In einem fremden Leben - Günter Rutkowski - E-Book

In einem fremden Leben E-Book

Günter Rutkowski

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Beschreibung

Nach dem Verlust seiner großen Liebe lässt sich Graf Arnulf zum Vergessen direkt aus dem Mittelalter in unsere Gegenwart befördern. Pech, dass sein erster größerer Ausflug ihn in einen Verkehrsunfall verwickelt und ins Krankenhaus führt. Glück, dass er kurz nach seiner Entlassung auf ein Mädchen trifft, das ihn versteht. Wäre da nicht noch eine zweite, selbstsüchtige Frau, die ihn ausnutzen möchte. Neben der holden Weiblichkeit macht ihm ein weiteres Problem zu schaffen: Sein Körper scheint die neue Zeit nicht zu vertragen ...

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Seitenzahl: 554

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In einem fremden Leben
Günter Rutkowski
Erschienen im novum pro Verlag
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und -auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
© 2010 novum publishing gmbh
ISBN Printausgabe: 978-3-99003-054-7
ISBN e-book: 978-3-99003-693-8
Lektorat: Dr. phil Ursula Schneider
Gedruckt in der Europäischen Union auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem -Papier.
www.novumpro.com
AUSTRIA · GERMANY · HUNGARY · SPAIN · SWITZERLAND
Kapitel 1 – Arabella
Ein eisiger Windstoß fegte über den Wald und rüttelte an der Zugbrücke von Burg Redeck. Dicke Regentropfen, mit etwas Schnee vermischt, prasselten gegen die mäch-tigen Mauern, die den Innenhof umgaben. Der Winter war früh gekommen in diesen letzten Novembertagen des Jahres 1401. Düstere Nebelschwaden hüllten den Bergfried, den massiven Hauptturm der Burg, fast vollständig ein. Weit unten aus dem Tal stieg leise der Klang einer Totenglocke aus dem Städtchen empor. Das nächste Mal würde sie für die Herrin von -Redeck läuten.
Im Schlafgemach saß Arnulf Graf von Redeck am Bett seiner geliebten Frau. Ihre hübschen Wangen glühten fiebrig; die Augen waren eingefallen. Gerade erst hatte ein furchtbarer Krampf in ihrem Unterleib ein wenig nachgelassen. Arnulf wischte ihr den Schweiß von der Stirn.
„Ich habe nach dem berühmten Arzt Serafinus von Mühlhausen schicken lassen, der sich zufällig in der Stadt aufhält. Er muss bald hier sein, liebste Arabella.“
Die Gräfin tastete nach seiner Hand. Sie drückte sie fest, bevor sie mit matter Stimme sprach:
„Ich fühle es, kein Arzt wird mir mehr helfen können. Lasst es, Arnulf“, wehrte sie den stummen Protest ihres Mannes ab, „ich fühle es deutlich. Die Krämpfe werden von Stunde zu Stunde stärker.“ Wieder zuckte sie unter der Wucht einer erneuten Schmerzattacke zusammen. Eine Dienerin reichte ihm schweigend ein feuchtes Tuch, mit dem er die Stirn seiner Gattin liebevoll kühlte.
Das Geräusch von Hufschlägen erfüllte den Innenhof. Kurze Zeit später meldete ein Diener den berühmten Arzt: „Meister Serafinus von Mühlhausen, Doctor medicinae am Hofe Seiner Majestät des Königs von Frankreich.“
Der Neuankömmling verneigte sich höflich. Er war von großer Statur, gut gekleidet und seine Augen wanderten selbstbewusst durch den abgedunkelten Raum. Nur zwei Kerzen hatte man brennen lassen. Serafinus war ein Schüler des berühmten französischen Arztes und Chirurgen Guy de -Chauliacs und hatte an den bekanntesten Medizinschulen Frankreichs gelehrt, die damals sogar einen besseren Ruf genossen als die ehrwürdigen Institute in Bologna und Pisa. Jetzt war er auf der Durchreise zum Erzbischof von Trier gewesen, als ihn der Bote des Grafen Redeck aufgehalten hatte.
„Monsieur le Comte, was kann ich für Euch tun?“ Er sprach kultiviert mit deutlich französischem Akzent.
„Die Gräfin ist seit einigen Tagen von einem Fieber befallen. Sie beklagt starke Schmerzen des Leibes. Der Wundarzt dieser Stadt ließ eine Arznei anfertigen, die jedoch keine Wirkung zeigte. Ebenso wenig wusste ein Bader, den ich holen ließ, Rat.“ Der Graf war verzweifelt. „Bitte, Monsieur, ich will Euch reich belohnen …“
Der Gast machte eine geringschätzige Handbewegung. „Davon bin ich überzeugt. Führt mich zu der Kranken!“
Der Arzt trat an das Bett der Gräfin und warf einen Blick auf das blasse Gesicht.
„Verlasst den Raum. Lasst mich mit der Gräfin allein!“
Arnulf und die Diener verließen das Gemach. Mit unruhigen Schritten wanderte er vor der Tür hin und her. Minute um Minute verrann, bis sich endlich die Tür öffnete und Serafinus aus der Stube trat. Er schüttelte den Kopf.
„Es ist nicht, wie ich erst befürchtete, das Schwarze Fieber. Aber dennoch“, fuhr er fort und ließ den Grafen nicht zu Worte kommen, „leider ist hier meine Kunst am Ende. Sie hat das Distemper abdominis malum, die böse Seitenkrankheit. Niemand kann das heilen. Ich lasse ihr ein Mittel gegen die Schmerzen da und der Bader soll sie noch einmal zur Ader lassen, um die Hitze aus dem Körper zu ziehen. Dennoch, Graf Redeck“, Serafinus zögerte einen Moment, ehe er es aussprach, „fürchte ich, dass die Gräfin in wenigen Tagen unserem Schöpfer gegenüberstehen wird. Ich bedaure das zutiefst“, sprach er, verbeugte sich und ließ sich von einem Diener zum Ausgang geleiten, nicht ohne sich vorher noch einige Münzen zustecken zu lassen.
Arnulf regte sich minutenlang nicht. Mit zusammengebissenen Zähnen hatte er das Todesurteil vernommen. Er spürte, dass der Mann recht hatte. Aber er wollte es nicht akzeptieren. Vor seinem Auge erschien wieder die zarte Gestalt von Arabella, dem Mädchen, in das er sich verliebt hatte. „Es muss jetzt knapp drei Jahre her sein, dass ich sie erstmals traf“, erinnerte sich Arnulf, als wäre es gestern gewesen.
Damals, 1398, war Graf Arnulf in seiner Bibliothek gerade mit einer komplizierten lateinischen Vergilpassage beschäftigt, als es heftig an der Tür klopfte.
„Tretet ein!“, rief er etwas unwirsch, verärgert über die Unterbrechung. Sein Majordomus kam herein und verbeugte sich tief.
„Herr Graf, soeben ist ein Bote aus Villa Raudeka eingetroffen. Man hat die Siedlung schon wieder überfallen!“
Graf Arnulf runzelt die Stirn. Villa Raudeka war eines der kleineren Dörfer seiner Besitzungen und gute dreißig Kilometer entfernt. Im letzten Jahr waren schon zweimal Banditen aus dem umgebenden Wald in dieses Dorf eingefallen und hatten die Bauern ausgeplündert. Da diese ihrem Herrn aber auch den Pachtzins für ein Jahr schuldig geblieben waren, hatte er keine Lust gehabt, sich zum Beschützer aufzuschwingen, wie es seine Pflicht gewesen wäre.
„Ja, und? Angeblich besitzen die Bauern doch keinen einzigen Silberling.“
„Herr, diesmal ist es schlimmer. Sie haben drei Leute erschlagen, als diese das Vieh nicht herausgeben wollten!“
Drei tote Leibeigene waren in der Tat ein Problem. Wenn er jetzt nicht einschritt, musste der Graf damit rechnen, dass sich die Bauern gegen ihn erheben würden.
„Verflucht! Rufe die Bewaffneten zusammen. Verflucht seien diese Wegelagerer und ausgedienten Landsknechte. Wir reiten noch vor Einbruch der Nacht nach Villa Raudeka.“
Vier Tage lang hatte die kleine bewaffnete Ritterschar bereits tagsüber die dichten Wälder in der Umgebung des Dorfes durchkämmt, ohne irgendwelche Spuren. Gerade ritt man auf eine Lichtung zu, als der Graf das Zeichen zum Halten gab.
„Vorsicht, Gereon, da vorn blinkt etwas. Seht Ihr es?“
Sein Nebenmann, ein älterer Ritter, schüttelte den Kopf.
„Ihr müsst Euch getäuscht haben. Da ist nichts. Ich kann aber vorsichtshalber nachsehen!“ Er gab seinem Pferd die Sporen und preschte voran über die Lichtung auf den gegenüberliegenden Waldrand zu. Dort angekommen ließ er sein Pferd verschnaufen, blickte sich sorgfältig um, wandte sich dann den Kameraden zu und winkte ihnen, ihm zu folgen. Arnulf und seine Ritter folgten dem Wink. Dennoch hatte er ein ungutes Gefühl. Zu Recht! Kaum hatten sie die Mitte der Schonung erreicht, krachte eine Muskete los. Gereon sank tödlich getroffen vom Pferd und fiel auf die Wiese. Aus den umliegenden Gebüschen drangen Horden ungepflegt aussehender Männer zu Fuß mit Lanzen auf sie ein und schnitten den Rückweg ab. Immer wieder donnerte die Muskete, jeder Schuss ein Treffer: Vier der Ritter waren schon von ihren Pferden gestürzt; die anderen wie auch die Knappen wurden später von den Lanzenträgern eingeholt und gnadenlos massakriert.
„Hier entlang!“, schrie Graf Arnulf, das Gemetzel überblickend, und hieb mit dem Schwert kräftig auf einen seit-lichen Angreifer ein. Nur zwei Reiter indes schafften es noch, an Arnulfs Seite zu gelangen. Vereint bahnten sie sich eine Gasse durch die anstürmenden Banditen. Nur durchhalten und den nahen Waldrand erreichen! Im Kampfgetümmel merkten sie nicht, dass einer der Banditen, ein kräftiger Mann mit schwarzem Bart, nicht am Kampf beteiligt war, sondern seelenruhig am Rande des Gehölzes wartete. Er stützte sich auf ein Gerät, das einem Prügel glich: ein Vorderladergewehr. Als er die Ritter fliehen sah, stopfte er gelassen eine neue Kugel in den Lauf, füllte vorsichtig etwas Schwarzpulver in die Pfanne, hob die schwere Waffe und stützte sie auf eine Astgabel. Er zielte sorgfältig und zuckte ein wenig zurück, als der Schuss brach. Wieder stürzte einer der Reiter vom Pferd und blieb am Boden liegen. Befriedigt verzog er den Mund zu einem hässlichen Grinsen und winkte seinen Kumpanen zu, dass sie die Verfolgung aufnähmen. Er hörte im Geiste schon das Knirschen, das entstand, wenn die Lanze ein Kettenhemd sprengte und sich tief in die Brust des Opfers bohrte, und roch förmlich das herausspritzende Blut. Ja, er liebte das Töten. Die neue Flinte machte es sogar noch einfacher. Und dann brauchte man die Toten, die nach etwas Besserem aussahen, nur noch wie eine Weihnachtsgans auszunehmen.
Plötzlich wirbelte Staub auf. Einer der beiden über-lebenden Ritter hatte seine Verfolger abgeschüttelt, war einen Bogen geritten und preschte jetzt in vollem Galopp auf den im Gras ausgestreckten Mann zu, den die letzte Kugel aus dem Sattel geholt hatte. Der Ritter rutschte unbeholfen vom Pferd, riss den Kameraden hoch und schob ihn quer über den Sattel. Dann führte er das Pferd in ungelenkem Laufschritt zu einem kleinen Erdhügel. Knapp vor dem Eintreffen der Halunken, die schon siegessicher johlten und die Lanzen schwangen, gelang es ihm, ohne Hilfe hinter der menschlichen Last sein Pferd zu besteigen und unbehelligt im Walde zu verschwinden. Mit jedem Hufschlag ebbte das Geheule der enttäuschten Banditenmeute mehr ab.
Als Arnulf den Knall gehört hatte, hatte ihn die Wucht des Kugelaufpralls auf sein Kettenhemd auch schon vom Pferd gerissen. Hart schlug er auf den Boden und blieb benommen liegen. Er hatte Handfeuerwaffen bislang noch nicht kennengelernt, nur von ihrer furchtbaren Wirkung gehört. Seine rechte Brustseite schmerzte höllisch. Blut sickerte durch die Maschen des Kettenschutzes hervor, der an der Seite aufgerissen war. Ein Streifschuss zwar, dennoch hatten Metallpartikel, welche die Kugel aus der Rüstung gerissen hatte, die Haut an mehreren Stellen zerfetzt und mindestens eine Rippe zerschlagen. Der linke Arm brannte wie Feuer; die Hand ließ sich nicht mehr bewegen. Er hatte sich beim Sturz wohl den Arm gebrochen. Schon hörte er, wehrlos am Boden liegend, das Gejohle der näher rückenden Banditen. In Gedanken versuchte er, ein Vaterunser zu sprechen. Tränen brannten in seinen Augen, als er sich vorstellte, hilflos wie ein auf dem Rücken liegender Käfer in seiner Rüstung von elenden Halsabschneidern aufgespießt zu werden. Er glaubte, Hufschlag zu hören. Das war dann wohl das Ende! Plötzlich wurde er am Leibe emporgerissen und schrie vor Schmerzen auf. Mit einem hässlichen Knirschen wurde sein linker Arm verdreht und wieder fallen gelassen. Als Nächstes fühlte er den Körper eines Pferdes unter sich. Er stöhnte noch einmal schmerzverzerrt auf. Dennoch, bevor er ohnmächtig wurde, erkannte er seinen getreuen Freund Ludwig, der neben dem Ross herlief.
Als er die Augen wieder aufschlug, lag er in einer kleinen Kammer in einem sauberen Bett. Er war nackt; die Kleidungsstücke waren unordentlich in einer Stubenecke verstreut. Sein gebrochener Arm war mit zwei Schienen ruhiggestellt; die Wunden hatte man verbunden. Er versuchte, sich zu erheben, doch Schmerzen und ein Schwächegefühl ließen ihn stöhnend in die Kissen zurücksinken. Allerdings musste das Stöhnen jemanden herbeigerufen haben. Leise öffnete sich die Tür und sie trat ein.
Vom ersten Augenblick an begehrte er sie.
„Herr Graf, Ihr müsst Euch schonen, Ihr dürft noch nicht aufstehen!“ Ihre Stimme klang streng, aber melodisch. Ein paar braune Augen blickten ihn neugierig an.
„Ja, Eure Kameraden sagten uns, wer Ihr seid. Da habt Ihr Euch aber nicht gerade mit Ruhm bekleckert!“ Spitzbübisch klopfte sie auf seine Schienen. Er verzog schmerzhaft das Gesicht.
„Entschuldigt“, hauchte sie und blickte ihn besorgt an. „Lasst mich jetzt Eure Wunden frisch verbinden!“ Energisch drückte sie ihn auf das Bett zurück und zog die Decke zurück. Er wollte protestieren, doch sie ließ es nicht zu. Er war fasziniert von dem feinen, energischen Gesicht, das von langen, blonden Haaren umgeben war.
„Wer seid Ihr und wo bin ich?“ Er bemühte sich, sie nicht ständig anzustarren.
„Ich bin Arabella, die Tochter des Herrn von Sankt Leonhard. Wir oder genauer gesagt: Ihr liegt in einer Stube der Dorfschenke von Ernestdorf. Und jetzt genug der Fragen, ich habe zu tun!“ Und sie tat es, ungeachtet seiner Proteste. Manch Schmerzensschrei entrang sich seiner Brust, als sie die durchbluteten Verbände von seinem Körper löste, einen Balsam auftrug und neue Binden anlegte. Irgendwann erlöste ihn der gnädige Schlaf.
Die Prozedur wiederholte sich Tag für Tag. Irgendwann, erinnerte er sich, hatte sie ihm morgens die Schienen von seinem linken Arm entfernt.
„Ihr müsst ihn jetzt vorsichtig bewegen“, hatte sie gesagt und ihn dabei ein wenig traurig angesehen. Sie hatten täglich, als es ihm besser ging, viele Stunden miteinander gesprochen. So wusste er jetzt, dass sie die Tochter eines alten Ritters, Mitstreiters König Wenzels von Böhmen, war, der im Sächsischen lebte. Sie war ursprünglich auf der Reise zu einem Verwandten in Bayern, also nur auf der Durchreise, in dieser Dorfschenke eingekehrt, als die beiden Ritter mit dem verletzten Grafen eintrafen. Wie sie hierher gelangt waren, war ihm ein Rätsel, denn Ernestdorf lag weit außerhalb seiner Zuständigkeit. Erst auf Arabellas Fürbitte, genauer gesagt auf ihre Dukaten, hin hatte sich der Wirt geneigt gezeigt, den Verwundeten aufzunehmen. Die Pflege überließ er völlig dem Fräulein, dem solche Arbeiten von der Kindheit her vertraut waren. So hatte es sie nicht gestört, ihn zu entkleiden, ganz im Gegenteil.
„Ihr scheint heute recht schwermütig zu sein“, bemerkte er neckend. „Freut Ihr Euch nicht über die Genesung Eures Kranken? Ihr habt Wunder vollbracht! Ich danke Euch von ganzem Herzen.“ Scheinbar beschwerdefrei setzte er sich im Bett auf. Der Arm hing noch in einer Schlinge.
Arabella wandte sich ab, weil sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie war zu diesem Zeitpunkt einundzwanzig Jahre alt und noch ledig. Sie hatte sich sofort zu dem gut aussehenden jungen Mann hingezogen gefühlt und sich daher ganz der Pflege hingegeben. Hier und da keimte in ihr die Hoffnung, dass sie auch ihm, obwohl er ein Graf war, nicht ganz gleichgültig wäre. Verstohlen hatte sie in den letzten Tagen seinen muskulösen Körper betrachtet und bewundert. Manchmal hatte sie ihre Hand länger auf seiner Brust liegen lassen, als für die Verbände nötig gewesen wäre.
„Habe ich Euch verletzt?“ Arnulf war erschrocken. Er hatte sie doch nicht beschämen wollen! Arabella schüttelte ihre Locken und zwang sich, die Tränen unterdrückend zu einem Lächeln:
„Oh nein. Nur, jetzt, wo Ihr nahezu wieder genesen seid, werden sich unsere Wege wohl auf immer trennen müssen.“ Arabella schwieg erschrocken. Sie hatte sich nicht verraten wollen. Arnulf schaute zu ihr mit merkwürdig glänzenden Augen hinüber. Sie wusste nicht, dass ihm soeben ein Stein vom Herzen gefallen war.
„Ei ja, ich habe Euch schon genug Ungemach bereitet, sodass Ihr nur froh sein könnt, mich lästigen Menschen loszuwerden. Vielleicht versäumt Ihr gar Euer Glück in -Bayern?“ Er fühlte wohl, dass er sie damit quälte. Doch musste er unbedingt herausfinden, ob sie nicht schon gebunden war. Bisher hatten beide dieses Thema ängstlich ausgeklammert.
Arabella hatte sich wieder gefasst. Ja, sie liebte diesen Fremden und wer liebt, wagt. So richtete sie sich vor ihm auf, in voller Schönheit, fasste sich ein Herz und hielt ihm entgegen:
„Graf Arnulf, ich pflegte Euch nicht, weil ich es musste, sondern weil ich es wollte. Mein Oheim in Bayern ist fast sechzig Jahre alt und niemanden habe ich bisher ernsthaft für mich gewollt. Ihr aber habt Euch, anfangs gegen meinen Willen, in mein Herz geschlichen und vielleicht wünschte ich mir, Ihr würdet hier noch länger bleiben. Ja, ich würde es mit Freuden sehen. Ich bin aber kein Mädchen, das glaubt, mit törichtem Geschwätz einen Mann an sich zu binden. So wollen wir uns morgen in Freundschaft trennen. Ihr fahrt nach Hause und ich setze meine Reise in den Süden fort.“ Sie wandte sich zum Gehen.
Arnulf sprang auf und ergriff sie am Handgelenk. Ungestüm setzte er sich wieder auf das Bett und zog sie an seine gesunde Seite. Ehe sie noch protestieren konnte, legte er den unverletzten Arm um ihre Schultern.
„Ich danke Euch für Eure Worte. Ihr habt mir Leben und Gesundheit gerettet, wie sollte ich das vergessen? Ihr habt mir die Stunden der Schmerzen mit Eurer Anwesenheit erleichtert. Ich bin so froh, Arabella, zu hören, dass Ihr noch nicht versprochen seid; ich hätte es nicht ertragen können. Ich war Euch vom ersten Augenblick an verfallen. Liebste Arabella, ich bin ein raubeiniger, alter Krieger, keineswegs reich und schlecht mit Worten, aber ich frage Euch in dieser Stunde der nahenden Trennung: Wollt Ihr meine Frau werden?“
Arabellas Hände zitterten, als sie die Bedeutung dieser Worte begriff. Sie blickte ihm lange forschend in die Augen, dann umschlang sie seinen Nacken und küsste ihn auf den Mund.
„Reicht das als Antwort?“, fragte sie ihn zwischen zwei Küssen.
Sie hatten die Schenke am nächsten Tag gemeinsam als ein verliebtes junges Paar verlassen. Wenige Monate später waren sie verheiratet und hatten seine Burg zum Wohnsitz erkoren. Drei unendlich glückliche Jahre lagen vor ihnen.
Arnulf seufzte und wischte die Gedanken beiseite. Gerade wollte er ins Schlafgemach zurückkehren, als er schlurfende Schritte näher kommen hörte. Er wandte sich um.
„Meister Carolus! Wo stecktet Ihr? Ich habe Euch dringend suchen lassen. Ihr verlasst doch sonst nie Eure selbst gewählte Einsiedlerklause!“
„Seid gegrüßt, Graf Redeck!“ Der Angesprochene verneigte sich ein wenig. Er trug eine dunkle, nahezu schwarze Kutte, die Kapuze immer übergestülpt. Nur ein paar lebhafte, ebenso schwarze Augen und ein silbergrauer Vollbart waren zu sehen. Er war groß und schlank, überragte den Grafen um Kopfeslänge, obgleich auch dieser mit seinen 1,80 Metern schon als Riese seiner Zeit galt. Meister -Carolus musste uralt sein, war er doch seit über dreißig Jahren der Astronom und Berater der Grafen zu Redeck. „Er ist ein Zauberer“, flüsterte man hinter vorgehaltener Hand. Aber er war der Erzieher des jungen Grafen Arnulf nach dessen Vaters Tode geblieben. Der alte Graf Albrecht hatte sofort die ungewöhnliche Bildung und Weisheit des Mannes erkannt, der eines Nachts aus dem Nichts aufgetaucht war und auf Burg Redeck um Obdach gebeten hatte. Im Schloss bewohnte er mehrere Kammern, die tief unter den Verliesen lagen und früher einfache Höhlen gewesen waren. Diese, freie Kost und absolute Ungestörtheit waren das Einzige, was er sich als Lohn für seine Dienste ausbedungen hatte. Das Gesinde mied ihn, denn es hielt es ihn für einen mächtigen Magier, der mit dem Teufel im Bunde war.
„Euer Gnaden, ich kam, um meine Hilfe anzubieten. Ihr kennt die bescheidenen Dienste, die ich Eurer Familie erweisen durfte. Ihr wisst, ich kenne Dinge, die nie ein Mensch dieser Zeit zuvor erfahren hat. Ich heilte Krankheiten, die angeblich unheilbar waren. Bitte lasst mich die gnädige Frau Gräfin untersuchen!“
Arnulf nickte. Er klammerte sich an jeden Strohhalm. Wieder vergingen Minuten des Wartens, dann kehrte der seltsame Alte aus dem Schlafgemach zurück. Seine Miene war ernst, als trüge er eine schwere Last auf seinem Gewissen.
„Es stimmt, Eure heiß geliebte Gemahlin ist todkrank. Sie ist ein Opfer ihrer Zeit. Doch gebt sie mir für zwei Wochen zur Obhut in meine Kammer; ich werde versuchen, sie zu heilen. Aber es eilt. Nur noch einen Tag länger und sie wird sterben!“ Der Alte schwieg, als ob er nicht recht wüsste, wie er es seinem einstigen Schüler erklären sollte.
„Ihr?“ Arnulf zweifelte: „Was könnt Ihr tun, das der berühmteste französische Arzt nicht kann?“
Meister Carolus zögerte mit seiner Antwort. Er richtete sich auf und bohrte seine Augen in die des Grafen.
„Glaubt mir einfach: Ich weiß mehr. Ich kann mehr. Ich habe auch andere Arznei.“ Er fühlte, dass das als Antwort nicht genügte. „Ich studierte die Heilkunde bei Völkern, von denen Ihr noch nie gehört habt. Aber ist es nicht so, dass das, was heute als unmöglich gilt, morgen schon selbstverständlich ist? Denkt zum Beispiel an die Schusswaffe, Euer Gnaden!“
„Ich bin nicht gegen Neues, besonders in diesem Fall nicht. Also sprecht!“
„Herr, vertraut mir. Ich habe Euch nie geschadet. Aber erspart mir Einzelheiten. Sie würden Euch verwirren.“
Arnulf wurde ärgerlich. „Schluss mit dem albernen Getue! Ich werde Euch schon nicht den Kopf abreißen! Sprecht!“
Carolus zögerte erneut und seufzte, ehe er hervorstieß: „Ich kann sie operieren. Die Frau Gräfin leidet an einer Eiterung in einem Darmfortsatz. Diesen gilt es herauszuschneiden und die Frau Gräfin ist gerettet.“ Stille breitete sich aus. Das Öffnen von Menschen, sogar von Leichen, war in jener Zeit ein unerhörter Frevel. Man wurde deswegen exkommuniziert.
„Operieren heißt, den Leib zu öffnen, nicht wahr?“ Arnulf stieß es zwischen seinen Zähnen hervor.
„Ja.“
Jetzt konnte der Graf nicht mehr an sich halten. Entrüstung und Wut mischten sich in seine Stimme, als er dem Alten entgegenschrie:
„Ich habe Hunderte von aufgeschlitzten Bäuchen auf den Schlachtfeldern gesehen. Ich weiß, wie die Männer schrecklich verendeten, ohne dass ein einziger Trunk ihre Qualen linderte. Ich weiß auch, dass es wider die Gebote der heiligen katholischen Kirche ist, die Unversehrtheit des Leibes anzutasten.“
„Beruhigt Euch!“ Carolus versuchte, den aufgebrachten Grafen zu besänftigen. „Ich verstehe Eure Angst, denn Ihr könnt nicht anders. Ich kann es Euch jetzt nicht erklären, aber vertraut mir. Es wird ihr nicht wehtun. Aber es ist ihre einzige Chance!“
Arnulf tobte nicht mehr. Sein Blick war starr, als er aus seinem Gewand den Dolch zog, den er immer bei sich trug. Er bebte vor Zorn, als er dem Alten eisig antwortete:
„Bei meiner Seele“, zischte er, „wagt es, Hand an Arabella zu legen, und ich töte Euch auf der Stelle!“
Meister Carolus sank kaum wahrnehmbar in sich zusammen. Er stöhnte unmerklich, dann verneigte er sich und wandte sich zum Gehen. Er sprach nur wenige Worte:
„So sehen wir uns übermorgen bei der Beerdigung!“ Dann eilte er davon.
Noch immer vor Zorn über die Blasphemie zitternd, betrat Arnulf das Gemach seiner Frau. Sie sah noch blasser aus als zuvor.
„Nun, was sagen die Ärzte?“
Er zwang sich, freudig zu schauen.
„Mein Liebes, alles wird gut werden. Es ist nur tüchtig Schlaf vonnöten!“ Er brach ab und setzte sich auf die Bettkante.
„Es ist lieb, Arnulf, aber die Schwindelei ist zwecklos. Ich fürchte mich nicht vor dem Sterben; schließlich wartet doch das Paradies auf mich, hat Pater Bernardus gesagt. Ich sorge mich nur um Euch, mein lieber Mann. Wir waren so unermesslich glücklich in der kurzen Zeit, die uns vergönnt war. Nie habe ich einen Atemzug bereut. Ihr sollt mich auch nicht vergessen, doch diese letzte Bitte habe ich noch: Ihr seid zu jung und zu gut, um ganz allein das Leben zu fristen. Wenn eine andere Euch ihr Herz zu Füßen legen sollte, weist sie nicht zurück. Versprecht es mir!“ Ihre Augen glänzten fiebrig.
„Nie will ich eine andere begehren!“, rief er. Tränen drängten sich in seine Augen. Seine rechte Hand fuhr unter die Decke und legte sich auf den Bauch seiner Frau. Deutlich spürte er die unnatürliche Schwellung und Anspannung der Muskulatur.
„Versprecht es!“ Ihr Atem ging unregelmäßig. „Bitte, Ihr müsst es mir versprechen!“
Gequält, und nur um sie zu besänftigen, stieß er hervor:
„Ist gut, Arabella, ich verspreche es!“
Die nächsten Stunden wachte er an ihrem Bett. Ihr Schlaf war unruhig, immer wieder von -Schmerzensschreien durchbrochen. Am frühen Morgen des nächsten Tages klarte sie auf.
„Arnulf?“, fragte sie mit schwacher Stimme.
„Ja, ich bin hier!“ Arnulf schrak auf, denn er war etwas eingenickt.
Sie entspannte sich ein wenig. Noch einmal ergriff sie seine Hand, zog sie an ihre Lippen und hauchte:
„Ich liebe Euch.“
Plötzlich lockerte sich das schmerzverzerrte Gesichtchen und ein Lächeln erfüllte ihr Antlitz. Die Hand, die Arnulf festgehalten hatte, fiel schlaff herunter. Die Atmung setzte aus. Arabella war tot.
Die Beerdigung fand einen Tag später statt. Carolus war auch erschienen, doch würdigte ihn der Graf weder eines Blickes noch duldete er eine Beileidsbezeugung. Der Alte verschwand wortlos wieder in seiner Eremitage tief unter der Burg.
Arnulf ließ eine dicke Marmortafel über dem Grab seiner geliebten Frau anbringen.
„Niemand soll deine Ruhe stören. Niemals!“, flüsterte er unbemerkt. Neben dem Namen ließ er die Inschrift einmeißeln: „In ewiger Liebe, Arnulf“.
Kapitel 2 – Carolus
Arabella war jetzt bereits zwölf Monate tot. Graf Arnulf jedoch hatte noch immer keine Ruhe gefunden. Hätte er nicht doch seinen Lehrmeister gewähren lassen sollen?
Nächtelang hatte sich Arnulf verflucht, dass er jene winzige Chance nicht genutzt, sondern ihr und sein Leben brutal vernichtet hatte. Damals hatte er sich geschworen, nie wieder gegen den Rat des Alten zu handeln, auch wenn er gegen den Papst gerichtet war. Für Arabella kam sein Schwur zu spät.
Tagsüber starrte der Burgherr stundenlang in die Ferne, abends ins Feuer. Niemand konnte ihn aufheitern. Sein Essen beachtete er kaum, schluckte, was ihm vorgesetzt wurde. Die Burg hatte er seit der Beerdigung nicht mehr verlassen. Besucher wurden fortgeschickt. In all den Monaten hatte sich der Zustand eher verschlimmert. Schon hatten einzelne Pächter begonnen, die Notlage ihres Herrn auszunützen und in ihren Zinszahlungen nachzulassen. Es wurden weniger Ochsen geliefert; die Kornkammern waren leerer als in den Vorjahren. Auf dem Markt tuschelten die Weiber hinter vorgehaltener Hand, dass da einer wohl von Dämonen besessen wäre. Man begann, alle auf der Burg Beschäftigten zu meiden.
Aber es gab auch loyale Männer. Benedikt aus dem kleinen Flecken Halstetten war einer von ihnen. Wie viele Bedienstete stand er bereits etliche Jahre im gräflichen Dienst. Er war ein Pferdekenner ersten Ranges, ein Finanzgenie dazu und hatte sich aus kleinsten Anfängen aus eigener Kraft vom Pferdeknecht zum Haushofmeister hochgearbeitet. Nachts, wenn alle schliefen, hatte er sich im Rechnen und Lesen geübt und sich sogar um die philosophischen Künste bemüht, mit wenig Erfolg allerdings. Er war immer ein einfacher Mann geblieben, trotz aller Erfahrung seiner nunmehr sechzig Jahre, und immer gerecht und geradehe-raus. Als Vorsteher des gräflichen Gutes war er nicht überall beliebt, aber jeder respektierte ihn. Seinem scharfen Blick blieb der allmähliche Verfall der Güter nicht verborgen. So hatte er sich zuletzt entschlossen, den jungen Grafen aus seiner Lethargie zu reißen, nachdem dessen Freunde gescheitert waren. Der Graf hatte sie alle hinausgeworfen. Man sprach ihn besser nicht an.
Also hatte sich der Majordomus ein Herz gefasst und den schweren Gang auf sich genommen. Er pochte an die Tür zum Schlafgemach seines Herrn, der sich den ganzen Tag über noch nicht hatte sehen lassen.
„Ich wünsche keine Störung!“, schallte es durch die Tür.
„Verzeihung, Euer Gnaden“, sprach der Majordomus und öffnete zaghaft die Tür, „ich bitte Euch auf ein Wort!“ Er verneigte sich tief.
„Was gibt es, Benedikt? Wie kannst du es überhaupt wagen, mich zu stören?“, fuhr Arnulf seinen Vorsteher an, der mit seiner Kappe wartend in der Türe stand. Der Graf war nicht an irgendwelchen Querelen seines Gesindes interessiert. Der Gescholtene verneigte sich erneut.
„Mit Verlaub, Herr Graf, bei Eures Vaters Andenken, verzeiht mir die Kühnheit meines Eindringens. Aber so kann es doch nicht weitergehen! Bitte lasst mich fortfahren, Euer Gnaden“, stieß der Getadelte hastig hervor und hob bittend seine Hände empor. „Die Bauern werden aufsässig, das Holz bleibt ungeschlagen und Teile Eures Zehntes werden unterschlagen. Banditen aus den Wäldern Eures fürstlichen Nachbarn haben bereits ein Dorf geplündert. Herr Graf, Ihr müsst Euch draußen zeigen! Man hielte Euch sonst für krank und schwächlich und das wäre das Ende von Redeck!“
Benedikt verneigte sich zum dritten Mal und schwieg. Arnulf hatte ihm den Rücken zugewandt und sich ans Fenster gelehnt. Er schien regungslos in die Ferne zu starren. Minuten des Schweigens vergingen. Gerade wollte der Haushofmeister einen neuen Anlauf nehmen, da drehte sich Arnulf abrupt um.
„So, du bist nicht in der Lage, mir die Faulenzer und Tunichtgute vom Leibe zu halten.“ Plötzlich verstummte er. Aufstöhnend wandte er sich erneut zum Fenster.
„Was soll ich denn tun?“ Ein Aufschrei der Seele bahnte sich ihren Weg. „Ich kann es einfach nicht überwinden!“
Erneutes Schweigen. Benedikt spürte die Nöte seines Herrn.
„Warum, Herr Graf, fragt Ihr nicht Carolus, den Heiler? Er kann Euch sicherlich helfen, und er wird Euch nicht zurückweisen, das weiß ich. Aber tut etwas oder wir sind alle verloren! Das ist Eure Pflicht als Christ und Herr! Ich will selbst nach ihm schicken, wenn Ihr es wünscht!“
Arnulf hatte kommentarlos zugehört. Er spürte, dass dieser Mann recht hatte. Wenn er auch selber mit dem -Leben abgeschlossen hatte, so hatte er doch für sein Gesinde, seine Bauern zu sorgen. Doch widerstrebte es ihm zutiefst, sich so durchschaut zu wissen. „Ich werde es mir überlegen, Benedikt. Gehe jetzt und lasse mich allein!“, herrschte er den Haushofmeister an. „Geh!“
Drei Tage lang hatte Arnulf mit sich gerungen; dann hatten die Worte Benedikts seinen Stolz besiegt. Vielleicht wusste Meister Carolus doch eine Arznei gegen seine Depressionen, die ihn zunehmend lähmten und schwächten. Er hatte ihn seit dem Begräbnis weder zu Gesicht bekommen, noch hatte er gewünscht, ihn zu sehen.
Schweigend schritt Arnulf Graf von Redeck die Stufen hinab. Das alte Kellergewölbe roch modrig. Ein paar Ratten huschten leise raschelnd davon. Feuchte Kälte drang in Arnulfs Wams; ein klammes Gefühl griff nach seinem Herzen. Unwillkürlich umklammerte er den Griff seines Schwertes fester, als er tief unten in seiner Burg an eine moosbegrünte Eichentür pochte. Wie von Teufelshand sprang die Pforte auf, nahezu lautlos. Der Raum wurde von einem magischen, gelblichen Licht erhellt, dessen Quelle Arnulf nicht erkennen konnte. Der Raum war warm. „Das ewige Feuer der Hölle“, dachte Arnulf fröstelnd und trat ein.
Ein alter Mann erhob und verbeugte sich. Nicht demütig wie sonst die Hausdiener, eher einladend, ja spöttisch. Wie immer war er in eine dunkle Kutte gehüllt, die Kapuze hochgeschlagen. „Merkwürdig“, dachte Arnulf einen Moment, „ich habe ihn nie mit entblößtem Kopf gesehen.“
„So seid Ihr endlich gekommen, Herr“, sprach der Greis, „ich habe das ganze Jahr auf Euch gewartet.“ Arnulf war zwar mittlerweile einunddreißig Jahre alt und längst der Herr auf Burg Redeck. Seinem geheimnisvollen Erzieher aber begegnete er noch immer mit Ehrfurcht und einer gewissen Scheu. Er hatte zu viele Wunder gesehen, die dieser Mann vollbrachte. Und doch hatte er ihm nicht vertraut, als seine Not am größten war.
„Ich suche Euren Rat, Meister Carolus. Ich kann nicht mehr weiter. Das Gut verkommt; mir fehlt die Kraft, mich aufzuraffen.“ Seufzend ließ er sich in einen harten Armstuhl sinken und stützte den Kopf in die Hände. „Ich war ungerecht zu Euch. Könnt Ihr mir verzeihen?“
Der Mann in der Kutte trat näher, legte eine Hand auf Arnulfs Schulter und nickte bedächtig. „Was geschehen ist, Arnulf, kann auch ich nicht mehr ungeschehen machen. Du hast damals unrecht getan, weil du unwissend warst. Ich tadele mich dafür, dir nicht die wahren Dinge des Seins gezeigt zu haben.“ Der Alte sprach zu ihm wie zu einem kleinen Kind. Er zögerte einen Moment, erhob dann die Hand und fuhr gebieterisch fort:
„Hört mich an, Arnulf Graf von Redeck. Ich bin keiner der Euren. Ich bin alt und meine Zeit neigt sich dem Ende zu. Versprecht mir, meine Aufgabe zu Ende zu führen, und ich werde Euch das wahre Leben zeigen. Ich habe es hier im Librum vitae, Buch des Lebens, verzeichnet. Ihr sollt wieder leben. Auch kann ich Euch helfen, das Glück neu zu finden. Ihr müsst mir nur zuvor schwören, meinen Weg zu gehen. Bedingungslos!“ Er eilte quer durch den Raum, kramte mit zitternden Händen eine verborgene Schatulle hervor und entnahm ihr ein dickes, in schweres Leder gebundenes Buch. Fiebrig glänzten seine Augen, als er es aufschlug. Dann hob er es in die Höhe. Seine Stimme dröhnte:
„Schwört es oder verlasst den Raum auf der Stelle!“
Arnulf schrak zusammen. So hatte er Carolus noch nie gesehen. Ja, er musste ein Zauberer sein. Das merkwür-dige Licht warf einen düsteren Schatten des Mannes auf die Tür.
„Schwört!“
Zögernd erhob er die Hand zum Schwur und setzte sein Signum auf ein Schriftstück, das der Greis ihm hinschob. Befriedigt zeichnete dieser die Schriftrolle gegen und versiegelte sie.
„Geht jetzt, aber kommt in drei Tagen wieder! Ich werde Euch auf eine lange, gefährliche Reise schicken. Niemand, nicht einmal ich, weiß, wann oder ob Ihr jemals zurückkehren werdet. Nutzet die verbleibende Zeit und regelt Eure weltlichen Dinge hier. Wisset, Herr, ich kenne Eure Gewohnheiten genau. Deswegen sei es Euch erlaubt, Eure Waffen und den Harnisch mitzubringen, obwohl Ihr sie nicht gebrauchen könnt. Ihr dürft einen Knappen mitbringen, ansonsten schweigt zu jedermann! Ich erwarte Euch nach Anbruch der Abenddämmerung. Bindet Euer Pferd am kleinen Seiteneingang an; Ihr werdet es zunächst nicht brauchen. Dann nehmt den verborgenen Weg an der Burgmauer entlang und steigt die Treppe hinab. Ich werde Euch unten erwarten.“
Mit einer Handbewegung schnitt der unheimliche Alte Arnulfs Protest ab. „Fragt jetzt noch nicht! Ihr gelobtet soeben, meine Aufgabe zu Ende zu führen. Wohlan: Meine Aufgabe war die Reise, von der ich sprach. Doch fühle ich die Tage dunkler werden und höre bereits des Nachts die Rufe unseres Herrn, des Allmächtigen. Mein Geist ist fiebrig und der Körper schwach. Ich schaffe nur noch die allerletzte Reise über den großen Fluss der Vergängnis. So müsst Ihr jetzt für mich den Weg zu Ende gehen. Seid gewiss, mein Graf, Ihr werdet dadurch Euren Kummer überwinden, das verspreche ich. Geht jetzt! Kehrt Ihr zurück innert dreier Tagen Frist, so soll sich das Buch des Lebens all Euren Fragen stellen.“
Drei Tage später. Arnulf hatte keinen Moment gezögert. Irgendwie war er froh, dass ihm die Entscheidung aus der Hand genommen war. Außerdem war er noch jung und die Aussicht auf Abwechslung und Gefahr reizte ihn. Die merkwürdigen Umstände störten ihn nicht. Ein letztes Mal ließ er sämtliche Bewohner der Burg im Hofe zusammenrufen.
Ein nervöses Gemurmel durchzog die Reihen der Wartenden. Die meisten fröstelten, denn draußen war es wieder empfindlich kalt. Friedrich, der Lieblingsknappe des Grafen, hatte die Waffen polieren und ein Pferd rüsten -müssen. Gerade läutete die Glocke; die Messe in der kleinen Burg-kapelle war zu Ende. Der Graf, in ein schlichtes Reisegewand gekleidet, trat ins Freie, gefolgt vom Kaplan. Arnulf blickte prüfend über die Menge, bevor er sich auf die Treppe begab, von der er früher seine Ansprachen gehalten hatte. Er hob die Hand, das Gemurmel erstarb.
„Meine Getreuen, ich habe große Neuigkeiten für euch!“ Nur das Rauschen des Windes störte jetzt die Stille. Arnulf räusperte sich.
„Ich werde auf eine Reise gehen und sie wird lange dauern. Nur ich allein. Für euch alle ist gesorgt. Ihr werdet dafür diese Burg und meine Dörfer beschützen, das verlange ich. Ich rufe jetzt Benedikt aus dem Flecken Halstetten zu mir!“ Der Aufgerufene trat aus der Menge vor die Treppe und verneigte sich.
„Benedikt, du hast mir als Haushofmeister viele Jahre treu gedient. Knie nieder!“ Er ließ sich sein Schwert reichen und berührte damit nacheinander beide Schultern des vor ihm Knienden. „Ich schlage dich zum Ritter. Erhebt Euch, Benedikt von Halstetten! Gelobt Ihr mir die Treue?“
Benedikt küsste den gräflichen Ring. „Bei Gott, ich gelobe es!“ Arnulf lächelte und überreichte ihm ein kostbar verziertes Schwert.
„Benedikt von Halstetten, nehmt diese Waffe als Zeichen meines Dankes. Zugleich bestimme ich Euch zu meinem Statthalter für die Zeit meiner Abwesenheit.“
Benedikt verneigte sich erneut. Er war zutiefst bewegt. Bevor er ein Wort des Dankes herausbrachte, hatte sich Graf Arnulf bereits wieder den übrigen Leuten zugewandt.
„Vernehmt jetzt meine letzten Befehle: Ritter Benedikt wird ab sofort diese Burg befehligen, bis ich wiederkomme. Ihr wisst, dass ich keine Nachkommen habe und keine anderen Verwandten. Ich bestimme weiter: Kehre ich nicht zurück, so sei Benedikt mein Erbe und Träger des gräf-lichen Titels. Geht mit Gott!“ Die Burgbewohner wichen ehrfurchtsvoll auseinander, als Arnulf, gefolgt von Benedikt, die Treppe hinabschritt und den Burghof überquerte. Vor Arabellas Gedenktafel hielt er inne, kniete nieder und presste seine Stirn gegen den kalten Stein: „Vielleicht bin ich schon bald bei dir, meine Geliebte.“
Benedikt hatte in respektvoller Entfernung gewartet. Als Arnulf sich erhob und zum Gehen anschickte, bemerkte er, dass sein Statthalter Gesellschaft bekommen hatte: Friedrich, der Knappe, schien heftig mit ihm zu diskutieren. Arnulf wandte sich den beiden zu.
„Was gibt es, guter Benedikt?“
„Euer Gnaden, Friedrich, Euer Knappe hat nichts als Flausen im Kopf. Er will Euch begleiten. Ich habe ihm gesagt, dass Ihr dieses nicht wünscht, aber er will Euch unbedingt selber sprechen. Verzeiht diesem vorlauten Kind!“
Friedrich hatte sich tief verneigt. „Verzeiht, mein Herr, dass ich Euch störe. Ich bin kein Kind mehr, sondern Euer Knappe. Und der Knappe gehört zum Herrn. Also: Bitte erlaubt mir, Euch zu begleiten!“
„Du bleibst hier. Ich werde einen anderen Lehrmeister für dich finden.“
Der Knappe warf sich zu Boden und kniete vor dem Grafen. „Bitte, ich habe auch keinerlei Verwandten mehr. Ich kenne Eure Gewohnheiten und Bedürfnisse. Wer besser als ich könnte Euch unterwegs dienen? Und wenn es direkt in den Tod ginge, ich würde Euch unerschrocken folgen. Habt Erbarmen!“
Arnulf war gerührt. Fragend blickte er hinüber zu Benedikt. Dieser zuckte die Schultern.
„Es ist Eure Entscheidung. Der Knappe gehört Euch. Letztendlich wird ihn hier auch keiner vermissen.“
„Friedrich“, fragte Arnulf streng, „ist dir klar, dass ich nicht weiß, ob ich jemals zurückkehre? Ich kenne ja selber die Umstände noch nicht!“
„Herr, was soll ich hier ohne Euch? Lasst mich Euch begleiten!“
Arnulf legte ihm väterlich den Arm auf die Schulter. „Wohlan, so sei es. Ich erwarte dich zu Anbruch der Dämmerung an der kleinen Pforte. Binde ein Pferd dort an und schaffe etwas Proviant dahin, so viel, wie ein Mann gerade noch tragen kann. Außerdem mein Schwert und Harnisch.“ Dann zog er sich mit Benedikt für letzte Anweisungen zurück.
Die Abenddämmerung fand beide an der kleinen Seitenpforte. Arnulf winkte dem Knappen, ihm zu folgen. Der verborgene Pfad! Der Graf erinnerte sich düster, hier gelegentlich als Kind gespielt zu haben. Meist aber war er von Carolus, seinem Lehrmeister, entdeckt und davongescheucht worden. Der Pfad war sehr uneben; der Boden von Regenrinnsalen unterspült und mürbe. Er schlängelte sich außen an der Burgmauer vorbei und verschwand in einem Dickicht aus Buschwerk und Dorngestrüpp. Nach wenigen Metern verlor er sich scheinbar in der Tiefe. Arnulf kämpfte sich durch das widerspenstige Gestrüpp und entdeckte am Ende tatsächlich einige Stufen, die nach unten führten. Vorsichtig begannen er und der Knappe den Abstieg. Immer wieder lösten sich kleine Felsbrocken aus einem losen Sims und rumpelten irgendwohin. Das restliche Tageslicht war bald pechschwarzer Finsternis gewichen. Mühsam tasteten sie sich abwärts, bis sie abrupt an einer Tür gebremst wurden. Sie mussten jetzt weit unter dem eigentlichen Schloss sein. Der Graf erinnerte sich, dass seine Vorfahren die Burg Redeck nahezu auf den Gipfel eines kleinen Berges gebaut hatten, um sie vor Angreifern zu sichern. Offensichtlich hatten sie auf halber Höhe auch noch einige Kammern eingebaut, als Verliese vielleicht oder Unterschlupf für leibeigene Dorfbewohner in Kriegszeiten.
Pferd und Proviant hatten sie wie verabredet oben zurückgelassen, die Waffen dagegen nicht. Noch ehe Arnulf sich in der Dunkelheit zurechtfinden konnte, schwang die geheimnisvolle Tür von alleine auf und gab den Blick in einen langen Tunnel frei. Wieder beleuchtete fahles Licht den Gang. Es kam aus einzelnen Glaskugeln, ohne dass man Kerzen flackern sah. Am Ende erweiterte sich der Durchgang zu einer geräumigen Höhle. Arnulf erkannte den Raum wieder. Nur war er vor drei Tagen aus der gegenüberliegenden Tür eingetreten. In der Mitte der Höhle stand ein massiver Holztisch mit allerlei Schriftrollen und Folianten darauf. Alles wurde durch eine besonders hell leuchtende Kugel in ein unwirkliches, gelblich scheinendes Licht getaucht. Wenige schlichte Hocker, einige, vermutlich medizinische Instrumente und seltsame Zeichnungen an den felsigen Wänden bildeten den Rest des Mobiliars. Der Felsen an einer Höhlenseite war wie eine große Stufe geformt. Irgendwer hatte das Gestein darunter ausgehöhlt und auf diese Weise eine Art natürlichen Schrank geschaffen. Es gab noch eine dritte Tür. Durch diese war soeben Carolus eingetreten.
„Wie ich sehe, habt Ihr Euch gerüstet“, begrüßte Carolus seine Besucher. Er trug wie immer seine Kutte.
„Legt Euer Schwert dort auf den Sims und gebt mir Euer Bekenntnis, dass Ihr aus freien Stücken kamt und Euch der Folgen wohl bewusst seid!“ Der Mann in der Kutte streckte die Hand aus. Arnulf tat, wie ihm geheißen wurde.
„Magister Carolus, dieses ist mein Wille, ich bezeuge es vor Gott“, erwiderte Arnulf und überreichte dem Alten ein Stück Pergament. Dieser überflog die Schriftrolle flüchtig, versiegelte sie und ließ sie in seiner Kutte verschwinden.
„Was ist mit dem Knappen?“, fragte Carolus. Eifrig sprang dieser hervor.
„Ich folge meinem Herrn – ebenfalls freiwillig – bis in den Tod, wenn nötig“, stieß er stolz und erregt hervor, „seht, hier ist mein Bekenntnis!“ Auch er überreichte eine verschnürte Schriftrolle. Carolus nickte.
„Du bist sehr mutig, Friedrich, und treu ergeben. Doch diese Reise ist von besonderer Art. Du musst hierbei noch mehr als bisher ganz auf Gott, den Herrn vertrauen, sonst wirst du untergehen. Tausend Teufel werden dir begegnen und ich möchte nicht, dass du ihnen verfällst!“
Friedrich reckte sich empor.
„Meister Carolus, ich bin stark im Glauben und fürchte mich nicht. Dem Grafen werde ich dienen bis zum Letzten. Bitte schickt mich nicht fort!“ Seine Stimme war kindlich geworden, flehend. Jetzt unterbrach der Graf:
„Du sollst mich begleiten. Wohlan, gehe ins Nebenzimmer und harre meiner Befehle!“
Friedrich verbeugte sich erleichtert. Dann verschwand er im Nebenraum. Carolus wiegte nachdenklich sein Haupt.
„Er ist noch ein Kind, erst sechzehn Jahre, und ich kann für sein Leben nicht garantieren. Wollt Ihr ihn wirklich mitnehmen?“, wandte sich Carolus an Arnulf.
„Er gibt keine Ruhe. Außerdem ist er äußerst zuverlässig. Ja, er soll mich begleiten!“
„Es sei so, nun, lasst es uns wagen. Ich frage Euch, Arnulf, seid Ihr bereit, dieser Welt zu entsagen?“ Mit lauerndem Blick fixierte er den jungen Mann vor ihm, der überrascht aufsah.
„Der Welt entsagen?“
„Ich will es Euch erklären, weil ich weiß, dass Ihr Euch nicht fürchtet. Ihr sollt eine Reise antreten in ein fernes, sehr fremdes Land. Ihr werdet die Sitten und Gebräuche nicht kennen und möglicherweise nie begreifen. Es lauern dort Gefahren auf Euch, die hier völlig unbekannt sind. Die Menschen dort essen anders, leben anders, denken anders, sind anders. Eure Waffen werden sie nicht einschüchtern, allenfalls belustigen. Ich weiß, Ihr trauert um Arabella. Ich weiß, Ihr wollt ihrem Andenken entfliehen. Aber ist ihr Andenken es wert, dass Ihr Euer Leben setzt für eine ungewisse Zukunft? Bedenkt, hier seid Ihr der Herr über viele Dörfer und Leibeigene. Eure Lehnsleute sind Euch treu ergeben. Ich kann Euch nicht das Gelobte Land versprechen. Wo Ihr hingehen sollt, seid Ihr der Fremde, müsst Ihr Euch anpassen, wird man Euch misstrauen. Doch ich sehe nicht alles. Vieles kann ich nur erahnen, viel mehr noch bleibt im Dunkeln, so wie es Gott beliebt.“
Des alten Mannes Stimme war hart geworden. Niemand kannte sein Geheimnis, das ihn vor vielen Jahren in die schlichte Einsamkeit der Burg Redeck getrieben hatte. Gerüchten zufolge hatte er davor viele Jahre lang in Zentren der Gelehrsamkeit wie Padua und Florenz verbracht, die heid-nischen Länder des Morgenlandes durchstreift und war bis zum Rande der Welt vorgedrungen. Eines finsteren Nachts hatte er, scheinbar aus dem Nichts gekommen, vor dem Tor der Burg Redeck gestanden und dem alten Grafen seine Dienste als Sterndeuter und Arzt angeboten. Seine Bekleidung war fremdartig, die Sprache ungewohnt, wohl ein fremder Akzent. Niemals sprach er über seine Herkunft. Er wollte kein angemessenes Gemach, sondern erbat lediglich die Höhlen unter der Burg. Dort unten hauste er, gemieden vom Gesinde, das häufig von seltsamen Lichterscheinungen und Geräuschen berichtete, die aus der Gruft drangen. Zwar ging er regelmäßig in die Kirche und legte dort auch die Beichte ab, doch soll er den Pater Inquisitor, der ihn einmal zur Klärung böser Gerüchte im Kellergewölbe aufsuchte, mit grünem und blauem Nebel, den er aus einer Karaffe schöpfte, vertrieben haben. Nur die Furcht des Geistlichen vor dem Leibhaftigen und ein Haufen Goldmünzen aus der Hand des Grafen hatten eine Anklage wegen Hexerei verhindern können. Ständige Spenden an die Mutter Kirche ließen schließlich das Interesse der Geistlichkeit an dem sonderbaren Kauz erlahmen.
Dem alten Grafen jedoch war er ein ergebener Ratgeber gewesen und als Arzt durch die Heilung von Kranken, die von anderen längst aufgegeben worden waren, berühmt geworden. Er wusste Dinge, von denen noch nie eine Menschenseele zuvor gehört hatte, und schuf aus eigener Hand Wunder, die an Gottes Werk erinnerten, wenn sie nicht doch des Teufels waren. Er konnte Blitze schleudern und ließ Wasser aus den Wänden quellen; er konnte mit Leuten durch meterdicke Wände sprechen und menschliche Stimmen in kleine Kästen einsperren. Er wusste in seinem Raum Licht und Wärme ohne Feuer zu spenden und besaß Abbildungen vom Innersten des Menschen, wie es ein menschliches Auge nie zuvor erblickt hatte.
Nach dem Tode des alten Grafen war er dem jungen Arnulf Vaterersatz und Erzieher zugleich gewesen. Er lehrte ihn die Kunst des Lesens und Schreibens, der Arithmetik und Geometrie und schulte ihn in der Philosophie der alten Zeit. Arnulf beherrschte die griechische und lateinische Sprache und zwei merkwürdige Dialekte, für die Carolus niemals einen Namen genannt hatte. Er hatte aber darauf bestanden, dass Arnulf diese fließend zu sprechen lernte. „Ihr, Arnulf, werdet sie vielleicht für eine große Reise brauchen!“, hatte er immer nur ausweichend geantwortet. Nie aber hatte er sich weiter zu der Reise geäußert.
Arnulf setzte sich auf den einzigen Stuhl im Raum.
„Meister Carolus, Ihr seid mir immer ein weiser Lehrer und Freund gewesen. Wohl ist es wahr: Vieles an Euch verstehe ich nicht. Auch seid Ihr kein Krieger, denn die Tugend des Kampfes lernte ich von Meister Florian, dem Ritter des Grafen Wester. Vielleicht seid Ihr wirklich ein Zauberer. Aber Ihr seid zugleich der Einzige, der mir in meiner Not helfen kann.“
Carolus nickte geistesabwesend.
„Erneut frage ich Euch: Seid Ihr bereit zu einer Reise in die Ferne, vielleicht ohne Wiederkehr?“ Arnulf zögerte nicht.
„Ja, das bin ich!“, erwiderte er mit fester Stimme.
„Dann folgt mir zu dieser letzten Unterrichtsstunde in meinem Leben.“ Carolus winkte und öffnete eine verborgene vierte Tür. Wieder standen sie in einem langen, gewundenen Gang. Irgendwann endete dieser vor einer mächtigen Tür, die zu einer Seitenkammer führte. Carolus bedeutete Arnulf, einzutreten. Der Graf war überrascht. Das unterir-dische Gangsystem unter seiner Burg war ihm völlig neu. Die beiden Männer setzten sich an einen schlichten Tisch.
„Jetzt will ich Euch in mein Geheimnis einweihen. Nur Ihr sollt es erfahren, doch Ihr müsst darüber schweigen, zu Eurem eigenen Besten. Deswegen schickte ich auch den Knappen hinaus. Die Zeit ist noch nicht reif, dem Volk die wahren göttlichen Wunder aufzuzeigen. Sie würden in ihrer Angst nicht zwischen Gott und Teufel unterscheiden können. Ich weiß sehr wohl, was die Leute im Dorf über mich reden. Euch aber habe ich so erzogen, Neues nicht rundweg abzulehnen, nur weil es neu ist. Bedenkt: Was der Mensch sich erschaffen hat zu seiner Hilfe, das hat Gott durch ihn erschaffen! Es ist kein Teufelswerk, die Dinge zu nutzen, die uns der Herr vor die Füße gelegt hat. Wie wir den Stein hauen, um ihn zu ehren, so dürfen, nein, müssen sich die Menschen zukünftig auch das heute noch Verborgene zunutze machen. Wohlan, ist das frevelhaft?“
Arnulf schüttelte den Kopf. Doch was wollte ihm der Alte mit dieser umständlichen Rede sagen? Noch ehe er nachfragen konnte, fuhr Carolus mit deutlichem Nachdruck fort:
„Wisset aber, dass es von jetzt an kein Zurück mehr gibt, wenn Ihr erst alles wisst. Sobald ich diesen Raum verlasse, ist Euer altes Leben vorbei. Wolltet Ihr dann noch umkehren, müsste – und würde – ich Euch töten!“
Arnulf rieselte ein kühler Schauer über den Nacken. Er zweifelte nicht an der Ernsthaftigkeit der Worte des Alten und dessen Fähigkeit, es trotz des Alters zu tun.
„Lasst es uns hinter uns bringen“, murmelte er barsch und stieß die Türe mit dem Fuß fest zu.
„Arnulf, hört mich an. Zwei Sprachen lehrte ich Euch als Kind. Wir wollen sie jetzt neudeutsch und englisch nennen. Es sind die Sprachen der Zukunft. Denn das ist Euer Bestimmungsort: die Zukunft.“
Arnulf wollte verächtlich lächelnd aufspringen, als der Alte ihn auf die Bank zurückdrückte.
„Nein, das ist keine Scharlatanerie! Ich weiß es, denn ich war einst dort zu Hause gewesen. Ich habe das Verfahren des Zeitsprungs in dem Buch, das ich vor Tagen erwähnte, niedergeschrieben. Jenes Librum vitae wird Euch auf Eurer Reise begleiten. Mein Schicksal war es, nur den Sprung zurück ins Mittelalter, wie man später diese Zeit nennen wird, zu schaffen. Die Lösung, den Prozess auch in umgekehrter Weise ablaufen zu lassen, habe ich erst vor Kurzem gefunden. Doch leider ist mein Körper mittlerweile zu schwach für solche Unternehmungen. Ihr müsst den Circulus vollenden!“ Carolus pausierte, etwas kurzatmig geworden. Arnulf versuchte, das Neue zu verstehen.
„Sagt, Meister Carolus, sind solche Ideen denn nicht -wider die Gesetze unserer heiligen römisch-katholischen Kirche? Ihr sprecht von Zauberei!“
„Ich weiß, dass es wie Zauberei klingt. Deswegen auch sprach ich nie darüber zu Euch oder anderen. Ihr seid zu sehr von den Gedanken dieser Zeit umfangen. Denkt an Eure Gattin, lieber Graf! Ich hätte sie retten können, wäret Ihr nicht so verblendet gewesen!“
Arnulf biss sich auf die Lippen. Er fühlte, dass Carolus recht hatte, wenn er auch den Grund dafür nicht verstehen konnte. Aber gerade deswegen war ihm das Außergewöhnliche willkommen, wollte er doch seiner Zeit, seinen Erinnerungen entfliehen. So verkniff er sich eine scharfe Zurechtweisung. Carolus wusste wohl, was in seinem Herrn vorging. Ein Lächeln umspielte seine Lippen.
„Ich werde Euch nichts aus der Zukunft berichten; Ihr würdet es mir jetzt doch noch nicht glauben. Ich rate Euch nur eines: Lasst das lächerliche Schwert und den Harnisch liegen!“
„Nein“, rief Arnulf aufgebracht, „was sich seit den Griechen bewährt hat, werde ich gewiss nicht aufgeben! Es ist das Schwert meines Vaters!“ Carolus zuckte mit den Schultern. Es gab Wichtigeres zu bereden.
„Wir werden uns in ein Geheimverlies, das ich vor Jahren unter dieser Burg schuf, zurückziehen“, sprach Carolus unbeeindruckt. „Ich wähle den Ort, weil er vermutlich in den nächsten Jahrhunderten sicher sein wird. Hier werde ich Euch und dem Knappen den Reisetrank verabreichen. Ihr werdet daraufhin für viele, viele Jahre schlafen. Leider kann ich den Zeitpunkt des Aufwachens noch nicht genau vorausberechnen, insofern ist die Reise ein großes Wagnis. Das Buch des Lebens überlasse ich Euch. Es enthält die Rezeptur des Trankes für die Rückkehr. Auch hier kann ich nicht sagen, in welche Zeit Euch das Gebräu zurückkatapultieren wird.
Seht, dort drüben an der Wand, der graue Streifen. Das nennt man Rohr und es führt Wasser aus dem Bach da draußen. An diesem Hebel müsst Ihr ziehen, wenn Ihr erwacht, und Ihr werdet frisches Wasser erhalten.“ Carolus demonst-rierte den Mechanismus. Arnulf war zutiefst beeindruckt. Vielleicht spann der Alte doch nicht?
„Sobald Ihr eingeschlafen seid, werde ich die Eingangstüre zumauern lassen. Nichts wird von außen mehr an einen Raum denken lassen. Wollt Ihr am Ende Eurer Reise diese Kammer verlassen, so zieht den Bolzen aus jenem Block heraus.“ Carolus zeigte auf das Teil, das sich genau gegenüber dem Eingang befand.
„Erschreckt nicht: Es wird sich ein mannshoher Haufen Sand in diese Kammer ergießen. Dieser Sand blockierte die Ausgangstür. Steigt den Sandhaufen hinauf und drückt gegen den Stein in der rechten oberen Ecke. Ich habe ihn noch einmal mit einem dicken ‚x‘ gekennzeichnet. Seht Ihr die Treppe auf der anderen Seite, die an der Decke endet? Das Drehen des Steines bewirkt, dass ein Teil der Decke an der Treppe herabstürzt und den Ausgang in einen Geheimgang freigibt. Folgt dem Gang. Am Ende befindet sich ein ähnlicher Bolzen. Zieht Ihr ihn, bricht eine Tür zum äußeren Burghügel auf, ein ganzes Stück hinter Arabellas Grab. Ich habe alles aufgeschrieben. Habt Ihr es verstanden?“
Arnulf nickte. Er war unsicher geworden.
„Nun gut, ab jetzt seid Ihr auf Euch allein gestellt. Ich kann Euch nichts zu essen beschaffen; die Reise dauert zu lange. Ich lasse Euch aber Schmuck und Goldmünzen hier, die Ihr in der neuen Zeit gegen gültige Münzen eintauschen müsst. Lest im Zweifel das Buch des Lebens. Ferner habe ich noch ein Aufweckmittel, falls Euer Knappe länger als Ihr schlafen sollte“, sprach Carolus und drückte Arnulf eine dunkelrote, dick versiegelte Phiole in die Hand. Zum Schluss zog er Arnulf fest an sich, umarmte ihn und ermahnte ihn väterlich:
„Versucht zu lernen, Arnulf, Ihr seid noch jung genug. Nicht die Gewalt, der Geist wird siegen! Noch eins: Auch in der Zukunft wird ein Fremder argwöhnisch beäugt. Versucht Euch also schnell anzupassen. Verschweigt am besten auch Eure Herkunft, bis Ihr sicher seid, der Person wirklich vertrauen zu können. Gott sei mit Euch!“ Hatte Carolus vielleicht eine Träne im Auge? Arnulf schluckte schwer und erwiderte stumm den Gruß. Dann drehte sich Carolus hastig um und verließ den Raum. Kurze Zeit später trat der Knappe Friedrich ein. Er hielt einen braunen Krug in der Hand.
„Der Magier hat mich geschickt. Bevor wir losreiten, sollen wir dieses in Gedenken an Carolus trinken. So jedenfalls sprach der unheimliche Alte“, wunderte sich der Knabe. „Wird wohl ein guter Tropfen sein!“ Arnulf nickte benommen und nahm ihm den Krug ab.
Dann blickte er sich in seinem neuen Zuhause -genauer um. Zu beiden Seiten des Raumes waren zwei grobe Pritschen wie Alkoven in das Mauerwerk eingehauen und ausgepolstert worden. Eine kleine Schmucktruhe stand zu Füßen der einen Liegestatt, gefüllt mit Gold- und Silbermünzen sowie einigen wertvollen Edelsteinen. Neben dem Eingang hatte Friedrich ihre Reiseutensilien aufgestapelt: Für Arnulf zwei Reisekisten, die eine mit ausgewählten, golddurchwirkten Prachtgewändern aus schwerem Brokat, die andere mit derben und einfacheren Alltagskleidern gefüllt. Obenauf hatte er den schweren gräflichen Richtermantel gepackt. Friedrich selbst hatte nur einen leichten Kleidersack mit wenigen dunklen Kleidungsstücken, wie es seinem Stand entsprach, mitgenommen. Auf der anderen Seite lagen die gräfliche Rüstung, Schwert und Degen sowie zwei kleine Jagdbögen mit Pfeilen. In der Mitte des Raumes befand sich ein Tisch mit zwei Bänken. Darauf lagen einige Kerzen, eine war angezündet und spendete ein flackerndes Licht, außerdem ein dicker Foliant, das Librum vitae. Arnulfs Blick fiel auf die Markierung im Deckenquader und den Bolzen mit einem Eisenring am Ende an der -Wandmitte. Er stand auf und probierte den Wasserhebel. Kaum hatte er ihn nach rechts gedreht, spritzte klares Wasser aus einer Öffnung in der Wand.
„Zauberei“, dachte Arnulf und drehte den Hebel zurück. Der Wasserfluss stoppte.
Während er noch sinnierte, drang ein dumpfes, immer lauter werdendes Grollen an sein Ohr. Friedrich klammerte sich unbewusst an seinen Rock. Mit einem Knall schloss sich die Eingangstür – für immer. Außen verschütteten Hunderte Tonnen schweren Gesteins den zuführenden Geheimgang.
Der Knappe war sichtbar zusammengezuckt. Mannhaft versuchte er, seine Angst zu verbergen. Auch Arnulf fühlte sich unwohl. Natürlich hatte er Feinde im Umland. Was, wenn Carolus gelogen hatte? Dann wären sie jetzt lebendig begraben, wie Trottel in eine Falle getappt. Und kein Mensch würde sie vermissen. Er hatte sich schließlich selber für lange Zeit abgemeldet. Arnulf verdrängte die bösen Gedanken mit Gewalt. Es wollte ihm nur nicht so recht gelingen. Gerade deswegen gab er sich betont forsch.
„Friedrich, wir werden jetzt zu unserer Reise aufbrechen. Es geht in die Zukunft. Jeder von uns trinkt die Hälfte aus dem Krug, die du mitgebracht hast. Es ist ein Schlaftrunk besonderer Art. Wer als Erster wach wird, gibt dem anderen den Inhalt dieser dunkelroten Phiole, die ich hier auf den Tisch lege. Solltest du es sein, vermeide es, das Buch zu lesen. Wecke mich erst.“
„Jawohl Herr“, erwiderte Friedrich, noch ängstlicher als zuvor. Er hatte kein Wort verstanden, „und keine Sorge, dass ich das Buch lesen werde: Ich kann nicht lesen!“
„Wohlan, leg dich dahinten auf die Pritsche und trink jetzt deine Hälfte!“ Friedrich tat, wie ihm geheißen. Nach kaum fünf Minuten war er fest eingeschlafen
Arnulf blickte sich noch einmal um, holte sein Schwert und legte sich ebenfalls auf sein Lager, die Waffe zu seinen Füßen. Dann schluckte er entschlossen die verbliebene Hälfte des Tranks, stellte das leere Geschirr auf den Boden und schloss die Augen.
Kapitel 3 – In einer neuen Zeit
Arnulf schlug die Augen auf. Um ihn herum herrschte tiefste Finsternis – und Totenstille. Er brauchte einige Zeit, um sich an das Geschehene zu erinnern. Die Reise: War er am Ziel oder nur einem Traum erlegen? Er tastete um sich. Nein, es war nicht sein gewohntes Schlafgemach! Ihm fiel der geheimnisvolle Raum im Keller seines Schlosses wieder ein. Wie war das noch gewesen? Wo lagen die Kerzen und Anzünder dazu? Unsicher erhob er sich von seinem Lager und stolperte zur Raummitte. Der Tisch stand noch dort, wo er ihn in Erinnerung hatte, und die Kerzen lagen obenauf. Endlich gelang es ihm, ein Feuer zu entzünden. Licht! Er atmete tief durch und stellte fest, dass es kein Traum war. Seine Glieder fühlten sich noch etwas steif an, als wenn sie eingefroren wären wie im Winter, und eine Stelle am Ellenbogen zeigte eine schmerzhafte, bläuliche Beule, wahrscheinlich eine Druckstelle vom langen Liegen.
Er erinnerte sich, dass er mit einem Knappen gestartet war, und blickte auf das gegenüberliegende Lager. Es war leer. Ein kurzer Blick zeigte ihm, warum. Neben der Eingangstür lag ein Skelett, das noch die Kleidung des Jungen trug. Neben ihm flackerten im fahlen Kerzenlicht einige blutrote Glassplitter am Boden. Arnulf schauderte. Also musste er doch eine Reihe von Jahren geschlafen haben! Wahrscheinlich war der Knabe vor ihm erwacht und hatte versucht, ihm die Wiedererweckungsphiole einzuflößen, aber vergeblich. Also musste der arme Friedrich in diesem Verlies verhungert sein, denn in das Geheimnis des Ausganges hatte Arnulf ihn nicht eingeweiht und Lesen hatte er nie gelernt. Arnulf stöhnte auf. Behutsam bedeckte er das Skelett mit einer Decke von Friedrichs Bett.
„Bitte vergib mir, mein treuer Gefährte!“, murmelte er und betete ein Vaterunser.
Dann verstaute er die Wertsachen in einem Lederbeutel, den er am Leibe trug, legte den Harnisch an, gurtete sein Schwert um und schnürte seine restlichen Habseligkeiten samt dem Buch des Lebens zu einem ansehnlichen Bündel zusammen. Es war an der Zeit, die Kammer des Todes zu verlassen.
Es war kurz vor Mitternacht, als Martina Raven das kleine Burgmuseum verließ. Sie war Studentin der Geschichte und bereitete sich auf ihre Abschlussprüfungen vor. Ihr Lieblingsthema war das späte Mittelalter. Deshalb half sie in den Sommermonaten gerne beim Fremdenverkehrsverein der Stadt Raudecksburg aus. Ihre Spezialität waren Burgführungen, wenn sich denn einmal Touristen in diese Gegend verirrten. Raudecksburg verfügte über eine recht gut erhaltene Burgruine, deren Anfänge in das 13. Jahrhundert zurückdatiert wurden. In einem kleinen Seitenanbau, der stilistisch hervorragend zur Ruine passte, hatte die Stadt ihr Stadtarchiv untergebracht. Martina war es gestattet, als Studentin das Archiv zu nutzen. Sogar die späte Nachtzeit war ihr genehmigt, weil sie gerne nach der letzten Führung um acht noch einige Stunden in staubigen Dokumenten, die sonst niemanden mehr interessierten und die noch nicht einmal katalogisiert waren, herumstöberte, sozusagen als Anerkennung für die Führungen, die nur schlecht bezahlt wurden, und das Ordnen des Archivs.
Als sie jetzt ihren Blick über die Ruine schweifen ließ, meinte sie beinahe, die Stimmen der Vergangenheit zu hören, wie sie in den Baumwipfeln und durch die leeren Fensterhöhlen miteinander wisperten. Vor ihrem Auge erschienen Ritter in goldenen Rüstungen und Minnesänger, die den Burgherren im großen Innenhof huldigten. Martina liebte diese ruhigen Stunden, in denen sie ungestört träumen konnte.
Gerade war sie im Begriff, die Türe abzuschließen, als sie ein seltsames Geräusch wahrnahm. Es klang wie ein dumpfes Grollen und der Erdboden vibrierte ein wenig, als wenn ein schwerer Lastkraftwagen vorbeibrauste. Martina zögerte noch einen Moment und starrte in die mondhelle, klare Nacht, bevor sie sich in Richtung Parkplatz wandte. Fahles Mondlicht schimmerte auf der alten Pflasterung. Schon wieder ein Geräusch: das Quietschen einer Tür! Martina kannte jeden Zoll der Ruine. Nirgends gab es eine Tür, die quietschte. Es schien drüben vom alten Friedhof herzukommen. Martina fröstelte. Sie war nicht abergläubisch, dennoch hatte sie ein mulmiges Gefühl im Bauch.
„Ängstliche Kuh!“, schalt sie sich selbst, „wahrscheinlich veranstalten dort nur ein paar Gören wieder eine Fete. Du gehst jetzt hinüber und sorgst für Ruhe!“ Es passierte öfters, gerade in warmen Sommernächten wie dieser, dass sich junge Leute heimlich die Ruine für Feten mit dem besonderen Kick „ausliehen“, obwohl das verboten war. An Einbrecher glaubte sie nicht. Was hätten sie schon holen können außer ein paar uralten Steinen und knapp fünfzig Mark aus der Museumskasse! Außerdem war sie Karatekämpferin und glaubte sich möglichen Angreifern einigermaßen ebenbürtig.