IN-GAME - Annie Waye - E-Book

IN-GAME E-Book

Annie Waye

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Beschreibung

Die achtzehnjährige Anne verbringt jede freie Minute im Online-Fantasy-Game »Masters of Magic«, wo sie sich mit Magiern und Monstern epische Kämpfe liefert. Doch jedes Mal, wenn sie sich als Frau outet, hat der Spaß schnell ein Ende: Sie wird belächelt, ausgeschlossen oder aufs Übelste beleidigt. Irgendwann hat sie die Nase voll. Sie startet mit einem neuen Account, gibt sich mit allen technischen Hilfsmitteln als Mann aus und ist fest entschlossen, endlich die legendäre Platin-Liga zu erreichen. Als sie im Spiel den charmanten Linus kennenlernt, gerät ihr Plan jedoch in Gefahr. Sie kann es sich nicht leisten, Gefühle für ihn zu entwickeln. Nicht zuletzt, weil er sie für einen Mann hält …

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Seitenzahl: 572

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ANNIE WAYE

IN-GAME

ANNIE WAYE

IN-GAME

DEINER STIMME SO NAH

LAGO

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

Originalausgabe

1. Auflage 2023

© 2023 by LAGO, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Disclaimer: Die Handlung und alle handelnden Personen sowie das Spiel »Masters of Magic« sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen sowie bereits existierenden Spielen sind rein zufällig.

Redaktion: Jil Aimée Bayer und Nina Krönes

Umschlaggestaltung: Manuela Amode

Umschlagabbildung: Buyansanjaa, Law H. Bagaskoro, Agung Trilaksito

Layout und Satz: inpunkt[w]o, Wilnsdorf (www.inpunktwo.de)

eBook by tool-e-byte

ISBN Print 978-3-95761-231-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-95762-352-2

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-353-9

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.lago-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Für Florian, mit dir fühlt es sich an, als hätte ich die höchste Liga erreicht.

Für Kaja, du bist wie ein Power-up für mein Leben.

Für alle Menschen, die nicht länger ihr Umfeld über sich bestimmen lassen wollen. Dein wichtigster Unterstützer bist du selbst.

INHALT

1. KAPITEL: DOWNLOAD

2. KAPITEL: SIGN-UP

3. KAPITEL: LOG-IN

4. KAPITEL: TRAILER

5. KAPITEL: INTRO

6. KAPITEL: TUTORIAL

7. KAPITEL: SKILLS

8. KAPITEL: LEVEL-UP

9. KAPITEL: RAGE QUIT

10. KAPITEL: FEEDEN

11. KAPITEL: AFK

12. KAPITEL: GG

13. KAPITEL: RESTORE

14. KAPITEL: CHEAT

15. KAPITEL: WP

16. KAPITEL: BUG

17. KAPITEL: REAL LIFE

18. KAPITEL: DUNGEON

19. KAPITEL: IGL

20. KAPITEL: F5

21. KAPITEL: RE

22. KAPITEL: SKIN

23. KAPITEL: PRO-GAMER

24. KAPITEL: LOOT

25. KAPITEL: ENDGEGNER

26. KAPITEL: GAME OVER

27. KAPITEL: RESET

28. KAPITEL: CREDITS

BONUS: NOW IN DEVELOPMENT

GLOSSAR

DANKSAGUNG

1. KAPITELDOWNLOAD

Mein Name war Anne, aber in Magistrar kannte man mich als Fontana. Magistrar, eine Welt voller Magie und Zauber, voller Gilden und finsterer Gestalten, voller Monster und gefährlicher Kreaturen. Eine Welt, die aus wundervollen Feldern und Tälern, weitläufigen Wäldern und Ebenen, belebten Städten und wilder Natur bestand. Eine Welt, in der man nur zu gerne versank, ein paar Stunden verbrachte, sich mit Ale und neuen Zaubern eindeckte und einfach nur seine Zeit genoss.

Und genau das hätte ich jetzt wahrscheinlich auch getan, wäre ich nicht mitten in einem Raid gewesen: einem Gefecht zwischen mutigen Magiern und einem unerbittlichen Monster auf Leben und Tod.

Das Brüllen des Drachen hallte in meinem Schädel wider. Ich versteifte mich am ganzen Körper und das Blut rauschte in meinen Ohren, als ich mich ihm näherte. Wir waren zu viert und hatten ihn in eine Ecke seiner Höhle zurückgedrängt. Es war finster, aber nicht so, dass ich die Hand nicht mehr vor Augen gesehen hätte. Die Farbexplosionen unserer Zauber auf den Höhlenwänden und den roten Schuppen des Drachen trugen ihr Übriges dazu bei. Der Gestank von Rauch und Ruß drang in meine Nase und stach in meiner Lunge.

Doch ich ließ mich nicht davon beirren. Zwei meiner Mitstreiter und ich hatten uns nur kurz zurückgezogen, um wieder zu Kräften zu kommen, während die anderen die Aufmerksamkeit der Bestie auf sich zogen. Auch wenn mein Herz noch immer wie wild in meiner Brust schlug, durften wir keine Zeit mehr verschwenden.

Ich riss meinen Stab in die Höhe und machte einen Satz in Richtung Drache.

Miercoles, der Oger, befand sich genau neben mir. Während ich aus der Ferne einen Wasserzauber auf den Drachen schleuderte, grub sich der Oger in den Boden ein. Ich konnte nur zu deutlich sehen, wo er sich unter der Erde durchschaufelte – die Bestie jedoch nicht.

AtomkraftNeinNein, der Minnesänger, begann auf seiner Harfe zu spielen. Er hielt sich im Hintergrund, weil er so gut wie keine Rüstung trug und deshalb mehr als schwach gegen Angriffe war. Dafür konnte seine Musik die Abwehr des Drachen senken und ihn empfindlicher für meine Wasserangriffe machen.

Ich straffte die Schultern und checkte meine Zauber-Anzeige unten rechts in meinem Blickfeld. Meine Basis-Zauber waren alle aktiv. Ich könnte sie einsetzen und abfeuern, wie es mir beliebte. Anders sah es mit meinen Spezialzaubern aus. Die würden sich erst aufladen, wenn ich vom Feuer des Drachen getroffen wurde – oder selbst einen Treffer landete.

Nichts leichter als das.

Der Drache schlug angestrengt mit den Flügeln. Ein kräftiger Windstoß traf auf mein Gesicht und brachte den Boden unter meinen Füßen zum Vibrieren. In meinen schweren Stiefeln, die ich gerade erst beim Schuhmacher hatte ausbessern lassen, schlitterte ich rückwärts, was mich beinahe aus der kleinen Arena stieß.

Einen schnellen Schutzzauber auf den Lippen schnitt ich den Wind ab und rannte weiter auf den Drachen zu. Je näher ich ihm kam, desto mehr schadeten ihm meine Zauber – und ich wollte unbedingt aufs Ganze gehen.

Wir waren in der Überzahl. Was im Grunde schon mal gut klang, wäre da nicht die Tatsache, dass das Vieh auf Level 3000 war. Seine Bezeichnung wurde mir rot angezeigt, was so viel bedeutete wie: Sorry, Anne, der ist eine Nummer zu groß für dich. Trotzdem hatten wir uns hergewagt. Wir brauchten unbedingt die Gegenstände, die dieser Drache fallen lassen würde, sobald er besiegt wäre. Andernfalls könnten wir uns das nächste Duell so was von abschminken.

Wir waren bis in die tiefsten Höhlen von Avgar gereist und hatten zwei Stunden gewartet, bis das blöde Vieh endlich aufgetaucht war. Ich hatte unterschätzt, wie hoch seine Verteidigung war. Aber schließlich war ich nicht gekommen, um zu verlieren.

Alligator1337 hielt sich dicht an meiner Seite. Er hatte ein Schwert ausgerüstet, das eigentlich viel zu groß und schwer für seinen winzigen Körper hätte sein müssen, welches er aber mit einer Eleganz schwang, die ich einem Kobold niemals zugetraut hätte. Auf Stummelbeinen stürzte er auf den Drachen zu, schlug mit seinem Schwert auf ihn ein und zog ihm ein großes Stück Leben ab.

Doch dafür war der Kerl verdammt langsam – und der Drache ziemlich schnell. Er reagierte sofort, wirbelte um die eigene Achse und traf den Kobold mit seinem schuppigen Schwanz. Die Wucht des Aufpralls schleuderte ihn fort und gegen eine Höhlenwand.

»Autsch«, murmelte ich und stand dem Drachen plötzlich allein gegenüber.

Die Bestie fixierte mich mit funkensprühenden Augen, und mein Herz setzte einen Schlag aus.

»Shit!« Meine Verteidigung war auch nicht gerade die beste. Und einen Angriff wie den, den Alligator1337 abbekommen hatte, könnte ich niemals einfach so wegstecken.

»Hau ab!«, rief AtomkraftNeinNein mir zu, aber das war leichter gesagt als getan.

Schnell bewegte ich mich rückwärts, doch da bäumte sich der Drache auch schon auf. Ich wusste genau, welcher Angriff kommen würde: einer seiner mächtigsten, die er auspackte, sobald sich sein Leben dem Ende neigte. Er würde erst versuchen, mich mit seinen Pranken zu erschlagen. Falls es ihm nicht gelang, würden sie stattdessen auf dem Boden aufprallen, diesen zum Erbeben bringen lassen. Wenn ich dann zufällig in einem der Risse stand, die sich durch die Arena ziehen würden, würde das übel für mich ausgehen. Und sollte ich das wider Erwarten überstehen, wäre da immer noch der Feuerball, der sich bereits jetzt in der Kehle des Untiers zusammenbraute.

Meine Chancen standen schlecht, denn schon sausten besagte Pranken auf mich zu. Gerade so wich ich aus, war aber nicht vor den Nachwirkungen geschützt. Ein paar kleinere Risse wanden sich durch den Boden links und rechts von mir und brachten mich ins Wanken. Im letzten Moment konnte ich mich auf den Beinen halten, riss den Kopf hoch ... und blickte geradewegs ins weit aufgerissene Maul des Drachen.

Mein Herz machte einen panischen Satz. »Nein!«, rief ich und schleuderte eine Wasserfontäne in Richtung meines Angreifers – in dem Augenblick, in dem der Feuerball aus seinem Mund schoss.

Mein Zauber war nicht stark genug. Für einen Moment sah ich nichts als Rot... und dann einen Oger, der vor mir aus der Erde gesprungen kam. Seinen Langschild hielt er schützend vor sich und damit auch vor mich. Mit einem Zischen wurden die Flammen abgeleitet und zogen rechts und links an uns vorbei.

Ich verlor ungefähr die Hälfte meiner Lebensleiste, aber dem Drachen ging es deutlich schlimmer. In dem Moment, in dem ich den Blick auf sein Leben richtete, leerte sich die Anzeige vollständig.

Für einen Augenblick war es windstill in der Höhle. Dann explodierte die Bestie in einer Wolke aus Asche und Rauch. Die Hitze schlug mir unbarmherzig entgegen, doch sie schadete mir nicht – denn sie war ein Zeichen unseres Triumphs. Ein funkelnder Regen aus Belohnungen ergoss sich über mich und verteilte sich zu meinen Füßen. Ein Schauer der Erleichterung rann mir über den Rücken, und ich musste nur mit einer kurzen Handbewegung über die Beute fahren, um sie einzusammeln.

Dieser Raid hatte sich so was von gelohnt. Jeder von uns hatte die legendäre Drachenkrone erhalten, die einmalig in einem anderen Raid oder Duell eingesetzt werden konnte, um alle Basiszauber zehn Sekunden lang um fünfzig Prozent zu stärken. In meiner oberen Bildschirmleiste sah ich, wie sich die silberne Anzeige immer weiter füllte. Dann bedeckte ein dicker Schriftzug meinen Screen:

LEVEL-UP: Du bist jetzt auf Level Silber (69)!

»Yes!« Seufzend lehnte ich mich auf meinem Stuhl zurück, sodass mir meine langen braunen Haare ungebändigt über die Schultern fielen. So lange hatte ich auf das hier hingearbeitet. So oft hatte ich verloren und wieder ganz unten anfangen müssen. So sehr hatte ich mich verbessert. Und nach all der Zeit hatte sich das Ganze endlich gelohnt.

»Gute Arbeit, Männer!«, lobte uns AtomkraftNeinNein, und ich beschloss, mich einfach angesprochen zu fühlen. Sie hatten schließlich keine Ahnung, dass ich eine Frau war. Nicht wenige Männer spielten mit weiblichen Avataren, und obwohl es verdammt viele Gamerinnen gab, hatte sich das offenbar in den meisten Köpfen noch nicht festgesetzt.

Erst jetzt bemerkte ich, was für einen Tunnelblick ich gehabt hatte. Erschöpft rieb ich mir die Schläfen und fragte mich, wann ich zuletzt etwas getrunken hatte. Oder aufs Klo gegangen war. Oder auch nur geatmet hatte. Ich brauchte dringend eine Pause.

»Gleich zum Duell?«, erkundigte sich Miercoles in meinen Ohren.

»Ja, komm«, antwortete Alligator1337, ehe ich die Frage auch nur verarbeiten konnte.

»Fontana?«, fragte einer der Jungs, und ich realisierte, dass ich die Einzige war, die noch keine Antwort gegeben hatte.

O Mann. Eigentlich musste ich echt dringend pinkeln. Und meine letzten Umzugskartons packen. Und Hunger hatte ich auch. Es war fast sieben, und ich konnte seit einer halben Stunde den Geruch von Essen nicht mehr ausblenden, der von unten aus der Küche heraufgeweht kam.

Aber die Jungs waren jetzt online ... und wir hatten jetzt die Krone bekommen ...

Einige Sekunden länger als nötig ließ ich meine Finger über der Tastatur schweben. Zögerte. Und gab mir schließlich einen Ruck. OK, tippte ich ein. Ich schaltete im Voicechat nie mein Mikrofon an. Das war mir einfach zu unsicher.

»Alles klar«, quittierten die Jungs meine Antwort.

Los geht‘s. Ich musste diese Chance hier nutzen, denn mit der Drachenkrone in der Tasche konnte überhaupt nichts schiefgehen.

Das hoffte ich zumindest.

Masters of Magic war anders als alles, was ich je zuvor gespielt hatte. Es kombinierte einen offenen Spielmodus in einer schier endlosen Welt mit Kampf-Sequenzen im geschlossenen Raum, wie es kein anderes Game bisher geschafft hatte.

Gerade eben verließen wir den MMORPG-Modus, in dem wir durch ganz Magistrar reisen und irgendwelchen Bestien die Köpfe abschlagen konnten, und begaben uns in den MOBA-Bereich: Einen Bereich, in dem Fünfer-Teams aus unterschiedlichen Gilden Duelle gegeneinander austrugen. Zuerst mochte das wie ein kleiner Spaß am Rande des eigentlichen Spiels klingen, aber das war es nicht. Es bedeutete einfach alles.

In Masters of Magic gab es fünf Ligen, in die man je nach Level eingruppiert wurde:

Level 12 bis 19: Zink

Level 20 bis 49: Kupfer

Level 50 bis 69: Silber

Level 70 bis 89: Gold

Level 90+: Platin

Bis man nicht Level 12 im Kampf gegen die Kreaturen von Magistrar erreicht hatte, konnte man an keiner Meisterschaft teilnehmen. Die harte Arbeit begann aber erst dann.

Um in eine höhere Meisterschaftsstufe zu kommen, musste man das dafür erforderliche Level erreichen. Sobald man in die Gold-Liga und darüber hinaus gelangen wollte, war es außerdem notwendig, sich mit einer bestimmten Anzahl Duellen zu qualifizieren. Dabei durfte man nur gewinnen – und nichts als gewinnen! Wer ein einziges Mal verlor, wurde sofort in die vorherige Liga zurückversetzt. Wer also nach Gold strebte und in Silber starb, fand sich ohne Vorwarnung in Kupfer (20) wieder.

Es war zum Kotzen. Dieses Spiel war grausam. Es war ungerecht, es war unnötig schwer. Und genau das sorgte dafür, dass man verdammt schnell süchtig danach wurde. In rasender Geschwindigkeit hatte MoM Spieler aus allen anderen MOBAs und MMORPGs abgegrast und sie nicht mehr gehen lassen. Ich war nur eine davon.

Zurzeit spielte ich eine Elfenkriegerin. Es gab mehr als dreißig verschiedene Völker in Masters of Magic, die teilweise unterschiedliche Zauber und Ausrüstungsgegenstände erlangen konnten. Man wurde besser als die anderen, indem man höhere Level erreichte und sich neue Fähigkeiten und Gegenstände unter den Nagel riss. Aber selbst die besten Zauber und Items halfen einem nicht weiter, wenn man sie nicht richtig einzusetzen wusste.

Vor allem nicht in einem Duell wie diesem, in dem man Spielern gegenübertrat, die mindestens so viel auf dem Kasten hatten wie man selbst.

Wir sprachen uns nicht mehr ab, als wir die Arena betraten. Ich spielte dieses Spiel seit drei Jahren rauf und runter und wusste nur zu gut, was ich tat, als ich mich ausrüstete. Daher legte ich wieder eine leichte Rüstung an. Der Nachteil: Sie schützte mich kaum, dafür machte sie mich beweglicher als die meisten anderen Spieler. Dazu meinen Zauberstab, der mich seit zwei Monaten begleitete und den ich immer wieder neu aufrüstete, anstatt ihn zu ersetzen. Und dann natürlich meine Zauber.

Jeder Spieler konnte vier davon mit in ein Duell nehmen – das waren zwei weniger als im offenen Modus. In meinem Team waren die Rollen klar verteilt. Die anderen hatten von Anfang an festgelegt, dass ich bei Duellen die Heilerin sein sollte, und ich hatte mich nie beklagt, weil ich dann zumindest nicht so sehr auf andere angewiesen war.

Ich entschied mich für einen leichten Angriffszauber, einen schweren Feuerzauber – den ich gerade vom Drachen bekommen hatte –, einen Heilzauber und ...

Es klopfte an meiner Tür. »In zehn Minuten gibt es Essen!«, drang die Stimme meiner Mom stark gedämpft durch das Holz und mein Headset. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie das überhaupt sagte, ging aber davon aus, dass sie vom Essen sprach, weil es nichts gab, was sie gerade sonst von mir wollen könnte.

»Ja!«, war alles, was ich erwiderte, ehe ich mich wieder dem Bildschirm zuwandte und meine Auswahl bestätigte.

Unsere Gilde bestand aus zwölf Spielern, die aber nicht immer alle zur selben Zeit anwesend waren. Tatsächlich begegnete ich hier meistens nur denselben fünf, sechs Leuten. Neben den dreien, mit denen ich den Drachen erschlagen hatte, war jetzt noch ein weiteres Mitglied hinzugestoßen, um uns beim Duell zu verstärken.

In unserem Team hatte ich das höchste Level. Die anderen dümpelten auf 60, 61 und 64 herum. Ich hingegen hatte gerade Silber (69) erreicht. Damit war ich so kurz davor, in die Gold-Riege aufzusteigen, und die bloße Vorstellung davon beflügelte mein Herz.

Ich hatte die erforderlichen Level abgeschlossen und mich in mehreren Duellen hochgekämpft. Die silberne Leiste oben rechts auf meinem Bildschirm war fast voll. Alles, was ich tun musste, um endlich – zum ersten Mal in meinem Leben – Gold zu erreichen, war, diesen verdammten Kampf zu gewinnen.

Der Wartebildschirm zeigte alle Spieler und ihre Avatare an. In der Mitte leuchtete eine violette Kristallkugel, die offenbarte, zu wie viel Prozent die Arena geladen war. Sobald das Spiel startete, würden wir am unteren linken Ende der Karte ausgesetzt werden, die Feinde am oberen rechten Ende. Jedes Team hatte drei Lanes mit jeweils einem Turm zu beschützen, die unsere Angriffe und Abwehr drastisch verstärkten. Sollten die Gegner auch nur einen davon zerstören, ehe wir einen ihrer Türme dem Erdboden gleichmachen könnten, wären wir so was von geliefert.

Als sich der Bildschirm teilte und einen Blick auf die Arena freigab, war ich Feuer und Flamme, dieses Duell zu rocken. Doch meine Zuversicht schwand schnell.

Es begann in dem Moment, in dem ich realisierte, dass wir der Dschungelarena zugeteilt worden waren: Einem Territorium, in dem man sich an jeder Ecke in einem Gebüsch oder einer dunklen Nische verstecken konnte. Zauber-Fehlzündungen vorprogrammiert.

Es ging damit weiter, dass unsere Gegner alle auf Level 69 waren. Das bedeutete nicht nur, dass sie uns einige Erfahrungspunkte voraus waren. Für sie stand außerdem verdammt viel auf dem Spiel. Wenn sie wie ich waren, gehörten sie zur Kategorie ambitioniert mit einer leichten Nuance von Verzweiflung. Sie mussten in die nächste Stufe aufsteigen, sonst wären ihre Mühen der letzten Stunden oder vielleicht sogar Tage, Wochen und Monate endgültig dahin.

Ich musste auf der Hut sein und durfte meine Verteidigung nicht außer Acht lassen. Zum Glück hatte ich einen starken Schutzzauber eingepackt, der mir definitiv helfen würde ...

Mein Blick wanderte zum Fähigkeiten-Menü.

Leichter Zauber.

Feuer.

Heilung.

Der vierte Slot war leer.

Meine Gesichtszüge entgleisten, und ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken. Wie hatte das passieren können? Wie hatte ich ...?

Meine Mom. Sie hatte an meine Tür geklopft und mich aus der Konzentration gerissen. Ich hatte gedacht, ich hätte den vierten Slot mit dem Schutzzauber gefüllt, aber das hatte ich nicht. Ich hatte es einfach vergessen. Wie eine verdammte Anfängerin. Und das war mein drittes und vielleicht sogar schlimmstes Problem.

Dachte ich jedenfalls.

Bis es einige Minuten später zu einem Clash kam: Alle zehn Spieler trafen auf einer Lane aufeinander. Zauber wurden gesprochen, Barrikaden fallen gelassen, Spieler starben und wurden sechzig Sekunden lang außer Gefecht gesetzt. An sich war das keine große Sache – aber wenn alle Gildenmitglieder gleichzeitig tot waren, hieß es Game over.

Entsprechend angespannt war die Stimmung. Mein Team brüllte sich gegenseitig Kommandos zu, sodass ich die Stimmen schon bald nicht mehr auseinanderhalten konnte.

»Mein Ultra ist noch nicht voll!«

»Ich aktiviere die Krone!«

»Alligator, hier rüber!«

»Fontana, wo bist du?!«

Sofort wurde ich hellhörig. »Hier!«, rief ich instinktiv, bis mir auffiel, dass mein Mikro ja aus war. Einem idiotischen Drang nach wollte ich ins Chatfenster schreiben, bis mir klar wurde, dass ich in derselben Zeit auch einfach zu ihm gehen könnte.

Doch auf halber Strecke zu AtomkraftNeinNein kam mir ein gegnerischer Oger entgegen. Ich hatte einen Sekundenbruchteil Zeit, um zu realisieren, dass er einen Wasserzauber auf mich abfeuerte.

Mit einer geschickten Tastenkombination beschwor ich das Feuer herauf und wehrte ihn ab. Der Oger und ich verloren beide etwas Leben, aber es hätte schlimmer ausgehen können.

Schnell wollte ich meinen Schutzzauber hinterherschieben, doch nichts passierte. Die Taste mit dem leeren Slot war natürlich nicht belegt.

»Verdammt!«, rief ich aus und hechtete in die entgegengesetzte Richtung. Ich rannte, so schnell mich meine digitalen Beine trugen.

»Fontana!«, brüllte AtomkraftNeinNein wieder. »Heil mich endlich mal!«

Ich verdrehte die Augen und wich von meinem Kurs ab. Drei Sekunden später stand ich in seiner Reichweite. Als ich meinen Heilzauber sprach, wurde ich von einem kreisrunden, gleißenden Licht umgeben. Alle, die sich darin befanden oder ihn nur anschnitten, wurden geheilt, und Alligator1337 sprang schnell zu uns hinüber, um auch ein kleines bisschen von der Wirkung abzubekommen.

Ich hatte diesen Zauber nicht benutzen wollen. Denn ich hatte noch nicht besonders viel Leben verloren, und jetzt müsste ich geschlagene zwei Minuten warten, ehe ich ihn wieder wirken konnte. Und in Masters of Magic konnten zwei Minuten über einfach alles entscheiden.

Das taten sie auch. Denn dreißig Sekunden später war mein Leben im roten Bereich und ich hatte nichts, womit ich mich heilen konnte. Da fiel mir plötzlich etwas ein: Im Dschungel gab es ein paar Pflanzen, von denen ich mir Lebenspunkte holen könnte. Ich musste sie nur schnell genug erreichen. Ich musste sie ...

»Fontana, ich brauch ’nen Heal!«, bellte Miercoles und heftete sich an meine Fersen.

Ich rannte. Ich rannte, gefolgt von meinem Gildenmitglied – und einem gegnerischen Elfen.

»Hallo? Fontana!«

Ich presste die Kiefer aufeinander. Konnte der Kerl nicht sehen, dass sich der Zauber noch auflud? Ich konnte nichts für ihn tun, selbst wenn ich wollte. Kein Grund, mich von der Seite anzumaulen.

»Was soll der Scheiß, Mann?!«

Ich bekam die Krise. Während ich lief, betätigte ich die Tastenkombination, die meine Zauber-Ladezeiten im gemeinsamen Chat anzeigen würde und ...

Der Elf entfesselte seine mächtigste Attacke, die mich und Miercoles in einem Stück ausradierte.

Mein Bildschirm wurde grau, und die sechzig Sekunden bis zu unserer Wiederauferstehung begannen abzulaufen.

»Fuck!«, stieß ich hervor und widerstand gerade so dem Drang, auf meine Tastatur zu schlagen.

Miercoles fluchte umso lauter.

»Fontana!«, bellte einer. »Was war das denn jetzt?!«

»Was soll der Mist?«

Ihre Stimmen dröhnten rau und schroff in meinen Ohren und beschworen eine kratzige Wut in meiner Magengrube herauf.

»Scheiße!«, rief Alligator1337, als er ebenfalls ausgelöscht wurde. Damit waren lediglich zwei übrig. AtomkraftNeinNein und unser dazugestoßenes Gildenmitglied, eine Fee. Schnell zogen sie sich aus dem Kampfgebiet in die hintersten Winkel des Dschungels zurück, ehe sie auch noch besiegt werden konnten.

Jetzt, wo drei von uns tot waren und warten mussten, ging das Gezeter erst richtig los.

»Mann, Fontana!«

»Hast du das Spiel überhaupt schon mal gespielt?«

»Wegen dir verlieren wir!«

»Ich hab keinen Bock auf Kupfer!«

Die in mir angestaute Wut schoss völlig unvermittelt in mir hoch. Warum war ich denn jetzt schuld?! Hätte mich Alligator1337 nicht so gedrängt, ihn zu heilen, wäre das alles nicht passiert! Aber klar, denken war nicht mehr so wichtig, wenn man sich ein billiges Opfer rauspicken konnte.

»Ich schlage ’nen Gilden-Rauswurf vor«, meldete sich AtomkraftNeinNein zu Wort. »Das mit dem Drachen war auch ’ne echt üble Nummer.«

Wie bitte?

»Kann man heutzutage nicht mal mehr ’nen Heal bekommen, wenn ...«

Es reichte. Endgültig. Mit einer fließenden Bewegung schaltete ich das Mikro meines Headsets an. »Er war nicht aufgeladen!«, keifte ich und starrte die Sekundenzahl an, die immer weiter ablief. »Und jetzt haltet endlich den Rand, ich muss mich konzentrieren!«

Jemand grunzte. »Was?«, fragte er irritiert. »Bist du zwölf oder so?«

Ich stutzte. Das war die letzte Reaktion gewesen, die ich erwartet hatte. Vor allem, weil er ehrlich verwirrt klang. Was war das denn jetzt für eine Frage?

»Wusste nicht, dass hier kleine Jungs auf dem Server sind.«

Plötzlich machte es klick. Meine Stimme – sie konnten sie anscheinend nicht zuordnen. Ich biss die Zähne zusammen und bereute es jetzt schon, etwas gesagt zu haben. »Ich bin weder zwölf«, zischte ich, »noch ein Junge.« Danach schickte ich mich an, das Mikro wieder abzustellen.

Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen. »Ein Mädchen?!«, brach es dann aus Miercoles heraus. »Wir haben hier ein Mädchen? Wie süß!«

Mehrere von ihnen prusteten los, während ich endlich wiedergeboren wurde. »Hast du dich verlaufen?«

»Sie spielt auch wie ein Mädchen. Kein Wunder.«

»Hast du schon ’nen Freund?«

»Das hier ist nicht Candy Crush!«

»Miercoles!«, zischte ich und lief los. »Du lebst längst wieder, jetzt beweg dich gefälligst auch!«

Miercoles schnaubte nur abfällig und setzte sich nur langsam in Bewegung. »Mit ’ner Frau im Team haben wir eh schon verloren.«

»Immer diese Drecksweiber«, murrte AtomkraftNeinNein. »Scheiß Feminismus.«

Entgeistert starrte ich den Bildschirm an. »Was?«, fragte ich barsch. »Dürfen Frauen deiner Meinung nach etwa nicht dabei sein?«

»Wieso denn nicht?«, kam mir ausgerechnet Alligator1337 zu Hilfe.

Verdattert schloss ich den Mund und hätte mich fast wieder entspannt. Beinahe hätte ich geglaubt, dass er Partei für mich ergreifen würde. Und dass das hier nicht ausgehen würde wie meine letzten Spiele mit meinen zehn letzten Gilden. Bei denen ich irgendwann immer und immer wieder den Fehler gemacht hatte, mich am Mikrofon zu melden. Mich als Frau zu outen. Und zuzulassen, dass ich von allen Seiten bloßgestellt wurde.

Für einen verräterischen Augenblick glaubte ich wirklich, diesmal würde es sich anders entwickeln. Dass wir uns alle am Riemen reißen würden.

Schließlich sprach er weiter: »Später mit Webcam? Dann zeig ich dir mal ’nen richtigen Zauberstab.«

Meine Mundwinkel sackten herab, und etwas in mir drohte abzusterben. Gerade eben war ich fest entschlossen gewesen, dieses Match zu gewinnen. Doch jetzt saß ich auf meinem Stuhl, von einer Totenstille erfüllt, und fragte mich, wozu ich mir das alles überhaupt noch antat.

Als die anderen wieder loslachten, riss mir endgültig die Hutschnur. »Ich hoffe, deine Mutter fällt gerade irgendeine Treppe runter!« Dass meine Worte nicht annähernd so cool rüberkamen, wie sie sich in meinem Kopf anhörten, bemerkte ich erst, als ich sie ausgesprochen hatte.

»Ohhh! Jetzt hab ich aber Angst!«

»Also, das Angebot steht, Fontana.« Alligator hauchte meinen Namen wie bei einer Werbung für Schokoladeneis, und mir wurde übel.

»Leckt mich!«, rief ich aus – und spürte einen Luftzug in meinem Rücken, als meine Zimmertür aufgerissen wurde.

»Anne Elisabeth Schmitt!«, donnerte meine Mutter mit ihrem schrillsten Tonfall. »Jetzt mach endlich die blöde Kiste aus! Das Essen steht seit zwanzig Minuten auf dem Tisch!«

Damit verschwand sie, und ich erstarrte.

»Uh, Anne Elisabeth!«, drang es aus meinem Headset, während jemand anderes in schallendes Gelächter ausbrach.

»Jetzt weiß ich, wie du heißt, Fontana.«

»Googeln wir doch gleich mal ...«

Ich biss mir auf die Unterlippe, bis es wehtat, und ballte die Hände zu Fäusten, die immer noch zitterten, als würde der Drache wieder seine Pranken auf den Boden unter mir hämmern. Ich wollte tief durchatmen und weitermachen, aber das konnte ich einfach nicht mehr.

Ich wollte einfach nicht mehr.

Ich schaltete das Mikro nicht aus. Stattdessen drückte ich STRG, ALT und ENTF und fuhr den Computer herunter.

Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich dasaß und den schwarzen Bildschirm vor mir anstarrte, der sich wie ein Spiegelbild meiner Seele anfühlte. Schon so oft hatte ich es versucht. Hatte der Welt da draußen eine Chance gegeben, mich zu akzeptieren. Oder nicht einmal mich als Person – sondern nur die Tatsache, dass ich existierte.

Aber irgendwann musste sogar eine Anne Elisabeth Schmitt einsehen, dass vielleicht doch nicht alles möglich war.

Meine Beine fühlten sich bleiern an, als ich aufstand und in die Küche schlurfte.

Mom saß bereits am Esstisch, die langen braunen Haare zu einem unsauberen Knoten gebunden, der immer noch ordentlicher als alles aussah, was ich auf dem Kopf trug. Sie hatte sich auf ihrem Stuhl zurückgelehnt und blätterte teilnahmslos in der Tageszeitung. Papas benutztes Geschirr wartete bereits in der geöffneten Spülmaschine – er war inzwischen zur Nachtschicht aufgebrochen.

Seufzend blickte mir meine Mutter entgegen und rückte ihre dicke, schwarze Brille zurecht. »Ich habs dir in der Mikrowelle warm gemacht«, sagte sie müde und nickte in Richtung des Pasta-Tellers, der vor meinem Stuhl auf dem Tisch stand.

Zögerlich trat ich näher heran und setzte mich. »Danke.«

Sie musterte mich kurz. »Dieses Spiel macht dich so aggressiv.«

Ich spürte einen Stich in meiner Brust. »Das Spiel macht mich nicht aggressiv«, murmelte ich. »Sondern die Menschen.«

2. KAPITELSIGN-UP

Wenn ich nicht die Elfenkriegerin Fontana mimte, war ich ein achtzehnjähriges Mädchen aus Hürth mit ganz normalen Achtzehnjähriges-Mädchen-Problemen. Nach dem Vorfall im Game hätte ich mich am liebsten die nächsten Tage missmutig unter meiner Bettdecke verkrochen, wobei das wahrscheinlich nicht mal die beste Methode war, um meinem Computer zu zeigen, dass ich wütend war. Da hätte ich mich eher nach draußen in die Sonne verziehen müssen.

Aber ich hatte für nichts davon Zeit: Der erste Tag des Semesters rückte immer näher und damit auch mein neuer Lebensabschnitt. Einen, den ich zum Glück mit meiner besten Freundin Pia teilen würde.

Wir waren unzertrennlich, seit ich denken konnte. Früher waren wir Nachbarinnen gewesen, bis ihre Eltern ans andere Ende von Hürth gezogen waren. Abgesehen davon hatte uns aber nichts trennen können: Die Grundschule und das Gymnasium hatten wir Seite an Seite überstanden. Trotzdem hatten wir uns völlig unterschiedlich entwickelt.

Pia und ich waren definitiv nicht aus demselben Holz geschnitzt. Und doch gehörten wir einfach zusammen. Also auch an dieselbe Fachhochschule, an der ich mich für Ingenieurwissenschaften und sie sich für Internationale Betriebswirtschaftslehre eingeschrieben hatte. Und natürlich würden wir uns eine Wohnung teilen, eine ziemlich kleine, bei der ich bereits jetzt wusste, dass mich Pia nicht oft das Bad von innen würde sehen lassen.

Es brauchte nur einen einzigen Tag und die Unterstützung von unseren Familien, um unseren wichtigsten Krempel von Hürth ins semi-zentrale Köln zu schaffen – aber zwei geschlagene Wochen, bis wir uns dort pünktlich zum Semesterstart endlich zu Hause fühlten, jede von uns in ihrem eigenen kleinen Reich von Zimmer. Meines war so vollgestopft mit MoM-Merchandise, dass man meinen könnte, mein Kinderzimmer wäre jetzt wie leergefegt – aber keine Sorge! Ich besaß mehr als genug Krimskrams, um sogar drei Wohnsitze damit ausstatten zu können.

Der erste Semestertag fiel ausgerechnet auf einen Montag. Für Pia bedeutete das: eine ganze Woche voller cooler Ersti-Veranstaltungen, neue Leute kennenlernen, Partys und vor allem Gratisartikel. Für mich bedeutete das: fünf Tage Kulturschock und nur zwei Tage, um mich von den vielen Menschen zu erholen, die mir schon zwei Minuten, nachdem ich einen Fuß auf den Campus gesetzt hatte, zu Kopf zu steigen drohten.

Es war ein ziemlich warmer Tag für Ende September, und die vielen Menschen, die in unserer Umgebung herumwuselten, flößten mir auf seltsame Weise Respekt ein. Ich war froh, diesen Tag nicht allein antreten zu müssen – auch wenn meine gemeinsame Studienzeit mit Pia spätestens nach Abschluss der Ersti-Woche vorbei wäre.

Pia hatte in der Schule so viele naturwissenschaftliche Fächer abgewählt wie möglich, ich hingegen hatte meine Seele an sie verkauft – das erkannte man wahrscheinlich auch an der Wahl unserer Studiengänge. Sie war ein Fremdsprachen-Ass und wollte irgendwann in der Tourismus-Branche arbeiten, falls ihr Plan A scheiterte, weil sie keinen passenden Millionär dafür fand). Sie hatte in Englisch nur Bestnoten geschrieben, mit denen ich nie hatte mithalten können, weil mein größter Lehrer die internationalen Server von MoM waren und sich dort leider niemand um Rechtschreibung und Grammatik scherte.

Ich trug einen Hoodie, so wie ich sie immer trug, um den Blob darunter zu kaschieren. Früher hatte ich mich damit noch wie Billie Eilish fühlen können, aber dann hatte sie ihr sexy Vogue-Covershoot gehabt und mich im Stich gelassen. Danke für nichts, Billie.

Pia hingegen hatte sich ein schönes Kleid übergestreift, für das es vielleicht zwei bis drei Grad zu kalt war, was sie sich aber nicht anmerken ließ. Im Gegenteil: Während ich mit jedem Schritt meine Möglichkeiten austestete, im Boden zu versinken, strotzte sie förmlich vor Selbstbewusstsein. Ich betete, dass sie diejenige von uns beiden war, die die Blicke auf sich zog, welche uns die Leute aus allen Richtungen zuwarfen.

Zumindest war es bis jetzt immer so gewesen. Für gewöhnlich strahlte Pia genug für uns beide. In der Schule hatte sie sich in der Theater-AG engagiert, wo sie vor allem mit Impro geglänzt hatte, ich hingegen hatte quasi in den Räumen der Robotik-AG gewohnt. Sie hatte mehrere Jahre Volleyball gespielt und ich den Sportunterricht gehasst, weil ich die magische Begabung besaß, Woche für Woche aufs Neue von einem fehlgeleiteten Ball regelrecht erschlagen zu werden – auch dann, wenn überhaupt kein Ballsport auf dem Plan gestanden hatte!

Pia trug immer perfektes Make-up, ich stach mir mit meiner Mascara-Bürste regelmäßig fast die Augen aus. Sie hatte lange blonde Haare mit einer Frisur, die seltsamerweise nicht einmal der stärkste Windhauch ruinieren konnte – auch nicht, wenn sie sie offen trug. Meine waren dunkel und wellig. Nicht wunderschön lockig oder wunderschön glatt, sondern wellig. Wenn ich einen Lockenstab benutzte, fielen sie nach einer Stunde in sich zusammen, und wenn ich sie mit einem Glätteisen malträtierte, bäumten sie sich nach kürzester Zeit wieder auf. An manchen Tagen konnte ich mich selbst nicht mehr im Spiegel ansehen, und hatte es schließlich aufgegeben, meine Haare zu etwas zwingen zu wollen, auf das sie partout keinen Bock hatten. Meine Lösung: ein Beanie, das ich auf dem Gymnasium nur abgenommen hatte, wenn mir mein überkorrekter Mathelehrer mal wieder mit Nachsitzen drohte.

Keine Kopfbedeckungen im Gebäude!, hatte er mich dann wie ein Stier angeschnaubt – vielleicht, weil er sich wünschte, er könnte seinen immer schlimmer werdenden Haarausfall mit irgendetwas bedecken.

Im Gegensatz zu mir steckte Herr Niedermeyer immer noch in dem Höllenloch von Gymnasium fest, aus dem wir entflohen waren. Trotzdem klingelte mir seine Stimme nach wie vor in den Ohren, weshalb ich meine Mütze heute zu Hause gelassen hatte.

Der Campus der Curie-Hochschule war ziemlich klein, was aber zumindest bedeutete, dass wir keine Chance hatten, uns an diesem ersten Tag zu verlaufen. Für alle höheren Semester startete das neue Studienjahr erst morgen, sodass wir nur dem Strom aus Menschen folgen mussten, der uns geradewegs ins Hauptgebäude hineinsog. Es war halb neun Uhr morgens. Ein Haufen studentischer Vereine und die Studierendenvertretung waren dabei, unzählige Stände mit Essen, kostenlosen Artikeln, auf die Pia ganz geil war, und natürlich Informationen, auf die Pia nicht ganz so geil war, aufzubauen, damit die Ersti-Messe wie geplant pünktlich um zehn Uhr losgehen konnte.

Es war der zweite Programmpunkt auf unserer Liste. Als Erstes mussten wir uns im Vorlesungssaal 001 einfinden – beziehungsweise, im größten schmucklosen Zimmer, das ich jemals gesehen hatte.

Unzählige Reihen aus altmodischen Klappsitzen und -tischen füllten beinahe den ganzen Saal aus und verliefen stufenweise in die Tiefe. Der Raum musste insgesamt zwei Stockwerke umfassen. Am unteren Ende erspähte ich einen verloren aussehenden Schreibtisch inklusive Laptop sowie ein verlassenes Rednerpult.

Der Raum war bereits jetzt proppenvoll, und nach ein paar Schritten blieben Pia und ich leicht überfordert stehen und ließen die Blicke schweifen – auf der Suche nach einem Platz für uns. Ich wiederum spürte schon, wie das pure Social-Burn-out in mir hochkochte. Zum Glück war Pia hier. Wäre ich allein und darauf angewiesen, neue Leute kennenzulernen, würde ich spätestens jetzt in Tränen ausbrechen.

»Oh! Hey, komm!« Plötzlich ergriff Pia mein Handgelenk und zog mich zielstrebig auf zwei freie Plätze am Rand der Tischreihen zu. »Sieh mal an, wen wir hier alles haben.«

Erst als wir uns niederließen, registrierte ich, dass sie damit nicht die Allgemeinheit, sondern unsere direkten Sitznachbarn meinte – und dass ich mehr bekannte Gesichter erblickte, als mir lieb war.

Meine Schultern sackten herab und ich rutschte auf meinem Stuhl tiefer. »Das gibt’s doch nicht«, murmelte ich.

Pia schenkte mir einen fragenden Blick. »Was ist denn los?«

Entgeistert starrte ich erst die vertrauten Haarprachten vor mir, dann die zusammengesteckten Köpfe hinter mir an. »Warum sind hier dieselben Leute wie in der Schule?«

Meine Freundin grinste. »Ist das nicht der Wahnsinn? Wer hätte gedacht, dass sich so viele aus unserem Abschlussjahrgang ausgerechnet hier einschreiben?«

Als sie es so aussprach, realisierte ich, dass es keinen Grund dafür gab, überrascht zu sein. Ein Haufen Hürther Schüler, die Kölner Studenten wurden – das schrie doch gerade nach einer RTL-Sondersendung!

»Aber ...« Ich senkte die Stimme. »Was machen die alle hier? Was haben die hier zu suchen?«

Pia blinzelte. »Das große Geschenk der Bildung?«

Sie kapierte nicht, worauf ich hinauswollte. Was die eigene berufliche Zukunft betraf, war der Großteil meiner Klassenkameraden schon sehr festgelegt gewesen. Vielleicht ein wenig zu festgelegt.

Da gab es Vanessa in der Reihe vor uns, die in diesem Moment den Kopf drehte und uns fast peinlich berührt grüßte. Bereits seit zwei Jahren kämpfte sie darum, endlich eine erfolgreiche Travel-Influencerin zu werden, was bis jetzt eher schlecht als recht geklappt hatte, weil sie nur einmal im Jahr mit ihren Eltern in den Urlaub fliegen konnte. Anstatt auf die Malediven ging es dann an die Ostsee, und anscheinend war sie noch nicht gut genug in ihrem Job, um sogar die schnödesten Strandabschnitte auf ihren Fotos schön bearbeitet in Szene zu setzen.

Oder Marco, dessen Finger ich jetzt schon wieder in meinem Rücken spüren konnte, versuchte sich an TikTok-Videos, zu denen er regelmäßig seine Großeltern einlud, und hatte vor Kurzem einen viralen Hit gelandet. Das war es aber auch schon gewesen, und weil ein zweiter Erfolg bisher ausgeblieben war, hatte ihn das in eine tiefe Schaffenskrise gestürzt. Offenbar war das hier sein bescheidener Plan B.

Da sah es mit Pias bescheidenem Plan A, einen reichen Kerl zu heiraten und ihre Ruhe vor dem ganzen Arbeitsthema zu haben, noch deutlich rosiger aus.

Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper und versuchte, mich nicht zu sehr in die Angelegenheiten der anderen hineinzusteigern. Beispielsweise in die Tatsache, dass meine Ex-Mitschüler doch eigentlich was ganz anderes im Leben vorgehabt hatten als zu studieren. Das hier war nur ihr Ausweichplan. Ihre Absicherung, damit sie überhaupt was zu tun hatten und nicht durch das Gitter unseres Sozialstaats rasselten.

Ich hingegen war aus einem bestimmten Grund hier.

Meine Klasse war so verrückt gewesen, dass ich immer noch nicht wusste, ob meine eigenen Träume normal waren oder in die Kategorie abgedreht fielen. In der Unterstufe hatte ich einen Schnuppertag bei einer großen Firma gehabt, in der sie an Künstlicher Intelligenz forschten. Sie hatten uns Roboter in allen Farben und Formen gezeigt – von einzelnen Armen, die immer wieder denselben Handgriff machten, bis hin zu einem Androiden, der zwar nur sehr entfernt an einen Menschen und mehr an ein Gewirr aus Kabeln und Schaltkreisen erinnerte, sich aber trotzdem so agil bewegt hatte, dass mir der Atem gestockt war.

An jenem Tag hatte ich mich unsterblich verliebt. Nicht in den Androiden, natürlich. Sondern in die KI. Der Gedanke daran, ein intelligentes Wesen erschaffen zu können, war einfach nur magisch. Wenn ich in einem Bürojob arbeitete, würde ich jeden Tag, wenn ich schlafen ging, keinen Unterschied zum letzten oder vorletzten Tag verspüren, da war ich mir sicher. Doch wer an Künstlicher Intelligenz forschte, tastete sich jeden Arbeitstag aufs Neue an etwas Großes heran. An etwas Unglaubliches. An etwas, das wir vor ein paar Jahrzehnten noch nicht einmal für möglich gehalten hatten, was es nur in Science-Fiction-Filmen gegeben hatte und vielen Menschen bis heute Angst machte.

Es war wie Magie, aber es war Wissenschaft. Es war real. Und das machte es perfekt für mich.

Nur dumm, dass ich mich bis dahin durch mindestens drei Jahre Studium quälen musste. Und jetzt, wo ich hier so saß, hatte ich das Gefühl, dass mir der schlimmste Teil noch bevorstand.

Vanessa machte gerade den Mund auf, vielleicht, um sich zu rechtfertigen, warum sie nicht längst ihre glanzvolle Karriere auf den Bahamas oder den Malediven fortgesetzt hatte, als plötzlich das charakteristische Quietschen eines Mikrofons das Stimmengemurmel um uns herum zerriss. Ein steinalter Mann mit Glatze und weißem Ziegenbart war vorne beim Dozentenpult aufgetaucht und räusperte sich vier- oder fünfmal, ehe er die versammelte Mannschaft endlich begrüßte.

Pia stöhnte leise, als wäre sie jetzt schon genervt von dieser ganzen Studiumssache, und fischte ihr knallpinkes Handy von der Tischplatte, um eine Nachricht an Vanessa zu schreiben.

Ich versuchte ungefähr zwei Minuten lang, der staubtrockenen Begrüßung des Mannes zu folgen. Ob es der Kanzler, der Präsident oder der Hausmeister der Hochschule war, wusste ich nicht. Dann beschloss ich, mir meine Konzentration auch lieber für meine Vorlesungen aufzusparen, und widmete mich ebenfalls meinem Handy. Aber nicht, um mit Leuten zu chatten, die buchstäblich fünfzig Zentimeter vor mir saßen.

Stattdessen rief ich mein Profil bei Masters of Magic auf. Seit zwei Wochen hatte ich mich aus lauter Umzugsstress und Wut auf diese Kerle nicht mehr damit beschäftigt. Aber jetzt konnte ich nicht anders. Es war genug Gras über die Sache gewachsen – ich musste wissen, wie es ausgegangen war.

Normalerweise wurde man bestraft, wenn man das Spiel mitten in einem Duell beendete und seine Gildenmitglieder im Stich ließ. Für gewöhnlich verlor man einige Level oder wurde sogar eine ganze Liga zurückgesetzt, selbst wenn die Kameraden gewonnen hatten. Wenn ich ungeschoren davonkommen wollte, musste ich darauf hoffen, dass meine Gilde das Duell innerhalb von zwei Minuten gewann. Dann würde ich nicht bestraft werden und die nächste Liga erreichen.

Als ich das Spiel verlassen hatte, war das gegnerische Team ziemlich geschwächt gewesen. Doch einige hatten noch ihre Ultra-Zauber übrig gehabt – ihren mächtigsten Angriff, der am meisten Ladezeit beanspruchte, aber dafür auch den größten Schaden anrichtete. Und wenn sie ihre geballte Macht rausgehauen hatten, hatte es wohl zappenduster für meine Seite ausgesehen.

Doch vielleicht, ganz vielleicht, hatte mein es Team ja geschafft. Innerhalb von zwei Minuten ...

Ich spürte ein schmerzhaftes Ziehen in meinem Hinterkopf, als würde Marco hinter mir versuchen, mir all meine Haare gleichzeitig auszureißen. Im Grunde wünschte ich es diesen Typen gar nicht, gewonnen zu haben. Nicht für diese ekelhaften Kommentare, die sie auf mich abgelassen hatten.

Ja, eigentlich sollte es mich überhaupt nicht kümmern. Jeder bekam, was er verdiente. Und auch wenn ich abgestiegen war, wäre das schließlich nicht das Ende. Karma würde alles richten und ich würde schon bald über mich selbst hinauswachsen. Genau so, wie ich im Studium über mich hinauswachsen würde. Denn ich war jetzt nicht mehr die dumme Schülerin Anne Schmitt, sondern die selbstbewusste erwachsene Frau Anne Schmitt, und ab sofort würde einfach alles besser werden!

»Hey«, zischte jemand in der Reihe vor mir. »AnnBot.«

Ein Zucken ging durch mein Augenlid. Ach ja. Nichts würde anders werden. Weil ich immer noch von denselben Leuten umgeben war wie vor den Sommerferien.

AnnBot war mein Spitzname, seit ich mich vor ein paar Jahren als erstes und einziges Mädchen in der Robotik-AG angemeldet hatte. Weil ich es mir nicht hatte nehmen lassen, an Tagen der offenen Tür unsere Technik vorzustellen, und ich auf den AG-Fotos ebenfalls das einzige weibliche Wesen war. Eine Exotin.

Mit der Zeit hatte sich das hartnäckige Gerücht entwickelt, die übrigen AG-Mitglieder hätten mich programmiert, damit sich zumindest eine Frau im Leben mit ihnen abgab. Seitdem war ich AnnBot.

Es war mir egal. Andere hatten schlimmere Spitznamen abbekommen. Tim war Lauch gewesen, Peter war Ziegenpeter, Michi war sogar jetzt noch Fettwanst, obwohl er zwanzig Kilo abgenommen hatte. Und wenn es Pia mal mit ihrem Make-up übertrieben hatte, war sie einen Tag lang Barbie gewesen.

»Pst!«, ertönte Clarissas Stimme vor mir wieder. Was, die war auch hier? »AnnBot!«

Vanessa und Clarissa waren schon immer Zwillinge im Geiste gewesen, die nie jemand gebraucht hatte. In unserem Jahrgang waren wir meistens eine eingeschworene Gemeinschaft gewesen, solange es um Stars und Klamotten ging. Aber sobald eine aus der Reihe tanzte – zum Beispiel mit Gaming und Robotik –, aktivierten sie ihre verzweifelten Bewältigungsmechanismen, weil sie sonst mit meiner bloßen Existenz nicht klargekommen wären.

Willkommen im 21. Jahrhundert.

»AnnBot, ich brauch mal ’nen Stift!«

»Ist mir schnuppe!«, zischte ich und zog mein Federmäppchen vorsichtshalber in die andere Richtung. Als ich Clarissa das letzte Mal einen Stift gegeben hatte, hatte sie versucht, ihn in meine Nase zu stecken, »um zu schauen, ob ich ihre Schaltzentrale deaktivieren kann«. Ich hätte ihr das Teil am liebsten in eine ganz andere Öffnung geschoben, aber natürlich war ich dann wieder diejenige gewesen, die eine Verwarnung bekommen hatte.

»Ich hab einen für dich«, flüsterte Pia und reichte ihr einen ihrer pinken Kugelschreiber – ehe sie ihn abrupt zurückzog. »Oh, fuck, das ist ja ein Lipliner!« Hastig kramte sie in ihrem Federmäppchen, in dem sie alle möglichen Arten von Stiften aufbewahrte, und zog diesmal einen richtigen Kugelschreiber hervor. »Hier.«

»Danke, Süße! Du bist die Beste!«

Ich unterdrückte ein Grunzen. Süße. Allein bei diesem Wort kam mir mein Frühstück wieder hoch.

Natürlich bekam Pia keinen Stift in ihre Nase gesteckt.

Während der alte Mann da vorne um die Aufmerksamkeit der Erstsemester für seine Geschichtsstunde in Sachen Grundsteinlegung des Hauptgebäudes kämpfte, widmete ich mich wieder unauffällig meinem Handy und loggte mich auf der MoM-Website ein. Das wollte ich zumindest, aber im letzten Moment hielt ich meinen Daumen davon ab, auf den entsprechenden Button zu tippen.

Meine Anspannung wuchs mit jeder Sekunde. Als ich das Spiel verlassen hatte, war einfach noch alles offen gewesen. Ich könnte jetzt eine Stufe aufgestiegen sein – oder komplett zurückgefallen.

Ich musste an Schrödingers Katze denken. Ein Gedankenexperiment, das besagt, dass beide Optionen eines Szenarios zutreffen, solange man sich nicht vergewissert, was davon nun wahr ist. Für mich bedeutete das: Ich hatte das Match gleichzeitig gewonnen und verloren. Ich war gleichzeitig in Gold (70) und in Kupfer (20). Und würde es so lange sein, bis ich mein Profil öffnete.

War das nicht ein viel schöneres Gefühl, als wirklich abgestiegen zu sein? Vielleicht könnte ich mir mein Leben lang vorlügen, ich hätte es tatsächlich bis in Gold geschafft, wenn ich mich einfach nur nie wieder einloggte, das Kapitel Masters of Magic hinter mir ließ und mein restliches Leben als Tarotkarten legende Hundefriseurin verbrachte.

Vielleicht wäre das besser. Ich könnte mich auf meinen Lorbeeren ausruhen, zufrieden mit dem sein, was ich hatte, und mich selbst völlig neu erfinden. Ich müsste mich niemals wieder ärgern über ...

»Hey.« Pia stupste mich so plötzlich in die Seite, dass ich zusammenzuckte. Genau wie mein Daumen.

Ich schluckte das erschrockene »Nein!« gerade so herunter, konnte aber nicht verhindern, dass meine Fingerspitze den Log-in-Button berührte.

Meine Augen weiteten sich. Die Seite lud. Mein Blick zuckte zum X oben rechts in meinem Browser-Tab. Ich könnte ihn schließen. Mein Handy ausschalten. Es aus dem Fenster werfen. Die Hunde ...

Mein Profil leuchtete vor mir auf. Genau wie meine Ligastufe.

Kupfer (20).

Meine Mundwinkel sackten herab. Meine Loser von Gildenmitgliedern hatten natürlich nicht gewonnen. Vielleicht nicht, weil sie sich so sehr auf das Mädchen in ihrem Team fokussiert hatten, dass sie angefangen hatten, wie Kinder zu spielen.

Kupfer (20). Alles, was ich mir in den letzten Wochen so hart erarbeitet hatte, war für die Katz gewesen. Für Schrödingers Katz.

»Ähm«, flüsterte Pia. »Ich glaub, ich hab gerade meinen einzigen Kugelschreiber verliehen. Hast du noch einen?«

Ich antwortete nicht. Stattdessen kippte ich einfach vornüber und ließ meinen Kopf auf die Tischplatte fallen. Dabei unterschätzte ich die Geschwindigkeit – und stöhnte auf vor Schmerz, als meine Stirn mit einem lauten Knall auf dem harten Holz landete.

Jemand sog erschrocken die Luft sein, und ich konnte spüren, wie sich alle Blicke im Raum auf mich richteten.

»Jetzt schon so verzweifelt, junge Dame?«, raunzte der Gelehrte in sein Mikrofon.

Jemand kicherte hinter mir. »Hat sie sich das Genick gebrochen?«

»Pia hat endlich den Ausschalt-Knopf gefunden.«

Ächzend zog ich meinen Kopf wieder nach oben und rieb mir peinlich berührt die Stirn, die wie auf Befehl zu pulsieren begann. War es gerade noch zu früh oder schon zu spät, um sich zu exmatrikulieren?

Ich hatte das Gefühl, dass uns der Kerl in den darauffolgenden Minuten die ganze Zeit anstarrte, weshalb ich es nicht mehr wagte, mein Handy auch nur anzusehen. Ich glaubte sogar, Pia würde nicht einmal die Lippen bewegen, als sie mir zuflüsterte: »Du bist so durch den Wind. Alles okay?«

Ich unterdrückte ein Seufzen. »Es ist nur wegen MoM«, murmelte ich. »Neulich waren solche Idioten im Game! Würde mich nicht wundern, wenn Marco einer davon war.«

Pia schenkte mir einen schiefen Blick. »Es ist doch nur ein Spiel«, raunte sie. »Was regst du dich so darüber auf?«

Schnaubend sah ich sie an. »Es ist nur ein Spiel«, bestätigte ich. »Aber es sind echte Menschen.« Ich verdrehte die Augen. »Und meine Gefühle sind auch echt.«

Sie zuckte die Achseln. »Dann spiel doch einfach nicht mehr, und du bist sie los.«

Ich unterdrückte ein Stöhnen. »Und wenn sie dich hier wieder Barbie nennen, brichst du gleich das Studium ab?«

Abwehrend hob sie die Hände. »Hey, ich hab kein Problem mit so was. Barbie ist doch toll! Sie hat viele Generationen von Frauen dazu inspiriert, ihre Träume zu verfolgen und ...«

Ihre Stimme rückte mehr und mehr in den Hintergrund meines Bewusstseins. Sie verstand mich nicht. Natürlich nicht. Dafür waren wir zu unterschiedlich. Die einzigen unangenehmen Online-Begegnungen, die sie hatte, waren Instagram-Follower, die nur jedes zweite ihrer Fotos likten. Auf der Straße bekam sie von Fremden Komplimente und online wurde sie in den Kommentarspalten ihrer Bilder regelmäßig von ihren Fans gefeiert. Sie machte nicht mal was dafür! Sie war keine Influencerin, postete keine Klamotten- oder Reisefotos, nichts davon! Einfach nur Selfies von sich selbst. Sie war eine Frau auf Instagram, und das reichte aus, damit wildfremde Menschen sie liebten.

Und ich? Ich war eine Frau bei Masters of Magic. Und das reichte aus, damit mich wildfremde Menschen verachteten.

Nein, jemand wie Pia würde mich niemals verstehen. Aber in diesem Augenblick realisierte ich, dass ich mich nicht davon abhängig machen sollte, von ihr verstanden zu werden. Das hier war mein Problem, und ich würde nicht davor davonlaufen. Ich würde es wie Fontana angehen: Meine besten Zauber einpacken und mich der Situation ganz einfach anpassen.

Mich anpassen.

Auf einmal kam mir eine Idee. Oder vielmehr der bloße Kern einer Idee, den es einzupflanzen und heranzuzüchten galt. Ein Ausweg, der dafür sorgen könnte, dass sich all meine Probleme in Luft auflösen könnten – abgesehen von meiner schmerzenden Stirn, die gerade bestimmt grün und blau anlief. Eine Idee für ein Theaterstück, um die mich sogar Schiller beneidet hätte. Und ich konnte es kaum erwarten, es zu schreiben.

3. KAPITELLOG-IN

Uns erwartete eine anstrengende Woche voller Einführungsveranstaltungen, Ersti-Führungen und Gratis-Fressgelegenheiten, in der Pia und ich unsere Ausbeute von der Ersti-Messe nur deshalb hatten nach Hause transportieren können, weil wir an einem der Stände mehrere Gratis-Turnbeutel abgestaubt hatten. Am Freitag war es endlich vorbei und ich konnte es nicht mehr erwarten, zur Wohnung zu gelangen. Mein Herz war beflügelt und leicht, als wir in den Bus sprangen, der uns fast bis vor unsere Haustür bringen würde. Doch kaum, dass ich mich gesetzt hatte, fiel mir ein, dass es gar nichts gab, worauf ich mich freuen konnte – natürlich abgesehen von meiner wundervollen Mitbewohnerin, die mich für so einen Gedanken bestimmt mit ihrer Lieblingsclutch geohrfeigt hätte.

Ich dachte an Masters of Magic, und mein Magen krampfte sich zusammen. Beinahe hätte ich den Vorfall von neulich vergessen können, aber jetzt, wo ich neben Pia saß und sie mir die aktuellsten Fotos zeigte, die sie für Instagram geschossen hatte, konnte ich nicht anders, als mit den Gedanken an meinen Lieblingsort zu schweifen – an meinen Lieblingsort, an dem es plötzlich zappenduster war. Darüber konnte nicht einmal Pias neuer Filter hinwegtäuschen.

Später konnte ich mich kaum auf meine To-do-Liste konzentrieren: Ich musste mich für Fächer einschreiben, gemeinsam mit Pia unsere BAföG-Anträge ausfüllen, den Haufen Müll verstauen, den ich heute vom Campus hatte mitgehen lassen, und mich über die studentischen Vereine informieren, obwohl mich sowieso nur die wenigsten davon interessierten. Was das betraf, hatte ich mich eindeutig an der falschen Hochschule eingeschrieben: Die örtliche Universität war ein Rising Star in Sachen E-Sports. Die hatten sogar eine MoM-Mannschaft. Keine, von der ich je mehr gehört hatte als ein »Hey! Wir existieren!«, aber immerhin besser als nichts.

Lustlos scrollte ich durch das Fächerangebot im Studiengang Ingenieurwissenschaften – wie viele Module namens Materialkunde konnte man haben?! Ich saß an meinem Schreibtisch vor meinem wuchtigen Gaming-Laptop, der zu schwer war, um ihn mit in die Uni zu schleppen. Meinen Desktop-Computer hatte ich vorerst zu Hause gelassen, weil mir der Umzug zu umständlich gewesen war. Aber der Laptop war mit seinem leistungsstarken Prozessor und seiner Grafikkarte auch nicht von schlechten Eltern ... und lenkte in diesen Sekunden meine Aufmerksamkeit auf etwas, das nichts mit dem Studium zu tun hatte.

Das grün-goldene Icon unten in meiner Taskleiste schien bedrohlich zu pulsieren. MoM wartete. Es fragte sich, was ich jetzt tun würde – nach dem, was vor ein paar Wochen passiert war. Es wusste, dass es nicht das erste Mal gewesen war, und ich hatte die ganze Zeit über gehofft, ich hätte das letzte Mal hinter mir gehabt.

Wird sie jetzt klein beigeben?, hörte ich seine Stimme in meinem Kopf, als hätte das Spiel eine eigene Seele. Es klang herausfordernd, provokativ. Weil es genau wusste, wie es mich anfixen konnte.

Mit zusammengekniffenen Augen starrte ich auf das Icon. Ruhe auf den billigen Plätzen!

Es war, als würde der ganze Screen zu funkeln beginnen. Komm doch rüber und bring mich zum Schweigen!

Wütend zog ich die Maus zum unteren Bildschirmrand und klickte auf die App.

Also gut. Du wolltest es ja nicht anders.

Meine Log-in-Daten waren voreingestellt, und ich musste nur noch auf Einloggen klicken, um in Magistrar einzutauchen. Es war keine bewusste Entscheidung, sondern eher ein Reflex, genau das zu tun und mein Headset aufzusetzen.

Mein Mund wurde trocken, als der Ladebildschirm erschien. Als die Prozentleiste aufleuchtete und sich mehr und mehr füllte, während sich die Kristallkugel im Zentrum immer wieder um die eigene Achse drehte. Sie drehte sich. Und drehte sich. Und drehte sich ...

Und dann sah ich sie. Fontana. Meine Elfenkriegerin, die in den letzten Monaten wie eine zweite Haut für mich geworden war. Mit ihrem violett schimmernden Körper, ihren langen blauen Haaren, die sie stets zu einem Zopf gebunden hatte, ihren viel zu freizügigen Standard-Klamotten, die ich so gut wie immer durch dichte Rüstungen ersetzte, und ihren gelben Augen war sie auf ihre eigene Weise wunderschön. Doch viel wichtiger waren ihre inneren Werte. Die Zauber, die ich mir für sie verdient hatte. Mit denen ich sie großgezogen hatte wie ein junges Fohlen, das von seiner Mutter verstoßen worden war.

An diesem Avatar hingen viel Blut, Schweiß und vielleicht auch ein paar Tränen. Doch all das wurde jäh in den Schatten gestellt von der Anzeige oben rechts.

Kupfer (20).

Ich biss mir auf die Unterlippe. Kupfer (20) also.

»Lange nicht gesehen«, murmelte ich und starrte teilnahmslos auf den Bildschirm. Auf einmal fühlte ich mich hin- und hergerissen. Ein Teil von mir wollte das Fenster schließen und sich etwas anderem widmen, das meine Zeit wert war. Aber gleichzeitig war da ein altbekannter Sog, der mich nach Magistrar bringen wollte. Eine wundersame Welt voller Kreaturen, die es zu besiegen galt, voller neuer Zauber, die ich mir unter den Nagel reißen würde, und Abenteuern, die ich erleben wollte.

Dieses Spiel war wie eine Droge für mich geworden. Und wenn es nach meiner Mom ginge, sollte ich dringend davon wegkommen. Vielleicht sollte ich das wirklich.

Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und sah mich in meinem Zimmer um – nur um festzustellen, dass das gar nicht so einfach wäre, selbst wenn ich es gewollt hätte.

Der Raum war voll von MoM. Ich besaß Spielkarten, Figuren, Schuhe und Shirts, eine Landkarte, mehrere Zaubertränke – nicht trinken! – sowie drei Bücher und vier Comics, die sich alle um Magistrar drehten. MoM war in den letzten Jahren sehr schnell sehr groß geworden und es gab Unmengen an Fanartikeln, die ich mir alle nach und nach unter den Nagel gerissen hatte. Ich hatte sogar Bettwäsche davon gehabt, bis Mom sie klammheimlich entsorgt hatte, während ich im Sommerurlaub mit Pia gewesen war.

Man könnte sagen, mein ganzes Leben bestand aus Masters of Magic. Ich konnte es nicht von einem Tag auf den anderen ausradieren wie Pia die Existenz ihres Exfreunds vor einem halben Jahr. Sie hatte all seine Sachen in ihrem Garten verbrannt, das Feuer war auf einen Baum übergegangen und sie hätte beinahe das ganze Grundstück abgefackelt. Aber das war eine andere Geschichte – und das Wichtigste für sie war, dass die Boxershorts ihres Ex vernichtet worden waren.

Missmutig blickte ich Fontana entgegen und biss mir auf die Unterlippe. Ich wollte nicht spielen. Doch, ich wollte spielen. Ich wollte mir selbst zeigen, dass ich besser sein konnte. Eine bessere Version meiner selbst als beim letzten Mal. Silber konnte noch nicht das Ende sein. Da ging noch mehr, ich wusste es ganz genau.

Aber ...

Ein schmerzhaftes Pochen wanderte durch meinen Kopf. Verdammt, ich wusste nicht, was ich tun sollte. Also griff ich nach meinem Handy und checkte meine Nachrichten. Vielleicht gab es etwas anderes, womit ich mich beschäftigen konnte. Womit ich mich ablenken konnte. Bis ich gar nicht mehr an MoM denken musste.

Ich wischte mich durch TikTok. Rief meine Mails ab. Öffnete Instagram und sah neue, wunderschöne Fotos von Pia und wie sie mit Herzen und Kommentaren überhäuft wurde. Das Internet meinte es wirklich gut mit ihr.

Ein paar Minuten lang scrollte ich lustlos durch meinen Feed, aber weil ich eigentlich nur E-Sportlern folgte, war dieser überfüllt mit MoM-Beiträgen. Ich konnte dem Spiel wohl einfach nicht entkommen.

Mit einem Seufzen legte ich das Handy weg und richtete den Blick wieder auf den Computerbildschirm. Fontana starrte beinahe traurig zurück.

Ich senkte die Lider und fasste einen Entschluss. »Nur noch einmal«, murmelte ich. »Ein allerletztes Mal.« Ich würde noch einen Neustart wagen. Nicht mit Fontana in Kupfer (20) – denn da konnte ich gleich ein neues Spiel beginnen. Und das würde ich. Mit einem neuen Avatar. Mit einer neuen Strategie. Mit einem neuen Ich. Ich würde es ein allerletztes Mal versuchen, aber sollte mir das Spiel noch einmal Kummer bereiten – auf eine Weise, die nichts damit zu tun hatte, dass ich zu Recht ein Match verlor oder von einem Drachen gegrillt wurde –, dann wäre es das!

Ich konnte die Welt nicht ändern, schon gar nicht die Online-Welt. Alles, was in meiner Macht stand, war, mich nicht von ihr zerstören zu lassen.

Also gab ich dem Ganzen noch eine letzte Chance. »Tut mir leid, Fontana«, murmelte ich. Ich hatte mir erst vergangenen Monat eine individualisierte Kakao-Tasse mit ihrem Konterfei gekauft. »Vielleicht sehen wir uns in einem anderen Leben wieder.«

Kurz entschlossen führte ich meine Maus zum Button Neuer Avatar, doch ich zögerte. Würde ein neuer Avatar reichen, um ein neues Leben anzufangen?

Nein. Denn er wäre immer noch mit meinem Account verbunden. Und falls meine alten Gildenmitglieder mein Profil aufriefen, würden sie sofort sehen, dass ich mir einen neuen Magier zugelegt hatte. Es würde nichts ändern. Ich würde mich im grellsten Scheinwerferlicht verstecken müssen.

Also gut. Dann eben anders.

Wie jeder, der auch nur durchschnittlich viel im Internet unterwegs war, hatte ich mehrere Mailadressen. Eine für Bewerbungen und Online-Shopping, die restlichen für Newsletter oder wenn ich bei irgendwelchen Gewinnspielen meine Chancen aufbessern wollte – leider hatte ich noch nie was gewonnen.

Kurzerhand loggte ich mich aus und gab eine meiner anderen Mailadressen an. Der Account war innerhalb weniger Sekunden erstellt. Mein Passwort: DeinenZauberstabkannstdudirindeinenfetten-

Zu lang.

Ich entschied mich um und wurde prompt in den Trailer für Masters of Magic geworfen. Ich sah die saftig grünen Wiesen des Blühenden Reichs, die glühenden Steppen der Flammenlande, die Wüsten von Marbahar, die eisigen Gletscher von Glacialis und tauchte in die Tiefen von Atlartica ein. Die epische Musik, die im Hintergrund immer mehr anschwoll, gemischt mit den verschiedensten Völkern und Charakteren, Monstern und Bestien, die in mitreißende Kämpfe verwickelt wurden, taten ihr Übriges, um mein Herz wieder höherschlagen zu lassen.

Ich musste lächeln. Ich kann dir einfach nicht lange böse sein, Masters of Magic.

Anschließend erstellte ich meinen Avatar und wurde dazu aufgefordert, mir ein Volk auszusuchen. Instinktiv wandte ich mich den Elfen zu, riss mich dann aber am Riemen. Wenn ich nicht wollte, dass sich die Geschichte wiederholte, musste ich mich selbst neu erfinden. Etwas machen, das Anne Schmitt sonst nie machen würde!

Also scrollte ich im Menü nach unten – und fand etwas, das ganz und gar nicht wie Anne Schmitt war. Sondern das absolute Gegenteil davon.

Ein Sensenmann. Eine knochige Gestalt mit einem langen schwarzen Mantel, der immer von einer leichten Brise bewegt wurde. Die Kapuze hatte er sich so tief ins Gesicht gezogen, dass man seine leeren Augenhöhlen kaum erkennen konnte, in denen es glühend rot leuchtete. Die Sense manifestierte sich immer dann in seiner Hand, wenn er sie für einen Zauber brauchte. Wenn man etwas Gold investierte, konnte man sein Aussehen etwas abändern – beispielsweise was die Farbe seines Umhangs betraf. Man konnte ihn auch die Kapuze sogar ganz abnehmen lassen, sodass er mit blankem Totenschädel herumlief oder, besser gesagt, schwebte.

Ich betrachtete ihn eine Weile. Irgendwie cool. Überhaupt nicht weiblich – nicht mal in der weiblichen Version. Und etwas ganz anderes als alles, was ich je gespielt hatte. Mit ihm würde ich es versuchen.

Je länger ich ihn anstarrte, ihn sich wie ein Model im Kreis drehen ließ und aus jedem Winkel begutachtete, desto deutlicher wurde mein vager Plan, der sich in meinem Hinterkopf zu formen begonnen hatte. Neulich auf dem Campus hatte ich ihn noch nicht ganz greifen können, jetzt aber lag er so klar vor mir, als hätte man ihn auf die Innenseite meiner Augenlider tätowiert.

Ich klickte mich in die Leiste, in der ich den Namen meines Avatars eintragen sollte, und tippte: Mr.

Mr. war gut. Es war männlich. Es war alles andere als mädchenhaft. Und dann ...

Mein Blick zuckte zum Avatar und wieder zurück. Eigentlich war es offensichtlich. Skull.