In mir ein Meer - Claudia Lewin - E-Book

In mir ein Meer E-Book

Claudia Lewin

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Beschreibung

"Wenn ich jetzt eines weiß, dann ist es, dass man durch Türen, die einem geöffnet werden, selbst hindurchgehen muss. Und zwar, bevor sie für immer zufallen." Die neue Kollegin ist Anne von Anfang an sympathisch. Wenn sie ehrlich zu sich ist, schlägt diese Benita regelrecht Wellen in ihr. Doch da sind schließlich Martin und die Kinder … Fasst Anne den Mut, Farbe zu bekennen?

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Claudia LewinIn mir ein Meer

DIE AUTORIN

Claudia Lewin wurde 1972 geboren.Sie studierte Germanistik und Biologie.Heute lebt sie im Rhein-Main-Gebietund arbeitet mit Jugendlichen.»In mir ein Meer« ist ihr erster Roman.

Claudia Lewin

In mirein Meer

Roman

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie: http://dnb.d-nb.de.

eISBN 978-3-89741-999-5

© 2014 Copyright Ulrike Helmer VerlagSulzbach/Taunus. Alle Rechte vorbehaltenCovergestaltung: Atelier KatarinaS / NL unterVerwendung des Fotos »Luftblasen inkühlem Wasser« © unpict – Fotolia.com

Ulrike Helmer VerlagNeugartenstraße 36c, D-65843 Sulzbach/TaunusE-Mail: [email protected]

www.ulrike-helmer-verlag.de

Für die wunderbare Frau an meiner Seite

Ein Dankeschön

… an alle, die mich unterstützt haben durch ihre Begeisterung, ihre Bereitschaft zum Korrekturlesen und ihr ehrliches Feedback.

Ein besonderes Dankeschön an diejenige, die mich regelmäßig danach gefragt hat, was denn das Schreiben macht und mich dazu ermutigt hat, über das zu schreiben, was mir persönlich spannend erscheint.

Nicht zuletzt ein ganz besonders tief empfundenes Dankeschön an die wunderbare Frau an meiner Seite, die mich geduldig und mit viel Begeisterung darin unterstützt, meine Träume zu leben.

Aber in der Geschichte wie im menschlichen Leben bringt Bedauern einen verlorenen Augenblick nicht mehr wieder, und tausend Jahre kaufen nicht zurück, was eine einzige Stunde versäumt. (Stefan Zweig, Sternstunden der Menschheit)

INHALT

ANNE

HELGA

ANNE

HELGA

ANNE

HELGA

BENITA

ANNE

SUSANNE

ANNE

SUSANNE

BENITA

ANNE

BENITA

ANNE

HELGA

BENITA

ANNE

BENITA

ANNE

SUSANNE

ANNE

BENITA

ANNE

BENITA

ANNE

BENITA

ANNE

BENITA

ANNE

BENITA

ANNE

BENITA

ANNE

BENITA

ANNE

MARTHA

ANNE

ANNE

Wenn ich eines jetzt weiß, dann ist es, dass man durch Türen, die einem geöffnet werden, selber hineingehen muss. Und zwar, bevor sie für immer zufallen.

Ich starre sie an, diese Tür. Stumm. Weiß lackiertes Holz umrahmt Milchglas. Der flüchtige Schatten ihres türkisfarbenen Pullovers, eingefangen im Rechteck. Verschwommen und beim nächsten Lidschlag schon entwischt. Schritte, die sich entfernen, kurzes Innehalten, das Überstreifen der Jacke. Stoff knistert leise über das Türkis, das ihr so gut steht.

Das sie auch trug, als ihre Lippen an meinem Hals mir zum ersten Mal diesen wohligen Schauer über den Rücken flüsterten. In jener versteckten Sackgasse des Irrgartens, überrascht vom plötzlichen Alleinsein. Um uns herum hinter den hohen Hecken die johlenden Kollegen, Zurufe gemischt mit Lachanfällen. Eine abweichende Entscheidung an einer Wegkreuzung, entgegengesetzte Richtung.

»Wo wollt ihr hin? Hier entlang!«

Ein Blick und ihre Antwort, die unausgesprochen auch meine war.

»Wir probieren es hier.«

Vorbei an hohen Hecken, Hand in Hand um Ecken herum, übermütig in immer neue, fremde, grüne Gänge. Ein weiteres Mal noch und dann gefangen im dunkelgrünen Schatten der Sackgasse.

Gekicher, überspielte Verlegenheit.

Wieder ihre Augen und meine. Wieder dieses wortlose Verstehen. Ihre Augen erzählten mir ihre innersten Gedanken. Sie berührten mich und machten mir zugleich Angst.

Ich möchte weiter in ihrem dunklen Blick versinken, von ihrer Sehnsucht kosten, die sich mit meiner vermischt.

Mein Atem versiegte, drückte schwer in mich hinein und schmeckte den bittersüßen Schmerz. Bis die Angst gewann, meine Lungen nach Luft schnappten und meine Stimme sich wie eine Fremde um den Kehlkopf herum nach draußen schlich.

»Das war wohl der falsche Weg.«

Dann ihr bezauberndes Lächeln, von dem ich nie genug bekomme, das mich aus jeder Tiefe reißt. Hingegeben im dunkelgrünen Schatten.

Ungläubig beobachtete ich ihre Hand, die sich auf mich zu bewegte und mir zart das Haar hinters Ohr strich. Ihr Gesicht, das sich lächelnd näherte und mein Herz stolpern ließ. Ihre Lippen an meinen vorbei zu der Stelle am Hals unmittelbar unter meinem linken Ohr. Dann alles ein Flüstern, warmes Hauchen, wundersamer Schauer.

»Ich denke, für uns war das genau der richtige. Meinst du nicht?«

Meine Antwort, meine scheue Zustimmung stand mir in den Augen, während meine Hände leise zitterten. Sie hielt sie fest und las, was ich nicht sagen konnte. Sie verstand und fasste endlich den Mut über all meine Ängste hinweg.

Ein Kuss im dunkelgrünen Labyrinth.

Wieder höre ich ihre Schritte durch die angelehnte Wohnzimmertür. Ihr türkisfarbener Schatten ist verflogen. Nur ihr Duft kann sich noch nicht entscheiden zu gehen. In meinen tiefen Atemzug fällt das Geräusch der Haustür, die sie von außen zuzieht. Noch immer kommt kein Wort über meine Lippen.

In mir tobt ein Meer, angetrieben von den Peitschenhieben meines Herzens.

Martin wird bald kommen.

Ich lasse mein Gesicht in meine Hände fallen.

Die Wellen schlagen unvermindert weiter gegen die Ufer meiner Seele, suchen einen Weg nach draußen.

Warum brechen die Tränen so leicht aus mir heraus und warum tun sich die Worte so schwer?

Eine klare Frage. Ihre berechtigte Frage schwebt wie ihr Duft noch im Raum. Die Antwort darauf aber bleibt in mir, unter Wasser begraben.

Ein Geräusch unterbricht mein stilles Schluchzen. Die Haustür wird geöffnet. Kommt sie zurück?

Martins freundlicher Gruß.

Meine Tränen versickern eilig im Taschentuch.

Martins Lächeln im Türrahmen.

»Hallo, Schatz.«

Sein schlaksiges Übergehen meiner Traurigkeit.

»Na, endlich Urlaub?«

Sein Arm auf meiner Schulter.

»Soll ich uns zur Feier des Tages mal das Abendessen machen?«

Seine bärtigen Lippen an meiner Wange.

»War das heute stressig im Büro.«

Sein Topfgeklapper in der Küche.

»Möchtest du dein Spiegelei sunny-side up?«

Sein Aftershave, das ihren Duft verdrängt.

»Wie war dein Tag im Labor?«

Ich bleibe ihm die Antworten schuldig. Weil es Fragen gibt, die wichtiger sind. Weil eine Frage wichtiger ist.

Ihre Frage.

Die ich nur denken, aber nicht aussprechen kann.

Ich zwinge mich aufzustehen. Vernünftig zu sein. Stemme mich mit dem letzten Rest an Willenskraft, der mir geblieben ist, gegen mich selbst und schiebe mich die Treppe hinauf ins Badezimmer. Kühl rinnt das Wasser über meine Wangen. Wischt für einen Moment die Gedanken an die gerade vergangene Stunde fort. Verjagt den Schleier vor meinem Blick. Ich greife nach dem fein geschwungenen Flakon auf der gläsernen Ablage. Mein Lieblingsduft, der mir hilft, ihren für eine Weile zu verdrängen. Ich verspüre das Bedürfnis, meine Bluse zu wechseln. Meine Bluse, an der noch ihre Umarmung haftet.

Umarmungen zur Begrüßung und zum Abschied, die schon so lange zur Gewohnheit geworden sind zwischen uns. Heute jedoch ist sie einfach gegangen. Vertrieben von meinem Schweigen, das nicht nur sie, sondern auch mich zerreißt. Ein Schweigen, das Schwere zurückgelassen hat, während die Leichtigkeit Hand in Hand mit der fehlenden Umarmung durch die Tür entwischt ist.

Ich hole eine cremefarbene Bluse aus dem Schlafzimmer, streiche einige Male mit der Bürste durch mein Haar, überprüfe mein Spiegelbild, lege doch noch etwas Wimperntusche auf und gehe wieder hinunter ins Erdgeschoss. Als ich die Küche betrete, dreht Martin sich lächelnd um.

»Kann ich dir noch was helfen?«, frage ich.

»Gut siehst du aus, Schatz.«

Er lässt die Bratpfanne los und nimmt mich in seine kräftigen Arme.

»Und du duftest zum Anbeißen.«

Sanft knabbert er an meinem Hals und lacht. Unser altes Spiel, von dem ich genau weiß, worauf es hinausläuft. Ich spüre, wie sich etwas in mir verzweifelt sträubt. Etwas in mir, etwas sehr Starkes, will heute nicht spielen. Nicht dieses Spiel und auch kein anderes. Es will alleine sein und nachdenken, zur Ruhe kommen. Ich schlage ihm einen Kompromiss vor, um Martins, aber auch um meinetwillen. Ich brauche Ablenkung von mir und meinen Gedanken. Und von dem Türkis, das noch immer meine Sinne vernebelt.

»Ich decke schon mal den Tisch.«

Mit diesen einfachen und doch so rettenden Worten winde ich mich aus Martins Umarmung und hole zwei Teller aus dem Schrank über der Spüle. Im Wohnzimmer stelle ich sie auf den Esstisch, an dem ihre Anwesenheit noch spürbar ist. Seufzend rücke ich ihren Stuhl gerade, öffne die Terrassentür und hoffe, dass sie sogleich nach draußen verschwindet.

Das Abendessen verläuft harmonisch. Wie immer mit Martin. Begeistert erzählt er von seinem Arbeitstag. Selten habe ich einen so zufriedenen und ausgeglichenen Menschen wie Martin erlebt. Als Professor für Germanistik geht er völlig in der Literatur und in der Arbeit mit »seinen Studentinnen«, wie er stets sagt, auf.

»Meine neue Vorlesungsreihe zur Literatur der Gegenwart kommt sehr gut an. Es macht richtig Freude, zu sehen, wie im Laufe der eineinhalb Stunden eine Studentin nach der anderen ihre Nagelfeile beiseite legt und endlich nach vorne schaut.«

Grinsend gönnt sich Martin einen Schluck Bier.

»Habe ich dir schon erzählt, dass ich eine Strichliste angelegt habe für jede, die zum Wohle der großen Gegenwartsautoren dem Nägelfeilen entsagt?«

Er schaut mich lachend an und ich schüttele schmunzelnd den Kopf. Ich kann nicht anders. Er schafft es immer wieder, meine traurigen Gedanken zu vertreiben, zumindest für einen Moment.

»Aber sag, wie war dein Tag, Anne?«

Die Art und Weise, wie er meinen Namen ausspricht. Rund fließend, voll.

Hat er doch etwas gemerkt?

»Ich bin froh, dass ich nun Urlaub habe«, antworte ich ehrlich.

Dazu sein verständnisvolles Lächeln und zahllose Fältchen, die seine Augen umspielen. Er weiß, dass er jetzt besser nicht tiefer in mich dringt, kennt mich zu gut. Stattdessen lädt er mich ein, mit ihm spazieren zu gehen und akzeptiert es, dass ich seine Hand heute nicht halten möchte. Auch mein Schweigen unterbricht er nicht. Seine ruhige Gegenwart tut mir gut und wühlt doch alles in mir auf.

Nicht einschlafen können. Qual. Potenziert durch niemals enden wollende Gedanken, die sich aufführen wie Wespen, die im Sommer einen Frühstückstisch umkreisen. Unruhig. Vibrierend. Wespen, die sich nur für kurze Dauer auf einem Stück Schinken niederlassen und noch im Niederlassen bereit sind zum eiligen Aufflug. Gedankenwespen ohne Ruhe, die einem keine Sekunde Zeit lassen, sie genauer zu betrachten, sie zu vertiefen.

Mein Herz schlägt so schnell wie zuletzt vor der Abiturprüfung meines Sohnes vor einem Jahr. Wie wohl alle Mütter war auch ich viel aufgeregter gewesen als er selbst. Ich war an jenem Morgen bereits mit Herzklopfen aufgewacht, während Jonas mit bewundernswerter Gelassenheit sein Müsli aß. Seine ältere Schwester kam da eher nach mir.

War es am ersten oder zweiten Tag nach den Semesterferien gewesen, als Helga mir Benita vorstellte? Die neue Kollegin, Tochter von Helgas bester Freundin Martha. Vierunddreißig und auf Anhieb sympathisch. Schlank, in Jeans und weißer Bluse. Sie trank gerade einen Schluck Kaffee aus einer der roten Bechertassen, die Professor Gerhard anlässlich seines zwanzigjährigen Dienstjubiläums spendiert hatte. Als Helga meinen Namen sagte, blickte sie auf und verschluckte sich. Hustend wendete sie sich ab, bevor sie mir endlich ihre Hand entgegenstreckte.

»Sie sind also Anne Meinhold. Helga und Ron haben mir schon viel von Ihnen erzählt.«

Ihre warme Hand, der sanfte Druck. Ihr Blick, der mich ganz ich sein lässt. Die Erinnerung an diesen Augenblick, an das Lächeln, das ihm folgte, lässt mich unwillkürlich seufzen.

Hatte ich sie nicht auf Helgas Bitte hin durch das Labor und den Rest des Gebäudes geführt? Ihr alles gezeigt? Oder zumindest das, was am Anfang lebensnotwendig war? Natürlich hatte ich sie gleich gemocht. Warum auch nicht? Sie machte es einem leicht, sie zu mögen.

Martin neben mir atmet ruhig und gleichmäßig. Ich versuche mich auf seinen Atem zu konzentrieren.

Ob es Maya wohl gut geht? Was sagte sie gestern am Telefon? Man hatte ihr einen Job in der Bibliothek angeboten? Meine Tochter würde ihren Weg schon machen.

Sie wusste schon als kleines Mädchen genau, was sie wollte. Eine Eigenschaft, die sie sich von ihrem Vater abgeschaut hatte. Martin ist ebenso zielstrebig. Gradlinig. Konsequent. Auch jetzt folgt sein Atem einem zuverlässigen Rhythmus.

Plötzlich habe ich das Bedürfnis, ihn zu betrachten. Ich öffne die Augen und starre in die Dunkelheit, bis ihnen das schwache Mondlicht, das sich durch die Ritzen des Rollladens stiehlt, genügt, um die dunklen Umrisse seines Gesichts zu erkennen. Schemenhaft, sich selbst verwischend.

Benitas Bild drängt sich vor mein inneres Auge.

Dann Maya, lachend, als sie erfuhr, dass man sie für ein Auslandssemester an der Universität von Toronto akzeptiert hatte.

Mayas strahlende, grüne Augen, die jetzt die Farbe wechseln und zu Benitas Augen werden. Zu ihren graublauen Augen, die mir als tausendfaches Echo die Frage stellen, die ihre Lippen vor ein paar Stunden ausgesprochen haben.

Ich schüttele den Kopf in der Hoffnung, damit die quälenden Bilder zu vertreiben. Ich spüre Feuchtigkeit zwischen meinen aufeinander gepressten Wimpern. Ich will nicht weinen! Ich schlucke das Bild hinunter und wische ihre Augen mitsamt meiner Tränen aus meinem Blick.

Ich zwinge mich, erneut die Augen zu öffnen und Martin anzusehen, meinen Mann. Meinen Mann, der friedlich schläft und von all dem nichts ahnt. Niemals ahnen soll.

Das hier ist meine Realität. Das andere nur ein flüchtiger Moment, entliehen aus meinen Träumen. Ein flüchtiger Moment, der mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Dem ich nicht erlauben würde, meine Welt zu zerstören. Ein Traumbild, das mit dem Augenaufschlag am nächsten Morgen ins Dunkel des Vergessens entweicht. Genauso wie all die anderen Momente auch.

Unten wird die Haustür geöffnet. Das muss Jonas sein. Ich drehe mich um und schaue auf den Wecker. Halb drei. Mein Sohn ist ein Nachtmensch. Ich lausche seinen rücksichtsvollen Schritten auf der Treppe. Der Toilettenspülung, dem Wasserhahn. Höre, wie er leise seine Zimmertür schließt. Ein beruhigendes Geräusch in der nächtlichen Stille, das mich endlich in den Schlaf sinken lässt.

HELGA

Als das Telefon heute Nachmittag klingelt und Ron mal wieder nicht abhebt, ist mir sofort klar, dass dieser Anruf nichts Gutes bedeutet. Es ist eines dieser Bauchgefühle, die ich in den letzten Monaten häufiger verspüre und auf die zu hören ich noch lernen muss. Noch wird mir ihre Wichtigkeit erst im Nachhinein klar, nämlich dann, wenn sich mir ihre Bedeutung erschließt. Was darauf folgt, ist jedes Mal das Gefühl, etwas versäumt zu haben. Es versäumt zu haben, auf die eigene Intuition zu hören, sobald sie auftritt, anstatt später zu bedauern, dies nicht getan zu haben.

Heute ist das anders. Heute geht alles sehr schnell. Das Bauchgefühl ignorieren und den Sinn erst viel zu spät begreifen, nicht möglich.

Unmittelbar mit dem ersten Klingeln des Telefons setzt das Bauchgefühl ein und unmittelbar nach dem ersten Satz, den ich höre, wird es bestätigt.

»Benita liegt im Krankenhaus.«

Martha ist am Telefon, in ihrer Stimme fehlt der vertraute Klang. Schon am ersten Schultag hatte es außer Frage gestanden, dass wir eine Freundschaft fürs Leben knüpfen würden. Manche Freundschaften scheinen schon vor ihrem Beginn besiegelt zu sein. Unsere gehörte dazu.

An ihrer Stimme kann ich den Ernst der Lage ermessen. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, ihr zuzuhören, ihr tröstende Worte zuzuflüstern, sie zu ermutigen, während ihre Worte unablässig abwechselnd durch mein Gehirn hämmern. Totalschaden. Koma. Totalschaden. Koma. Total… –

Ich lasse mich auf das Sofa sinken und sehe durch die offene Terrassentür in den Garten. Die Nachmittagssonne taucht das Wohnzimmer in ein warmes Licht. Mein Blick verliert sich im Tanz der Staubkörnchen, die ohne Furcht durchs Zimmer jubilieren. Im schwindenden Licht würden sie sich verstecken, einfach unsichtbar werden.

»Warum, Helga?«

Marthas Stimme kommt von weither, als müsse sie durch alle tanzenden Staubteilchen der Welt zu mir dringen, durch die sichtbaren und unsichtbaren.

Manchmal möchte auch ich mich verstecken wie sie, im schwindenden Licht. Jetzt wäre so ein Moment. Doch das Problem ist, dass das Licht nicht schwächer wird. Dass Marthas Stimme nicht zurückweichen will, auch wenn sie immer wieder sekundenlang stockt und zu versiegen droht.

»Sie wird doch nicht …?«

Ihre Stimme ist nur noch ein Flüstern.

Ich atme tief ein. Wie viele Staubkörnchen dabei im Dunkel meiner Lunge ertrinken, ist mir egal.

»Bleib, wo du bist. Ich bin gleich bei dir«, sage ich, die Freundin, die jetzt stark sein muss.

Ich denke an Benita, Marthas Tochter. Die Tochter meiner ältesten Freundin. Das kleine Mädchen im Sandkasten. Das Mädchen mit der Schultüte in der Hand. Das Mädchen mit dem verpickelten Jungen an seiner Seite auf dem Abschlussballfoto. An die stolze junge Frau mit dem Führerschein in der Hand an ihrem achtzehnten Geburtstag. An die Studentin vor dem Tower in London, lachend. An die mit sich selbst und der Welt hadernde Benita in meinem Wohnzimmer vor fast zehn Jahren, als sie mir erzählte, dass sie sich in eine gleichaltrige Freundin verliebt hatte und nicht wusste, wie sie das ihrer Mutter beibringen sollte.

Ich denke an sie und Sania auf dem Geburtstag ihrer Mutter. Fröhlich, lachend, als könne nichts auf der Welt ihr Glück bremsen. Oder doch?

Ich will diesen Gedanken nicht weiter verfolgen. Wie verzweifelt sie gewesen war! So verzweifelt, dass sie Berlin ohne Sania nicht länger ertragen konnte und in ihre Heimatstadt zurückkehrte.

Ich erinnere mich noch genau daran, wie sie auf dieser Couch saß, von der ich immer noch nicht aufgestanden bin. Ein Häufchen Elend, aus dem jeder Funke Freude gewichen war. Leer und ausgelöscht und doch verzweifelt bereit zum Neuanfang. Seit einem Jahr arbeitete sie nun als wissenschaftliche Assistentin im Labor unseres Fachbereichs. Ein glücklicher Zufall, dass in unserer Forschungsgruppe Humangenetik II gerade eine neue Stelle besetzt werden musste.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich in diesem Moment bereits ahnte, dass ihr dieser Zufall wohl doch nicht nur Glück gebracht hatte.

Mit diesem Gedanken erhebe ich mich von der Couch und mache mich auf den Weg zu Martha.

ANNE

Der ersten durchquälten Nacht sind weitere gefolgt. Martins Schlaf ist tief. Tief genug. Zum Glück. Tagsüber habe ich versucht, mich abzulenken. Mich abzulenken von ihren traurigen, graublauen Augen. Und von den Erinnerungen.

Verzweifelt versuche ich mich zu erinnern, ab wann unsere Begegnungen zu etwas Besonderem geworden waren. Ab wann war Herzlichkeit zu Vertrautheit geworden, Oberflächlichkeit zu Tiefe? Ab wann waren die Gesten der Sympathie den Gesten der Zuneigung gewichen? Wann der Wunsch nach netter Gesellschaft dem nach echter Nähe? Ab wann hatte all das begonnen, mir etwas zu bedeuten?

Jemanden zu mögen ist die eine Seite von Freundschaft. Jemandem zu vertrauen die andere. Sich gegenseitig den Blick in die eigene Seele zu erlauben, das ist die dritte Seite. Die bedeutungsvolle, die Intensität schafft und Energien freisetzt.

Ich habe versucht, sie anzurufen. Doch meine Anrufe versickerten in der Leere der stummen Leitung. Ich möchte mit ihr reden. Ihr erklären. Ihr sagen, was ich an jenem Nachmittag vor drei Tagen nicht sagen konnte. Möchte ihr erklären, warum. Dass ich das alles nicht aufgeben kann.

Martin. Maya. Jonas. Mein Leben. Mein bescheidenes, ganz normales Leben.

Ich möchte sie nicht verletzen. Das habe ich wohl schon durch mein Schweigen. Aber ich hinterlasse nicht gerne Nachrichten auf Anrufbeantwortern.

Die Zeit wird einen Rat wissen. Noch bewahrt sie mich davor, mich zu konfrontieren. Noch bewahrt sie mir die Harmonie, zumindest nach außen hin.