermochte überhaupt nichts mehr zu sehen als rings um sich grauen Nebeldunst und die immer dichter fallenden Regentropfen, die auf dem Geröll des Glimmerschiefers am Boden klatschend aufschlugen und die Alpenrosen am Abhange niederbogen.

„Eine schöne Geschichte,“ rief unmuthig ein älterer Herr von kräftiger Gestalt, dessen weißer Vollbart ein Gesicht von edlem Profil und lebhaftem Ausdruck umrahmte, „da wird’s ja völlig Nacht und es ist doch kaum erst vier Uhr. – Aber wer hatte recht?“ wandte er sich an seinen noch recht jugendlichen Führer, dessen bloße Füße mit Behagen die Nässe des vorher so heißen Weges zu empfinden schienen. „Ich traute dem Wetter schon unten in Weißbad nicht. Ihr aber bliebet dabei, es könne halt nur ein paar Tröpfli geben. Die paar Tröpfli ließen ja nicht auf sich warten; aber sie blieben nicht allein, und jetzt gießt’s in Strömen. Wie sollen wir so auf den Säntis kommen? Kaum den Weg unter seinen Füßen kann man noch erkennen.“

„Müssen halt auf der Meglisalp übernachten und morgen früh bei Zeiten naufigehn.“

„Ja, glaubt Ihr denn, daß das Wetter sich über Nacht aufhellt?“

„Wird schon gut, Herr. Ein Gewitterregen hält nicht die Ewigkeit an.“

„Und wie lange dauert’s denn noch bis zur Meglisalp?“

Ein lauter Donnerschlag, dessen Krachen mit schauerlichem Dröhnen in den Schluchten des Gebirgs widerhallte, erstickte die Antwort des mit seinem kurzen Alpenstock vor sich hin deutenden Burschen.

„Wenn wir schnell gehen, kann’s kein Viertelstündli mehr dauern.“

„Nun dann, junger Mann, vorwärts! Wir haben zum Glück den Wind im Rücken! … Hoho!“ unterbrach er sich, als vom grasigen Abhang über dem schmalen Pfad, den sie beschritten, lautes Getrampel vernehmbar ward und dazu ein Geräusch, wie wenn flüchtiges Wild durchs Knieholz bricht. Der Stadtherr blieb dabei stehen und faßte seinen Bergstock, als wollte er sich zur Wehr setzen.

„Nur unbesorgt, Herr, “ beruhigte der Führer. „Die Küh’ von der Alp sind es, hören S’ nicht das Geläut? Es geht über die Almen an uns vorbei. Die hellen Schellen – das sind die Geiß’n. Die Thiere merken, daß das Unwetter arg wird. Da suchen sie Unterschlupf in den Nothställen. Wir müssen ganz nahe dem Ziele sein.“

In schnellem Laufschritt, als sei ihm der vollbepackte Tragkorb auf dem Rücken mit dem Handgepäck des Touristen keine Last, flog der Bursche voran; der alte Herr bewährte auch jetzt seine Rüstigkeit und blieb dem jungen Blut wacker auf den Fersen. Als ein neuer Blitz den Aether zuckend durchfuhr und, eine schnell verlöschende Helligkeit verbreitend, in großer Nähe einschlug, lag vor den Wanderern das kleine Gehöft, das ihnen eine sichere Unterkunft für die Nacht versprach.

Der alte Herr mit den elastischen Sehnen war sofort in die große schwarzgeräucherte Küche getreten, die in jeder echten Alphütte zugleich das Haupt- und Familienzimmer bildet, und bald fand er sich mit dem Alpwirth, seiner Frau und einer Tochter derselben in bester Unterhaltung. Er hatte eine schlechtere Herberge in dieser Alpeneinsamkeit erwartet, wie er sagte; daß die Aufnahme eine gastliche sei, hatte er schon unterwegs auf seiner Herreise gehört. Gleich zwei Gebäude und beide für die Aufnahme von Touristen berechnet, das lasse er sich gefallen. Die beiden Gebäude waren zwar recht klein und dürftig, nur im Unterbau aus zusammengemörtelten Steinblöcken, im übrigen aus Holz roh zurecht gezimmert; aber der freundliche Herr, der sich seines nassen Lodenmantels entledigt hatte und sich nun behaglich am Feuer wärmte, über welchem der große Milchkessel am eisernen Haken hing, hatte ganz recht mit diesem Lob, war er doch auch ein vielerfahrener Alpengänger, dem gar wohl bekannt war, wie unbehaglich so manches Unterkunftshaus ähnlicher Art sich bietet. Im Hintergrunde des vom offenen Herdfeuer nur halb beleuchteten, an den Wänden mit blankem Milchgeschirr ausgestatteten Raumes saßen zwei Führer, jeder einen Napf Milch mit großem Appetit auslöffelnd.

„Wollen’s auch eine Milch?“ fragte die Sennin den Ankömmling.

„Danke, liebe Frau. Aber ich möcht’ schon lieber etwas Warmes. Das kalte Wetter draußen hat mich ganz ausgefroren.“ Er ließ sich von seinem Führer seinen Rucksack bringen und entnahm demselben eine Ledertasche, die mit allerhand Konserven und ähnlichen Nahrungsmitteln, wie sie dem Reisenden nützlich sind, gefüllt war. Er öffnete eins der Blechbüchschen und roch mit Wohlbehagen daran. „Kaffee können Sie doch kochen?“

Die Frau bejahte das, fast beleidigt über den Zweifel.

„Nun, nun,“ beruhigte der freundliche Herr, „hab’ mir schon in mancher Alphütte den Kaffee selbst kochen müssen.“

Er schüttelte mit prüfendem Blick aus seiner Büchse ein Häufchen des bereits gebrannten und gemahlenen Kaffees auf ein entfaltetes Blatt Papier und reichte diese Portion der wieder eintretenden Ammerei, wie die Alpleute ihre Tochter nannten. „Das reicht gerade für zwei Tassen. Und, nicht wahr, Du bringst mir ihn recht heiß, Ammerei? Ist das Dein Taufname?“

„Anna Maria steht’s im Kalender.“

„Und ohne Milch, Ammerei. Inzwischen giebt mir der Vater wohl Bescheid, wo ich heute mein müdes Haupt betten soll.“

„’s ist schon gut,“ sagte dieser. „Es ist noch eine Kammer mit zwei Betten frei, und wenn niemand mehr kommt, können’s allein drin schlafen. Der Seppli kann Ihre Tasch’n gleich naufi tragen.“

„Es sind also schon mehr Reisende da?“

„Ei freilich, drei Parteien mit Führern, fünf Herren und zwei Damen. Gehn’s nur gefälligst in das Gastzimmer gerad’ hier über uns. Da finden’s schon Gesellschaft. Den Kaffee bringt Ihnen die Ammerei hinauf, sobald er fertig ist.“

„Gut denn! Behüt’ Gott einstweilen! Hab’ mich hier unten bei Euch recht wohl befunden. Wegen meiner bedurft’s nicht des ‚Gastzimmers‘. Und vor dem Kaffee bringt’s mir auch was zu essen. Ein paar Spiegeleier und Brot kann ich doch haben?“

„Wohl, wohl!“

„Gut also, bringen’s mir drei und dem Führer geben’s auch ein paar. Fleisch habe ich bei mir.“

Er war in die Thür getreten, wo ihm der Regen ins Gesicht schlug. „Das scheint sich hier festregnen zu wollen,“ sagte er ärgerlich, indem er seine goldene Brille abnahm, um die angelaufenen Gläser zu putzen. „Was denkt Ihr, Alpmeister? Wird’s über Nacht klar werden?“

Der alte Senn kratzte sich hinterm Ohr.

„Jetzt läßt sich gar nichts sagen, Herr. Wir können vor ‚Duft‘ ja nicht einmal das Wetterloch sehen. Aber besser kann’s schon werden bis morgen.“

„Dazu gehört freilich nicht viel,“ sagte mit sauersüßem Lächeln der Gast, der nunmehr in den Regen hinaustrat und über die hölzerne Freitreppe zu dem ihm angekündigten oberen Gastzimmer emporstieg.

Das herzhafte „Guten Tag“, mit welchem er hier eintrat, wurde nicht gerade entgegenkommend erwidert. Langeweile und Mißmuth schienen hier oben das Regiment zu führen. Das Gefühl des Eingeregnetseins schien auf den Gemüthern aller zu lasten. Auch diejenigen Opfer des launischen Wettergottes, die zu einander gehörten, gaben sich, still für sich, irgend einer Beschäftigung oder müßiger Uebellanne hin. An einem der Fenster, durch die man bei gutem Wetter die herrlichste Aussicht auf die Häupter der Säntisgruppe gehabt haben würde, stand ein Herr in mittleren Jahren und trommelte an den Scheiben. Die Züge und der Bartschnitt desselben verriethen angelsächsischen Typus, doch erinnerte der einfach und praktisch gekleidete Tourist sonst in nichts an jenen „großkarrirten“, murraybehafteten Engländer, dessen überlebte Erscheinung in deutschen Reisebeschreibungen noch immer sich umtreibt. Ein jüngerer Mann, dessen etwas blasses Gesicht auf einen gelehrten Beruf schließen ließ, war in die Lektüre eines Buches vertieft. Er hatte eine Flasche Bier vor sich auf einem der zwei großen Tische stehen, welche die im übrigen ziemlich kahle Stube den Gästen darbot, und ließ sich durch das Lesen im Rauchen nicht stören. Ein Ehepaar, das, sichtlich im besten Alter, sich bester Gesundheit erfreute und vor Ausbruch des Regens offenbar von der Hitze sehr auszustehen gehabt hatte, deren Reflex noch auf ihren Stirnen und Wangen glühte, gab sich in beschaulicher Wehmuth einem frugalen Mahle hin, welches in der Hauptsache aus mitgebrachten Fleischschnitten bestand und dem eine Flasche des landesüblichen Hallauer die Würze gab. Ein anderes Paar von schlankerem Wuchse und aparterem Wesen stand schließlich neben dem Nähtisch einer zweiten jungen Alpnerin, die am Fenster neben der Thür mit einer der kunstvollen Weißstickereien beschäftigt war, wie sie die Appenzeller „Meidli“ mit ihren geschickten Händen alljährlich zu Tausenden in die großen Ausfuhrgeschäfte in St. Gallen, Appenzell, Gais und Bühler abliefern. Der blonde bärtige Herr hatte in der Rechten ein Skizzenbuch, in dem er offenbar vorher gezeichnet hatte, denn die andere Hand spielte mit einem Bleistift; die junge Frau hatte einen großen Strauß von Alpenblumen in der Linken und reichte aus demselben eben an schönes Exemplar von selbstgepflücktem Edelweiß der Stickerin hin.

Auch der neue Ankömmling, der zunächst mit prüfenden Blicken ein paarmal das Zimmer durchmessen hatte, in dessen Hintergrunde eine Falltreppe in ein oberes Stockwerk führte, fand sich angezogen von dem Bild der stickenden Gebirgstochter, deren feine Nadelstiche eben dabei waren, aus einem Streifen duftigen Mousselins das ziemlich naturgetreue Abbild einer Edelweißblüthe auszuführen.

„Das ist ja wahrhafte Künstlerarbeit,“ rief er unwillkürlich, nachdem er dem Mädchen eine Zeitlang zugesehen.

Dieses blickte befriedigt auf bei dem Lobspruch, sagte dann aber gelassen:

„’s ist nur Uebung, Herr. Mühsam aber ist’s schon, und wenn wir im Winter Tag für Tag über unseren Kissen sitzen, thun uns die Finger mitunter recht weh. Jetzt im Sommer giebt’s immer Abwechselung in der Arbeit; da macht einem das Sticken Freud’. Die letzten Tage, wo das Wetter so schön war und sehr viele Gäste bei uns einkehrten, bin ich gar nimmer dazu gekommen.“

„Bleiben Sie denn auch im Winter hier oben?“ fragte jetzt theilnehmend die Dame hinter ihr.

„O nein,“ sagte das Meidli; „da geht’s mit den Kühen und Geißen hinunter ins Schwender Thal.“

„Nun, da bringt so wohl auch der Winter Unterhaltung und Lustbarkeit?“

„Das schon auch, den Sennenball und den Schöttlerball in Appenzell und bei Hochzeiten oder Kindstaufen ein ‚tanziges Mahl‘. Aber die Hauptsach’ ist doch unsere Arbeit. Wenn die Meidli aus der Freundschaft nicht zusammenhalten thäten und zum Sticken zusammenkämen, könnt’s manchmal etwas gar zu einsam werden.“

„Da wird wohl wacker geplauscht, während die Nadeln sich fleißig rühren?“

„Wohl, wohl, aber auch ein G’sangl giebt’s oft, und wer’s kann, erzählt Geschichten, die alten heimischen, die jedes gern immer wieder hört, von der Jungfrau und dem Schatz in den Auen, vom blauen Schnee und der verschneiten Alp, vom Bötzler, vom besten Locker oder auch etwas neues.“

„Das ist recht,“ rief der alte Herr; „man sollt’ es nicht glauben, aber wahr ist es doch: die Leute auf dem Lande wissen oft besser für ihre Unterhaltung zu sorgen, als wir drin in den Städten mit unserem Ueberfluß an Bildungsmitteln und Scheinbildung.“

Der Blonde mit dem Künstlerkopf neben ihm nickte zustimmend und sagte:

„Sicher steckt in den alten Geschichten, wie sie sich hier von Mund zu Munde und von Geschlecht zu Geschlecht vererben, oft mehr Weisheit und Schönheit als in den Gesprächen, mit denen in unseren Salons vielfach über Kunst undLitteratur gesprochen wird, und vor allem – mehr Natur. Und die ist’s doch, die wir hier oben suchen.“

Die fleißige Stickerin hatte sich indessen erhoben: es sei zwar noch früh am Tage, aber sie müsse bei der wachsenden Dunkelheit doch jetzt die Lampen anzünden.

Während das flinke Mädchen die beiden einfachen Hängelampen über den Tischen anzündete, kam einige Bewegung in die Gesellschaft. Die Ammerei kam und brachte das einfache Eiergericht, das sich der letzte Ankömmling bestellt hatte. Der junge Gelehrte, der sich die Zeit mit Rauchen und Lesen vertrieben hatte, stand auf und trat an ein Fenster. Der Engländer wandte sich von dem seinen ab, und jener sagte mit Humor zu diesem:

„Ja, von der erhofften Aussicht ist hier ebenso wenig zu genießen wie oben auf dem Santis, den Sie – wie Sie erzählten – so unbefriedigt verließen.“

„Indeed,“ sagte mit langsamer und seine Abkunft verrathender Sprechweise der Engländer, „weil es heute mittag für meinen Geschmack zu – hell war. Hier bietet der Sturm – mir Ersatz für die fehlende Aussicht. Sehen Sie nur, wie er den Regen gegen die Scheiben schüttet.“

„O ja,“ meinte schmunzelnd der Deutsche, „auch das sieht, sozusagen, ganz nett aus. Aber bei schönem Wetter muß es hier doch wohl noch hübscher sein, wenn man da draußen statt Dunst und Nebel das großartige Panorama sieht, wie ich es eben da in dem Specialwerke über den Appenzeller Kanton gelesen habe.“

Mit komischem Pathos im Ton die Weise eines berufsmäßigen Fremdenführers kopirend und sich indirekt an alle Anwesenden wendend, fuhr er fort: „Um die weite Alp herum ragen aus den leuchtenden Schneefeldern der Säntis, die Gyrenspitze, die hintere Wagenluke, der Bötzler, der Fählerschafberg nach dem blauen Himmelsgewölbe hinauf; wilde Bergwasser schäumen tobend von den Schneefeldern in die Tiefe hinunter; Herdengeläute erklingt überall, Jodler schmettern durch die Luft … Ja, ja! All das kann man an besserem Tage hier genießen. Und hat man es recht gut getroffen, noch mehr. Wenn nämlich auf der grünen Alpe hier vor uns, welche der Nebel unseren Blicken entzieht, von den Sennen und Sennerinnen des weiten Seealpseethals ‚Alpstubeten‘ gehalten wird, da entfaltet sich hier ein festliches Treiben von ungemein malerischem Reiz. Da kommen die Appenzeller Meidli in ihrem schönsten, reich mit Silbergespänge und -Ketten verzierten Sonntagsstaat in Scharen herbeigezogen und mit ihnen die Sennen, gleichfalls in festlicher Tracht; ein Tanzplatz ist abgesteckt, die Fiedel und die Handharmonika spielen auf und unter Gottes blauem Himmel beginnt der Reigen. Bei einiger Phantasie, meine Herrschaften, kann man sich das alles ja schönstens vorstellen und das darf uns einigermaßen mit unserem Schicksal versöhnen.“

„Bravo!“ rief der Alte, der seine kleine Mahlzeit beendet hatte.

„Doch lange dürfte dieser Trost nicht vorhalten,“ sagte der robuste Herr, dessen Appetit jetzt befriedigt war und der nun begann, sein umständliches Reisenecessaire in Ordnung zu bringen. „ Solch ein Wetter! Wenn wir wenigstens unten in Weißbad geblieben wären.“

„Und dabei ist wohl wenig Aussicht aus Besserung?“ warf der Alte fragend hin, als wolle er zum Widerspruch reizen.

„Es kann leicht noch schöner werden, wollte sagen–schlimmer,“ erwiderte der Engländer. „Sie müssen wissen, ich bin ein großer Enthusiast für die Natur, wenn sie – wild ist. Es ist das nur natürlich; denn dann ist sie doch am schönsten.“

„Dennoch dürfen Sie sich nicht wundern, wenn wir dem Sonnenschein und blauen Himmel den Vorzug geben und in unserem Falle recht sehr wünschen, der böse Regen möchte baldigst aufhören,“ sagte mit gutmüthigem Lächeln der Mann des materiellen Behagens, im Einklang mit seiner Frau, die sich begnügte, über den romantischen Standpunkt des Engländers lebhaft den Kopf zu schütteln.

„Und leider steht es mit den Aussichten schlecht genug,“ bemerkte nun der junge Gelehrte. „So ist es rathsam, sich wenigstens keinen Illusionen hinzugeben. Das macht erst recht ungeduldig.“

„Aber die Führer machten uns eben noch Hoffnung auf baldigen Wechsel des Wetters.“

„Ja, die Führer! Die sind immer Optimisten. Das bringt ihr Geschäft mit sich. Sie müssen sonst fürchten, aus halbem Wege entlohnt zu werden. Und davon will ihr gesunder Egoismus nichts wissen.“

„Aber was für Gründe haben denn Sie für Ihre pessimistische Auffassung?“

„Das ist der Kassandrafluch der meteorologischen Wissenschaft. Ich bin meines Zeichens Astronom und soweit sich nach den vorhandenen atmosphärischen Anzeichen ein Schluß ziehen läßt, handelt es sich heute nicht nur, wie es anfangs schien, um ein Gebirgsgewitter, sondern um einen gründlichen Regen, der nur von gewitterartigen Erscheinungen begleitet ist. Ja, wenn der Wind umschlüge! Aber dazu ist vorderhand keine Aussicht. Morgen früh vielleicht?“

„Da heißt es sich in Geduld fassen“ sagte mit einem Seufzer die ältere Dame, indem sie sich in ihr Shawltuch wickelte und sich wieder auf ihren früheren Platz zurückzog.

„Aber wie soll man sich denn in dieser öden Hütte die Zeit vertreiben!“ rief verzweifelt ihr Gatte, der sein leichtes Sommerröckchen mit einer Lodenjoppe vertauschte, .die er seiner umfangreichen Reisetasche entnahm. „Zu Bett kann man doch zu so früher Stunde noch nicht gehen, zumal uns hier nicht grade Stahlfedermatratzen erwarten dürften und der Sturm einem ohnehin das Einschlafen nicht erleichtern wird.“

Der Astronom schlug den Herrschaften, deren Sprechweise verrieth, daß sie im norddeutschen Plattland ihre Heimath hatten, ein Spielchen vor. „Sie können doch gewiß Skat?“ Doch diese verneinten es.

„Nicht möglich,“ rief der lustige Sterngucker. „Nun, dann ein anderes Spiel! Bärbeli,“ rief er gleichzeitig, „Ihr habt doch Spielkarten?“

„Wir hatten wohl, aber gestern sind sie abhanden gekommen. Es muß sie eins haben mitgehen lassen!“

„Nun, das muß ich sagen!“ rief jetzt auch im Tone der Verzweiflung der joviale Verehrer des Skatspiels. „Eingeregnet sein, das ist schon schlimm; aber eingeregnet sein ohne Karten, das übersteigt das Maß des Erträglichen! Bringen Sie mir wenigstens noch eine Flasche Bier!“

Das jüngere Ehepaar hatte sich inzwischen seinen vorher nur unterbrochenen Beschäftigungen hingegeben. Die Dame ordnete die mitgebrachten Alpenpflanzen in ihr Herbarium ein; der Herr führte in seinem Skizzenbuch eine angefangene Zeichnung aus. Er that dies mit so leichtem künstlerischen Strich, daß sich der Weißbart mit der goldenen Brille, welcher um Erlaubniß gebeten hatte, ihm zuzusehen, nicht der Frage enthalten konnte, ob er Maler von Beruf sei, was jener ohne viel Aufhebens bejahte. Der Engländer hatte sich wieder an sein Fenster gestellt und lauschte seinem Freunde, dem Sturm, der mit schrillem Geheul das Gebäude umtobte. Es war dies jetzt allen vernehmlich, da auch die übrigen wieder in die frühere Schweigsamkeit verfallen waren. Der Astronom rauchte nachdenklich seine Cigarre, der norddeutsche Herr hatte sich auch eine solche, offenbar eine echte, angezündet und sah nun mit seiner getreuen Ehehälfte der Gattin des Malers zu, welche mit bewunderungswürdigem Geschick ihre Pflanzen auf den Löschpapierblättern des Herbariums so zurecht legte, daß die einzelnen Blüthen und Blätter in ihrer Eigenart und doch auch wieder in malerischer Gesammtwirkung zur Geltung kamen. Das Bärbeli unterbrach die Stille; es brachte das gewünschte Bier und den Kaffee für unseren Freund. Derselbe kostete mit prüfender Kennermiene und lobte das Getränk.

„Sag’ der Mutter, daß sie ihn vorzüglich gekocht habe. Aber es ist zu viel. Darf ich den Damen eine Tasse anbieten? Echter Mokka. Ich habe ihn selbst mitgebracht … Sie lassen sich die kleine Aufmerksamkeit gefallen? Das ist schön! Geh, Bärbeli, dort im Schrank stehn ja Tassen.“

Das Mädchen brachte das Nöthige schnell herbei.

„Und nun, Meidli, da wir so gemüthlich beisammen sitzen, zum Theil ohne zu wissen, was wir anfangen sollen, wie wär’s, wenn Du etwas für unsere Unterhaltung thätest? Da, der Herr Maler sitzt grade so über sein Skizzenbuch gebeugt wie Ihr im Winter über der Stickerei, wenn Ihr Euch Geschichten erzählt. Und auch wir anderen befleißen uns einer andachtsvollen Ruhe. So sind wir Städter nun einmal, wenn wir, gänzlich unvorgestellt und unvermuthet, auf Reisen Tisch- und Zeitgenossen werden. Aber von Dir werden wir uns wohl alle gern eine Euerer heimischen Geschichten und Sagen erzählen lassen. Wie war’s mit dem ‚Bötzler‘ und mit dem ‚blauen Schnee‘? Fang’ einmal an!“

Das Mädchen zupfte sich verlegen an den Schürzenzipfeln. „Gehen’s, was machen der Herr für Gspaß! Für solche gescheite Stadtleut wie Sie sind das keine Geschichten und Sie würden mich nur auslachen, wenn ich Ihnen eins erzählen wollt’.“

Doch die Touristen, der Engländer nicht ausgeschlossen, protestirten sehr lebhaft. „Nein, nein, Bärbeli! Erzähl nur frisch drauf los!“

„Ei, wenn S’ denn gar so d’rauf aus sind; ich weiß schon, daß drinnen in den großen Städten es grundstudirte Leut giebt, die eine ganz närrische Freud’ an unsern Liedern und Geschichten haben; da will ich nachher die vom Bötzler Ihnen sagen, aber vorher muß der Herr selber etwas erzählen; der weiß gewiß schönere Geschichten wie so ein dummes Meidli in den Bergen.“

„Seht einmal, was für ein durchtriebener Schalk dem Mädel im Nacken sitzt!“ rief dagegen abwehrend der gesprächige Alte.

„Ja, aber recht hat das Bärbeli, Herr Professor,“ rief jetzt der lustige Wetterprophet mit dem düstern Kassandrablick von vorhin, indem er sich erhob. „Ich habe doch die Ehre, in Ihnen Herrn Professor Hermann Schröder zu begrüßen. Mein Name ist Helbig, Observator der Sternwarte in –, doch das thut nichts zur Sache; ich habe als Student bei Ihnen Kolleg gehört und jetzt erst erkannte ich Sie an der Stimme. Damals war Ihr Bart noch nicht weiß, auch trugen Sie keine Brille.“

„Ja, ja, man wird alt. Ich erinnere mich wohl. Vor zehn Jahren etwa Sie hörten bei mir das Lessingkolleg und englische Litteraturgeschichte.“

„Ganz recht, Herr Professor!“

„Freut mich sehr, Sie wiederzusehen, und bedaure nur, daß der Anlaß dieser gräuliche Regen ist.“

„Für den wir uns jetzt schadlos halten wollen durch eine animirte Unterhaltung.“

„Recht so! Das wollen wir! Die Herrschaften mögen unsere plötzliche Inkognitoenthüllung freundlichst als Vorstellung betrachten,“ fuhr mit einer höflichen Verbeugung gegen die übrigen der Professor fort.

„Bitte gleichfalls,“ schloß sich Herr Helbig an.

„Maler Breitinger, meine Frau“, „August Kurz, Fabrikant, meine Frau“, „John Whitfield“ – stellten sich auch die übrigen vor.

„Und nun, Herr Professor, Ihre Geschichte?“

„Fällt mir nicht ein, meine Ferien und diese Schweizerreise durch ein Kollegium zu profaniren. Ich habe genug im Hörsaal vorzutragen“.

„Aber, Herr Professor, Sie würden gewiß uns sämmtlich erfreuen!“

„Bleiben Sie mir mit dem Professortitel vom Leibe. Bin ich deshalb auf diese Höhen gestiegen? ‚Auf den Bergen ist Freiheit‘, singt der Dichter und ‚hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein‘, ist mein Wanderspruch!“

„Den ich mir gefallen lasse,“ warf der Maler dazwischen „Aber Sie sollen ja auch gar nicht doziren. Sie sollen nur das schönste und freieste Unterhaltungsmittel hier wieder zu Ehren bringen, das der freien Erzählung. Wie die arabischen Kaufleute auf ihren Reifen durch die Wüste des Nachts in ihren Zelten sich die Zeit vor dem Einschlafen durch Stegreif-Erzählen von Märchen und Geschichten vertreiben und der Berufenste dabei zuerst das Wort erhält …“

„Ja und wie Sie uns in Ihrem ‚Kolleg‘ so anziehend von Chaucers Canterburygeschichten erzählt haben, deren Einkleidung uns eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft von Pilgern vorführt, die auf der Reise zum Grabmal des heiligen Becket von Canterbury begriffen sind und sich auf den Vorschlag des lustigen Wirths vom Tabard-Inn den mühsamen Weg durch Geschichten erzählen kürzen, so wollen auch wir’s machen, um die Langeweile zu bannen und das schlechte Wetter zu vergessen.“

„Der Vorschlag läßt sich hören. Wenn Sie mich zum Alterspräsidenten des Symposions ernennen, so erhebe ich den Vorschlag zum Antrag. Wer ist dagegen?“

Die meisten erklärten zwar, sie hätten keine Uebung und würden sich blamiren, aber die Idee wurde von allen heiter willkommen geheißen. „Und nun zur zweiten Frage: welcher Art sollen die Geschichten sein? Herr Breitinger, Sie melden sich zum Wort, bitte!“