Indiana - George Sand - E-Book

Indiana E-Book

George Sand

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Beschreibung

Indiana, eine junge Adlige, die von französischen Kolonialsiedlern vom heutigen La Réunion abstammt und derzeit in Frankreich lebt, ist mit einem älteren Ex-Offizier namens Colonel Delmare verheiratet und leidet an einer Vielzahl unbekannter Krankheiten, vermutlich aufgrund des Mangels an Leidenschaft in ihrem Leben. Indiana liebt Delmare nicht und sucht jemanden, der sie ernsthaft begehrt. Sie übersieht ihren Cousin Ralph, der bei ihr und dem Oberst lebt. Wie sich herausstellt, betet Ralph Indiana an. Als ihre junge, hübsche Nachbarin Raymon de Ramiere Indiana sein Interesse erklärt, verliebt sie sich in ihn. Doch Raymon hat bereits Indianas Dienstmädchen Noun verführt, das mit seinem Kind schwanger ist.

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LUNATA

Indiana

George Sand

Indiana

© 1832 George Sand

Französischer Originaltitel Indiana

Umschlagbild Waller Hugh Paton

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Achtundzwanzigstes Kapitel

Neunundzwanzigstes Kapitel

Schluß

Erstes Kapitel

An einem regnerischen, kühlen Herbstabend saßen in einem kleinen Schloss der Brie drei Personen und sahen, in Nachdenken versunken, das Holz im Kamin verbrennen und den Zeiger an der Uhr langsam vorrücken. Zwei dieser Schweigsamen schienen sich der Langweile geduldig zu ergeben. Der dritte der Anwesenden dagegen bewegte sich auf seinem Sitze unruhig hin und her, erstickte halblaut ein melancholisches Gähnen und schlug mit der Feuerzange auf die funkensprühenden Holzstücke.

Es war der Herr des Hauses, der Oberst Delmare, ein alter Degenknopf auf Halbsold, früher schön, jetzt von schwerfälliger Körperfülle, mit kahler Stirn, grauem Bart und ein Paar Augen, vor deren Blick alles zitterte, Frau, Diener, Pferde und Hunde. In seiner Ungeduld begann er endlich mit schwerem Schritte die ganze Länge des Salons auf und ab zu messen, in jener militärisch steifen Haltung, welche den Mann der Parade und den Musteroffizier charakterisiert.

Aber jene Tage des Glanzes, wo der Leutnant Delmare mit der Luft des Feldlagers Ruhm und Triumphe einatmete, waren längst vergangen. Der höhere Offizier außer Dienst, von dem undankbaren Vaterland vergessen, sah sich jetzt verurteilt, die Folgen einer spät geschlossenen Ehe zu tragen. Er war Gatte einer jungen, hübschen Frau, Besitzer eines bequemen Schlosses und dazu ein in seinen Spekulationen glücklicher Fabrikherr. Während er seinen alten, im Geschmack der Zeit Ludwig XV. möblierten Salon durchschritt, warf er bei jeder Wendung seiner Promenade einen scharfen Blick auf die beiden Genossen dieses schweigsamen Abends und wandte dabei seiner Frau jene argwöhnische Aufmerksamkeit zu, mit welcher er nun seit drei Jahren diesen gebrechlichen und kostbaren Schatz hütete.

Denn seine Frau war erst neunzehn Jahre alt, und wenn man sie in der Ecke dieses ungeheuren Kamins von weißem Marmor sah, so schmächtig, so bleich, so traurig, den Ellbogen auf ihre Knie gestützt, so jung, inmitten dieser alten Haushaltung, so mußte man wohl die Gattin des Obersten Delmare beklagen und vielleicht den greisen Oberst noch mehr.

Die dritte Person, ein Mitbewohner dieses einsamen Hauses, saß an der anderen Seite des Kamins. Es war ein Mann in der vollen Kraft und Blüte seiner Jugend, dessen reiches, hellblondes Haar und wohlgepflegter Backenbart in grellem Gegensatz zu dem grauen Haar, der fahlen Gesichtsfarbe und den rauen Zügen des Hausherrn standen; aber man brauchte nicht Künstler zu sein, um den rauen und strengen Ausdruck Herrn Delmares den regelmäßigen nichtssagenden Gesichtszügen des jungen Mannes vorzuziehen; wenn er schon wegen der kräftigen Bildung seiner Formen, der glatten Weiße seiner Stirn, der Ruhe und Klarheit seiner Augen, seiner schönen Hände und sogar wegen der ausgesuchten Eleganz seiner Jagdkleidung in den Augen jeder Frau, die in der Liebe dem Geschmack des vorigen Jahrhunderts huldigte, für einen schönen Kavalier gelten durfte. Aber vielleicht bestand zwischen dieser schwächlichen leidenden Frau und diesem schläfrigen und mit gutem Appetit gesegneten Manne durchaus gar keine Sympathie. Gewiß ist, daß sich das Argusauge des Eheherrn vergeblich anstrengte, zwischen diesen beiden so ungleichen Wesen einen wärmeren Blick oder ein schnelleres Aufatmen der Brust zu entdecken.

Das einzige glückliche Geschöpf in dieser Gruppe war ein schöner Jagdhund, welcher seinen Kopf auf die Knie des am Kamin sitzenden Mannes gelegt hatte. Er zeichnete sich durch seinen schlanken Wuchs, seine spitze, fast der eines Fuchses ähnlichen Schnauze und sein kluges Gesicht aus, welches ganz von verwirrten Haaren starrte, zwischen denen zwei große, gelbe Augen hervorglänzten. Diese Augen, die in der Hitze der Jagd so blutgierig blicken können, zeigten jetzt einen Ausdruck von unbeschreiblicher Zärtlichkeit, und wenn der Herr, der Gegenstand dieser Liebe, das silbergraue Seidenhaar des schönen Hundes streichelte, glänzten dessen Augen vor Vergnügen, während sein langer Schwanz den Kamin taktmäßig fegte. Endlich ließ das Tier ein leichtes schüchternes Bellen hören und setzte seine beiden Pfoten auf die Schultern seines geliebten Herrn.

»Leg' dich, Ophelia, leg' dich!« gebot der junge Mann und richtete in englischer Sprache einen ernsten Tadel an das gelehrige Tier, welches beschämt zu Frau Delmare kroch, als wolle es sie um ihren Schutz bitten. Aber Frau Delmare verharrte in ihrem träumerischen Sinnen und ließ Ophelias Kopf ohne Liebkosung auf ihren beiden weißen Händen ruhen, die sie über ihrem Knie gefaltet hielt.

»Dieser Hund ist also im Salon völlig eingebürgert?« sagte der Oberst, heimlich erfreut, einen Ableiter für seine üble Laune zu finden. »In den Stall, Ophelia! fort, dummes Tier!«

Wenn jemand jetzt Frau Delmare beobachtet hätte, so würde er bei diesem geringfügigen Anlass das schmerzliche Geheimnis ihres ganzen Lebens haben erraten können. Ein unmerklicher Schauer überlief ihren Körper und ihre Hände umklammerten heftig den Hals des Tieres, wie um es zu beschützen. Herr Delmare zog seine Jagdpeitsche aus der Rocktasche und ging mit drohender Miene auf die arme Ophelia los. Frau Delmare wurde noch blasser als gewöhnlich; ihr Busen wogte krampfhaft und mit einem Ausdruck unaussprechlichen Schreckens, ihre großen blauen Augen auf ihren Gatten richtend, rief sie:

»Um Gottes willen, mein Herr, töten Sie das unschuldige Tier nicht!«

Diese wenigen Worte genügten, den Zorn des alten Soldaten zu dämpfen.

»Das ist ein Vorwurf,« sagte er peinlich berührt, »mit dem du mich seit dem Tage verfolgst, wo ich auf der Jagd in meinem Unmut dein Windspiel niederschoss. Ist denn ein Hund, der auf keinen Zuruf hört und das Wild verscheucht, ein so großer Verlust? Übrigens hast du ihn erst seit seinem Tode lieben gelernt, vorher beachtetest du ihn nicht; aber jetzt ist es eine willkommene Gelegenheit, mir Vorwürfe zu machen.«

»Habe ich dir je einen Vorwurf gemacht?« fragte Frau Delmare sanft.

»Das habe ich nicht behauptet,« erwiderte der Oberst, in fast väterlichem Tone, »aber in den Tränen gewisser Frauen liegen herbere Vorwürfe, als in den härtesten Worten. Zum Henker, du weißt wohl, daß ich in meiner Nähe nicht gern weinen sehe.«

»Du siehst mich niemals weinen, denke ich.«

»Aber ich sehe fortwährend deine geröteten Augen, und das ist meiner Treu noch schlimmer!«

Während dieser ehelichen Auseinandersetzung war der junge Mann aufgestanden und hatte mit der größten Ruhe Ophelia hinausgeführt, dann setzte er sich wieder Frau Delmare gegenüber, nachdem er ein Licht angezündet und es auf den Rand des Kamins gestellt hatte. Sobald das Antlitz der jungen Frau durch das Licht eine schärfere Beleuchtung erhielt, bemerkte Herr Delmare ihre leidende Miene, ihre krankhafte Gesichtsfarbe und den matten Blick ihrer umränderten Augen. Er trat zu ihr und fragte sie mit der Unbeholfenheit eines Mannes, dessen Herz und Charakter selten in Einklang sind, kurz und abgebrochen:

»Wie befindest du dich heute, Indiana?«

»Wie gewöhnlich, ich danke dir,« antwortete sie, ohne Überraschung oder Groll zu zeigen.

»Wie gewöhnlich! Das ist eine Antwort, die weder gut noch schlecht bedeutet. Ich weiß, daß du dich nicht wohl befindest, das hast du selbst Sir Ralph gesagt. Oder ist das nicht wahr? Sprechen Sie, hat sie es gesagt?«

»Sie hat es mir gesagt,« antwortete Sir Ralph phlegmatisch, ohne den vorwurfsvollen Blick zu beachten, den Indiana ihm zuwarf.

In diesem Augenblicke trat eine vierte Person ein, Es war das Faktotum des Hauses, ein ehemaliger Sergeant im Regiment des Herrn Delmare.

Er habe Grund zu glauben, erklärte er, daß sich Kohlendiebe in den vergangenen Nächten um die jetzige Stunde in den Park eingeschlichen hätten. Er wolle, ehe er die Türen schlösse, seine Runde machen und bat um eine Flinte. Herr Delmare holte sogleich zwei Jagdflinten und gab Lelièvre eine davon.

»Wie?« rief Frau Delmare entsetzt, »du wolltest einiger Säcke Kohlen wegen einen armen Bauer töten?«

»Ich schieße jeden Menschen, der sich des nachts bei mir einschleicht, wie einen Hund nieder,« antwortete Delmare gereizt. »Das Gesetz gibt mir die Vollmacht dazu.«

»Das ist ein abscheuliches Gesetz!« erwiderte Indiana. Sie war im Begriff, heftig zu werden, bezwang sich jedoch und fügte in sanfterem Tone hinzu: »Aber deine Gicht? Du wirst morgen Schmerzen haben, wenn du in diesem Regen hinausgehst.«

»Du hast gewaltige Furcht, deinen alten Gatten pflegen zu müssen!« antwortete Delmare, indem er unter Verwünschungen über sein Alter und seine Frau mit heftigen Schritten hinausging.

Zweites Kapitel

Indiana Delmare und Sir Ralph Brown beobachteten, als sie allein waren, dieselbe kalte Gleichgültigkeit wie vorher. Endlich brach sie das Stillschweigen und sagte im Tone sanften Vorwurfs:

»Es war doch nicht recht, lieber Ralph; ich hatte dich gebeten, Herrn Delmare nicht zu verraten, daß ich mich leidend fühle. Er ist der letzte, der von meiner Krankheit wissen soll.«

»Ich begreife dich nicht, Liebe,« antwortete Sir Ralph; »du hast unrecht, dich so gegen den Oberst zu erbittern; er ist ein Mann von Ehre.«

»Und wer sagt denn das Gegenteil, Sir Ralph? ...«

»Ei, du selbst, ohne es zu wissen. Deine Traurigkeit, dein krankhafter Zustand und, wie er selbst bemerkt, deine roten Augen sagen jedermann, daß du nicht glücklich bist...«

»Schweigen Sie, Sir Ralph, Ich habe Ihnen nicht erlaubt, so viel Dinge zu wissen.«

»Nun ja, ich bin dir nicht fein genug, ich kenne die Subtilitäten deiner Sprache nicht, ich weiß nicht, was man in englischer oder französischer Sprache den Frauen sagen muß, um sie zu trösten. Ein anderer hätte die Kunst besser verstanden dein Vertrauen zu gewinnen, und vielleicht wäre es ihm gelungen, dein Herz, das gegen mich kalt und verschlossen bleibt, zu beruhigen. Ich mache nicht zum erstenmal die Erfahrung, wie in Frankreich die Worte eine größere Herrschaft haben als die Gedanken. Besonders die Frauen ...«

»O, du hegst eine tiefe Verachtung gegen die Frauen, lieber Ralph. Ich stehe hier allein gegen zwei und muß mich also drein ergeben, niemals recht zu haben.«

»Gib uns unrecht, liebe Cousine, indem du deine frühere Heiterkeit, Frische und Lebhaftigkeit wieder annimmst. Denke an die Insel Bourbon und unsere köstliche Einsiedelei in Bernika, an unsere heitere Kindheit und unsere Freundschaft, die so alt ist, wie du ...«

»Ich denke auch an meinen Vater ...,« sagte Indiana mit schmerzlichem Nachdruck, indem sie Ralphs Hand ergriff.

Sie versanken in ein tiefes Stillschweigen.

»Indiana,« begann Ralph nach einer Pause, »was fehlt dir? Du lebst in einem Wohlstande, der dem Reichtum vorzuziehen ist, hast einen trefflichen Gatten, der dich vom ganzen Herzen liebt, und, ich wage es zu sagen, einen aufrichtigen, ergebenen Freund.«

Frau Delmare drückte leise Ralphs Hand, änderte aber ihre Stellung nicht; ihr Kopf blieb auf ihren Busen geneigt und ihr feuchtes Auge auf die Kohlenglut im Kamin gerichtet.

»Deine Traurigkeit, liebe Freundin,« fuhr Ralph fort, »ist ein krankhafter Zustand. Wer von uns kann dem Trübsinn, dem Spleen entgehen! Blicke um dich und du wirst viele Leute finden, die dich mit Recht beneiden. So ist aber der Mensch, immer richtet sich sein Sehnen auf das, was er nicht hat.«

Sir Ralph befand sich hier nicht in seinem Elemente. Es fehlte ihm weder an Verstand, noch an Bildung, aber eine Frau zu trösten, war eine Aufgabe, die seine Kräfte überstieg. Er begriff den Kummer anderer so wenig und fühlte seine Ungeschicklichkeit so sehr, daß er es selten wagte, eine Pflicht der Freundschaft zu erfüllen, die er für die peinlichste hielt.

Während wieder Schweigen herrschte, vernahm man nur noch die tausend leisen Stimmen, welche in dem brennenden Holze knisterten, das Pfeifen des Windes und das Rauschen des gegen die Fenster schlagenden Regens. Dieser Abend war einer der trübsten, welche Frau Delmare in ihrem kleinen Schloss der Brie zugebracht hatte. Auch lastete eine unbestimmte Ahnung auf ihrem, jedem Eindruck leicht zugänglichen Gemüte. Sie besaß allen Aberglauben einer nervösen Kreolin; gewisse Stimmen der Natur, das eigentümliche Licht des Mondes ließen sie an ein bevorstehendes Unglück glauben, und die Nacht hatte für diese träumerische und melancholische Frau eine Sprache voll Geheimnisse und Visionen, welche sie je nach ihren augenblicklichen Sorgen und Körperleiden zu deuten pflegte.

»Du wirst mir wieder sagen, ich sei töricht,« bemerkte sie, indem sie ihre Hand, welche Sir Ralph noch immer hielt, zurückzog; »aber es droht jemandem ... wahrscheinlich mir ... eine Gefahr; ich fühle mich aufgeregt, als wenn mir eine neue Gestaltung meines Schicksals bevorstände ... Ich fürchte mich,« fügte sie schaudernd hinzu.

Und ihre Lippen wurden so bleich wie ihre Wangen. Erschrocken über ihre tödliche Blässe, zog Sir Ralph die Klingel, um Hilfe herbeizurufen. Niemand kam, und da Indiana immer schwächer wurde, legte er sie auf eine Chaiselongue, eilte durch alle Zimmer, Wasser und flüchtige Salze suchend, ohne sie zu finden, zerriß alle Klingeln und rang die Hände vor Ungeduld und Unmut über sich selbst.

Endlich kam er auf den Gedanken, die Glastür, die nach den Park führte, zu öffnen, und nach Lelièvre und nach Indianas Kammermädchen, der Kreolin Noun, zu rufen.

Einige Augenblicke nachher kam Noun aus einer der finstersten Alleen des Parkes hervor und fragte lebhaft, ob Frau Delmare sich kränker als gewöhnlich fühle.

»Ja, sehr krank,« antwortete Herr Brown.

Beide traten in den Salon und eilten der ohnmächtig gewordenen Frau Delmare zu Hilfe.

Noun war ihre Milchschwester und ist gemeinsam mit ihr erzogen worden. Beide liebten sich zärtlich. Noun, groß, stark, strahlend von Gesundheit, lebhaft, flüchtig und voll des heißen, leidenschaftlichen Blutes der Kreolen, übertraf an glänzender Schönheit den bleichen, zarten Reiz Indianas, die gegenseitige große Anhänglichkeit ließ jedoch ein Gefühl weiblicher Rivalität zwischen ihnen nicht aufkommen.

Als Frau Delmare wieder zu sich kam, fiel ihr die Aufregung in den Zügen ihres Kammermädchens, die Unordnung und Nässe ihres Haares, die Unruhe, die sich in ihrem ganzen Wesen zeigte, sofort auf.

»Beruhige dich doch, mein armes Kind,« sagte Indiana freundlich.

Noun drückte die Hand ihrer Herrin an ihre Lippen und fragte in einer seltsamen Angst und Verstörtheit:

»Ach Gott, gnädige Frau, wissen Sie, warum Herr Delmare im Park ist?«

»Warum?« wiederholte Indiana, »wenn ich mich recht erinnere, so wollte er –«

»Herr Delmare behauptet, es seien Diebe im Park,« unterbrach sie Noun mit bebender Stimme; »er macht mit Lelièvre die Runde, beide mit Flinten bewaffnet...«

»Nun?« sagte Indiana, welche irgend eine Schreckensnachricht zu erwarten schien.

»Nun,« erwiderte Noun, indem sie in höchster Aufregung die Hände rang, »ist der Gedanke nicht entsetzlich, daß sie einen Menschen töten wollen?«

»Töten?« rief Frau Delmare auffahrend.

»Ja, ja, sie werden ihn töten!« sagte Noun mit unterdrücktem Schluchzen. Sie ging an das Fenster des Salons und von da wieder an die Chaiselongue ihrer Herrin zurück und lauschte mit angstvoller Miene auf das geringste Geräusch.

»Aber hast du denn ganz den Verstand verloren?« rief Sir Ralph unwillig. »Siehst du nicht, daß du deine Herrin erschreckst?« Fast in demselben Augenblicke machte der Knall eines Flintenschusses die Fensterscheiben erklirren. Noun sank auf ihre Knie.

»Was für erbärmliche unnötige Weiberfurcht!« schalt Sir Ralph, »man wird ein Kaninchen geschossen haben.«

»Nein, Ralph,« entgegnete Frau Delmare, mit festem Schritt nach der Tür gehend, »ich sage dir, es ist Menschenblut vergossen worden.«

Noun stieß einen durchdringenden Schrei aus.

Jetzt hörte man im Park Lelièvres Stimme. »Gut gezielt, Herr Oberst!« rief er. »Der Räuber liegt auf der Erde! ...«

Sir Ralph begann nun ebenfalls unruhig zu werden. Er folgte Frau Delmare, und einige Augenblicke nachher brachte man einen blutenden Menschen ins Haus, der kein Lebenszeichen gab.

»Nicht so viel Lärm und Geschrei!« rief der Oberst in einem Tone, der fast lustig klang, seinen erschreckten Dienern zu, welche sich um den verwundeten drängten; »meine Flinte war nur mit Salz geladen. Ich glaube sogar, ich habe ihn nicht einmal getroffen; er ist aus Schreck heruntergefallen.«

»Und dieses Blut,« fragte Frau Delmare vorwurfsvoll, »fließt es auch bloß aus Schreck?« Mit einer Entschlossenheit, die ihr niemand zugetraut hätte, trat sie zu dem verwundeten und leuchtete mit einem Lichte in sein Gesicht. Statt eines Strolches, wie man erwartet hatte, erblickte man einen jungen Mann mit edlen Zügen, sorgfältig, wie zur Jagd gekleidet. Eine Hand war nur leicht verwundet, aber seine zerrissenen Kleider und seine Ohnmacht ließen auf einen schweren Fall schließen.

»Kein Wunder!« sagte Lelièvre, »er ist ja zwanzig Fuß hoch heruntergefallen. Er ritt gerade auf der Mauerkante, als der Oberst auf ihn schoß. Infolge des Schmerzes ließ er los. Ich habe ihn selbst herunterfallen sehen.«

»Wenn dieser Mensch tot ist, so ist es meine Schuld nicht,« sagte der Oberst, »untersuche einmal die Hand, Indiana, und wenn du ein einziges Schrotkorn darin findest ...«

»Ich glaube dir gern,« antwortete Indiana, welche mit einer Kaltblütigkeit und einer moralischen Kraft, deren niemand sie für fähig gehalten hätte, aufmerksam den Puls und die Halsadern untersuchte. »Auch ist er nicht tot,« fügte sie hinzu, »sondern bedarf schleuniger Hilfe.«

Darauf ließ sie den Verwundeten in den Billardsaal bringen, welcher zunächst lag. Auf einige Bänke breitete man eine Matratze aus, und, von ihren Frauen unterstützt, verband Indiana die verwundete Hand, während Sir Ralph, welcher chirurgische Kenntnisse besaß, einen reichlichen Aderlass vornahm.

Der Oberst war unter dem Hauseingang bei seinen Dienern geblieben. Er war jetzt ganz zahm geworden, wie immer, sobald er seinem Zorn genug getan hatte. Jeder der Diener teilte seine Ansicht, daß es doch höchst verdächtig sei, wenn jemand sich des nachts über die Mauern einschleicht. Der Gärtner zog seinen Herrn leise beiseite und flüsterte ihm zu, der Eindringling sehe aufs Haar einem jungen Gutsbesitzer ähnlich, der erst seit kurzem in der Nachbarschaft wohne, und den er drei Tage vorher bei dem ländlichen Feste von Rubelles mit Fräulein Noun habe sprechen sehen.

Diese Mitteilung gab Herrn Delmares Ideen eine andere Richtung; seine breite, glänzende und kahle Stirn wurde von einer starken Ader durchfurcht, deren Anschwellen stets der Vorläufer eines Sturmes war.

»Teufel!« sagte er zu sich selbst, indem er die Fäuste ballte, »meine Frau zeigt für diesen Gelbschnabel, der sich bei mir über die Mauern einschleicht, eine ganz auffallende Teilnahme. Dahinter muß ich kommen!«

Bleich und zitternd vor Zorn trat er in den Billardsaal.

Drittes Kapitel

»Beruhige dich,« sagte Indiana, »der Mann wird sich in einigen Tagen wieder erholen, wenigstens hoffen wir es, obgleich er die Sprache noch nicht wiedergefunden hat ...«

»Darum handelt es sich nicht,« sagte der Oberst mit gepreßter Stimme, »für mich handelt es sich darum, den Namen dieses interessanten Kranken zu erfahren, und mir zu erklären, wie er so zerstreut sein konnte, die Parkmauer mit der Haustür zu verwechseln.«

»Er ist mir gänzlich unbekannt,« antwortete Frau Delmare mit einer so stolzen Kälte, daß ihr furchtbarer Gatte einen Augenblick wie betäubt war. Aber bald kam er wieder auf seinen eifersüchtigen Verdacht zurück und sagte mit gedämpfter Stimme:

»Ich werde es erfahren, Indiana, sei versichert, ich werde es erfahren ...«

Frau Delmare tat, als bemerke sie seine Wut nicht. Um vor seinen Dienern nicht loszubrechen, ging der Oberst hinaus und rief den Gärtner.

»Wie nennt sich jener Herr, der unserem Spitzbuben ähnelt, wie du sagst?«

»Herr von Ramière; er hat vor kurzem das kleine englische Haus des Herrn von Cercy gekauft.«

»Was ist er für ein Mensch? Ist er ein Edelmann, ist er hübsch?«

»Sehr schön und ein Edelmann, wie ich glaube...«

»Das konnte ich mir denken!« erwiderte der Oberst mit Nachdruck. »Sag' mir, Louis, hast du diesen Geck niemals hier herumschweifen sehen?«

»Herr Oberst ... schon vergangene Nacht ...« erwiderte Louis verlegen, »habe ich deutlich einen Mann an den Fenstern der Orangerie gesehen.«

»Und du bist nicht über ihn hergefallen?«

»Herr Oberst, ich wollte es tun, aber da sah ich eine weißgekleidete Dame aus der Orangerie heraustreten und ihm entgegengehen. Vielleicht sind es der Herr Oberst und die gnädige Frau, dachte ich, die vor Tagesanbruch einen Spaziergang machen, und legte mich wieder zu Bette. Aber diesen Morgen hörte ich, daß Leliévre von einem Diebe sprach, dessen Fußspuren er im Park gesehen haben wollte, und ich sagte mir, dahinter steckt etwas.«

»Ich verstehe, du erlaubst dir, Gedanken zu haben. Du bist ein Einfaltspinsel. Wenn du noch einmal einen solchen unverschämten Gedanken äußerst, so schneide ich dir die Ohren ab. Verstanden!«

Der Oberst trat wieder in das Billardzimmer, und ohne darauf zu achten, daß der Verwundete endlich Zeichen des wiederkehrenden Bewusstseins gab, begann er die Taschen des Rockes zu untersuchen, welcher über einen Stuhl gehängt war. Der Verwundete streckte seinen Arm aus und sagte mit schwacher Stimme:

»Sie wünschen zu wissen, wer ich bin, mein Herr. Ich werde es Ihnen sagen, sobald wir allein sind. Bis dahin ersparen Sie mir die Verlegenheit, in der lächerlichen und unangenehmen Lage, in der ich mich befinde, Ihnen meinen Namen zu nennen.«

»Ich gestehe Ihnen,« antwortete der Oberst scharf, »ich habe sehr wenig Mitleid mit Ihrer Lage. Doch da ich hoffe, daß wir uns bald allein gegenüberstehen werden, so will ich mir das Vergnügen Ihrer näheren Bekanntschaft bis dahin aufsparen. Wollten Sie aber wohl mir unterdessen sagen, wohin ich Sie bringen lassen soll?«

»In das Wirtshaus des nächsten Dorfes, wenn Sie so gütig sein wollen.«

»Aber der Herr ist nicht transportabel,« wandte Indiana lebhaft ein. »Nicht wahr, Ralph?«

»Der Zustand des Herrn beschäftigt dich viel zu sehr,« sagte der Oberst. »Geht hinaus,« wandte er sich an die Diener. »Der Herr befindet sich besser und wird mir jetzt seine Gegenwart in meinem Hause erklären können.«

»Ja, mein Herr,« antwortete der Verwundete, »es wäre mir aber lieber, wenn alle Anwesende mein Geständnis hörten, denn es liegt mir sehr daran, nicht für das zu gelten, was ich nicht bin. Erfahren Sie denn, welcher Anlass mich zu Ihnen führte: Mein Herr, Sie haben durch außerordentlich einfache und nur Ihnen bekannte Mittel eine Maschine konstruiert, welche an Leistungsfähigkeit alle anderen Werke dieser Art in hiesiger Gegend übertrifft. Mein Bruder besitzt im südlichen Frankreich ein ziemlich ähnliches Etablissement, das aber ungeheure Summen verschlingt. Daher entschloss ich mich, Sie um einige gute Ratschläge zu bitten. Aber man ließ mich nicht bei Ihnen vor, sondern antwortete mir, es sei niemand erlaubt, Ihr Etablissement zu besehen. Durch diese Zurückweisung gereizt, beschloss ich, selbst mit Gefahr meines Lebens und meiner Ehre, das Unternehmen meines Bruders zu retten. Ich erstieg in der Nacht Ihre Mauer und suchte in das Innere Ihrer Fabrik zu dringen. Ich wollte mich in irgend einem Winkel verbergen und Ihre Arbeiter bestechen, um die Maschine kennen zu lernen und einen rechtlichen Mann Nutzen daraus ziehen zu lassen, ohne Ihnen zu schaden. Das ist mein Vergehen, wenn Sie noch eine andere Genugtuung verlangen, bin ich bereit, sie Ihnen zu geben, sobald ich wieder hergestellt sein werde.«

»Ich denke, wir könnten die Sache als abgetan ansehen, mein Herr,« antwortete der Oberst. »Ihr habt die Erklärung mit angehört, ihr anderen. Geht jetzt hinaus und laßt mich mit diesem Herrn über meine Maschineneinrichtung sprechen.«

Die Diener gehorchten. Der von seiner langen Rede geschwächte Verwundete sank auf Indianas Arm zurück und verlor zum zweiten Mal das Bewusstsein.

Herr Delmare zog Sir Ralph beiseite. »Freund,« flüsterte er, ihm die Hand fast wund drückend, »das ist eine schlau angelegte Intrige! Ich bin zufrieden, vollkommen zufrieden mit dem geschickt ersonnenen Vorwand, wodurch dieser junge Mann meine Ehre in den Augen meiner Leute bewahrt hat. Aber beim Teufel! er soll die Schmach teuer bezahlen, die er mir angetan hat. Und dieses Weib, das ihn pflegt und sich den Anschein gibt, als kenne sie ihn nicht! O, die List ist den Frauen angeboren! ...«

Sir Ralph ging eine Weile im Saale auf und ab. Dann trat er wieder zum Oberst und zeigte mit dem Finger auf Noun, welche mit verstörten Blicken und todbleichen Wangen in der Unbeweglichkeit der Verzweiflung hinter dem Kranken stand.

Ralph erinnerte sich, daß Noun in dem Augenblicke, wo er sie gesucht hatte, im Park gewesen war, er dachte an ihre durchnäßten Haare, ihre feuchte und schmutzige Fußbekleidung. Diese unbedeutenden Umstände waren ihm, als Frau Delmare in Ohnmacht lag, nicht sehr aufgefallen, aber jetzt kehrten sie wieder in sein Gedächtnis zurück, ebenso wie jenes Entsetzen, jene krampfhafte Aufgeregtheit und der Schrei, den Noun ausgestoßen hatte, als sie den Flintenschuss hörte ...

Herr Delmare verstand Ralphs Andeutungen sogleich und brauchte nur das Gesicht dieses Mädchens zu beobachten, um zu merken, daß sie allein die Schuldige war. Demungeachtet mißfiel ihm die eifrige Sorge seiner Frau um den Helden dieses galanten Abenteuers.

»Indiana,« sagte er, »entferne dich. Es ist spät und du bist nicht wohl; Noun wird bei dem Herrn bleiben, um ihn diese Nacht zu pflegen, und wenn er morgen besser ist, werden wir ihn in seine Wohnung bringen lassen.«

Frau Delmare, welche dem Ungestüm ihres Gatten mutig zu widerstehen wußte, gab stets seiner Sanftmut nach. Sie bat Sir Ralph, noch ein wenig bei dem Kranken zu bleiben, und zog sich in ihr Zimmer zurück.

Nicht ohne Absicht hatte der Oberst diese Anordnung getroffen. Als alles zur Ruhe und das Haus still war, schlich er sich leise in den Saal, wo Herr von Ramière lag. Hinter einem Vorhang verborgen, belauschte er das Gespräch des jungen Mannes mit dem Kammermädchen und bald stellte sich heraus, daß zwischen beiden ein Liebesverhältnis bestand. Die ungewöhnliche Schönheit der jungen Kreolin hatte in der Umgegend Aufsehen gemacht. Mehr als ein hübscher Offizier von den in Melun liegenden Lanciers hatte sich um sie bemüht, aber nur Herr von Ramiére hatte Erhörung gefunden.

Der Oberst Delmare trug so wenig Verlangen, in das Liebesgeheimnis tiefer einzudringen, daß er sich zurückzog, sobald er sich von der Schuldlosigkeit seiner Gattin versichert hatte.

Als Frau Delmare erwachte, sah sie Noun verwirrt und traurig an der Seite ihres Bettes, doch schrieb sie dies der Aufregung und Anstrengung der Nacht zu. Noun gewann völlig ihre Unbefangenheit wieder, als sie den Oberst ruhig in das Zimmer seiner Frau eintreten und von dem Vorfall sprechen hörte, wie von einer ganz harmlosen Sache.

Am frühen Morgen hatte sich Sir Ralph nach dem Befinden des Kranken erkundigt. Der Sturz von der Mauer hatte keine gefährliche Folge, die Wunde an der Hand war bereits zugeheilt. Herr von Ramiére hatte gewünscht, sogleich nach Melun gebracht zu werden, und seine Börse unter die Dienerschaft verteilt, um sich deren Schweigen zu erkaufen, damit seine Mutter, die nur einige Stunden von hier wohnte, wie er sagte, nicht erschreckt werde. Der Oberst und Sir Ralph hatten das Zartgefühl, Nouns Geheimnis zu bewahren und sie nicht einmal ahnen zu lassen, daß sie es wüßten. Bald war in der Familie Delmare von diesem Vorfall nicht mehr die Rede.

Viertes Kapitel

Es dürfte vielleicht zweifelhaft erscheinen, daß Herr Raymon von Ramiére, ein junger Mann von glänzenden Eigenschaften, an die Erfolge im Salon und an vornehme Abenteuer gewöhnt, zu dem Kammermädchen auf einem kleinen Gute eine dauernde Neigung gefaßt habe. Herr von Ramiére schätzte die Vorteile der Geburt nach ihrem wahren Werte. Er hatte sogar Grundsätze, wenn er seiner besseren Einsicht folgte, aber er war ein Mann mit ungezähmten Leidenschaften, und wenn diese die Oberhand über ihn gewannen, war er keiner ruhigen Überlegung mehr fähig.

Herr von Ramiére war in die junge Kreolin mit den großen, schwarzen Augen, welche bei dem Feste von Rubelles die Bewunderung der ganzen Umgegend auf sich gezogen hatte, verliebt; nichts weiter. An dem Tage, wo er über dieses leicht besiegte Herz triumphierte, kehrte er voll Schrecken über seinen Sieg in seine Wohnung zurück und sagte, sich vor die Stirn schlagend:

»Wenn sie mich nur nicht ernstlich liebt!«

Also erst, nachdem er alle Beweise ihrer Liebe angenommen hatte, fing er an, diese Liebe zu ahnen. Dann fühlte er Reue; aber er ließ sich lieben nach wie vor, er liebte selbst aus Dankbarkeit, er überstieg die Mauern im Park des Herrn Delmare aus Liebe zur Gefahr; aus Ungeschicklichkeit tat er einen furchtbaren Sturz und war vom Schmerz seiner jungen und schönen Geliebten so gerührt, daß er sich in seinen eigenen Augen gerechtfertigt fand, wenn er fortfuhr, den Abgrund zu erweitern, in den sie versinken mußte.

Sobald er wieder hergestellt war, hatte der Winter kein Eis, die Nacht keine Gefahren, das Gewissen keine Stacheln, um ihn abzuhalten, die Kreolin zu besuchen und ihr zu schwören, daß er nie eine andere als sie geliebt hätte, daß er sie allen Königinnen der Welt vorzöge und was der überschwänglichen Beteuerungen mehr waren, die bei jungen, armen und leichtgläubigen Mädchen stets ein williges Ohr finden werden. Im Januar reiste Frau Delmare mit ihrem Gatten nach Paris; Sir Ralph Brown zog sich auf sein Gut zurück und Noun, welche zur Aufsicht des Landhauses ihrer Gebieter zurückblieb, konnte ungehindert ihre Freiheit genießen. Das war ein Unglück für sie. Der Wald mit seiner Poesie, die im Raureif geschmückten Bäume und ihre magische Wirkung im Mondlicht, das Geheimnis der kleinen Pforte, all dieses Beiwerk einer Liebesidylle hielt Herrn von Ramiére in seinem Rausche gefangen. Im weißen Nachtgewande glich Noun, mit ihrem langen schwarzen Haar, einer Königin, einer Fee. Wenn er sie aus dieser Burg von rotem Backstein heraustreten sah, glaubte er, eine Burgfrau des Mittelalters zu erblicken, und in dem mit exotischen Blumen geschmückten Kiosk, wo sie ihn mit den Reizen der Jugend und Leidenschaft berauschte, vergaß er gern alles, dessen er sich später mit schwerem Herzen erinnern mußte. Aber dennoch war Noun nichts weiter als das Kammermädchen einer hübschen Frau. Der Mut, mit welchem sie ihren Ruf ihm zum Opfer brachte und der wohl verdient hätte, seine Liebe für sie noch zu erhöhen, hatte für ihn keinen Wert. Die Gattin eines Pairs von Frankreich, die sich auf solche Weise aufgeopfert hätte, wäre eine köstliche Eroberung gewesen; aber ein Kammermädchen! Was bei der einen Heroismus war, ward bei der anderen Frechheit, Gemeinheit.