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"Ich war der Tag und die Nacht, der Sonnenschein und der Regen, die Stille und der Sturm. Ich war das Gleichgewicht, das Wick und alle darin am Leben erhielt. Ich war eine Göttin. Aber gleichzeitig war ich ein sechzehnjähriges Mädchen, das sich nach einem Zuhause sehnte."
Kurz nach dem tragischen Tod ihrer Eltern ist für Josie und ihre Zwillingsschwester Amber nichts mehr wie zuvor. Als sie von einem Fremden auf offener Straße angegriffen werden, erfahren sie, dass sie magische Kräfte haben und den Segen einer leibhaftigen Hexengöttin in sich tragen. Doch wo Macht schlummert, lauert auch Gefahr: Schon bald finden sich die Zwillinge in der magischen Parallelwelt Wick und im Zentrum einer alten Prophezeiung wieder. Dort erwarten sie ungeahnte Fähigkeiten, neue Freunde, tödliche Magie - und eine Reihe zwielichtiger Gestalten, die es auf sie abgesehen haben ...
"Witches of Wick - Das Buch der Hexen" ist der Auftakt der magischen Young-Adult-Fantasy-Trilogie von Annie Waye.
Die Wick-Saga in der richtigen Reihenfolge:
1. Das Buch der Hexen
2. Das Buch der Dana
3. Das Buch des Atho
Erhältliche Spin-offs:
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Witches of Wick
Impressum
Annie Waye
c/o JCG Media
Freiherr-von-Twickel-Str. 11
48329 Havixbeck
© 2022 Annie Waye
Alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung: Makita Hirt
Buchsatz und Lektorat: Kaja Raff
Pentagram Vectors by Vecteezy
Die gesamte Reihe im Überblick:
Band 1 "Das Buch der Hexen"
Band 2: "Das Buch der Dana"
Band 3: "Das Buch des Atho"
Kurzgeschichte "Das Buch der Verlassenen"
Kurzroman "Das Buch der Jagd"
Anthologie "Wizards of Wick: Die verlorenen Bücher"
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG ("Text und Data Mining") zu gewinnen, ist untersagt.
ANNIE WAYE
Annie Waye ist eine junge Autorin mit einer alten Seele. Sie ist auf der ganzen Welt zu Hause und seit jeher der Magie der Bücher verfallen. Sie schreibt, um fremde und vertraute Welten zu erschaffen, sympathischen und zwiespältigen Charakteren Leben einzuhauchen und Dunkelheit und Stille aus den Herzen der Menschen zu vertreiben. Wenn sie nicht gerade an Romanen arbeitet, veröffentlicht sie Kurzgeschichten und bereist die Welt auf der Suche nach ihrem nächsten Sehnsuchtsort.
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EINES TAGES IN DER NACHTWENN DER SCHREI DER NACHTIGALL ERKLINGTDIE GÖTTIN DREIER MOND‘ ERWACHTUND BESEELT DAS NEUE KIND.
WER IST DIESER KERL?
Was passiert, wenn man Kupferhydroxidkarbonat erhitzt? Allein bei dieser Frage drehte sich mir schon der Magen um. Chemie hatte noch nie zu meinen Lieblingsfächern gehört, und ich war froh, mich nach diesem Tag nie wieder mit Basen und Säuren beschäftigen zu müssen.
Mehr als hundert Schüler saßen in der Turnhalle. Die Luft war stickig und alle zwei Sekunden hustete jemand. Meine Hose zwickte schier überall, wo sie meine Haut berührte, aber wenn ich sie zurechtzupfen würde, sähe das in den Augen meiner Klassenkameraden vollkommen bescheuert und in den Augen der Aufsichtspersonen nach einem eindeutigen Spickversuch aus. Also litt ich still weiter.
Das hier war die letzte Frage – zugegeben, nicht auf dem Prüfungspapier. Ich hatte sie schon vor einer halben Stunde übersprungen, weil ich nicht darüber hinweggekommen war, wie unglaublich lang das Wort Kupferhydroxidkarbonat war. War das einer dieser Begriffe, an die man unendlich viele weitere hängen konnte, bis es ein einziges Kauderwelsch aus Buchstaben wurde, die man erst mit einer Kettensäge wieder voneinander trennen konnte? Kupferhydroxidkarbonatstudiendurchführungsplanungskommitee. Allein für diesen Gedanken hätte ich einen Orden verdient. Aber da diese Welt kalt und grau und unfair war, konnte ich schon glücklich sein, wenn ich auch nur eine Drei bekam.
Wenn wir eine Drei bekamen.
Mit meinem Stift in der Hand lehnte ich mich zurück und tat so, als müsste ich mich ausgiebig strecken. Dabei drehte ich den Kopf und starrte zu Amber hinüber.
Im Gegensatz zu mir war meine Schwester unserer Naturhaarfarbe – einem strahlenden Blond – treu geblieben. Ihre Haare waren etwas länger als meine, ihre Nase ein bisschen schmaler, die Augen ein bisschen größer und sie alles in allem zehnmal schöner als ich. Sogar jetzt, wo sie sich hoch konzentriert über die Prüfung beugte, eine dünne Falte zwischen ihren Augenbrauen, als würde ihr der Stoff auch nur ansatzweise schwerfallen.
Ich blies mir eine pechschwarze Strähne aus dem Gesicht. Bei Zwillingen gab es immer einen dummen. Und, wenn man zweieiig war, auch einen hässlichen. Und wenn Gott es ganz schlimm mit einem meinte, gewann derselbe Kandidat beide Preise.
Ich halte meine Dankesrede später.
Niemand käme jemals darauf, dass wir Zwillinge waren. Genauso wenig, wie jemand ahnte, dass wir miteinander reden konnten, ohne den Mund zu öffnen.
Glotz nicht so, Josie!, fuhr sie mich an. Die Aufsichtspersonen werden misstrauisch.
Ich verdrehte die Augen. Das könnten sie vielleicht werden, wenn du dir einen Spickzettel ins Gesicht tätowiert hättest.
Früher hatten wir unsere Gedankengespräche für ein Zwillingsding gehalten – bis uns mit den Jahren klar geworden war, dass es auf der ganzen Welt offenbar niemanden gab, der das auch konnte. Irgendwann hatten wir einander geschworen, darüber Stillschweigen zu bewahren. Bis jetzt, mit etwas mehr als sechzehn Jahren, hatten wir nie wieder davon gesprochen, siamesische Zwillinge im Geiste zu sein, und unsere Eltern hatten unser frühkindliches Gebrabbel darüber wohl im Nachhinein als typische Heranwachsendenspinnerei abgetan.
Ein Geheimnis mit seiner Schwester zu teilen, war auch als Fast-Erwachsene etwas total Cooles. Vor allem wenn man in meiner Haut steckte und einem jedes Mittel recht war, um gute Noten zu bekommen. Hey, hast du Frage 12 schon?
Ich sah, wie Amber die Stirn runzelte. Was?
Die Frage mit dem Karbo- Ich stockte und beugte mich wieder über meinen Prüfungsbogen. Kupferhydroxidkarbonat. Es war schon schwer, dieses Wort auch nur zu denken.
Ich hörte Papier rascheln und riet, dass Amber auf die entsprechende Seite blätterte. Ähm, dachte sie. Ich weiß es nicht.
Beinahe wäre mir der Stift aus der Hand gefallen. Du weißt es nicht?
Ich … Sie stockte. Ich hab da wohl was beim Auswendiglernen übersehen.
Wenn du es nicht weißt, wer dann? Du bist doch die Kluge von uns beiden, drängte ich sie. Meine Note würde sowieso nicht annähernd so gut werden wie ihre, weil ich jede einzelne Grafik versemmelt hatte – leider konnten wir uns keine telepathischen Fotos schicken. Das ist unsere letzte Abschlussprüfung. Dein Ticket zum Oxford-Stipendium!
Ich hörte, wie Amber schnaubte, und warf ihr einen warnenden Blick zu. Vergiss es. Das Stipendium kann ich mir abschminken.
Es lief doch ganz gut in letzter –
Tut mir leid, Josie, unterbrach sie mich störrisch. Aber ich weiß es nicht.
Ich unterdrückte ein Seufzen. Ich bin mir sicher, dass es irgendwo in deinem Superhirn drin ist. Konzentrier dich einfach und … mach, was du immer machst, wenn dir im letzten Moment die Lösung einfällt.
Wie in aller Welt soll ich mich auf diesen blöden Test konzentrieren, wenn unsere Eltern tot sind?!
Abrupt verkrampfte sich meine Hand um den Stift. Ambers Trauer schlug mit einer solchen Gewalt auf mich ein, dass meine Augen zu brennen begannen. Der Vorfall war vier Monate her, aber es tat immer noch so verdammt weh. Tut mir leid.
Es ist nicht deine Schuld, sagte sie – wir hatten dieses Gespräch schon so oft geführt. Ich vermisse sie einfach nur so sehr.
Ich auch.
Unsere Eltern waren Ärzte gewesen. In ihrem Krankenhaus war jemand Amok gelaufen und hatte wahllos um sich geschossen. Zwölf Menschen waren ums Leben gekommen. Darunter auch Richard und Bernadette Smith.
Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.
Ich glaube, ich muss weinen. Wenn Gedanken brüchig klingen konnten, dann taten es Ambers gerade.
Nein!, herrschte ich sie an. Nicht weinen. Fieberhaft überlegte ich hin und her, wie ich sie aufmuntern konnte. Das … ist total peinlich! Die werden glauben, dass dich die Chemie zu Tränen rührt!
Mein Blick zuckte zu ihr, und anstatt zu weinen, umspielte ein leichtes Lächeln Ambers Lippen. Zum Glück. Wenn sie heulte, steckte sie mich immer damit an. Ich konnte nichts dagegen tun.
Es hat keinen Zweck, dachte sie nach einer Weile. Lass uns abgeben.
Ich atmete tief durch. Von mir aus. Mir fällt eh nichts mehr ein.
Hast du überhaupt eine einzige Frage allein beantwortet?
Ich warf ihr einen vorwurfsvollen Blick über die Schulter zu, den sie geflissentlich ignorierte. Ich hab meinen Namen auf jedes Blatt geschrieben!, konterte ich. Ich geh zuerst. Amber und ich gaben nie gleichzeitig ab, da das dann doch eine Spur zu verdächtig aussehen könnte.
Ich nahm Füller, Bleistift und Lineal – alles, was wir am Tisch haben durften – in die eine und meine Papierbögen in die andere Hand und stand auf. Als ich als Erste in meinem Jahrgang durch die Tischreihen mit verzweifelten Sechzehnjährigen schritt, reckte ich automatisch das Kinn. Ich fühlte mich wie eine gottverdammte Königin.
Gleichzeitig betete ich, dass ich nicht durchfallen würde.
Nachdem ich auf dem Flur meine Schultasche aus dem Meer von Rucksäcken gefischt hatte, wartete ich vor dem Gebäude auf Amber, die sich mehr Zeit ließ als gedacht. Wahrscheinlich war der blöden Kuh doch noch etwas über die Erhitzung von Kupferhyper-
Ach, was soll‘s.
Ich blinzelte ins Licht der Mittagssonne, wie man sie hier nur in den Sommermonaten zu Gesicht bekam. Aber selbst im Juli sollte man jede Sekunde genießen, die man mit ihr hatte, ehe eine Regenladung von zwei Monaten mit einem lauten Platsch! vom Himmel krachte.
Fünf Minuten später schlüpfte Amber aus dem Raum. »Endlich«, stieß sie hervor. »Nichts wie weg von hier!«
Wir lebten ungefähr eine halbe Stunde Fußweg von Readings Schule entfernt. Auch wenn uns der Bus viel schneller nach Hause bringen könnte, waren wir dazu übergegangen, zu laufen, weil uns ohnehin nur ein großes, gähnend leeres Haus voller schmerzhafter Erinnerungen erwartete. Unsere Schwester Fiona sah sich gerade nach etwas Kleinerem für uns um, aber obwohl sie immer einen auf superorganisiert machte, ließ sie dieses Projekt ziemlich schleifen. Vielleicht, weil sie genauso wenig wie wir wusste, was schlimmer wäre – in diesem Haus zu wohnen oder es für immer zu verlassen.
»Die letzte Prüfung ist rum! Das sollten wir heute feiern«, schlug Amber vor. »Zusammen mit Fiona.«
Ich warf ihr einen Seitenblick zu. »Wolltest du nicht mit PKL ins Kino gehen?«
Amber verdrehte die Augen. »Sie heißen Paula, Kristen und Lauren!«
»Aber das ist sooo lang«, stöhnte ich. »Und du weißt doch, wer gemeint ist.«
»Es ist einfach nicht nett. Sie sind doch auch deine Freunde!«
»Na ja. Ich bin nur immer da, wenn ihr miteinander abhängt.« Ich zuckte die Achseln. »Eine Extra-Amber, falls du mal zu beschäftigt damit bist, Joey hinterherzu-«
»Sch!«, zischte Amber. »Bist du verrückt?«
»Was?« In einer übertriebenen Drehung blickte ich mich um. »Ich kann ihn hier nirgendwo sehen.«
»Aber was, wenn jemand aus unserer Klasse das hört?« Amber tat es mir gleich, als glaubte sie wirklich, dass jemand außer uns vor Ablauf der Zeit seine Prüfung abgegeben hatte. »Dann bin ich ab morgen das Gespött der ganzen Schule!«
Ich lachte. »Gut, dass heute der letzte Tag war.«
Amber stockte. »Du … hast recht. Wow.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann kaum glauben, dass es vorbei ist.«
»Kannst du Oxford schon rufen hören?«, neckte ich sie.
»Ja«, brummte sie. »Es ruft, dass ich bleiben soll, wo der Pfeffer wächst.« Sie seufzte. »Was ist mit dir? Hast du dich inzwischen entschieden, was du machen willst?«
»Ich will wirklich, wirklich nicht studieren«, überlegte ich. »Allerdings will ich auch nicht arbeiten gehen.«
»Tut mir leid, dir das sagen zu müssen«, sagte Amber trocken. »Aber ich glaube, das sind deine einzigen beiden Optionen.«
»Ja, eigentlich hab ich sowieso keine Wahl.« Ich starrte zum Himmel hinauf. »Die eine von meinen zweihundert Bewerbungen, für die ich eine Zusage bekomme, wird es schon werden.«
Amber schnaubte. »Du siehst das Leben immer so einfach.«
Ich grinste sie an. »Du tust so, als wär das was Schlechtes.«
Nach einem Heimweg, der mir wie ein Marsch zum Mond vorkam, schafften wir es schließlich nach Hause. Ein paar Schritte von unserer Tür entfernt blieben wir jedoch unschlüssig stehen. »Du glaubst nicht, dass Fiona wieder gekocht hat, oder?«, fragte Amber vorsichtig.
»Ich hoffe nicht.« Ich erschauderte, als ich an das Mittagessen gestern dachte. Keine Ahnung, was es eigentlich werden sollte, aber ich hatte es auf den Namen Hexe auf dem Scheiterhaufen getauft. … der schon längst zu Staub und Asche verfallen und von dem nicht mal mehr etwas saftiges Hexenfleisch übrig ist.
Widerstrebend traten wir zur Tür. Amber sperrte auf, betrat als Erste das Haus – und drehte sich ruckartig zu mir um. O nein, sie hat gekocht! Erst dann stieg mir der Geruch von verbranntem Gemüse in die Nase.
Sollen wir abhauen, bevor sie was merkt?
Amber kam nicht dazu, mir zu antworten – stattdessen drang eine männliche Stimme an unsere Ohren. »… keine Zeit mehr.«
Wir erstarrten. Wer ist das?, formte Amber mit den Lippen, obwohl sie es auch einfach im Geist hätte sagen können.
Ich zuckte die Schultern. Die Stimme kam mir nicht bekannt vor. Seit dem Tod unserer Eltern waren wir ein reiner Frauenhaushalt. Hatte Fiona etwa einen sexy Buchhalter an Land gezogen?
Ich schob mich an Amber vorbei und durchquerte den schmalen, mit viel zu vielen peinlichen Kindheitserinnerungen gespickten Hausflur, an dessen Ende sich anstelle einer Tür ein einfacher Durchgang zu unserem Wohnzimmer befand. Erst an der Schwelle angekommen, sah ich, wer sich Fiona gegenüber auf unserem Sofa niedergelassen hatte. »Du hast kein Recht –« Als sie mich aus dem Augenwinkel erkannte, riss sie den Kopf zu mir herum. »Josie.« Sie sprang auf. »Amber. Ihr seid schon fertig?«
Ich blinzelte. »Wir, äh, wollten nicht stören.«
Der Kerl war eindeutig zu heiß für einen Buchhalter. Nicht, dass ich Männer in Fionas Alter heiß fand – ich dachte lediglich für sie mit. Er trug einen dunklen Hoodie unter einer Jeansjacke, und obwohl er saß, sah man an seinen langen Beinen sofort, wie groß er war – mindestens 1,80. Er hatte einen Dreitagebart und kurze, schwarze Haare, zu denen sich unter einer hohen Stirn und buschigen Brauen ein Paar stechend blauer Augen gesellte.
Er war so was von Fionas Typ.
»Nein!«, winkte sie ab und schob sich eine blonde Haarsträhne, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatte, hinters Ohr. Sie trug ein dunkelgraues Kostüm, das sie heute Morgen unter den zehn exakt gleichaussehenden dunkelgrauen Kostümen hervorgezogen hatte, die sie in ihrem alten Kleiderschrank gebunkert hatte. »Wir waren gerade fertig!«, wurde ihr Tonfall plötzlich scharf, als sie dem geheimnisvollen Fremden einen giftigen Seitenblick zuwarf.
Glück für ihn, dass er den Wink verstand. Eine wütende Fiona war noch schlimmer als die normale. Er erhob sich langsam. »Ich finde selbst raus«, murmelte er, ehe er sich auf uns zu bewegte. »Wir sprechen uns wieder.«
Fionas Kinnlade klappte herunter. »O nein! Wir sind so was von fertig!«
Verunsichert machten Amber und ich einen Schritt zur Seite, um den Kerl durchzulassen. Im Vorbeigehen streifte uns sein eisblauer Blick wie eine Berührung kalter Finger.
Fiona entspannte sich erst, als unsere Haustür ins Schloss gezogen wurde. Ihre Schultern sackten herab. »Tut mir leid, dass ihr das mit anhören musstet.« Sie stutzte. »Wie viel habt ihr gehört?«
»Einfach alles!«, gab ich zurück.
»Gar nichts«, machte mir Amber meinen Plan zunichte.
Fionas Blick zuckte zwischen uns hin und her. Aber sie kannte uns gut genug, zu wissen, wer von uns log. Wie langweilig. »Er war vom Jugendamt.« Sie zögerte. »Die Sache mit der Vormundschaft ist schließlich noch nicht in trockenen Tüchern.«
Ich runzelte die Stirn. »Findest du dann, dass es eine gute Idee war, ihn aus dem Haus zu werfen?« Ich stellte mir vor, wie der Mann bereits auf der Türschwelle seinen fiesen, kleinen Notizblock aus der Tasche zog, um einen weiteren Grund zu notieren, warum man Fiona keine Kinder anvertrauen durfte.
»Keine Sorge.« Abwehrend hob sie die Hände. »Er kann uns nichts tun. Und er kommt nicht wieder.« Sie hatte dieselben grünen Augen wie wir. Das war vielleicht das Einzige, was uns alle verband – nicht nur mit unseren Schwestern, sondern auch mit unseren Eltern. Die Ringe unter ihren Augen gehörten allerdings nur ihr. Inzwischen konnte sie sie nicht einmal mehr mit Make-up verdecken.
Amber räusperte sich zaghaft. »Also müssen wir nicht zu Onkel Magnus nach Schottland ziehen?«
Ich erschauderte. Schottland.
»Niemand zieht hier zu Onkel Magnus!« Fiona griff nach ihrer dunkelgrauen Kostümjacke, die sie achtlos auf die Couch geworfen hatte. »Dafür werde ich sorgen.«
Entgeistert schüttelte ich den Kopf. »Wie?! Sollte man nicht nett zu den Leuten sein, die darüber entscheiden?« Vor allem, wenn die über dein früheres Alkoholproblem Bescheid wissen?
»Vergesst den Kerl einfach.« Sie fand ihre Handtasche unter einem Sofakissen. »Ich muss zurück zur Arbeit. Essen ist in der Küche.« Sie legte mir im Vorbeigehen eine Hand auf die Schulter. »Bitte fackelt nicht alles ab, bis ich wieder da bin.«
Ich wechselte einen Blick mit Amber. Riechst du das?, fragte sie.
Ich schnaubte. Wer fackelt hier was ab?
Während Fiona aus dem Haus stürmte, folgten wir dem Geruch in die Küche – und sahen das Ausmaß dessen, was unsere Schwester verbockt hatte.
Ich verzog das Gesicht. »Da wird ja die Paprika in der Pfanne verrückt.« Falls man das, was unter immer dunkler werdendem Rauch vor sich hin schmorte, noch als Paprika bezeichnen konnte.
»Bestellen wir uns was?«, fragte Amber so trocken wie das Gemüse.
»Ist Fionas Kreditkarte noch in der App gespeichert?«
Wir schalteten die Herdplatte ab, und ich widerstand dem Drang, die Pfanne mit dem Feuerlöscher zu behandeln. Wir ließen uns an den Esstisch fallen, und Amber begann mit ihrem Handy zu hantieren.
»Sie sah nicht so aus, als wäre ihr heute nach Feiern zumute«, murmelte sie.
»Der ist doch nie nach Feiern zumute.« Zugegeben, Fiona war es noch schlimmer ergangen als uns. Nicht nur hatte sie ihre Eltern verloren – sie war auch noch dazu verdammt gewesen, ihren Job bei einer großen Bank in London aufzugeben und wieder nach Reading zu ziehen, um auf ihre kleinen Schwestern aufzupassen, bis sich diese nach dem Abschluss sowieso zwangsläufig in der Weltgeschichte verteilten. Und natürlich verbittert darum zu kämpfen, dass ihr Onkel Magnus nicht die Vormundschaft übertragen bekam – ein Mann, von dessen Existenz wir nicht mal etwas gewusst hätten, würden nicht jedes Jahr an unserem Geburtstag dubiose Geldbriefe in unseren Briefkasten flattern. Und damit meinte ich: Nackte Briefumschläge mit Geld darin. Die Nächstenliebe hatte bisher nicht mal für ne Grußkarte gereicht.
Ich glaubte, Fiona hatte nicht einmal Zeit gehabt, um um unsere Eltern zu trauern. Wir standen für sie an erster Stelle, und das, obwohl sie uns überhaupt nichts schuldig war. Sie war fünfundzwanzig, neun Jahre älter als wir. Als sie von zu Hause ausgezogen war, waren wir noch Kinder gewesen. Und jetzt würden wir gewissermaßen zu ihren Kindern werden.
»Ich hab ne Pizza bestellt.« Amber legte ihr Handy auf dem Küchentisch ab. »Wird wohl ne halbe Stunde dauern.«
»Cool.«
Stille breitete sich zwischen uns aus. Sie zog sich durch unsere große, warme Küche bis ins Wohnzimmer hinein durch den Flur und die Treppe hinauf bis zu den drei Schlafzimmern und dem Bad. Vielleicht erreichte sie sogar noch den Dachboden, der nur über eine Klappe in der Decke und eine Leiter zu erreichen war. Sie war so unbarmherzig, dass nicht einmal das Ticken der Küchenuhr gegen sie ankam.
Die Stille war unerträglich. Es war dieselbe Stille, in die sich unser Geburtstag vor zwei Wochen gehüllt hatte. Wir hatten nicht gefeiert, weil wir nicht in Stimmung gewesen waren. Fiona hatte uns nicht mal gratuliert. Wahrscheinlich wusste sie überhaupt nicht, wann wir Geburtstag hatten.
Ich beschloss, die Stille zu durchbrechen. »Willst du wetten, wer der Kerl wirklich war?«
Amber blinzelte. »Das hat Fiona doch schon gesagt.«
Ich zischte abfällig. »Und das hast du ihr geglaubt?«
Sie kratzte sich am Hinterkopf. »Hätte ich ihr nicht glauben sollen?«
»Ich denke, sie hat gelogen«, fasste ich meine Beobachtungen zusammen. »Mit dem Jugendamt würde sie es sich niemals verscherzen. Zumindest nicht mehr als sowieso schon.«
Amber sah mich zweifelnd an. »Also denkst du, dieser Kerl war ihr Freund?« Sie runzelte die Stirn. »Aber wieso hat sie ihn dann rausgeworfen?«
Ich zuckte die Achseln. »Vielleicht will sie ihre Affäre vor uns geheim halten.«
Sie stemmte einen Ellbogen auf die Tischplatte und bettete ihren Kopf in ihre Hand. »Warum sollte sie das tun?«
»Warum sollten wir ihr unsere Psychohirne vorenthalten?«
»Touché.« Sie senkte den Blick. »Sie hat uns nicht mal nach der Prüfung gefragt.«
»Vielleicht besser so.« Kohlenkupfer… »Dann gehen wir wohl doch mit PKL ins Kino«, schloss ich.
»Hör auf, sie so zu nennen!« Sie verzog die Lippen. »Das klingt wie irgendein geheimer Polizeibund oder so.«
Meine Stimmung sackte sofort ins Bodenlose. Ich wusste, dass mich Amber nicht an den Polizisten hatte erinnern wollen, der vor vier Monaten an unsere Tür geklopft hatte. Wir waren beide zu Hause gewesen und hatten ihm gesagt, dass unsere Eltern erst am Abend zurück wären.
Sie hatten freundlich darum gebeten, eintreten zu dürfen, und sich mit uns ins Wohnzimmer gesetzt – dort, wo sich Fiona und der Fremde vorhin niedergelassen hatten. Dann hatten sie uns erklärt, dass Mum und Dad nie wieder zurückkommen würden.
Der Amokläufer war nie zur Rechenschaft gezogen worden, weil er sich selbst das Leben genommen hatte. Niemand wusste genau, warum er das getan hatte oder weshalb er sich ausgerechnet das Krankenhaus in Reading ausgesucht hatte. Auch nach wochenlangen Nachforschungen hatte sich keine Verbindung zwischen dem Mann und der Klinik gezeigt. Es gab keinen Abschiedsbrief, keine radikalen Internetverläufe, keine schreckliche Vorvergangenheit. Der ganze Fall war ein Rätsel – ein Rätsel, bei dem man schon bald aufgehört hatte, es lösen zu wollen. Schließlich war die Gefahr gebannt, und nichts und niemand würde die Opfer je zurückbringen.
»Josie?«
Ich sah von meinen Händen auf.
Amber blickte besorgt drein. »Alles in Ordnung?« Meine Schwester war das absolute Gegenteil von mir. Sie war der Tag zu meiner Nacht. Sie war so gutherzig, so zerbrechlich. Ich hatte das Gefühl, sie beschützen zu müssen. Das bedeutete in erster Linie, dass ich sie von meinem eigenen Schmerz abschirmte.
Ich rang mir ein Lächeln ab. »Welcher Film läuft heute?«
DAS DARF DOCH NICHT WAHR SEIN!
Wenn es nichts anderes gab, worüber ich im Schlaf grübeln konnte, träumte ich vom Ertrinken. Wellen über Wellen aus rotem Wasser schlugen über mir zusammen, wann immer mein Kopf durch die Oberfläche brach. Sie begruben mich unter sich und zogen mich tiefer und tiefer in eine unendliche Schwärze. Sie zerrten an meinen Armen und Beinen, bis ich mit aller Kraft dagegen ankämpfen musste, um auch nur strampeln, geschweige denn schwimmen zu können. Ich spürte förmlich, wie die Energie aus meinem Körper gezogen und durch eine Eiseskälte ersetzt wurde, die mich binnen Sekundenbruchteilen von meinen Haar- bis in meine Zehenspitzen erfüllte. Irgendwann konnte ich die Luft nicht mehr anhalten. Mein Mund öffnete sich –
Josie! Etwas rüttelte mich an den Schultern und befreite mich aus dem roten Meer.
Ich riss die Augen auf – und sah Ambers Gesicht über mir. Das Leselicht, das auf ihrem Nachttisch brannte, warf gruselige Schatten in ihre Miene. Sie sah noch verängstigter aus, als ich mich fühlte. Ich kam mir benebelt vor, und mein Herz hämmerte schmerzhaft gegen meine Rippen, als wäre ich gerade wirklich drauf und dran gewesen, zu ertrinken. »Danke«, flüsterte ich.
Amber schüttelte den Kopf. »War es schon wieder derselbe Traum?« Sie rückte von mir ab, damit ich mich aufrichten konnte. Eigentlich hatten wir seit Jahren getrennte Zimmer – seit Fiona ausgezogen war, um genau zu sein. Aber nach der Sache mit unseren Eltern wollte keine von uns mehr allein sein.
»Ja.« Ich seufzte. »Ist es zu viel verlangt, von Regenbogeneinhörnern träumen zu dürfen wie jeder normale Mensch auch?«
Amber stand auf und kehrte zu ihrem Bett zurück. »Das muss doch irgendeine psychologische Bedeutung haben.« Ungefragt fischte sie ihr Handy vom Nachttisch.
»Lass stecken«, hielt ich sie davon ab, mein Seelenleben zwischen unseren Betten auszubreiten. »Ich kann mir schon vorstellen, was das heißt. Sie haben das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren«, zitierte ich ein beliebiges Horoskop. »Zögern Sie nicht, Ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Kommen wir nun zu Ihrem Liebesleben –«
»Findest du nicht, dass wir Fiona davon erzählen sollten?« Sie ließ sich auf ihrer Bettkante nieder und drehte ihr Handy in der Hand, als wäre sie unschlüssig, ob sie nicht doch einen Blick in die Psychologie meines düsteren Unterbewusstseins werfen sollte.
»Was sollte sie denn dagegen machen?« Ich starrte an die Decke. »Außerdem hat sie schon genug um die Ohren.«
»Du hast recht.« Sie seufzte leise. »Weißt du, ich hatte am Anfang auch Albträume. Aber ich habe das Gefühl, dass es besser wird, wenn ich die Kette trage.«
Ich runzelte die Stirn. »Wirklich?« Ich richtete mich auf und zog die Schublade meines Nachtkästchens auf. Darin lag eine Kette, an der ein Ring befestigt war – und direkt daneben der schmucklose Umschlag, in dem ich sie bekommen hatte.
Amber hatte genau dasselbe – mit dem Unterschied, dass mein Schmuck golden und ihrer silbern war. Er war uns ein paar Tage nach dem Amoklauf zugestellt worden – ohne Absender, dafür aber mit einer handgeschriebenen Notiz, die besagte: Der letzte Wille von Richard und Bernadette Smith. Ein eindeutiger Hinweis, dass es nicht von Onkel Magnus kommen konnte, denn die paar Worte wären wahrscheinlich schon zu viel Aufwand für ihn gewesen.
Ich zog die Kette heraus und wog den Ring in meiner Hand. Er war etwas zu groß, als dass ich ihn an meinem Finger hätte tragen können, doch das wollte ich auch nicht.
Ich glaubte nicht an Hokuspokus. Womöglich gab es irgendeine tiefenpsychologische Erklärung, weshalb das leichte Gewicht des kalten Stahls auf ihrer Brust Amber beruhigte. Aber wir waren Zwillinge – und wenn es bei ihr klappte, gab es keinen Grund, warum es mir nicht helfen sollte.
»Also gut.« Ich legte die Kette um meinen Hals und mich wieder in mein Bett. Eine Weile drehte ich den Ring zwischen den Fingern. Ich wusste nicht, welche Bedeutung diese Schmuckstücke für unsere Eltern gehabt hatten. Ihre Eheringe hatten anders ausgesehen – schlichter, wenn man bedachte, dass dieser hier ringsum mit kleinen, stechend roten Steinen verziert worden war.
Glasklar war jedoch die Bedeutung, die dieser Ring für mich hatte. Durch ihn fühlte ich mich auf eine Weise mit Mum und Dad verbunden, wie ich es nicht einmal dann gespürt hatte, als sie noch am Leben gewesen waren. Sie hatten gewollt, dass ich das hier bekam. Und deshalb würde ich diesen Ring in Ehren halten. Er war alles, was mir von ihnen geblieben war.
Der erste Tag unserer Ferien war seltsam. Nicht mehr in den Unterricht zu müssen, war ein großartiges Gefühl – aber es fühlte sich nicht richtig an. Als wir am Nachmittag in Richtung Einkaufszentrum schlurften, kam ich mir so vor, als würde ich etwas Verbotenes tun. Doch die Schule war vorbei, und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich absolut keine Verpflichtungen. Ich war völlig unbeschwert und konnte meine neue Freiheit einfach nur genießen.
Ganz im Gegensatz zu Amber, die nicht einmal ein Schokoladeneis davon abhalten konnte, den gesamten Heimweg über von Oxford zu sprechen. »Ich habe mich bei gefühlt allen Colleges beworben«, beschwerte sie sich. »Und noch keine einzige Antwort bekommen! Wie lange kann das dauern?«
»Vielleicht solltest du erst mal warten, bis die Deadline rum ist«, riet ich ihr. Während Ambers Eis über die Waffel und auf ihre Hand zu laufen begann, schob ich mir die Reste meiner Portion in den Mund. Wir waren auf dem Weg nach Hause. Fiona hatte inzwischen über das Radio mitbekommen, dass wir unsere letzte Abschlussprüfung geschrieben hatten – über das verdammte Radio! Jedenfalls hatte sie vorgeschlagen, uns zum Essen in unsere Lieblingspizzeria einzuladen. Dass wir gestern genau dort bestellt hatten, hatten wir ihr lieber nicht gesagt, den Karton vorsorglich aus dem Abfall gefischt und ihn in einer Mülltonne zwei Ecken entfernt versenkt, wo sie ihn niemals finden würde.
Wir kamen jedoch nicht annähernd bis nach Hause. Gerade als die Geschäfte spärlicher wurden und ein paar Reihen aus Wohnhäusern Platz machten, hielt uns eine fremd-vertraute Stimme zurück: »Was dagegen, wenn ich euren kleinen Spaziergang unterbreche?«
Wir drehten die Köpfe und blieben stehen. An der Hauswand in einigen Schritten Entfernung lehnte – groß, dunkelhaarig, blauäugig – der Kerl von gestern.
Was hat Fionas Freund hier zu suchen?, fragte Amber irritiert.
Vielleicht will er uns kennenlernen, bevor er uns adoptiert.
Sehr witzig, Josie.
Der Mann stieß sich von der Wand ab und machte einen langen Schritt auf uns zu, ehe er innehielt. Er hatte sich die Kapuze seines Hoodies bis über die überdimensionale Stirn gezogen, obwohl es nicht annähernd nach Regen aussah. In dem Schatten, den sie in sein Gesicht warf, blitzten seine Augen umso heller hervor. »Ich nehme an«, sagte er gedehnt, »eure Schwester hat euch immer noch nicht die Wahrheit gesagt.«
Amber und ich starrten uns an. Also geht es doch um die Vormundschaft?
Fiona hätte ihn nicht rauswerfen sollen!
Bringt er uns jetzt zu Onkel Magnus?
Verdammt, ich hasse Schottland!
Du warst doch noch nie –
Warte. Braucht er nicht einen Haftbefehl oder so, um uns mitzunehmen?
Ich bin mir nicht sicher, ob das so läuft …
»Sieh mal einer an«, unterbrach der Beamte unsere Geheimkonversation. »Sagt bloß, ihr sprecht in Gedanken miteinander.«
Zeitgleich rissen wir die Köpfe herum. Woher weiß er das?
Er kann es überhaupt nicht wissen!
Der Mann lächelte leicht. »Habt ihr euch noch nie gefragt, woher diese Gabe kommt? Und warum ihr die Einzigen seid, die sie einsetzen können?«
Ich schluckte. Ich fühlte mich enttarnt. Seit unserer frühesten Kindheit hatten wir niemandem davon erzählt – schon gar nicht Fiona. Und er bekam es in fünf Sekunden raus?
Meinst du, er kann unsere Gedanken lesen?, fragte Amber panisch.
Ich glaube nicht. Sonst hätte er längst die Sache mit der Adoption kommentiert. Ich schüttelte den Kopf. »Wer zur Hölle bist du?«
»Mick Ainsworth«, sagte er mit rauer Stimme. »Ich bin … ein alter Bekannter eurer Schwester – und eurer Eltern.«
Alter Bekannter. Das klang nicht nach einem festen Freund. Aber warum trat dieses verheißungsvolle Funkeln in seine Augen, wenn er von unseren Eltern sprach?
O mein Gott. Meinst du, er wird das der Schulbehörde melden? Ich konnte Ambers Angst davor, ihr Stipendium nicht zu bekommen, förmlich auf der Zunge schmecken. Dass wir die Prüfungen gemeinsam geschrieben haben?
Ich musterte den Kerl von oben bis unten. Irgendwie glaube ich nicht mehr, dass er für den Staat arbeitet.
»Und ihr seid«, fügte er hinzu, »Josephine und Amber, die jüngsten Töchter von Richard und Bernadette.«
Meine Augenbraue zuckte. »Danke, das wussten wir selbst.«
»Natürlich.« Wieder kam Mick einen Schritt näher. Teilte er die Gesamtentfernung auf kleinere Etappen auf, weil er hoffte, dass wir es dann nicht bemerken würden? »Aber wusstet ihr auch, wer sie wirklich waren?«
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Amber zurückwich. Josie, flüsterte sie. Mir gefällt dieser Kerl nicht.
Mir auch nicht. Lass uns gehen. »Wir sind hier fertig«, teilte ich Mick mit, ehe wir herumwirbelten und den Weg nach Hause einschlugen.
Wir kamen nicht weit. »Ihr wollt also nicht wissen, was mit euren Eltern passiert ist?«
Abrupt blieb ich stehen. Langsam drehte ich mich zu Mick um, und Ärger stieg in mir auf. Wer war dieser Kerl, auch nur von ihnen zu sprechen – geschweige denn, so zu tun, als wüsste er mehr als die Menschen, die in dem Fall ermittelt hatten? »Ist das ein schlechter Scherz?«
»Was weißt du?« Ich konnte Amber nicht daran hindern, zwei Schritte zurück in Micks Richtung zu gehen.
Nichts!, rief ich ihr gedanklich nach. Er spinnt. Er kann nicht mehr wissen als wir.
»Nicht viel mehr als ihr«, lenkte er ein.
Sag ich doch!
»Aber ich kann euch auf den richtigen Weg lenken. Euch an den Ort bringen, an dem ihr alles erfahrt, was ihr über sie wissen müsst.«
»Amber«, zischte ich, weil sie meine Gedanken nicht zu hören schien – oder es nicht wollte. »Lass uns gehen.«
Doch sie beachtete mich nicht. »Nicht viel mehr als wir«, wiederholte sie. Als würde ihr erst jetzt auffallen, dass ihr Unmengen an klebrigem Eis über die Hand liefen, ließ sie ihre Waffel fallen. Diese stürzte zu Boden und das restliche Eis spritzte auf ihre rosafarbenen Sneakers. »Aber immer noch mehr als wir.«
»Richtig.« Micks Miene wurde finster. »Eure Eltern sind für euch gestorben. Um euch zu beschützen.«
Amber stockte. »Was?«
»Okay.« Ich machte einen Satz vorwärts und packte sie am Handgelenk. »Das reicht.« Wir waren so was von raus.
Doch allein mit seiner Stimme ließ Mick uns beide am Boden festwachsen. »Josephine. Amber. Ich sage es nicht gerne, aber ihr seid in größter Gefahr. Und jede Sekunde, die ihr hier verbringt, wird es schlimmer.«
Entgeistert schüttelte ich den Kopf. »Wovon zum Teufel sprichst du?« Klang ja fast so, als hätte man einen Auftragskiller auf uns angesetzt – doch der einzige Kandidat dafür war Mick selbst.
»Ihr seid nicht, wer ihr glaubt zu sein«, erklärte er nüchtern. »Ihr seid mehr – viel mehr. Und ihr müsst lernen, die Kräfte anzuwenden, die man euch geschenkt hat.« Plötzlich setzte er sich in Bewegung – und diesmal hatte er offenbar nicht vor, wieder stehenzubleiben.
Verunsichert wichen wir einen Schritt zurück. Ich fühlte mich wie benebelt. Wer war Mick Ainsworth – und was wollte er von uns?
»Ihr müsst lernen, euch zu verteidigen«, drängte er uns. Er atmete tief ein. »Lazarus.«
Ich stutzte. »Was?«
»Ihr müsst sofort damit anfangen.« Im nächsten Moment war er verschwunden – und tauchte in meinem Augenwinkel wieder auf. Amber schrie auf, als er sie grob am Arm packte. Er zog sie so ruckartig weg, dass sich meine Finger um ihr Handgelenk lösten. »Sofort!«, rief er so laut, dass seine Stimme meinen Schädel zum Vibrieren brachte.
Auf einmal war da keine Sonne mehr. Unzählige dunkelblaue Gewitterwolken hatten sich vor sie geschoben – aber nicht nur das. Sie zogen sich wie ein dichter Nebel um uns herum und ließen alle Häuser und Straßen verschwinden. Da waren nur noch Amber und ich – und der Mann, der sie mit einer einzigen Berührung zum Schreien brachte.
Erst als sie auf die Knie sackte, sah ich, was passierte. Mick hielt ihren Arm umklammert – von dem laut zischend schwarze Rauchschwaden aufstiegen. Der Geruch von verbranntem Fleisch stieg mir in die Nase. »Josie!«, kreischte Amber und versuchte verzweifelt, sich von Mick loszumachen – vergeblich.
»Wehr dich!«, herrschte er sie an und grub seine Finger umso tiefer in ihre Haut. Ich wusste nicht, wie oder warum – aber er würde aus ihr Paprika à la Fiona machen.
»Lass sie in Ruhe!« Ich stürzte zu ihnen – und wurde von einer unsichtbaren Wand zurückgeworfen. Im nächsten Moment landete ich mit voller Wucht auf dem Boden. Schmerz zuckte durch meine Hände und meinen Rücken und raubte mir kurzzeitig den Verstand. »Amber!«, rief ich, doch ihre Schreie verschluckten meine Stimme. Panik machte sich in mir breit. Ich sprang auf die Füße und begann wieder zu rennen. »Du verdammter –«
Als ich diesmal gegen die Wand prallte, quetschte mir der Zusammenstoß alle Luft aus den Lungen. Erneut landete ich auf dem Asphalt, und für einen Moment tanzten schwarze Flecken vor meinen Augen.
»Bitte!«, flehte Amber. Ihre tränenerstickte Stimme wurde schwächer.
Die Wut kochte so plötzlich in mir hoch, dass ich mich nicht mehr unter Kontrolle hatte. Sie brachte meinen Körper zum Erbeben, als ich mich abermals aufrichtete – langsam, weil mich die Energie, die sich in meinem Inneren anstaute, sonst zum Explodieren bringen würde. Ich richtete meinen Blick auf Mick. Niemand tat meiner Schwester weh. Niemand.
Meine Lippen teilten sich wie von selbst – so, wie sich mein Arm hob. »Ich sagte«, stieß ich unter zusammengepressten Kiefern hervor. Der Schrei, der dann aus meiner Kehle drang, klang nicht mehr wie ich selbst: »Lass. Sie. In. Ruhe!« Dieselbe Wucht, die mich von Mick zurückgeschleudert hatte, schoss aus meiner Hand und riss ihn von den Füßen. Amber stürzte zu Boden, während der Mann geradewegs durch den Nebel brach. Kaum, dass er darin verschwunden war, ebbte mein Zorn ab.
»Am-«, wollte ich ihren Namen rufen, doch plötzlich gaben meine Beine unter mir nach. Ich sackte auf die Knie, und auf einmal schlug mir mein Herz bis zum Hals. Meine Lunge brannte, als wäre ich einen Marathon gelaufen, und meine Glieder fühlten sich schwer und müde an wie noch nie in meinem Leben zuvor. Ich schaffte es kaum, mich auch nur auf den Knien zu halten. Hilflos hob ich den Blick – und sah, wie Amber irritiert den Arm vor ihr Gesicht riss.
Er war unversehrt.
Langsam drehte sie den Kopf und starrte mich an. »Das hier ist nicht real«, hauchte sie.
Plötzlich war es wieder hell um uns herum. Amber und ich standen nebeneinander, Mick lehnte nach wie vor an der Hauswand. »Glückwunsch«, sagte er – oder vielmehr, keuchte er, als wäre er genauso erschöpft, wie ich mich fühlte. »Ihr habt den Test bestanden.«
»Test?«, stieß ich hervor und musste all meine Selbstbeherrschung aufwenden, um nicht wieder zu Boden zu gehen. Mir wurde schwindelig. Mein Gehirn konnte nicht verarbeiten, dass es eben noch finster gewesen war und jetzt hell. Dass ich gerade noch gekniet hatte und jetzt fest auf beiden Füßen stand. Dass Mick verschwunden und jetzt zurück war. »Was für einen Test?«
»Ein Test, der offenbar dringend nötig war, um eure Kräfte zu erwecken.« Er atmete schwer. Dabei hatte er sich doch überhaupt nicht vom Fleck bewegt. Oder? »Ihr seid mächtiger, als ich dachte.«
Ich grunzte belustigt und irritiert. Hatte ein Mitte-zwanzigjähriger Mann gerade zwei Sechzehnjährige als mächtig bezeichnet?
»Ein Grund mehr, euch an den Ort zu bringen, an den ihr rechtmäßig gehört«, fuhr er lauter fort. »Wenn ihr nicht freiwillig nach Hause kommt, werde ich euch unter Zwang dorthin schaffen.«
Ich runzelte die Stirn. »Zufällig waren wir gerade auf dem Weg nach Hause, bis du uns aufgelauert hast wie ein alter Pädo-«
»Nicht Reading«, unterbrach Mick mich gelassen. »Mick.« Binnen eines Wimpernschlags war er verschwunden, doch seine Worte hallten mehrfach in meinem Kopf wider.
Ein paar Sekunden lang blieb es stockstill. Ich konnte nicht verarbeiten, was gerade passiert war.
Genauso wenig meine Schwester. Verwirrt sah sie mich an. »Hat er Mick gesagt?«
»Ich sag‘s doch«, brummte ich. »Der Kerl hat sie nicht mehr alle.«
Unschlüssig starrten wir auf die Stelle, an der er eben noch gestanden hatte. Was war das? Eine … Illusion?, fragte sie ungläubig.
Hätte ich nicht gesehen, was ich gesehen habe, hätte ich das nie behauptet, aber … ich glaube, ja.
Amber berührte mich am Arm, als befürchtete sie, ich könnte auch jeden Moment verschwinden. Mir fiel auf, dass sie ebenfalls erschöpft war. Aber warum – wenn wir uns doch die ganze Zeit über nicht von der Stelle gerührt hatten? Wie in aller Welt hat er das gemacht?, fragte sie. So was sollte doch überhaupt nicht möglich sein.
Ich zuckte die Achseln. Genauso wenig wie …
Telepathie. Amber atmete tief durch. »Wir sollten Fiona davon erzählen. Egal, ob er ihr Freund, Sachbearbeiter oder alter Bekannter ist – sie sollte davon wissen.«
