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Die tödliche Spur des Monsters von Bozen Ein Serienmörder bleibt jahrelang unentdeckt. Bis an einem kalten Winterabend die Leiche einer jungen Prostituierten gefunden wird. Der neue Commissario Luther Krupp übernimmt die Ermittlungen. Er will sich nicht an die korrupten Gesetze der Polizei halten. Doch dann stößt er auf die blutige Spur des Monsters von Bozen und gerät immer tiefer in die Schattenseiten der Justiz. Bestsellerautor Luca D'Andrea ist zurück mit einem packenden Thriller, in dem das Böse unter der eisigen Schneedecke der Alpen lauert. Nach einem wahren Kriminalfall. Als an einem bitterkalten Januarabend die Leiche einer jungen Prostituierten gefunden wird, steht Commissario Luther Krupp vor der größten Herausforderung seiner Karriere. Er ist noch nicht lange im Dienst und im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen hält er sich ans Gesetz. Er will den Fall nicht zu den Akten legen. Zum Glück hat Krupp die unerschrockene Streifenpolizistin Arianna Lici an seiner Seite. Bald wird ihnen klar: Sie sind einem grausamen Serienmörder auf der Spur. Damit sind sie nicht allein. Ein junger Reporter der Stadtzeitung beginnt ebenfalls, die Hintergründe des Falls zu recherchieren. Gemeinsam stoßen sie auf eine lange Reihe ungeklärter Mordfälle. Da wird eine zweite junge Frau getötet. Und sie ahnen: In dieser Stadt klafft ein tiefer Abgrund zwischen Recht und Gerechtigkeit.
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Seitenzahl: 752
Veröffentlichungsjahr: 2024
Luca D’Andrea
In Zeiten des Todes
Thriller
Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler
Tropen
Quésto libro è stato tradotto grazie a un contributo per la traduzione assegnato dal Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale italiano.
Die Übersetzung dieses Buches kam dank einer Förderung des italienischen Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten und Internationale Zusammenarbeit zustande.
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Tropen
www.tropen.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Il girotondo delle iene« im Verlag Feltrinelli Editore, Mailand
© 2022 by Luca D’Andrea
This edition is published in agreement with Piergiorgio Nicolazzini Literary Agency (PNLA)
Für die deutsche Ausgabe
© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte sowie die Nutzung des Werkes für Text und
Data Mining i. S. v. § 44 b UrhG vorbehalten
Cover: Zero-Media.net, München
unter Verwendung mehrerer Abbildungen von © Oskar Ulvur/Trevillion Images (Wald), © Magdalena Russocka/Trevillion Images und FinePic®, München (Schnee)
Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen
Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-608-50185-8
E-Book ISBN 978-3-608-12356-2
I believe them Bones are me
Alice in Chains, Them Bones
Teil 1
Die Frau verschleißt den Mann, sie schneidet ihm den Kopf ab und frisst ihn. Aus meiner Angst vor ihr ist erst Hass geworden, mit einigen Einschränkungen allerdings, der später stärker und radikaler wurde: Wenn anfangs der Wert einer Frau noch fünfzig Prozent betrug, sank er in Etappen auf zehn Prozent und schließlich auf null Prozent, wenn nicht gar noch weniger.
M. B.
Hey little girl, wanna go for a ride?
Hüsker Dü, Diane
Wie ein Stofffetzen flatterte die junge Frau durch die Nacht. Sie hieß Elizabeth, war blond und trug eine Sonnenbrille. Die Idee mit der Sonnenbrille hatte sie aus einem Vampirfilm, und den Kunden schien es zu gefallen. Sie dachte: So viel Licht … Dann entglitten ihr die weiteren Worte, und Elizabeth musste sich neu sortieren.
Der Mann im blauen Peugeot 106 hatte ein Allerweltsgesicht, die schwarzen Haare waren zu einem rechten Seitenscheitel frisiert. Er trug Jeans und eine Skijacke. Sehr gesprächig war er nicht, nach einer kurzen Absprache stieg sie ein. Das war’s.
Elizabeth schwieg ebenfalls, sie genoss es, wie das Blut wieder durch ihren steifgefrorenen Körper floss, doch die Wärme im Wageninneren brachte nicht nur das Gefühl in den Händen und Füßen zurück, sondern auch den Juckreiz. Die junge Frau mit der Sonnenbrille zögerte. Sie wollte nicht, dass der Freier dachte, sie habe Flöhe. Oder Aids. Der Juckreiz kam vom verdammten Entzug, da war sie sicher, und der würde mit dem Kunden zu Ende sein. Elizabeth wusste auch das. Deshalb: nicht kratzen.
Der Juckreiz wurde stärker. Dann quälend. Schließlich unerträglich.
Aus dem Augenwinkel warf Elizabeth dem Mann am Steuer einen prüfenden Blick zu. Er schien sich nicht um sie zu kümmern. Jetzt oder nie, dachte sie. Mit gewollt koketter Geste fuhr sie sich mit der Hand durchs Haar. Die billigen Armreifen klirrten, die Finger fanden ihr Ziel, die Nägel bohrten sich in die verkrustete Kopfhaut und kratzten sie wieder auf. Das Bluten löste das Problem nicht, aber es gab ihr die Illusion der Erleichterung. Immerhin.
Inzwischen war die Seilbahn am Ende der Via Renon in Sicht gekommen, die um diese Zeit nicht in Betrieb war. Elizabeth setzte die Sonnenbrille ab und enthüllte ihre blauen Augen mit den goldenen Sprenkeln. Dann lächelte sie, denn sie wusste, dass die Kunden das mochten.
»Schauen wir mal, ob dahinten Platz ist«, sagte sie und deutete nach rechts auf die Mobil-Tankstelle.
Der Mann am Steuer parkte den Peugeot, den Motor ließ er laufen. Er hatte die Hand am Zündschlüssel, runzelte die Stirn, beugte sich nach vorne, bis der Brustkorb auf dem Lenker lag, Elizabeth folgte seinem Blick. Zwanghaft: es war wie der Juckreiz, sie konnte nicht anders. Sie sah einen Haufen Müll, der mit einem Tuch abgedeckt war, vielleicht rot, vielleicht schwarz. Schwer zu beurteilen, die Straßenlaterne war kaputt.
Der Kunde wirkte wie in Trance. Aber Elizabeth brauchte ihren Schuss.
»Hey, Schätzchen, hast du mich vergessen?«
Der Mann zuckte zusammen.
Geweitete Pupillen, stockende Atemzüge. Wie ein Tier in der Falle. Er beugte sich über sie, griff an die Beifahrertür, löste ihren Sicherheitsgurt und gab ihr einen Stoß.
»Raus«, zischte er, »raus, raus, raus.«
Elizabeth gehorchte.
Der Peugeot verschwand, und Elizabeth war wieder allein. Wieder: wie ein Stofffetzen durch die Nacht flatternd. Wieder: in der Kälte. Es war wie immer. Sie wusste nicht, wo sie einen Fehler gemacht hatte. Oder wann. Oder warum.
Ernüchtert betrachtete sie die mit Schnee bedeckten Berghänge, auf denen sich das Mondlicht spiegelte. Sie begriff, dass es nicht das Licht, sondern die Reflexion einer Reflexion war. Ein Spuk. In der Realität war die Welt um sie herum finster, und endlich konnte sie den Satz zu Ende führen, der sie die ganze Zeit nicht losgelassen hatte. So viel Licht … das war falsch.
In diesem Moment erkannte sie, was sie wegen des fehlenden Schusses nicht hatte beurteilen können. Das Tuch war kein Tuch, und der Haufen war kein Müll. Das Tuch war ein Mäntelchen wie das von Rotkäppchen, und darunter lag ein Körper. Leblos. Eine Leiche.
Elizabeths Schreie schrillten wie Polizeisirenen. Ihre Angst vertrieben sie nicht, sie erweckten die Tote nicht zum Leben, aber sie erregten Aufmerksamkeit. Als Antwort auf ihr Geschrei drang aus einem der umstehenden Mietshäuser eine wütende Männerstimme: »Verreckt doch woanders, ihr Scheißhuren!« Elizabeth lief an der Tankstelle vorbei, torkelte auf die andere Straßenseite und ließ sich dann, wie ein Nachtfalter, von den Lichtern der Bar Sonnenberg anziehen.
Sie wurde von lauter Musik und einem Gemisch aus warmer Heizungsluft, abgestandenem Rauch und Biergestank empfangen, auf dem Boden hatte sich eine Pfütze aus geschmolzenem Schnee ausgebreitet, sie rutschte aus und fiel hin. Alle lachten, die betrunkenen Gäste an den Tischen, der Wirt im karierten Hemd und seine beiden Bedienungen, die gerade Pause machten und die Beine wie Models in den Zeitschriften übereinandergeschlagen hatten. Das Lachen hielt lange genug an, um Elizabeth einige Worte stammeln zu lassen: »Sie haben das Mädchen getötet.«
Der Notruf ging um 22.54 Uhr bei der Polizei ein. Eine hysterische Frauenstimme redete etwas von Mord an einer gewissen Lorena. Der Einsatzwagen 12 traf acht Minuten später in der Via Renon ein, um 23.02 Uhr.
An Bord des Alfa Romeo waren Agente Fabris und Assistente Masi. Fabris war 21, ein hagerer und agiler Typ, Masi war um die dreißig und trug einen Schnurrbart.
Masi gehörte zu Levadas Dunstkreis, war einer der »Bulldoggen«, der Mastini, und Fabris bewunderte ihn dafür. Das hieß, dass Masi ein Hardliner war.
Masi überließ es Fabris, den Besitzer des Sonnenberg, Alois Brunner, zu beruhigen, der trotz der Kälte hemdsärmelig war und kurz vor einer Panikattacke zu stehen schien. Masi zog die Handschuhe über, nahm die Taschenlampe und ging in Richtung des Haufens Lumpen, den der Wirt Lorena genannt hatte.
Ihr den Puls zu fühlen, hatte keinen Sinn mehr. Die junge Frau war zweifelsfrei tot. Masi strich sich über den Schnauzbart, drehte sich um und ging zurück, dabei passte er auf, wohin er trat. Er kannte diesen Ort und wusste, dass die Junkies sich hier gerne einen Schuss setzten, überall lagen Spritzen.
»Lorena Haller«, sagte Masi an Fabris gewandt.
»Überdosis?«
»Das glaube ich nicht. Wer hat Dienst?«
»Krupp.«
Masis Miene verfinsterte sich. »Sicher?«
Fabris zuckte mit den Schultern. »Soll ich anrufen?«
»Das mach ich. Du holst das Band und sperrst alles ab. Hier wird bald die Hölle los sein.«
Bevor er der Zentrale Bescheid gab, hielt Masi inne, spuckte auf den Boden und verfluchte sein Pech.
Krupp traf um 23.44 Uhr ein. Er saß in einem blauen Lancia Thema und dachte: Zu viele Leute.
Einsatzfahrzeuge, Zivilstreifen und ein Krankenwagen mit ausgeschalteter Sirene. An der Mauer zwischen der Tankstelle und den Bahngleisen lehnten Junkies und Prostituierte, die mit den Füßen im Schnee trampelten, um gegen die Kälte anzukämpfen. Ein Uniformierter behielt sie im Auge, während ein zweiter den Leichnam unter dem roten Mäntelchen bewachte. Keine Spurensicherung. Kein Staatsanwalt. Kein Pathologe. Polizisten kamen und gingen. Überall Uniformierte, aber vor allem: Bulldoggen.
Ihre Anwesenheit verhieß nichts Gutes, erklärte aber, warum Krupp erst mit einer halben Stunde Verspätung über den Leichenfund informiert worden war. Die Zeiten, in denen man Commissario Levada Tag und Nacht erreichen konnte, waren vorbei, und der Diensthabende hatte nicht den Mut gehabt, einen Wagen zur la mano de Dios, »der Hand Gottes«, zu schicken und den Commissario zu wecken.
Dafür war der Diensthabende als Erster vor Ort gewesen und hatte den Fundort in ein Chaos verwandelt: Ispettore Capo Lopez.
Lopez, das Rattengesicht.
Lopez, das Arschloch.
Krupp stieg aus dem Auto und dachte: Das ist nichts für die Öffentlichkeitsarbeit.
Rattengesicht stand mit zwei anderen Bulldoggen zusammen und rauchte. Der eine war blond, hatte lange Koteletten und eine fiese Visage. Er hieß Luca Greco, doch alle nannten ihn Ayrton Senna. An den Namen des Zweiten, mit seinem glattrasierten Schädel und dem Kamelhaarmantel, erinnerte sich Krupp nicht. Die negativsten Schwingungen verbreitete definitiv Lopez.
»Lorena Haller, drogenabhängig, Prostituierte«, sagte er knapp, »mehrere Messerstiche.«
Krupp deutete auf die dicht aneinandergedrängten Männer und Frauen, die mit den Zähnen klapperten und lautstark fluchten.
»Und die?«
»Mögliche Zeugen. Wenn unsere Jungs die Straßen durchkämmen, dann richtig.«
»Auch wenn die Leute dabei erfrieren?«
»Befragungen vor Ort ersparen uns den Papierkram. Danach können wir entscheiden, ob wir sie zur weiteren Abklärung mit aufs Präsidium nehmen. Ist auch ökologischer.«
»Papier haben wir genug. Wer hat Brunner befragt?«
»Ich meine, wir sollten Levada Bescheid geben«, entgegnete Lopez.
»Das war nicht meine Frage.«
Lopez schnalzte verärgert mit der Zunge, dann nickte er Senna zu, der die Daumen in den Gürtel steckte und mit seinem Bericht begann.
»Ungefähr um elf kam eine blonde junge Frau schreiend in die Bar gestürmt. Eine Prostituierte, völlig außer sich. Brunner behauptet, sie nicht zu kennen. Nie gesehen. Der Arme steht unter Schock. Eine zweite Frau, wahrscheinlich auch eine Prostituierte, dunkle Haare, Alter und Name – Überraschung! – unbekannt, hat die Sache überprüft, die Leiche gefunden und uns angerufen.«
»Ende der Geschichte«, meinte der Glatzkopf im Kamelhaarmantel hinzufügen zu müssen.
Krupp dachte: Bulldoggen. Alles Idioten.
Er deutete auf die Frau, die an der Säule mit dem Mobil-Schild lehnte. Einer hielt sie am Oberarm fest und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Je länger er auf sie einredete, desto mehr sackte sie in sich zusammen.
»Warum ist sie nicht bei den anderen?«
»Nancy«, meinte Lopez, »alias Ilaria Fanti. Ihr ist entfallen, dass sie das Opfer kannte.«
»Was noch?«
Die Mastini schauten sich an und brachen in Gelächter aus.
Krupp ignorierte sie. Ayrton Senna, der Glatzkopf und der Typ, der auf die Prostituierte eingeredet hatte, verschwanden, sobald er sich umgedreht hatte. Lopez allerdings klebte an ihm wie eine Zecke.
Nancys Gebiss ähnelte einem Trümmerfeld. »Ich will nach Hause. Ich weiß nichts«, murmelte sie.
»Man hat mir gesagt, Sie kannten Lorena?«
»Alle kannten sie. Als ich Ende der Achtziger hier angefangen habe, war sie schon da. Sie war 24, aber wir alle nannten sie ›das Mädchen‹. Sie war auf Drogen. Kann ich jetzt gehen?«
»Wie war sie denn so?«
»Keine Ahnung, wer sie umgebracht hat«, fuhr sie fort, während ihr der Mascara die Wangen hinunterlief. »Ich. Weiß. Es. Nicht. Ich bin nur die, die nicht schnell genug abgehauen ist.«
»Ich dagegen bin der, der wissen will, warum sie das verdient hat«, entgegnete Krupp.
Nancy kratzte sich in der Armbeuge und zog die Nase hoch.
»Letzten Monat hatte sie Geburtstag. Sie hatte Kekse gekauft. Für uns. Lebkuchen. Die waren gut. Lorena hätte die Kohle für einen Schuss aufsparen können, aber sie wollte uns lieber was schenken. So war sie.«
Nancy konnte sich nicht mehr beherrschen und versuchte, die Tränen mit dem Handrücken wegzuwischen, dabei verschmierte sie ihr Make-up nur noch mehr.
Lopez’ Augenlid begann nervös zu zucken: Schwachsinn.
Krupp schaute auf die Armbanduhr, die er von seinem Vater geerbt hatte: 23.51 Uhr.
Hinter der Absperrung warteten die Journalisten auf eine Erklärung. Einer von ihnen, mit weißem Bart und Kugelbauch, versuchte seine Aufmerksamkeit zu erregen. Er hieß Johann Serafini, genannt Jo, Kürzel J. S. Er war der leitende Kriminal- und Gerichtsreporter der Voce delle Alpi. Krupp wandte seinen Blick ab, und Serafini lachte.
Keine Spurensicherung.
Kein Staatsanwalt.
Kein Pathologe.
Krupp dachte: Erst die Körper, dann die Gesichter.
Der Uniformierte mit dem Bart knipste seine Taschenlampe an und richtete sie auf die Leiche. Krupp bat um mehr Licht, und Lopez zog ebenfalls die Lampe aus der Tasche.
Auch wenn Levada ihn immer auf der Ersatzbank parkte, hatte Krupp bereits Erfahrung mit Leichen. Er hatte gelernt, dass Körper und Gesichter die gleiche Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln erzählen. Die Körper sprachen vom Täter. Die Gesichter vom Opfer.
Deshalb: erst der Körper.
Lorena Haller lag in fötaler Haltung auf dem Asphalt, die Beine nackt, die schwarzen Leggings waren samt Unterhose bis zu den Waden heruntergezogen. Ein grauer Wollpulli. Leichte Turnschuhe an den Füßen, Marke Converse. Das rote Mäntelchen war nicht groß genug, um die Messerstiche zu verdecken.
Krupp zog mehrere Kreise um den Leichnam.
Er dachte: Zu wenig Blut.
Die dunkle Lache rund um den Körper war zu klein. Nicht bei diesem Schnitt im Hals. Und auf dem Schnee gab es keine strahlenförmigen Blutspritzer. Das bedeutete, dass der Fundort nicht der Tatort war und dass im Wagen des Täters sehr viel mehr Blut des Opfers zu finden sein musste.
Krupp dachte: Er hat sie im Auto hergebracht, das Messer genommen, sie angegriffen, getötet und dann hier abgelegt.
Er hielt inne.
Nie voreilige Schlüsse ziehen.
Dass der Mörder Lorenas mit Messerstichen übersäte Leiche ohne Grund so auffällig abgelegt hatte, war eher unwahrscheinlich. An der Stellung des Körpers war nichts Künstliches oder Symbolisches zu erkennen. Zeitdruck, ja, aber keine tiefere Absicht. Er hatte Lorena getötet, die Autotür geöffnet und sie nach draußen gestoßen, die Leiche fiel auf die Straße und …
Krupp trat einen Schritt zurück.
Er spürte, dass ihm etwas Entscheidendes entging, ein offensichtliches und trotzdem grausames Detail direkt vor seiner Nase. Aber das Gefühl verschwand, und er blieb inmitten der grauenvollen Szenerie zurück.
Nichts.
Er beugte sich nach unten, dabei achtete er darauf, dass seine Krawatte die junge Frau nicht berührte. Dann zählte er die Einstiche, begutachtete ihre Größe und die Einstichwinkel. Es waren acht. Ohne Pathologen konnte er nicht feststellen, ob sich unter der Kleidung noch weitere Stichwunden befanden, dass alle sehr tief waren, war jedoch deutlich zu erkennen.
Die Finger an Lorenas rechter Hand zeigten einen Schnitt, der bis auf die Knochen ging. Das Opfer hatte versucht, sich zu schützen, aber der Angreifer war zu stark, zu schnell und zu allem entschlossen gewesen, sie hatte keine Chance gehabt, ihn aufzuhalten.
Er: stark, schnell, entschlossen. Was noch?
Grausam.
Seine Brutalität hing wie ein Pesthauch über der Szenerie, er hatte keine Farbe und keinen Geruch, aber Krupp konnte seine Präsenz spüren. Es waren sieben Grad unter null, aber das Hemd klebte ihm am Rücken.
Krupp dachte: Das ist kein Mord wie alle anderen.
Er kontrollierte seinen Atem.
Erst die Körper, dann das Schlimmste.
Die Gesichter.
Nach Nancys Aussage ging Lorena seit vier Jahren auf den Strich und hing wahrscheinlich seit mindestens fünf Jahren an der Nadel, aber die Abhängigkeit hatte sie noch nicht zerstört. Ihre Gesichtshaut war weich, die Haare glänzend und dicht, kein Herpes. Krupp stellte verblüfft fest, wie schön sie war. Aschblonde Haare mit rund geföhntem Pony, melancholische Katzenaugen, die dich zu Tränen rühren, damit es dir besser geht. Lorena Haller war eine dieser jungen Frauen, der man im Alltag gerne zulächelte.
Sie wirkte friedlich.
Sie lag hier, auf grausame Weise ermordet, und doch hatte sie ein Lächeln auf dem Gesicht.
Das setzte Krupp stärker zu als das Blut und die Stichwunden.
»Was wissen wir von ihr?«, fragte er unvermittelt.
»Nur, dass sie auf den Strich ging und ein Junkie war«, antwortete der Ispettore Capo und schaltete die Taschenlampe aus. »Irgendwo wird es eine Akte geben, man sollte mal bei der Sitte nachfragen.«
»Und wann gedenkt ihr das zu tun?«
Lopez fuhr sich mit dem Daumennagel zwischen den Schneidezähnen entlang. Es war ihm wichtig, deutlich zu machen, dass ihm Krupps Einschätzung völlig egal war.
»Ich sehe keine Handtasche oder einen Rucksack. Wo hatte sie ihr Geld? Ihre Papiere? Die Drogen?«
»Vielleicht in den Jackentaschen. Fabris und Masi haben sie nicht angerührt.«
»Simoni und der Staatsanwalt?«
»Dottor Simoni ist auf dem Weg. Der zuständige Staatsanwalt dürfte Rotter sein. Er muss jeden Moment kommen.«
Krupp knöpfte sich den Mantel auf und begann Anweisungen zu geben: »Ich brauche alle Prostituierten, Junkies, Dealer aus der Gegend …«
»Die haben wir schon …«
»… Taxifahrer, Gäste aus der Bar, Müllmänner, die Busfahrer der Nachtlinie, die Bahnpolizisten, das Bahnhofspersonal. Spürt die Frau auf, die die Leiche gefunden, und die andere, die den Notruf abgesetzt hat. Ich will die Videobänder aus dem Bahnhof sowie alle anderen Aufnahmen, die ihr kriegen könnt. Untersucht die Mülleimer im Radius von einem Kilometer. Und die Kanaldeckel.«
»Mülleimer und Kanaldeckel?«
»Siehst du die Tatwaffe, Lopez? Außerdem«, Krupp deutete auf die Mietshäuser, die die Via Renon wie eine mittelalterliche Mauer flankierten, »eine ordnungsgemäße Befragung der Anwohner.«
»Sollte man nicht erst mal Levada verständigen?«
»Hast du die Finger der jungen Frau gesehen? Sie hat versucht, sich zu wehren. Sie hat geschrien, jemand muss sie gehört haben. Besprechung mit der Kriminalpolizei, der Sitte, den Ermittlern, der Drogenfahndung und der Mordkommission. Du hast eine Stunde.«
»So viel Aufwand für eine ermordete Hure?« Lopez’ Lidzucken wurde stärker. »Vielleicht geht es um nichtbezahlte Drogen, oder das Opfer hat sich mit einem Zuhälter angelegt. Der ganze Aufriss für einen Arbeitsunfall?«
Mario Lopez, dieses Rattengesicht, war Ispettore Capo der Squadra Mobile, bei Verhören übergriffig und Commissario Levadas rechte Hand. Und Levada, das wussten alle, war la mano di Dios, die Hand Gottes. Deshalb hielt sich Lopez für unangreifbar.
Irrtum.
»Schau dich hier mal um, Ispettore Capo«, zischte Krupp, der seine Wut nur mit Mühe im Zaum halten konnte, »hast du jemals einen Tatort wie diesen gesehen? Gib den anderen Bescheid und stell die Fakten zusammen. Und bestelle Lici ein.«
Rattengesicht zog die Augenbrauen hoch.
Krupp dachte: Das ist nichts für die Öffentlichkeitsarbeit.
»Einwände?«
»Keine.«
Krupp schaute auf die Armbanduhr seines Vaters: Dienstag, der 7. Januar war bereits Geschichte.
Die Uhr über dem Fahrkartenschalter zeigte neun Minuten nach Mitternacht. Nur die Fototasche mit der Aufschrift Nikon verriet, dass Alex Milla nicht der war, für den man ihn halten konnte: Ein Junkie auf der Jagd nach einem Schuss. Er war 21, hatte einen Lockenkopf und trug zwei Wollpullover unter der Bomberjacke, denn in dieser Nacht war es verdammt kalt. Und er hasste Kälte. In der Redaktion war Milla für das »Kleinvieh«, die »Kieselsteine«, zuständig. Die großen Brocken drehten andere um.
Millas Gebiet waren von der Feuerwehr gerettete Katzen, Neueröffnungen von Lokalen, Ausstellungen oder Empfänge der Wichtigtuer des Rosengarten-Clubs, Kinkerlitzchen, die zu Artikeln aufgeblasen wurden, um mehr Seiten zu füllen und zusätzlichen Platz für Anzeigen zu schaffen. Für eine Tageszeitung waren die Anzeigen überlebenswichtig.
Im Grunde war Milla also ein Journalist, aber nach zehn Monaten banaler Schreiberei für die Voce delle Alpi hatte er von Jo immer noch keinen Presseausweis bekommen, denn – ipse dixit – den musste er sich an der Front verdienen.
Wo sind deine Narben, Champion?
Deshalb: weitermachen.
Die ermordete junge Frau bei der Mobil-Tankstelle jedoch war ein großer Brocken. Lorena Haller war das, wonach sich die Inserenten am meisten sehnten – Artikel, die für Gesprächsstoff sorgten. Regel Nummer eins: Nichts steigert die Auflage so sehr wie guter Gesprächsstoff.
Deshalb hoffte Milla, dass die Bahnpolizei ihn nicht abfangen würde. Wenn er mit leeren Händen zurückkäme, würde Jo das gar nicht gefallen.
Milla ging quer durch den Wartesaal und dann an der Mauer entlang, die sich die ganze Via Renon bis zur Talstation der Bergbahn entlangzog. Dort würde er nahe der kaputten Straßenlaterne die Mauer hochklettern, von wo aus er der Voce delle Alpi ein Foto der Ermordeten liefern könnte. Denn ohne ein Bild glaubte heute niemand mehr etwas.
Ein Foto, hatte Jo ihm eingebläut, das nicht zu grausam war, sonst würde der Chefredakteur es zerreißen, aber aussagekräftig genug, um die morbide Neugier der Leser zu wecken. Die gleichen Leser, die die Redaktion permanent mit Protestbriefen überzogen. Ein Musterbeispiel dafür, wie man für Gesprächsstoff sorgte.
Als er an der Straßenlaterne angekommen war, bemerkte er, dass das Hochklettern ein Problem werden würde. Die Mauer hatte keine Risse zum Festhalten und auch keine Vorsprünge, auf denen er sich abstützen konnte. Beim dritten erfolglosen Versuch nahm er den Geruch wahr. Dann die Stimme.
»Geht es um Lorena?«
Der Typ stank wie ein Mülleimer. Spindeldürr, eingefallene Wangen, blauer Mantel, erloschener Zigarettenstummel zwischen den Lippen. Milla dachte: Jetzt raubt er mich aus.
»Kanntest du sie?«
Der Typ zuckte mit den Schultern. »Ich bin übrigens Tommy.«
»Alex Milla von der Voce delle Alpi.«
Tommy versuchte sich mit einem Zippo-Feuerzeug die Zigarette anzuzünden. Milla hätte schwören können, dass auf der Hülle ein Hakenkreuz eingeritzt war. Man sah den Zündfunken, aber keine Flamme. Tommy kümmerte das nicht. Er klemmte sich die Kippe wieder zwischen die Lippen, lehnte sich gegen die Mauer, schloss die Augen und verschränkte die Hände auf Kniehöhe.
»Kletter hoch.«
Milla ließ sich das nicht zweimal sagen, hängte die Nikon um und stieg auf die Räuberleiter. Von oben richtete er den Blick auf die junge Frau unter dem roten Mäntelchen. Plötzlich verstand er, was Jo mit Narben meinte.
Das Teleobjektiv der Nikon brachte ihn bis auf weniger als einen Meter an das Gesicht des Opfers und die obszöne Realität des Geschehens heran. Was er gerade zu tun im Begriff war, ließ Milla in einen Abgrund aus Mitleid, Dreck und Abscheu gegenüber sich selbst sinken, genau wie damals mit Barbara, als sich ihm das »Nein, Nana allein« in die Seele gebohrt hatte.
Sofortiger Rückzug.
Er hatte Barbara auf einer Party kennengelernt, beide hatten zu viel getrunken. An den Abend erinnerte er sich nur schemenhaft. Barbara, die ihn lachend ermahnte, keinen Krach zu machen, ihre schweren Brüste mit den dunklen Nippeln, die nach dem gleichen Waschmittel rochen, das auch seine Mutter benutzte. Doch das Erwachen danach hatte sich ihm ins Gedächtnis gebrannt: die schnarchende Barbara mit dem verschmierten Make-up und das Mädchen im gepunkteten Schlafanzug. Mit Rotznase, ernstem Gesichtsausdruck und fester Stimme hatte sie ihn ermahnt: »Barbra schläft.« Erschrocken hatte Milla einen Aufschrei unterdrückt. Das Mädchen hatte den Zeigefinger auf die Lippen gelegt: »Barbra ärrrrgerlich.« Dann hatte sie ihn an der Hand genommen: »Fühstück.«
Die Küche war eine Katastrophe. Auf dem Tisch stapelten sich dreckiges Geschirr, alte Zeitschriften, leere Flaschen und Formulare der Sozialfürsorge. Das Mädchen hatte auf den Kühlschrank gedeutet: »Milch.«
Milla hatte sie warm gemacht, etwas Zucker dazugegeben, und das Mädchen hatte die Nase in den Becher gesteckt und getrunken: Milch, Zucker und Rotze.
»Nana brav?«
Milla waren die Tränen in die Augen gestiegen.
Er hatte sich gerade auf die Suche nach etwas Essbarem gemacht, was man in die Milch rühren konnte, vielleicht irgendwelche Kekse, aber auf dem Gesicht des Mädchens war blanke Panik zu lesen gewesen. »Nein. Nana allein.« Milla hatte Barbara nicht geweckt, denn es war offensichtlich, dass Barbra ärrrrgerlich werden würde und Nana die Konsequenzen zu tragen hätte. Er hatte sie beim Spielen beobachtet und sich gefragt, ob es normal war, dass ein Kind in diesem Alter noch eine Windel trug. Irgendwann, während Nana ein geflügeltes Pferd durch die Luft fliegen ließ, hatten im Nebenzimmer die Bettfedern gequietscht, und Pegasus war zu Boden gefallen.
Barbara hatte Milla in der Küche im Schneidersitz auf dem Boden sitzend angetroffen und ihm einen Quickie vorgeschlagen. Als Milla ihr sagte, dass das Kind eine neue Windel brauche, hatte sie getobt. Ob das etwa ein Vorwurf sein sollte? Oder suchte er vielleicht nach einem Vorwand, um ihrer Tochter die Hand in den Slip zu stecken?
Lorena Haller war ein Nein, Nana allein in seiner höchsten und kraftvollsten Ausprägung, und Milla dachte: Nein.
Das schaffe ich nicht.
»Alex, bist du noch da, mein Guter?«
»Bin ich.«
Er dachte: Ein Reporter berichtet über die Fakten.
Und eine ermordete junge Frau ist ein Fakt.
Entscheide dich: Tu es oder lass es sein.
»Nur so zur Info, ich habe seit zwei Tagen nichts gegessen.«
Ein grelles Blitzlicht zuckte durch die Dunkelheit. Er wählte einen engeren Bildausschnitt, stellte das Objektiv wieder scharf. Ein zweiter Blitz. Eine noch größere Brennweite: Lorena, der Rücken eines Polizisten, Krupp. Beim dritten Blitz konnte Tommy ihn nicht mehr halten.
Milla stürzte auf den Rücken, alles tat ihm weh, aber die Nikon war heil geblieben.
Tommy half ihm beim Aufstehen und zeigte ihm das Hakenkreuz auf dem Feuerzeug. »Das ist original, weißt du?«
»Echt?«, brummte Milla und spulte den Film zurück. Als er hörte, dass er am Ende angekommen war, steckte er ihn in eine leere Dose. Dann holte er einen übergroßen Schlapphut aus der Tasche, legte die Filmdose hinein und setzte ihn auf. Profitrick. Jo hatte ihm erklärt, dass die Bullen ihn nicht ohne Beschluss eines Staatsanwalts durchsuchen durften, es aber trotzdem vorkommen konnte, dass Licht auf den Film fiel und die Fotos nicht mehr zu gebrauchen waren. Aus Versehen natürlich.
Artikel 21 der Verfassung am Arsch.
»Sind Zippo-Feuerzeuge nicht amerikanisch?«
»Das habe ich nur so gesagt.«
»Bist du etwa ein Nazi, Tommy?«
Der Junkie deutete auf die Bahnpolizisten, die ihnen etwas zubrüllten.
»Sie sehen das Hakenkreuz und sind verunsichert. Freund oder Feind?«
»Auf jeden Fall bist du ein verdammter Rebell.«
Tommy ballte die Faust. »Revolution oder Imperium, auf welcher Seite stehst du, Alex Milla?«
»Weiß die Revolution, wie ich hier wegkomme?«
Tommy deutete in die Finsternis hinter sich. »Nach etwa dreihundert Metern gibt es eine kleine Treppe. Wenn du die hochgehst, kommst du auf der Rückseite der Seilbahn raus.«
Dann ging er, das Horst-Wessel-Lied singend, den Polizisten entgegen, dabei watschelte er wie eine Ente.
Der Pathologe, der Staatsanwalt und die Spurensicherung trafen um zwölf Minuten nach Mitternacht ein, fast zeitgleich mit der Bahnpolizei. Die Beamten entschuldigten sich: Der Fotograf war ihnen durch die Lappen gegangen. Schweigend begannen die Spezialisten mit der Untersuchung des Tatorts. Lopez tigerte hin und her, machte seine Witze mit den Bulldoggen, kam dann zurück und verpestete mit seiner Anwesenheit die Luft. Rotter, der diensthabende Staatsanwalt, hielt sich abseits und versuchte einen kompetenten Eindruck zu machen. Er war eigentlich auf Finanzdelikte spezialisiert und nur als Ersatz für einen erkrankten Kollegen vor Ort. Sein Gesichtsausdruck besagte: Jetzt nur nicht kotzen.
Dottor Simoni machte sich Notizen und zeigte einem Techniker der Spurensicherung, was er alles fotografieren sollte. Andere Techniker in weißen Anzügen waren in der Umgebung des Tatorts tätig. Sie fluchten über das überall herrschende Chaos.
Krupp teilte ihre Gefühle.
33 Minuten nach Mitternacht begann der Pathologe mit seinem Bericht. »24 Messerstiche. Einer in den Hals, die anderen in Bauch und Rücken. Ich nehme an, der letzte war der Stich in den Hals, und der war tödlich, allerdings wäre das Opfer in jedem Fall gestorben. Keine besonders scharfe Tatwaffe. Wahrscheinlich ein Taschenmesser, aber das weiß ich nach der Autopsie genauer. Die Kopfhaut des Opfers weist Abschürfungen auf. Die Finger der rechten Hand zeigen Abwehrverletzungen. Es gibt keine Anzeichen sexueller Gewalt, aber mit Sicherheit kann ich das zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausschließen.« Er verzog gequält das Gesicht. »Entschuldigen Sie …«, sagte er. Simoni tastete in seiner Jacke nach einer blau-weißen Verpackung, nahm eine Maaloxan-Tablette heraus und fuhr fort: »Wie von Commissario Krupp vermutet, sprechen das Ausmaß der Verletzungen, das Fehlen strahlenförmiger Spritzer am Fundort, die Quantität und die Qualität der Blutflüssigkeit in den vorhandenen Spuren dafür, dass es sich beim Fundort nicht um den Tatort handelt, der dürfte der Wagen des Täters sein. In diesem Zusammenhang möchte ich hinzufügen, dass es hier für die Kollegen der Spurensicherung quasi unmöglich ist, die Marke oder das Automodell des Täters zu ermitteln.«
»Warum?«, fragte Rotter.
Lopez belächelte die Blauäugigkeit des Staatsanwalts.
Simoni klappte das Notizbuch zu. »Weil das eine Tankstelle ist. Und nachts ein Puff unter freiem Himmel.«
Rotter zupfte sich am Ohrläppchen.
Krupp dachte: 24 Messerstiche.
Er schaute zu dem am Boden liegenden Körper, auf den aschblonden Pony und das Rotkäppchenmäntelchen. Er betrachtete das Lächeln.
Er starrte auf das Blut in dem Wissen, dass Blut nicht log. Genau wie die Körper von den Tätern und die Gesichter von den Opfern sprachen. Plötzlich hatte er wieder das Gefühl, dass ihm etwas entging, das Gefühl breitete sich immer weiter in ihm aus und explodierte schließlich. Er schauderte.
Krupp dachte: Unmöglich.
»Dottore«, fragte er, »wann ist der Tod eingetreten?«
»Gegen 22 Uhr.«
Krupp dachte: Scheiße.
Er irrte sich nicht.
Und doch wollte er es nicht glauben.
Er sagte: »Das Tatfahrzeug parkt hier. Lorena lehnt sich zurück, um die Leggings auszuziehen, dabei sticht ihr der Täter in den Bauch. Instinktiv beugt sich das Opfer nach vorne, und er sticht ihr mehrmals in den Rücken. Dann hebt Lorena die rechte Hand, um …«
Ein stummer Schrei erfüllt den Platz.
SCHLUSS!
Krupp räusperte sich: »… sich zu verteidigen, und er schneidet ihr in die Finger, bis auf die Knochen, dann macht er weiter. Als ihre Gegenwehr nachlässt, weil sie zu viel Blut verloren hat und unter Schock steht, packt er sie an den Haaren und sticht ein letztes Mal zu, in den Hals. Lorena stirbt, er öffnet die Beifahrertür und stößt sie hinaus. Richtig?«
»Wahrscheinlich hat es sich so abgespielt.«
»Deshalb befindet sich der Großteil des Blutes im Wagen des Mörders. Korrekt?«
»Gewiss, ich habe bereits …«, der Pathologe griff wieder nach den Magenpillen. »Ich teile Ihre Befürchtung, Commissario.«
Lopez runzelte die Stirn. Krupp sah, wie der Pathologe eine weitere Tablette schluckte.
Dann wandte sich Rotter an Krupp: »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen.«
In Krupps Tonfall lag nur mühsam zurückgehaltene Wut. »Der Mörder fährt davon, mit Blut auf dem Beifahrersitz, dem Fenster und der Windschutzscheibe, um 22 Uhr an einem ganz normalen Dienstag, und niemand fällt das auf?«
Das Gesicht des Staatsanwalts verfärbte sich grünlich. Lopez verlagerte das Körpergewicht von einem Fuß auf den anderen und zündete sich eine weitere Zigarette an. Simoni putzte sich mit der Krawatte die Brillengläser.
Krupp schaute auf die Junkers, die Armbanduhr seines Vaters, und rechnete. Nach 24 Stunden sank die Wahrscheinlichkeit, einen Mordfall zu lösen, um fünfzig Prozent. Die Spuren erkalteten, die Zeugen machten keine eindeutigen Aussagen mehr, und auch die Ermittler hatten keinen unverstellten Blick mehr. Nach 48 Stunden: die Ermittlungen stagnierten. Die Uhr zeigte fünfzig Minuten nach Mitternacht.
Drei Stunden waren verstrichen.
Rotter bat Krupp, ihn auf dem Laufenden zu halten. Simoni versprach schnellstmöglich die ersten Ergebnisse der Obduktion vorzulegen. Krupp beauftragte Lopez, die Besprechung im Präsidium vorzubereiten. Er selbst würde nicht gleich mitkommen, weil er Lorena nicht allein lassen wollte.
Er achtete darauf, dass die Bestatter den toten Körper respektvoll und mit der gebotenen Vorsicht behandelten, und wartete, bis der schwarze Leichenwagen in Richtung San Maurizio verschwand.
Als seine Beine aufgehört hatten zu zittern, stieg er in den blauen Lancia Thema und startete den Motor.
Er dachte: Das ist kein Mord wie alle anderen.
Das Präsidium glich einem Zoo. Einige Anwesende protestierten, andere waren auf Entzug und randalierten, wieder andere verlangten nach einem Arzt. Die Freier, die man in flagranti erwischt hatte, regten sich am meisten auf. Die Vorstellung, ihre Frauen, Kinder oder Kollegen könnten davon erfahren, warum sie in der Questura in der Largo Palatucci Nummer 1 gelandet waren, erfüllte sie mit Panik.
Krupp ging durch die Tür, die den Vorraum von dem für die Öffentlichkeit nicht zugänglichen Bereich trennte, und betrat den Sitzungssaal, in dem die Einsatzbesprechung stattfand. Müde und ungeduldige Gesichter erwarteten ihn. Gesichter, die im Neonlicht noch finsterer wirkten.
Krupp hatte nur auf eine Beamtin namentlich bestanden: Sovrintendente Capo Arianna Lici. Sie saß in der ersten Reihe, die einzige Frau im Raum und eine der wenigen, die nicht zum Levada-Fanclub gehörte. In Zivil wirkte sie eher wie eine Sportlehrerin. Nur ihr abwartender Gesichtsausdruck verriet, dass sie Polizistin war.
Levadas Truppe sah zu, wie Krupp sich an den Schreibtisch setzte, der der Hand Gottes vorbehalten war. Ihre Mienen besagten: Krupp hat keine Eier, Krupp ist ein Schnösel, Krupp ist nicht Levada.
Krupp sorgt für Chaos.
In diesem Moment betrat Lopez den Raum. Er reichte einem der Uniformierten einen Stapel Zettel mit spärlichen Informationen, mit der Aufforderung, sie zu verteilen. Dann setzte er sich auf den Stuhl zur Rechten des Commissario.
Krupp begann zu sprechen.
»Am Dienstag, den 7. Januar gegen 22 Uhr wurde Lorena Haller, 24 Jahre, drogenabhängige Prostituierte, hinter der Mobil-Tankstelle in der Via Renon ermordet aufgefunden. Dottor Simoni hat an der Leiche 24 …«
Die Mastini unterhielten sich weiter.
Lopez sagte so laut, dass es alle hören konnten: »Die Jungs sind müde, kein Wunder bei dem Stress. Soll ich das machen?«
Krupp beugte sich vor, schlug die Beine übereinander und stützte sich auf den Schreibtisch. Sein folgender Satz sorgte dafür, dass Lopez’ Grinsen erlosch. »Machen Sie sich nützlich, und nehmen Sie weitere Aussagen auf, Ispettore Capo. Sie kennen das Prozedere.«
Die Gedanken der Bulldoggen zu interpretieren war nicht schwer. Ihre Mienen sagten: Krupp hat sich gerade sein eigenes Grab geschaufelt.
»Ich will die Prostituierte, die die Leiche gefunden hat, hierhaben, und die Anruferin bei der Polizei. Beim Opfer hat man weder Geld noch Papiere noch persönliche Gegenstände gefunden. Wahrscheinlich hatte sie eine Tasche oder einen Rucksack bei sich. Die oder den müssen wir finden. Ich will Lorena Hallers Akte. Sie ist polizeilich registriert, aber ihre Akte ist unauffindbar.«
Die Bulldoggen feixten. Das übliche Chaos.
Krupp umklammerte die Schreibtischkante. Seine Fingerknöchel waren weiß.
»Ich will Lorenas Freier, die Gäste des Sonnenberg und der umliegenden Bars. Lorena Haller war seit mindestens vier Jahren auf dem Strich, sie kannte die Risiken, und trotzdem ist sie bei ihrem Mörder ins Auto gestiegen. Es ist nicht auszuschließen, dass die beiden sich kannten und man sie schon vorher zusammen gesehen hat. Das müssen wir im Hinterkopf behalten.«
Die Gesichter der Bulldoggen besagten: Verschwendete Zeit.
Ein Arbeitsunfall.
»Ich will die Aussagen zu allen Verkehrsdelikten in der Gegend, inklusive Kennzeichen und Adressen der Fahrzeughalter.«
Eine der Bulldoggen, in einem scharlachroten Hemd und dunkler Krawatte, konnte sich nicht zurückhalten.
»Ist das nicht Sache der Verkehrspolizei, Commissario?«
Krupp antwortete nicht.
»Ich will alles über Lorena Haller wissen. Wo sie wohnte, mit wem, Freunde, Liebesbeziehungen, wo und von wem sie ihren Stoff bezog.«
»Commissario?«
Krupp seufzte. »Bitte.«
Der Glatzköpfige mit dem Kamelhaarmantel fragte: »Ist der ganze Aufwand nicht ein bisschen übertrieben? Es wird ein Dealer oder einer ihrer Freier gewesen sein. Ein bisschen Herumfragen, und schon ist der Fall gelöst.«
Krupp warf ihm einen scharfen Blick zu. »24 Messerstiche und ein atypischer Tatort. Ich würde Ihren Optimismus gerne teilen, glauben Sie mir.«
Er rückte seine Brille zurecht und fuhr fort: »Besorgen Sie die Unterlagen der Sitte. Wir müssen Stammkunden und Gelegenheitsfreier kontrollieren, checken Sie die Exhibitionisten, die Vergewaltiger, die Spanner.«
Er glaubte den Geruch des Büros seines Vaters wahrzunehmen. Dabei dachte er: Bringt mir die zur Wollust Verdammten.
»Wahrscheinlich hat keiner von ihnen Lorena Haller umgebracht, aber sie könnten in der Gegend gewesen sein, auf der Suche nach einem Abenteuer.«
Der Typ im scharlachroten Hemd grinste. »Commissario, ich bin verwirrt. Wir sollen nach jemandem suchen, der die Frau nicht umgebracht hat?«
Krupp reagierte verärgert: »Der Mörder ist in einem blutverschmierten Auto unterwegs, um 22 Uhr an einem stinknormalen Dienstag, und wir haben keine Zeugen?«
Schweigen.
Krupp dachte: Siebter Höllengraben des achten Kreises.
Die Diebe.
»Die Handtasche oder der Rucksack des Opfers. Der Mörder könnte sie mitgenommen haben, vielleicht als Trophäe, aber das können wir nicht mit Sicherheit sagen. Deshalb kontrollieren wir Taschendiebe, Kleinkriminelle, vor allem die, die auf Prostituierte spezialisiert sind.«
Krupp kam zum dritten Höllenkreis.
Die Schlemmer.
»Drogenabhängige, Dealer, Alkoholiker. Fragt bei der Drogenfahndung nach.«
Die Bulldoggen schnaubten, die Drogenfahndung war ein Kapitel für sich. Sie würden die Ermittlungen nicht unterstützen, selbst wenn der Polizeipräsident persönlich darum ersuchen würde. Höchstens Levada wäre in der Lage, sie zu überzeugen, denn Levada war die Hand Gottes, aber einer wie Krupp? Krupp war nichts als ein Weichei, das sich für einen Spürhund hielt. Und wie der Commissario Capo immer sagte: Was hat ein Weichei unter Bulldoggen zu suchen?
Er war Hundefutter.
Lächerlich.
»So weit zu den Zeugen. Kommen wir zu den potenziellen Tätern.«
Ma ficca li occhi a valle, che s’approccia
la riviera del sangue in la qual bolle
qual che per vïolenza in altrui noccia.
(Dante, Canto XII Inferno – vv 46–99)
Doch jetzt schau in das Tal hinab,
es naht der Strom des Bluts,
darin ein jeder, der Gewalt dem Nächsten antut,
wird gekocht.
»Ich will alle verurteilten Mörder, die ihre Strafe abgesessen haben und wieder auf freiem Fuß sind, und die Mordverdächtigen, denen wir nichts nachweisen können. Ich will die militanten Alkoholiker und Junkies, die Gewalttäter, die ihre Kinder und Frauen schlagen. Ich will alle Triebtäter, die Aggressiven, die Psychopathen, die zwar keine offizielle Diagnose haben, aber früher mal jemanden angegriffen haben. Auch wenn es nur eine Lappalie war. Verstanden?«
Krupp hielt inne, um wieder zu Atem zu kommen. Er umklammerte immer noch die Tischkante, so fest, dass seine Finger schmerzten. Die Bulldoggen interpretierten die Pause als Zeichen, jetzt aufstehen zu können, aber Krupp war noch nicht fertig. Er dachte: Das ist nichts für die Öffentlichkeitsarbeit.
»Meine Assistentin bei der Koordination der Einsatzkräfte vor Ort wird Sovrintendente Capo Arianna Lici sein.«
Die Bulldoggen waren erst verblüfft, dann empört.
Schließlich lachten sie.
Sie dachten: Levada wird ihn absägen.
»Sovrintendente Capo Lici ist von der Sitte, Commissario«, protestierte der Beamte im roten Hemd, »das ist gegen die Vorschriften. Frauen ist es nicht erlaubt, Teil der Mobilen Einsatzkräfte zu sein oder kriminalpolizeiliche Aufgaben zu übernehmen, Sexualdelikte, Gewalt gegen Frauen und Kinder ausgenommen.«
»Ihr Name, bitte?«
»Assistente Capo Bellini.«
»Betrachten Sie sich ab sofort als von den Ermittlungsaufgaben entbunden, Assistente Capo Bellini. Kümmern Sie sich bis auf Weiteres um die Abschriften der Zeugenaussagen.«
In Bellinis Gesicht stand die Frage geschrieben: Soll das ein Scherz sein? In Krupps dagegen die Antwort: Noch ein Wort, du Idiot.
»Der Mord an Lorena Haller hat absolute Priorität, alles andere ist zweitrangig«, sagte Krupp abschließend, Bellini senkte den Blick.
»Ist Levada informiert, Commissario?«, wagte einer zu fragen.
»Frohes Schaffen, meine Herren.«
Die Sohlen ihrer Turnschuhe quietschten auf dem Linoleum. Die Polizistin wirkte angespannt, aber ihr Blick war entschlossen. Sie kam sofort zum Punkt.
»Eine Frau im Team ist ein geschickter Schachzug, um die Presse friedlich zu stimmen.«
»Was heißt da ›eine Frau‹, Sie sind Polizistin. Und Sie sind nicht ›im Team‹, sondern unterstützen mich darin, das Team zu koordinieren.«
»Das werden die Journalisten anders sehen.«
»Glauben Sie, dass Sie der Aufgabe nicht gewachsen sind?«
Arianna Lici wurde rot. »Wenn Sie vorhaben, mich zur Quotenfrau zu machen, habe ich kein Interesse. Habe ich mich klar genug ausgedrückt, Commissario?«
Krupp versuchte sie mit Fakten zu überzeugen.
»11. September 1990. Sovrintendente Capo Lici war gerade auf dem Heimweg, als ihr etwas auffiel. Drei junge Männer und ein weißer Fiat Uno. Im Inneren des Wagens erkannte die Polizistin das Profil einer Frau, die sich offensichtlich gegen einen Angreifer wehrte. Die Beamtin war unbewaffnet und nicht im Dienst. Trotzdem drehte sie um, überwältigte den ersten Mann, schaltete auch den zweiten aus und brachte nach einer Verfolgungsjagd auch den dritten zur Strecke.«
»Ein gefundenes Fressen für die Presse.«
Commissario Capo Levada hätte an Krupps Stelle einen Tobsuchtsanfall bekommen. Für ihn wäre diese Bemerkung ein Angriff auf seine Autorität gewesen. Für Krupp dagegen war es die Bestätigung, die Richtige ausgewählt zu haben.
»Was dagegen nicht in die Zeitung gekommen ist, war die Tatsache, dass Sovrintendente Capo Lici bei einer Routinekontrolle zuvor eine Gruppe Vergewaltiger entlarvt hatte, die es auf Prostituierte abgesehen hatten. Sie machte ihren Vorgesetzten Meldung, die die Angelegenheit aber fallenließen, weil ihrer Meinung nach keine konkreten Beweise vorlagen.«
Aus einer Schreibtischschublade zog Krupp eine handgeschriebene Notiz. »Erkennen Sie das wieder? Anstatt die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen, ermittelt sie auf eigene Faust weiter, um die Gewalttäter zu finden und zu überführen. Sie sammelt die Ergebnisse in einer Akte, übergeht ihre Vorgesetzten bei der Sitte und wendet sich direkt an Commissario Capo Levada. Doch die Rekonstruktion der Beamtin, inklusive der Beschreibung der Täter und des Wagens, in dem sie unterwegs waren, läuft ins Leere.«
Krupp und Arianna Lici wussten, warum Levada keinen Finger gerührt hatte. Nicht nur, weil die Beamtin kostbare Zeit mit von Huren verbreiteten Gerüchten verschwendet hatte, denn die Aussagen von Frauen, deren Beruf es war, die Beine breitzumachen, hatten keinerlei Gewicht, sondern vor allem, weil sie die Hierarchie nicht eingehalten hatte, die von ihm selbst eingeführt worden war, um in der Largo Palatucci Nummer 1 alles unter Kontrolle zu haben.
Majestätsbeleidigung.
Nur eine Stufe unter Verrat.
»Und dann, am 11. September 1990, ertappte Sovrintendente Capo Lici – nennen wir es durch Zufall – die Täter auf frischer Tat.«
Krupp stand auf.
Sein Büro unterschied sich in nichts von den anderen. Der einzige Unterschied war ein kleiner Kühlschrank, wie man ihn oft in Hotels findet. Krupp hatte ihn aus eigener Tasche bezahlt, weil er nicht jedes Mal einen Beamten anrufen wollte, um sich bedienen zu lassen.
Das waren Polizisten, keine Kellner.
Er nahm eine Flasche Mineralwasser heraus und hielt sie ihr hin.
»Nein, danke.«
Krupp öffnete die Flasche und leerte sie in einem Zug.
»Sie haben Gespür, Hartnäckigkeit, Engagement, Schneid und Kaltblütigkeit bewiesen. Genau das, was ich brauche, um Lorena Hallers Mörder zu fassen und gleichzeitig die Bulldoggen im Zaum zu halten. Wollen Sie immer noch ablehnen?«
Sovrintendente Capo Lici rückte das Haargummi ihres Pferdeschwanzes zurecht.
»Nein, Commissario.«
»Duzen wir uns, in Ordnung?«
Arianna lächelte.
»Levada wäre nicht einverstanden.«
»Levada kann uns mal, oder?«
Als er mit nur drei Fotos aus der Dunkelkammer kam, rümpfte Jo die Nase.
»Ist das alles?«
»Das ist alles.«
»Schisser.«
Statt ihn nach Hause gehen zu lassen, zwang ihn der Chefreporter an eine Olivetti und legte ein Blatt Papier auf den Schreibtisch, auf dem oben »von A. M.« zu lesen war. Es war ein Artikel über das Buch eines nach Knoblauch stinkenden Priesters, erinnerte sich Milla nach kurzem Überfliegen.
Jo befahl ihm, den Text zu kürzen.
Von 4000 auf 2000 Anschläge.
»Gerne weniger. Und zwar jetzt, Champion.«
Es war 1.30 Uhr.
Milla schaute auf den nicht gerade taufrischen Text und fragte: »Echt jetzt?«
»Geht morgens die Sonne auf?«
Milla legte los. Er kürzte den Artikel auf 1700 Anschläge und winkte. Der Chefreporter zündete sich eine Zigarette an, riss das Blatt aus der Olivetti und begann mit gerunzelter Stirn zu lesen.
»Nicht schlecht«, brummte er.
Er griff nach einem Kugelschreiber und sagte lächelnd: »Mach dir Notizen und schau zu, wie der Meister das macht.«
Dann änderte er den Titel.
Milla las und verstand sofort, warum Jo ihn den verstaubten Artikel hatte überarbeiten lassen. Sein Magen krampfte sich zusammen.
»Das kannst du nicht tun.«
Jo verdrehte die Augen, hustete und sagte dann den Satz, den jeder Reporter gerne von seinem Chef hören will.
»Das nehmen wir auf die erste Seite.«
»Nicht mit dieser Überschrift, Jo.«
»Bist du John Wayne?«, fragte Jo und verschwand im Büro des Herausgebers. »Und wer bin ich dann?«
Rizzi, einer von der alten Garde, streckte den Daumen hoch. »Glückwunsch zum Aufmacher. Das erste Mal, oder?«
»Ja.«
»Und warum ziehst du dann so ein Gesicht? Freu dich doch!«
Milla lächelte traurig.
Er auf Seite eins. Hunderte Male hatte er sich das vorgestellt, aber nicht so.
Er dachte: Nein, Nana allein.
Das Ziehen im Magen wurde stärker.
Milla war wegen Oriana Fallaci Reporter geworden. Er hatte Ein Mann gelesen, ein Buch, das ihn umgehauen hatte. Wenn er Jo das erzählen würde, würde der sich kaputtlachen, aber so naiv war er nun auch nicht. Seine aufsteigende Übelkeit versuchte er damit zu unterdrücken, dass er an Oriana Fallaci dachte: Vietnam, 1967. Leuchtgeschosse in der Nacht und Soldaten mit herausquellenden Gedärmen. Schrecklich, grausam, aber: eine Tatsache. Oriana Fallaci, 26. September 1979, der Tschador, der vor Ayatollah Khomeini auf dem Boden landete. Dieser lächerliche Stofffetzen aus dem Mittelalter. Gewalttätig, provokant, aber: eine Tatsache. Oriana Fallaci in der Leichenhalle von Mexiko-Stadt, 2. Oktober 1968. Tatsachen, Tatsachen, Tatsachen.
Lorena Hallers Foto auf der ersten Seite war obszön, dokumentierte aber eine Tatsache. Milla klammerte sich an dieses Detail, um seine Schuldgefühle zu beruhigen. Er versuchte es jedenfalls. Der Titel, den Jo für die Geschichte über den nach Knoblauch stinkenden Priester ausgesucht hatte, war ein Scherz.
Grausam.
Mehr noch: unerbittlich.
Milla hatte den Priester Anfang Dezember interviewt, weil dieser seine Erinnerungen veröffentlicht hatte. Jo hatte beschlossen, darüber einen Text schreiben zu lassen, der Betschwestern und andere Durchgeknallte begeistern sollte. Milla hatte den Gestank ertragen, sich bemüht, das gewünschte Kleinvieh zusammengetragen, einen Artikel geliefert. Und dann war das Ergebnis seiner Bemühungen wie so oft in Vergessenheit geraten.
Kaum jemand hätte jemals von diesem Werk und seinem Autor erfahren, wenn es den Mord an der Mobil-Tankstelle und Jos Elefantengedächtnis nicht gegeben hätte.
Milla zog die Bomberjacke über und ging in Richtung Treppe. Er brauchte frische Luft.
Die Redaktion der Voce delle Alpi erstreckte sich über drei Stockwerke eines Gebäudes aus der Habsburgerzeit in der Via Dante, einer Allee, die zur Kaserne der Carabinieri und weiter zum Polizeipräsidium führte. Es war ein stattliches Gebäude, nicht ohne eine gewisse Eleganz, aber dort einen Parkplatz zu finden, war unmöglich.
Milla lief bis zu dem Musikgeschäft, vor dem er den Renault 5 geparkt hatte. Der Tank war fast leer, das Quietschen der Kupplung ließ ihn jedes Mal die Zähne zusammenbeißen, aber die alte Kiste leistete weiterhin gute Dienste und brachte ihn heil in die feuchte Souterrainwohnung, die er seit einiger Zeit sein Zuhause nannte.
Er warf sich aufs Bett, drückte das Gesicht in das Kissen und schrie.
Man musste kein Genie sein, um zu ahnen, welche Schlagzeile sich auf der ersten Seite der Zeitung finden würde, die in ein paar Stunden in den Kiosken ausliegen würde. Etwas wie:
Prostituierte ermordet.
Und zu erraten, warum Jo den Artikel über den Priester ausgegraben hatte, war ein Kinderspiel. Man musste nur an den neuen Titel denken, den er ihm verpasst hatte:
Der Exorzist: Der Teufel kehrt immer zurück.
Das wird für Gesprächsstoff sorgen, Champion.
Krupp hatte die Nacht damit verbracht, die Kollegen der Carabinieri davon zu überzeugen, ihm ein paar Männer zur Verfügung zu stellen, um die Berichte zu lesen und auszuwerten.
Lorenas Akte war gegen sechs Uhr morgens aufgetaucht, gerade als er spürte, wie das Übermaß an Koffein und die Frustration sich zu einer explosiven Mischung vereinigten.
Die erste Festnahme datierte vom 3. September 1986. Damals war Lorena neunzehn. Ihre Heroinsucht dürfte ein Jahr zuvor begonnen haben. Also sechs Jahre auf der Straße, nicht vier, wie Nancy behauptet hatte. Auf dem Fahndungsfoto vom 8. Mai 1990 wirkte Lorena fast amüsiert. Das war alles.
Lä-cher-lich.
Aus den Protokollen der befragten Personen, die angegeben hatten, in direktem Kontakt mit ihr gestanden zu haben, setzte sich ein kohärentes Bild des Opfers zusammen. »Das Mädchen« war unproblematisch, suchte keinen Streit, war nicht kriminell. Nichts, was auf die Identität des Mörders hindeuten könnte, außer die Verfestigung der Annahme, dass zwischen Lorena und ihrem Schlächter keinerlei Verbindung bestand und kein persönliches Motiv erkennbar war. Bezog man die Brutalität der Tat und die Entsorgung des Opfers mit ein, ließ das Ganze nur einen Schluss zu: Er hatte sie umgebracht, weil er es wollte. Daraus ließ sich die erschreckende Tatsache ableiten, dass ihm das Töten gefiel.
Krupp wusste, dass es auch unter den Bulldoggen einige gab, die zu diesem Schluss gekommen waren und deshalb so vehement ablehnend reagiert hatten. Es waren durchaus nicht alles Idioten. Sie hielten es nur für besser, so zu tun, als gäbe es gewisse Dinge nicht. Und selbst in ihm war etwas, das sich weigerte, das Wahrscheinliche zu akzeptieren: Der Mord an Lorena Haller war nicht wie jeder andere. Dahinter steckte etwas viel, viel Beängstigenderes.
Sicher war, dass wegen des Fehlens eines Motivs und ohne Indizien Zeugen der einzige Weg waren, den Killer aufzuhalten. Um diese Zeit, in diesem Teil der Stadt musste es Zeugen gegeben haben. Das hatte Krupp auch in seinem Bericht geschrieben.
Die Zeugen waren der Schlüssel.
Die Prostituierten und die Junkies im Stadtteil Dodiciville wollten keinesfalls als »Denunzianten« abgestempelt werden und sehnten sich danach, dass endlich wieder Ruhe einkehrte. Mordermittlungen bedeuteten zu viele Polizisten, und zu viele Polizisten bedeuteten keine Freier.
Und damit: kein Heroin.
Einige Prostituierte behaupteten, Lorena habe einen Freund gehabt, vielleicht einen Zuhälter, aber bei genauerem Nachfragen schwiegen sie. Keine Namen. Es konnte auch nicht ermittelt werden, wo Lorena ihre Tage verbracht hatte. Eine meinte, sie habe einen Wohnwagen in der Nähe der Ponte Sant’Antonio, wenige Meter von der Talvera entfernt, andere sagten aus, sie hätte in einer Absteige im Stadtteil Don Bosco gehaust oder auf den Bänken auf dem Bahnhofsgelände, wie viele andere auch. Niemand erwähnte die Baracken entlang des Isarco, in der Via Roma, nahe der gleichnamigen Brücke, dort lebten ja nur Migranten.
Frage (F): Ging Lorena Haller auch mit illegalen Migranten aus?
Antwort (A): Ich habe ihr gesagt, sie soll das lassen. Aber ich weiß es nicht. Ich bin doch kein Babysitter.
F:Hat sich Signorina Haller mal über besonders nervöse oder aufdringliche Freier beschwert?
A:Was meinen Sie mit aufdringlich?
F:Jemand, der sie bedroht oder geschlagen hat.
A:Ich habe es doch schon gesagt. Es waren die Marokkaner. Diese Leute eben. Die behandeln Frauen wie Müll. Ihr fragt die Falschen.
F:Sie haben gesagt, dass Signorina Haller normalerweise keine illegalen Migranten als Kunden hatte. Wollen Sie diese Aussage korrigieren?
A:Fragen Sie doch bei denen.
F:Ich werde Ihnen einige Fotos zeigen. Es handelt sich um mögliche Verdächtige. Wir würden gerne wissen, ob Sie einen oder mehrere davon in Begleitung von Signorina Haller gesehen haben.
A:Habe ich nicht das Recht auf einen Anwalt?
»Luther.«
Levada klopfte nicht an, weil er nicht anklopfen musste. Levada war das Alphamännchen. Selbst die Luft, die Krupp atmete, gehörte ihm. Er lehnte seine hundert Kilo auf den Schreibtisch, beugte sich vor und lächelte. Der Commissario Capo trug einen Vollbart, roch nach Kölnisch Wasser und machte einen jovialen Eindruck. Das Abbild eines Familienvaters alter Schule. Einer, der Probleme mit Ohrfeigen löst.
»Ich habe mit Rotter und Biagi gesprochen«, sagte er und tippte mit einer Zigarette auf den Aktenstapel, »dem Zuständigen der Carabinieri, den du aus dem Bett geklingelt hast. Die beiden wundern sich über den ganzen Aufwand.«
»Sie haben auch mit den Bulldoggen gesprochen?«
»In der Tat, auch von dort kam Widerspruch, vor allem von Lopez. Du hättest ihn nicht vor den Kopf stoßen sollen, vor allem nicht vor den anderen. Er verdient Respekt.«
»Teilen Sie die Einwände?«
Levada steckte sich den kleinen Finger ins Ohr. »Ich sage dir das Gleiche, das ich allen anderen gesagt habe, Lopez eingeschlossen. Es ist dein Fall, und du kannst auf meine Unterstützung zählen. Aber als dein Vorgesetzter muss ich dir einige Überlegungen mit auf den Weg geben.«
Levada zündete die Zigarette an.
Krupp erhob sich, öffnete das Fenster und bereitete sich auf den Kampf vor.
»Nach der Beerdigung«, sprach der Commissario Capo weiter, »wird sich niemand mehr für diese Geschichte interessieren. Du bist jung, du willst ins Rampenlicht. Und das ist gut so. Aber der Mord an einer Nutte wird dir da nicht weiterhelfen.«
»24 Messerstiche, keine Beziehung zum Opfer, keine Anzeichen von Reue oder Panik. Das ist kein Mord wie alle anderen.«
Levada schnippte einen Aschekrümel von seiner Krawatte. »Hast du die Dealer gefunden, die sie versorgt haben?«
»Wir sind dran, aber die Drogenfahndung …«
»Ein Freund?«
»Das ist kein Mord wie alle anderen.«
»Kein Mord ist wie der andere, Luther.«
Levada hatte die Fundortfotos gesehen, seinen Bericht gelesen. Sich seine Feststellungen vielleicht sogar von Dottor Simoni telefonisch bestätigen lassen. Ihm konnte nicht entgangen sein, was für Krupp offensichtlich war. Levada sagte das nur, um ihn zu provozieren.
Und in der Questura in der Largo Palatucci Nummer 1 beantwortete man eine Provokation mit einer Provokation. Oder du gehst vor die Hunde.
»15 000«, sagte Krupp, »15 131, um genau zu sein. Das sind die registrierten Straftaten des vergangenen Jahres. Gerade einmal 1602 wurden aufgeklärt.«
»Ich war noch nie gut in Mathe, wie viele davon sind Fahrraddiebstähle?«
»Ich gehe davon aus, dass man die unter den 1600 suchen muss.«
Levada lachte und warf die Zigarettenkippe aus dem Fenster. »Was sagst du zu einer gebührenfreien Nummer? Man spricht auf einen Anrufbeantworter, damit man anonym bleiben kann.«
»Soll das ein Scherz sein?«
»Du brauchst Zeugen.«
»Aber nicht so.«
»Es gibt bestimmt Freier, die etwas gesehen haben könnten, aber wegen einer schnellen Nummer nicht in der Zeitung landen wollen.«
»Das ist eine Schnapsidee.«
Levada sah ihn durchdringend an. »Glaubst du, du hast die Eier für eine solche Ermittlung?«
Das hieß: Entweder du stehst auf meiner Seite oder du bist raus.
»Absolut.«
»Gut, dann sind wir uns einig. Und was diese Sovrintendente Capo von der Sitte angeht, wie heißt sie noch mal?«
»Arianna Lici.«
»Ich muss sagen, dass ich das für eine gute Idee halte. Ich hätte mir zwar eine Hübschere ausgesucht, aber man macht eben das Beste aus seinen Möglichkeiten. Ich gehe nicht davon aus, dass wir eine Miss Italia im Polizeidienst haben.«
»Arianna Lici ist eine hervorragende Beamtin.«
»Wenn du das sagst, Luther. Und jetzt mach dich frisch, die Presse wartet. Hast du schon einen Blick in die Zeitungen von heute geworfen?«
»Ich hatte noch keine Zeit.«
»Schade. Vergiss nicht, dass Journalisten sich wichtig fühlen wollen. Sie brauchen das, die Armen.«
Um 7.12 Uhr betraten Krupp, Levada, Lopez und Arianna Lici den Raum in der Questura, in dem die Pressekonferenz stattfand.
Sämtliche Kriminalreporter der Region waren vor Ort, außerdem Vertreter der italienisch- und der deutschsprachigen Presse. Auch Radio und Fernsehen waren präsent. TV-Reporter kamen eher selten, denn Berichte über Kriminalfälle wurden von der Politik nicht gern gesehen. Schlecht für den Tourismus.
Jo von der Voce delle Alpi saß in der zweiten Reihe. Er wirkte verkatert. Als er Krupps Blick bemerkte, winkte er ihm zu.
Commissario Capo Levada dankte den Anwesenden für ihr Interesse, bat um Verständnis für die Uhrzeit, die »operativen Notwendigkeiten« geschuldet sei, gab einen allgemeinen Überblick über die Situation und kam dann zum Punkt.
»In Anbetracht der Grausamkeit der Tat wurde auf meine Initiative und mit der vollen Unterstützung von Questore Comi, Colonello Biagi von den Carabinieri Trentino Alto Adige und der Staatsanwaltschaft eine behördenübergreifende Taskforce eingerichtet, mit dem Ziel, den Schuldigen so schnell wie möglich zu verhaften.«
Krupp fragte sich, von wem Levada den Begriff »Taskforce« hatte.
»Darüber hinaus informieren wir sie«, sprach der Commissario Capo weiter, »dass eine anonyme gebührenfreie Nummer eingerichtet wurde, um möglichst viele sachdienliche Hinweise zu sammeln, damit wir den Mörder von …«, Levada suchte in seinen Notizen nach dem Namen, »Lorena Haller seiner gerechten Strafe zuführen können.«
Ein Reporter konnte sich nicht zurückhalten: »Wie lautet diese Nummer, Commissario Capo?«
»Die Nummer ist 97 35 03, alle Hinweise werden anonym entgegengenommen.«
Die Presseleute beugten sich über ihre Notizbücher.
Siebenundneunzig.
Fünfunddreißig.
Null drei.
»Wir bitten Sie, diese Nummer zu verbreiten. Um dieses Monster dingfest zu machen, das sich mit dem Blut dieses unglückseligen Geschöpfs besudelt hat, benötigen wir die Unterstützung aller Bürger.«
Die Stifte kratzten wieder über das Papier, das war ein Satz mit Titelseitenqualität.
»Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Sie offiziell davon in Kenntnis zu setzen, dass Commissario Luther Krupp die Taskforce verantwortlich leiten wird. Commissario Krupp hat seine Fähigkeiten bereits hinreichend bewiesen. Und ich möchte noch hinzufügen, dass er gebürtiger Südtiroler ist, was ihn zusätzlich motiviert. Er kennt die Region und ihre Menschen, und wie wir alle weiß er, dass unsere schöne Heimat keinen Schaden nehmen darf.«
Krupp spürte den Schatten der Partei, der sich über den Fall legte. Dass er nicht früher daran gedacht hatte! Was war er doch für ein Idiot. Levada stand kurz vor der Pensionierung, war höchstens noch zwei Jahre im Dienst. Vielleicht hatte ihm die Partei einen Posten für die Zeit danach angedeutet: die Leitung einer Beteiligungsgesellschaft oder die Präsidentschaft einer Stiftung.
»Können Sie uns Details zum Stand der Ermittlungen mitteilen?«, fragte die einzige Frau im Saal.
»Wir ermitteln in alle Richtungen. Drogen, Prostitution, natürlich auch unter den Migranten.«
Algerier, Tunesier, Marokkaner, Mazedonier, Rumänen, Albaner. Bevölkerungsgruppen, die mit dem Messer rasch bei der Hand und bei den Einheimischen verhasst waren. Noch mehr potenzielle Schlagzeilen. Der Commissario Capo wusste, wie man Stimmungen schürte.
»Ist Commissario Krupp nicht ein wenig jung für einen so komplexen Fall?«, fragte Jo und erhob sich.
Johann »Jo« Serafini war nicht irgendein Wald-und-Wiesen-Journalist. Er war der König der Aasgeier und einer der Ersten, die Levada in den Arsch gekrochen waren, er war das Sprachrohr des Commissario Capo. Krupp begriff, dass er in der Falle saß.
Levada richtete sich auf: »Ich teile Ihre Besorgnis zwar nicht, verstehe aber den Gedanken dahinter. Erfahrung ist ein wichtiger Faktor, und wenn Sie mich hätten zu Ende sprechen lassen, hätte ich hinzugefügt, dass der Commissario auf Unterstützung zählen kann. Einer unserer besten Beamten wird ihm bei den Ermittlungen zur Seite stehen. Es handelt sich um …«
Krupp dachte: Scheiße, Scheiße, Scheiße.
»Ispettore Capo Mario Lopez.«
Ein Meisterstück.
Levada hatte sich selbst geschickt aus einer womöglich langwierigen und komplizierten Ermittlung herausmanövriert und gleichzeitig seine rechte Hand in Stellung gebracht, um Krupps mögliche Fehler zu dokumentieren. Sollten die Ermittlungen nicht zum gewünschten Ergebnis führen, würde nur Krupps Kopf rollen. Sollte allerdings das Gegenteil eintreten, konnte Levada mit Genugtuung daran erinnern, wer die Idee der Taskforce hatte.
Aber Jo war noch nicht fertig: »Erlauben Sie eine Frage, Commissario Krupp?«
Krupp räusperte sich: »Ich glaube, das wäre etwas verfrüht …«
»Commissario Krupp«, sagte Jo und hielt eine Ausgabe der Voce delle Alpi in die Höhe, »finden Sie es nicht peinlich, dass Lorena Hallers Eltern vom Tod ihrer Tochter aus der Zeitung erfahren mussten und nicht von Ihnen?«
Krupp dachte: Die Akte der Sitte. Schlampig. Peinlich. Lä-cher-lich. Er hatte sie wieder und wieder gelesen. Die Familie wurde nicht erwähnt. Das bedeutete: Die Information war entfernt worden. Jemand wollte eine Rechnung mit ihm begleichen.
Die Uhr seines Vaters zeigte 8.10 Uhr, und Levadas schockierter Gesichtsausdruck war oscarreif. Arianna war bleich vor Wut.
Lopez dagegen strahlte über das ganze Gesicht.
Lorenas Mutter hatte die gleiche Gesichts- und Augenform wie ihre Tochter. Der Vater saß in einem Sessel, starrte auf ein Foto in seinen Händen und blickte nicht einmal auf, als Krupp sich für die Umstände entschuldigte, unter denen sie die Todesnachricht erfahren hatten. Dabei dachte er an Lopez und Levada. Es war nicht leicht, Scham und Wut beiseitezuschieben und das Gespräch zu beginnen.
»Erzählen Sie mir bitte von Lorena.«
»Wir haben sie erst spät bekommen«, begann Marion Haller, die Augen rot vom Weinen, »wir hatten gar nicht mehr damit gerechnet. Sie war ein fröhliches Mädchen, selbst in der Pubertät. Bis zum sechzehnten Lebensjahr hatten wir keinerlei Schwierigkeiten mit ihr.«
»Und was ist dann passiert?«
»Dann kam Sergio Giuliani. Lorena sagte, er würde aussehen wie Jim Morrison. Sergio war 23, sieben Jahre älter als sie. Er war drogenabhängig, das hat er ihr gleich gesagt. Und dass er in Behandlung sei und dabei wäre, mit den Drogen aufzuhören.«
»Und wie haben Sie reagiert?«
»Wir wussten ja, dass sie ihn durch Zufall im Zug kennengelernt hatte, deshalb dachten wir, sie würden sich ein paar Briefe schreiben, ab und zu telefonieren und sich dann aus den Augen verlieren.«
»Aber so war es nicht?«
»Sergio wohnte in Bozen. Sie sahen sich fast jeden Tag. Als wir davon erfuhren, haben wir versucht, sie zur Vernunft zu bringen. Der große Altersunterschied, seine Drogenabhängigkeit, aber sie war …«
»Ein junges Mädchen.«
Die Mutter drehte den Ehering an ihrem Finger. »Sergio hat ihr eine regelrechte Gehirnwäsche verpasst: Deine Eltern sperren dich in einen Käfig, sie wollen nicht, dass du dein eigenes Leben lebst. Solche Sachen eben.«
Das konnte sich Krupp gut vorstellen. Wie er ihr versprach, die Sterne vom Himmel zu holen, und sie ihm jedes Wort glaubte.
»Hatte Giuliani mit dem Heroin aufgehört?«
Die Antwort lag auf der Hand, aber Marion Haller wirkte abwesend, und Krupp wollte nicht, dass sie an ihre tote Tochter dachte.
»Methadon ist eine gute Sache, aber eben nicht die Lösung