In des Greifen Schatten - Arndt Waßmann - E-Book

In des Greifen Schatten E-Book

Arndt Waßmann

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Beschreibung

Ein König, der durch die Trümmer seines Reiches flieht. Ein Mädchen, das um sein Leben läuft – unterstützt von ihrem ärgsten Feind. Die grausamen Folgen der Wahrheit. Arndt Waßmann öffnet in dieser Kurzgeschichtensammlung eine fantastische Welt, in der die Schicksale von Herrschern wie Hexen neu geschrieben werden und ein Bauernmädchen über das Los ihres Dorfes entscheidet.

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Arndt Waßmann

In des Greifen Schatten

Fantasy 22

Arndt Waßmann

In des Greifen Schatten

Fantasy 22

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

©  dieser Ausgabe: November 2015

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Lothar Bauer

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 047 4

Arndt Waßmann

In des Greifen Schatten

In des Greifen Schatten

 

König Nerdan schob sanft die weiße, weiche Hand des Mädchens beiseite, das neben ihm schlief, und trat ans Fenster. Alles schien ruhig wie immer, und er fragte sich, was ihn geweckt hatte. Sein Blick glitt über die Häuser Nerwiks, der Hauptstadt seines Reiches. Vor mehr als drei Jahrzehnten hatte er den Tyrannen gestürzt und die Herrschaft übernommen. Das Volk liebte ihn und jubelte, wenn er durch die Straßen ritt. Doch derartige Anlässe waren selten geworden. In den letzten Jahren hatte ihm Sarrik, sein Berater, viele Aufgaben abgenommen. Vielleicht zu viele. Er war es auch gewesen, der vorgeschlagen hatte, den Årrx das Bürgerrecht von Nerwik zu geben. Inzwischen bezweifelte Nerdan, ob diese Idee wirklich gut gewesen war, obwohl, wie sein Berater prophezeit hatte, so ein langer Konflikt geendet hatte.

Der König seufzte. Es war kühl. Gerade, als er eine Leinenhose übergezogen hatte, hörte er unterdrückte Stimmen auf dem Gang. Er war seit Langem nicht mehr in eine Schlacht gezogen, aber sein Instinkt funktionierte nach wie vor. Und warnte ihn. Nerdan nahm sein Schwert in die Hand – genau in diesem Augenblick zerbarst die Tür.

Sarrik, sein Berater Sarrik, und wie sich Nerdan nun offenbarte, der Verräter Sarrik, stand umringt von Årrx inmitten der Trümmer. Die fahrigen Bewegungen seiner Arme verrieten Überraschung, den König nicht schlaftrunken im Bett vorzufinden.

»Tötet ihn!«, schrie Sarrik mit sich überschlagender Stimme. Ein halbes Dutzend Årrx stürmte auf den König zu.

Das Mädchen, das beim Bersten der Tür aus tiefem Schlaf erwacht war, schrie kurz und hoch auf beim Anblick der schwarz bepelzten Kreaturen, aus deren groben Unterkiefern messerscharfe Hauer hervorsprangen. Nerdan hieb einem der angreifenden Årrx den Schädel entzwei. Das beruhigte ihn. Seine alte Kraft hatte ihn nicht verlassen. Er wehrte Hieb um Hieb ab, streckte einen weiteren Angreifer nieder. Doch ein Sieg war ausgeschlossen. Immer stärker wurde er zurückgedrängt. Der Geruch von stinkendem Årrxfell erfüllte seine Nase. Nur eine einzige Aussicht auf Rettung blieb: der Geheimgang im Gemach, noch aus Zeiten des Tyrannen. Wenn es ihm gelang, unbeschadet dorthin zu kommen, dann konnte die Flucht glücken.

Der König zerschmetterte einem Årrx den Schädel, rannte zum Bett, wollte nach dem Mädchen greifen, sie an der Hand nehmen und mit sich in den Gang zerren, der in der Wand direkt neben dem Nachtlager seinen Anfang nahm. Da sah er, dass Blut aus ihrer zerfetzten Kehle die weißen Laken des Bettes und die blasse Haut ihres Körpers rot färbte. Zu spät. Für die Kleine kam seine helfende Hand zu spät.

Der kurze Moment der Unachtsamkeit gegenüber den Angreifern rächte sich. Ein Schwertstreich traf den König am Rücken, aber der Schmerz hielt ihn nicht auf. Nein, er machte ihn nur schneller. Er wirbelte herum, parierte einen weiteren Hieb und schlug mit der anderen Hand auf eine Platte in der Wandtäfelung. Ein dunkler Gang erschien – seine einzige Hoffnung auf Flucht.

 

Eins. Zwei. Drei.

Seine Füße trugen ihn immer tiefer in den steinernen Tunnel. Einhundertzwei, einhundertdrei.

Bedauerlicherweise blieben ihm die Årrx dicht auf den Fersen. Es gab kein Licht, doch er kannte den Weg. Er war ihn schon oft abgeschritten – nun wusste er, warum.

Vierhundert.

Er konnte den kleinen Vorsprung zu den gellend schreienden Årrx nicht nur halten, sondern sogar ein wenig vergrößern.

Fünfhundert.

Der König ließ nun seine Hand die Wand entlangstreifen. Da war er, der Hebel. Er hieb mit seinem Schwert darauf – und direkt hinter ihm rasselte klirrend ein Eisengitter nach unten. Noch ein Weilchen klang ihm das wütende Grunzen der zurückgehaltenen Årrx im Ohr, dann wurde es ruhig. Er war den abstoßenden Kreaturen entwischt.

 

Der Gang führte zu einem unauffälligen Gitter in einer dunklen Gasse mitten in Nerwik. Es ließ sich nur von innen öffnen. Unrat hatte sich davor angehäuft, denn der Ausgang war lange Zeit unbenutzt geblieben. König Nerdan betätigte den Mechanismus und zwängte sich durch die kleine Öffnung hinaus.

Entsetzen packte ihn: Häuser standen in Flammen, gellende Schreie von Verletzten drangen an sein Ohr. Es wimmelte von Årrx, die wehrlose Menschen abschlachteten. Männer, Frauen, Kinder, Alte. Wahllos.

Ein erstickter Schrei ganz in der Nähe erregte seine Aufmerksamkeit. Drei Årrx waren gleichzeitig über ein Mädchen hergefallen, das vierzehn, höchstens fünfzehn Sommer alt war. Blut quoll ihr beim Schreien aus dem Mund. Trotz der Verletzungen setzte sie sich mit einem Stab zur Wehr, doch sie hatte keine Chance. In wenigen Augenblicken würde ihre Kehle zerfetzt sein, wie bei der Kleinen, mit der er bis eben das Lager geteilt hatte, wenn er nichts unternahm. Der König rannte brüllend auf die Schwarzpelze zu. Einer drehte sich um – und sah nur noch das Schwert, das ihm den Tod brachte. Die anderen beiden Årrx ließen von dem Mädchen ab und wandten sich Nerdan zu. Geschmeidig wie eine Raubkatze duckte er sich unter einem Hieb weg und parierte einen weiteren mit seiner Klinge. Er war ein Krieger gewesen, ein guter Krieger, der beste, lange, bevor er König wurde. Und etwas davon war ihm geblieben. Als auch der zweite Årrx durch Nerdans Hand fiel, ergriff der dritte die Flucht.

Der König ging auf das Mädchen zu. Sie taxierte ihn, fasste ihre Waffe fester. Ihr Blick blieb an dem großen Ring hängen, den er an der Hand trug. Sie spuckte das Blut in ihrem Mund vor seinen Füßen aus.

»Ihr habt den König getötet!«, schrie sie. Sie stürmte auf ihn zu und schwang mit aller Kraft den Stab gegen Nerdans Kopf. Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, hätte er laut lachen müssen. So aber wich er ihr aus, packte sie am Arm und gab ihr eine schallende Ohrfeige.

»Ich bin der König!«, brüllte er. »Du hysterische Ziege. Hilf mir lieber!« Er blickte sich um.

»Gibt es die Botenreiter am Südtor noch?«

»Ja«, antwortete das Mädchen verwirrt.

War dies tatsächlich der König?

Auf den Zeichnungen, die sie kannte, hatte er jünger ausgesehen, schlanker, ohne graue Strähnen im hellbraunen Haar. Doch die ebenmäßigen Gesichtszüge, die strahlend blauen Augen. Er war der König – nur anders als in ihrer Vorstellung.

»Gut, komm mit«, rief der König, und überlegte, warum er sich diesen Klotz am Bein überhaupt antat. Um sie herum starben gerade eine Menge Menschen. Auf das Mädchen kam es da auch nicht mehr an. Aber da hatte er schon ihre Hand in seiner und zog sie mit sich fort.

 

Es lag Jahrzehnte zurück, dass er die Botenreiter begründet hatte. Ihr Quartier befand sich an der Außenseite der Stadtmauer, so mussten die Pferde nicht erst das Tor passieren. Mit etwas Glück standen die Rösser noch im Stall. Nerdan zog das Mädchen durch enge Gassen und Winkel, immer auf der Hut vor den Årrx, die vornehmlich auf den großen Straßen wüteten.

Wo waren die Wachen? Wie hatte dies alles geschehen können?

Er ahnte die Antwort. Doch jetzt blieb keine Zeit dafür.

Nur weiter!

Fast war ihr Ziel erreicht, als er abrupt an einer Kreuzung stehen blieb, sich dicht an die Hauswand drängte und dem Mädchen mit einem Finger auf dem Mund bedeutete, dass sie schweigen sollte. Vorsichtig beugte er sich vor und warf einen Blick um die Ecke des Hauses: Eine Horde Årrx zog laut grölend und schmatzend vorbei. Nerdan wollte sich nicht vorstellen, worauf sie gerade herumkauten. Abgeschlagene Schädel baumelten als Trophäen an ihren Gürteln. Bevor sie ihn entdecken konnten, zog er sich wieder hinter die Häuserwand zurück.

»Hör zu, Mädchen«, sagte er. »Wir gehen jetzt zum Tor. Zügig, aber ohne zu rennen. Wer rennt, weckt Interesse. Bleib immer im Dunkeln! Und egal, was du siehst, du schreist nicht. Verstanden?«

»Ich bin nicht so dumm, wie Ihr denkt«, antwortete sie und spuckte erneut Blut aus, das sich in ihrem schmalen Mund gesammelt hatte.

»Umso besser. Dann los jetzt.«

Dem Mädchen schlug das Herz bis zum Halse. Nicht zu rennen war schwieriger als gedacht. Sie hielten sich im schützenden Schatten der Häuser und kamen erstaunlich gut voran. Es fiel Nerdan schwer, sein Herz vor dem zu verschließen, was er auf dem Weg sah. Häuser brannten und Menschen wurden von den Årrx hingemetzelt. Es war sein Volk, seine Stadt. War das alles hier auch seine Schuld?

 

Kaum hatten sie das Tor erreicht, atmete Nerdan erleichtert auf. Noch hatte der Verräter Sarrik die Stadt nicht abriegeln lassen. Vor dem Tor war ein Wagen umgestürzt und teilte die panisch flüchtende Masse wie ein Keil. Nerdan griff die Hand des Mädchens fester und tauchte ein in den Strom der Flüchtenden, der sie beide hinaustrug. Niemand folgte ihnen, und sie erreichten unbehelligt die Stallungen der Botenreiter. Die Årrx schienen noch nicht dort gewesen zu sein. Als sie den Stall betraten, ließ König Nerdan das Handgelenk des Mädchens los.

»Kannst du reiten?«, fragte er sie.

»Ja, aber …« Er unterbrach sie.

»Dann sattle ein Pferd! Worauf wartest du?«

»Aber Ihr seid der König!«, rief sie. »Wollt Ihr einfach fliehen und Euer Volk im Stich lassen?«

»Es ist nicht die Aufgabe eines Königs, die Leiden seines Volkes zu teilen –, sondern sie zu lindern. Die Stadt ist durch Verrat genommen worden. Und so sehr es mich schmerzt: Wenn ich hierbleibe, kann ich nichts für mein Volk tun, außer zu sterben.«

»Als ob Ihr schon jemals etwas für Euer Volk getan hättet!«

Mit Tränen in den Augen wandte sich das Mädchen ab und schaute nach einem Sattel. Wie gerne hätte sie wieder das Blut in ihrem Mund vor dem König auf den Boden gespuckt. Doch es war versiegt.

 

Nerdan sah sich die Pferde an. Keine Streitrösser, aber dafür schnell und ausdauernd. Sattel und Zaumzeug hingen säuberlich geordnet vor jeder Box. Er sattelte einen schwarzen Hengst. Alles hier schien unangetastet. Wo waren die Botenreiter?

Als er sein Pferd auf den Hauptgang des Stalls führte, kniete dort bereits das Mädchen.

»Bitte verzeiht mir meine Worte, Majestät. Ich … ich weiß, dass ich ohne Euch schon längst tot wäre, und ich danke Euch von Herzen. Es ist nur …« Sie zögerte.

»Schon gut. Dafür haben wir später Zeit. Mach dich bereit und halte mein Pferd. Ich bin gleich zurück.«

Er eilte zum Ende des Stalls, wo das Quartier der Boten war, die Tür halb geöffnet.

Eine Laterne auf einem der Tische erleuchtete eine Szenerie des Grauens: Männer lagen mit verzerrten Gesichtern auf Boden und Betten. Wein stand auf dem Tisch.

Er wandte sich um. Hier gab es nichts mehr zu sehen. Der Verräter Sarrik hatte den Wein der Botenreiter vergiften lassen, damit die Kunde vom Fall der Hauptstadt möglichst lange niemanden erreichte.

Nerdan nahm aus einem der Spinde eine Uniform, um sich endlich vollständig anzukleiden. Das Glück war auf seiner Seite. Sogar die Stiefel passten. Nur die Jacke konnte er nicht schließen. Die vielen Gelage hatten ihren Tribut gefordert.

Er löste die Halfter der übrigen Pferde und scheuchte sie nach draußen. Sie sollten kein Festmahl für die Schwarzpelze werden.

»Los, Mädchen. Hier ist niemand mehr.«

Sie schwangen sich auf die Rücken ihrer Pferde, doch gerade, als sie den Stall verließen, kamen Årrx mit Fackeln auf sie zu.

»Reite sie nieder, Mädchen!«, schrie Nerdan und stieß seinem Ross die Fersen in die Seiten. Es stieg und raste von Panik getrieben auf Sarriks Schergen zu. Nerdan wandte kurz den Kopf: Der Herdentrieb wirkte. Alle übrigen Tiere preschten in gestrecktem Galopp auf die Årrx zu. Hoffentlich kann die Kleine wirklich reiten.

Nur noch ein paar Dutzend Schritte trennten ihn von den Schwarzpelzen. Er galoppierte schreiend auf sie zu. Die Årrx sprangen zur Seite. Der Durchbruch war geschafft! Zufrieden hörte er hinter sich schmerzverzerrtes Grunzen. Einigen der Årrx war das Ausweichen nicht geglückt.

Offenes Feld lag vor ihnen. Der Mond und die Feuer der Stadt erhellten die Nacht. König Nerdan zügelte sein Pferd zu einem ruhigen Galopp und blickte nach hinten. Das Mädchen folgte ihm, die Hände fest in die Mähne ihres Rosses gekrallt, aber immer noch auf dessen Rücken. Die übrigen Pferde waren geflohen.

Er ließ seinen Hengst im Schritt gehen, und auch das Pferd des Mädchens wurde langsamer. Sie atmete schwer. Doch sie saß mit geradem Rücken und erhobenen Hauptes auf ihrem Schimmel.

»Sattelfest scheinst du ja zu sein.«

Das Mädchen schaute kurz zum König auf, der sie um einen Kopf überragte und nickte.

»Gut. Denn wir müssen uns beeilen, vielleicht lässt Sarrik uns verfolgen. Wie lautet dein Name?«

»Isilda.«

»Und was hast du gemacht in der Stadt, bevor …« Er ließ den Satz unbeendet.

»Ich bin Novizin im Hethena-Tempel.«

»Eine Novizin der Weisheitsgöttin. Es freut mich, dich an meiner Seite zu haben. Ich hätte in den letzten Jahren wahrlich mehr Weisheit brauchen können. Nun, Isilda, Novizin vom Hethena-Tempel! Mach dich bereit für einen weiten Ritt durch die Nacht. Und denke nicht, dass wir fliehen! Wir retten das Reich!«

 

Mutter Berhild schritt den langen Gang des großen Hethena-Tempels in Falkenhain entlang.

Warum hatte die Ehrwürdige Mutter nach ihr geschickt? Ob es Neuigkeiten aus Nerwik gab?

Doch wie hieß es in Hethenas Offenbarung zu Vilem: Weisheit entspringt nicht aus Fragen, sondern aus Antworten.

Sie klopfte. Eine alte, aber immer noch kräftige Stimme rief sie herein.

»Ehrwürdige Mutter, Ihr habt mich rufen lassen?«

Hinter einem schweren Eichentisch blickte ihr eine Frau entgegen, deren Gesicht von endlos vielen Falten durchzogen war, deren Augen aber so frisch wie die eines jungen Mädchens strahlten.

»Ganz recht, Berhild. Setz dich.«

Obwohl sie selbst schon mehr als dreißig Sommer gesehen und den Rang einer Mutter innehatte, fühlte sich Berhild immer noch wie eine frischgebackene Novizin, wenn sie der Vorsteherin des Tempels gegenüberstand.

»Berhild, was weißt du über Erschütterungen des Sphärengefüges?«

»Erschütterungen des Sphärengefüges? Wenig«, antwortete sie verwirrt. Wurde dies eine Prüfung? »Unsere Welt ist nicht die Einzige, es gibt noch andere, fremde Welten. Manche sind uns freundlich gesonnen, wie die Sphäre der Götter. Andere sind chaotisch, aber neutral, wie die Sphäre der Feen, und wieder andere trachten danach, uns aus purer Bosheit zu vernichten. Die Sphären sind klar voneinander getrennt, sonst könnte unsere Welt nicht existieren. Ausnahme ist die Sphäre der Feen, die …«

Die Ehrwürdige Mutter unterbrach Berhild mit einer kleinen Geste und lächelte sie an.

»Sehr gut, mein Mädchen. Hethena wäre stolz auf dich. Leider geht es nicht um Feen. Wie du weißt, ist es auch die Aufgabe von uns Hüterinnen, das Sphärengefüge zu beobachten und zu wahren. Hier im Süden des Reiches existiert bereits seit Urzeiten ein Ort, an dem die Grenze zwischen den Welten schwächer ist als anderswo.«

»Davon habe ich noch nie gehört, Mutter.«

Die Ehrwürdige Mutter schüttelte den Kopf, das Lächeln hatte ihre Lippen verlassen.

»Natürlich hast du nichts davon gehört, Berhild. Es ist kein Geheimnis, aber auch nichts, womit man leichtfertig hausieren geht. An diesem Ort, fünf Tagesreisen von hier, wachte früher ein kleiner Tempel unserer Göttin über das Gefüge und stärkte es, wenn nötig. Doch im Årrxkrieg wurde der Stützpunkt aufgegeben. Und jetzt, während des sogenannten Friedens, ist er immer noch verlassen.«

Berhild spürte die Verbitterung in der Stimme der Ehrwürdigen Mutter wie einen Windhauch, der Sturm verkündete.

»Nun, in letzter Zeit haben mich beunruhigende Nachrichten aus jener Gegend erreicht. Deshalb wirst du dich dort hinbegeben und nach dem Rechten sehen. Nimm dir ein paar Novizinnen mit, um den dortigen Tempel der Hethena neu zu gründen. Viel Glück!«

Berhild fehlten die Worte. Natürlich hatte sie seit Jahren ersehnt, Vorsteherin ihres eigenen Tempels zu werden, nie jedoch damit gerechnet, dass dies so schnell eintreten würde.

»Ich danke Euch von Herzen für Euer Vertrauen, Ehrwürdige Mutter, aber ist so etwas nicht ein langwieriger Prozess? Allein die Einwilligung aus Nerwik …« Sie wurde unterbrochen.

»Berhild, Mutter Berhild, Ihr versucht stets, alles richtig zu machen, und das ist lobenswert. Aber wie die Dinge momentan stehen, können wir nicht auf eine Entscheidung aus der Hauptstadt warten. Und so, wie es um das Reich bestellt ist, sollten wir dies auch nicht tun. Ich habe mit General Brauneck gesprochen. Er ist einverstanden und wollte uns sogar einen Trupp seiner Soldaten als Eskorte stellen. Doch auf unserem Weg kann uns nur die Göttin beistehen. Hethenas Segen für die Reise!«

 

Mutter Berhild saß in ihrer Kammer, das Kinn aufgestützt, den Blick nach innen gewandt. Morgen in aller Frühe begann die Reise. Eine Reise, von der sie zwar das Ziel, nicht aber den wirklichen Zweck kannte.

Die Ehrwürdige Mutter hatte keine weiteren Informationen für sie gehabt. Alles, was den verlassenen Tempel betraf, war schon vor vielen Jahren ins Archiv nach Nerwik gebracht worden. Und die seltsamen Vorkommnisse, die aus jener Gegend berichtet wurden, konnten ebenso Spukgeschichten von Betrunkenen sein. Eines jedoch war gewiss: Die Ehrwürdige Mutter tat nie etwas ohne guten Grund. Dieser Grund mochte eine Erschütterung der Sphären sein – oder eine Prüfung, ob Berhild eines eigenen Tempels würdig war. Es spielte keine Rolle. So oder so lag eine schwere Aufgabe vor ihr.

Für die drei unerfahrenen Novizinnen, die auserwählt waren, würde es ohne Zweifel ein großes Abenteuer werden. Sieglind zählte fünfzehn Sommer. Sie war klug und gelehrig, aber auch ängstlich und furchtsam. Diese Reise bot ihr Gelegenheit, sich Ängsten zu stellen und das Leben außerhalb der Stadt kennenzulernen. Illana war sechzehn, oft wild und leichtsinnig, doch auf einem guten Wege. Die Dritte im Bunde war Nota, ebenfalls sechzehn. Die Ehrwürdige Mutter selbst hatte sie ausgewählt – und Berhild konnte sich den Grund dafür denken.

Die Priesterin seufzte. Ihre eigene Tochter war auch gerade im Alter der Mädchen. Nach den Regeln des Tempels hatte sie nicht hierbleiben dürfen und verbrachte die Novizenzeit stattdessen im Großen Tempel von Nerwik. Berhild vermisste sie. Und natürlich machte sie sich Sorgen. Aus der Hauptstadt hatte es schon lange keine erfreulichen Nachrichten mehr gegeben. Die Wege, die der König einschlug, waren falsch und …

Schluss mit diesen Gedanken! Die Göttin würde ihre Tochter beschützen. Ihr selbst oblag nun der Schutz der Mädchen, die sie begleiteten.

 

Die Morgendämmerung glitt über den Horizont. Die Stadt Nerwik lag weit hinter ihnen. Niemand verfolgte sie. Doch vielleicht suchten die Verfolger nur am falschen Ort. Nerdan hatte bewusst die großen Straßen gemieden. Der König zügelte sein Pferd und stieg ab.

»Zeit für eine Rast. Vorerst sind wir außer Gefahr.« Er griff in die Satteltasche, und ein Lächeln erhellte sein Gesicht: ein Halfter, Münzen für eine Unterkunft, drei Streifen Dörrfleisch und ein kleiner Schlauch mit Wasser. Alles, was ein Botenreiter brauchte, falls etwas Unvorhergesehenes geschah. Alles, wie er es vor scheinbar endlos langer Zeit befohlen hatte.

Wie lange war es her, dass er zum letzten Mal etwas Sinnvolles befohlen hatte? Etwas aufgebaut, sich um etwas gekümmert hatte? Fünf Jahre? Zehn? Oder noch länger?

Isilda stieg ab und konnte sich gerade noch am Sattel festhalten, als ihre Beine erschöpft den Dienst versagten.

»Komm, Mädchen.« Der König half ihr zu einem großen Stein am Wegesrand. Während sie sich ausruhte, legte er den Pferden Halfter statt Trense um und ließ sie grasen. Mit dem Tau der Wiese wusch er sich den Schweiß von Gesicht und Händen.

Wie lange war er nicht mehr allein durch die Wälder geritten und hatte die Erde des Reiches gespürt – ohne die Marmorböden des Palastes, ohne höfisches Zeremoniell, ohne einen verräterischen Berater? Zu lange. Viel zu lange.

Er setzte sich zu der Novizin, und beide aßen hungrig von den kargen Köstlichkeiten der Satteltaschen. Zum ersten Mal schaute er das Mädchen in der dunkelblauen Robe wirklich an: Sie hatte langes blondes Haar, in der Tradition der Hethena-Tempel zu einem Haarkranz gewunden. Ihr ebenmäßiges Gesicht würde sie in wenigen Jahren zu einer Schönheit machen. Ihre Augen … Da war etwas. Etwas … Doch je fester er den Gedanken zu fassen versuchte, desto mehr entzog er sich ihm.

Als spürte sie den Blick, drehte sich seine Begleiterin um, blickte ihm in die Augen, dann auf seine Hand. »Majestät, ich weiß nicht, wohin wir reiten, doch solltet Ihr Euren Ring ablegen. Es sei denn, Ihr wollt, dass Euch jeder sofort erkennt.«

Der Ring des Greifenthrons. Seit undenklichen Zeiten das Zeichen der Herrscher von Nerwik. Ein kunstvoll geschliffener Rubin, der einen Schatten in sich trug. Es hieß, dass in grauer Vorzeit ein mächtiger Greif den ersten König von Nerwik eingesetzt habe. Als der alte König starb, verließ auch der Greif das Reich und zurück blieb nur sein Schatten. Ein Schatten, der mit jedem König über das Reich wachte – und der in der Stunde höchster Not wieder zum Greifen wurde, um des Reiches Rettung zu bringen.

»Und? Sollen sie mich doch erkennen. Sarriks Ränke reichen nicht bis hierher. Jeder wird uns helfen. Mein Volk liebt mich.«

Isilda verschluckte sich an einem Stück Trockenfleisch und hustete.

»Ich bin im Tempel oft bestraft worden, weil ich den Priesterinnen widersprochen habe.« Sie zögerte, blickte dann den König fest an. »Aber ich kann einfach nicht anders. Eure Majestät, ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber meint Ihr das ernst?«