Inflation: Ursachen – Verursacher – Auswege -  - E-Book

Inflation: Ursachen – Verursacher – Auswege E-Book

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Beschreibung

Mit Beiträgen von: Manfred Sohn, Anne Rieger, Lucas Zeise, Murat Çakir, Claudio Ottone (Argentinien), Stephan Krüger, Klaus Müller

Weitere Themen: Aktuelle Bedeutung und Rezeption des apallo-Vertrages, Ulrike Hörster-Phillips; Sicherungsverwahrung – Illusion von Sicherheit, Franziska Schneider; Klima und Lenins Lösung, Alexander B. Vögele; Iran auf dem Weg zur Explosion?, Michail Magid (Moskau); Diskussion; Rezensionen

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Marxistische Blätter 6_2022

Gastkommentar

Ein Transparent und der Frieden

Dr. Artur Pech (Kreistagsfraktion Die Linke Oder-Oberspree)

Kriegs- und Krisengewinner zur Kasse!

Lothar Geisler

Aktuelles

Protest gegen die Folgen der Krise ohne Nennung ihrer Ursachen? Einige notwendig polemische Einwände

Knut Mellenthin

Europa auf dem Weg nach rechts

Ulrich Schneider

250 000 bei Gewerkschaftsaktionstag in Frankreich

Georg Polikeit

In gemeinsamer Sache

Revolutionäre Realpolitik

Eine Stadtregierung an der Seite der Menschen

Anne Rieger

Eine Bilanz der documenta 15

Ulrich Schneider

Thema: Inflation

Editorial

Das lange Ringen um den Wert des Lohns

Schlaglichter zur Geschichte des Kampfes gegen die Inflation

Manfred Sohn

Preise steigen nicht – sie werden erhöht

Es gibt keine Lohn-Preis-Spirale

Anne Rieger

Höhere Zinsen sind (bestenfalls) Symbolpolitik

Lucas Zeise

Die Türkei im Abgrund?

Über die aktuelle türkische Finanz- und Wirtschaftskrise

Murat Çakır

Das Hochinflationsregime in Argentinien

Claudio Ottone

Inflation – zurück auf der Agenda

Stephan Krüger

Ein marxistisches Inflationsmodell

Klaus Müller

Diskussion

Lehnt die Kritische Psychologie in objektivistischer Tradition eine Wahlfreiheit des Subjekts ab?

Morus Markard zu Claudius Vellays Kritik der Kritischen Psychologie in MB 4, 2022

Wertgesetz im Sozialismus – Ja oder Nein?

Hermann Jacobs zu Lucas Zeises Buchbesprechung in MBl 4_22

Positionen

100 Jahre Rapallo-Vertrag – Zu seiner aktuellen Bedeutung und Rezeption

Ulrike Hörster-Philipps

Sicherungsverwahrung – die Illusion von Sicherheit

Politisch-publizistischer Verstärkerkreislauf vs. rechtsstaatliche Prinzipien

Franziska Schneider

Klima und Lenins Lösung

Alexander B. Voegele

Iran auf dem Weg zur (revolutionären) Explosion?

Michail Magid

Rezensionen

Es schrieben diesmal

Impressum

Es kommt Bewegung in die Arbeiter:innen-bewegung.

Ein Transparent und der Frieden

Dr. Artur Pech (Kreistagsfraktion Die Linke Oder-Oberspree)

Am ersten Oktober war ich mit einem Transparent unserer Fraktion auf einer Friedensdemonstration. Darauf standen nur zwei Worte, eine Friedenstaube und das Logo unserer Fraktion. Die beiden Worte: »Frieden jetzt!« Ich musste danach lernen: Wer jetzt Frieden fordert, ist mindestens Querdenker, wenn nicht halber Nazi. So jedenfalls Redakteure des Spiegel, die uns direkt angingen.1 Da schießt das in der alten Bundesrepublik fälschlich als »Sturmgeschütz der Demokratie« bezeichnete Blatt Dauerfeuer und macht Gegner der bundesdeutschen Kriegspolitik zu »Querfrontlern« und mindestens halben Nazis. Das ist ein uraltes Rezept. Da wird eine Friedensbewegung angegiftet, die es schon gab, bevor die »Querdenkerei« erfunden wurde. Das Ziel ist ganz einfach: Wer heute für Frieden ist, wer die Zustände im Lande in ihrem Zusammenhang zur Kriegspolitik sieht, soll mundtot gemacht werden.

Später habe ich erfahren, dass am 5. Oktober – am Tage unseres Kreistages – Clare Daly, Irland, Mitglied der Fraktion Die Linke im Europäischen Parlament – GUE/NGL eine Rede hielt, die sehr genau auch dieses Problem beschreibt (Auszug):

»Herr Präsident,

der Krieg in der Ukraine eskaliert schnell zu einem noch größeren Schrecken. Und wie ich sehe, tut praktisch niemand in diesem Plenarsaal etwas dagegen. Tatsächlich scheinen die meisten Leute davon abzulenken, dass es eskaliert. Und genau in diesem Moment werden, wie üblich, Proteste gegen den Krieg diffamiert, und – um sie zum Schweigen zu bringen – als Verräter, Kumpane, Putin-Marionetten, Kreml-Handlanger und russische Agenten verleumdet. Ehrlich gesagt ist es erbärmlich.

Ich nehme den Vergleich nicht auf die leichte Schulter, aber die Grobheit und der Zynismus dieser Beleidigungen, die von den Mainstream-EU-Parteien kommen, könnten genauso gut von Hermann Göring geschrieben worden sein. Der sagte infam, dass die Menschen zwar nie Krieg wollen, aber in den Krieg gebracht werden können mit Drohungen und Verleumdungen. Alles, was dafür zu tun sei, ist ihnen zu sagen, dass sie angegriffen werden und dass die Pazifisten wegen mangelndem Patriotismus ihr Land einer Gefahr aussetzen – es funktioniert in jeder Hinsicht gleich …

Dieses Haus sollte sich für diese Debatte schämen. Worte werden verdreht, Bedeutungen untergraben und die Wahrheit auf den Kopf gestellt. Sich dem schrecklichen Wahnsinn des Krieges zu widersetzen ist nicht anti-europäisch, nicht anti-ukrainisch, nicht pro-russisch: Es ist gesunder Menschenverstand.Die Arbeiterklasse Europas hat in diesem Krieg nichts zu gewinnen und alles zu verlieren. (Hervorhebung A. P.) Und ich finde es bezeichnend, dass diejenigen, die nach Waffen für die Ukraine rufen, niemals Waffen für die Menschen in Palästina oder für die Menschen im Jemen fordern. Anders als Sie, bin ich gegen jeden Krieg. Ich will, dass er aufhört! Dafür entschuldige ich ich nicht.«2

Ich entschuldige mich auch nicht. Und ich verzichte auch nicht darauf, den Zusammenhang zwischen Krieg, Wirtschaftskrieg und Kosten, die den Menschen auch bei uns aufgebürdet und hinter scheinbar unverfänglichen Bezeichnungen wie »Energiekrise« oder »Inflation« versteckt werden, als das zu bezeichnen, was sie sind: vermeidbare KRIEGSKOSTEN.

1 (https://www.spiegel.de/politik/deutschland/demonstrationen-in-berlin-wie-es-zur-ersten-querfront-im-heissen-herbst-kam-a-f77610e5-95ad-4050-9fb6-0cb0f97a6808)

2 Quelle: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/CRE-9-2022-10-05-INT-3-135-0000_EN.html,(Englisch, eigene Übersetzung).

Kriegs- und Krisengewinner zur Kasse!

Lothar Geisler

In der Debatte um das »Deckeln« und »Bremsen« der aktuellen Preisexplosion fällt ins Auge, dass das rosa-gelb-(NATO-)olivgrüne Regierungspersonal »Unternehmer und Bürger« meist in einem Atemzug nennt. In genau dieser Reihenfolge. So als wären beide Gruppen in gleichem Maße betroffen, oder gar dafür verantwortlich. Dementsprechend sind dann auch die meisten »Entlastungspakete«. »Geld vom Staat« wird zwar für alle angekündigt, aber die Praxis ist: »Unternehmer first«. So war es in der »Corona-Krise« zu erleben. So ist es bei der – mittlerweile ausgebremsten – »(Uniper)-Gasumlage« zu sehen. Und vor allem bei der strikten Weigerung der Bundesregierung, auch das zu deckeln und zu bremsen, was verschämt-verschleiernd »Übergewinne« oder »Zufallsgewinne« genannt wird. Im Klartext sind das »Kriegs- und Krisengewinne«, die sich große Konzerne einsacken, – nicht nur in der Rüstungsindustrie oder der Gas-, Öl- und Strombranche. Sie sind die Hauptpreistreiber und -nutznießer. Sie müssen wir ausbremsen!

Denn mehr »Geld vom Staat« für das Abpuffern von Kriegs- und Krisenfolgen funktioniert nicht ohne mehr Einnahmen für den »Sozialstaat«, zumindest nicht auf Dauer. Vor allem nicht, wenn diese Extraprofite und die gigantischen Rüstungsausgaben (für noch mehr Krieg, was sonst?) tabu bleiben. Von »Steuererleichterungen« profitiert schließlich nur, wer auch Steuern zahlt. Wer viel zahlt, wird mehr entlastet. Wer am dringendsten Hilfe braucht, weil er/sie wenig verdient, zahlt wenig und wird weniger entlastet. Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose und Geringverdienende gucken in die Röhre bei Christian Lindners Doktor-Spielen am Steuersystem. Die Gerechtigkeitslücke wird so immer größer.

Insofern sind alle Forderungen nach Besteuerung von Profiten und Vermögen, Schließung von Steueroasen etc. aus Sicht arbeitender Menschen nur logisch und heftig zu unterstützen. Denn Gewinne sprudeln noch und nöcher, nicht trotz, sondern wegen Krieg und Krise: Die börsennotierten Unternehmen in Deutschland haben dieses Jahr rund 70 Milliarden Euro für ihre Aktionär:innen ausgeschüttet, 50 % mehr als im Vorjahr. 400 Milliarden Euro Vermögen werden jährlich vererbt. In der Steueroase Deutschland wird nur ein Viertel davon überhaupt besteuert und das noch sehr niedrig. Multinationale Konzerne verschieben jährlich über 280 Milliarden Euro Gewinne aus der EU in Steueroasen …

Peter Mertens, Generalsekretär der belgischen »Partei der Arbeit«, auch bei uns bekannt durch sein Buch »Die Millionärssteuer«, hat nun für sein Land einen soliden Gesetzentwurf vorgelegt, der 70 % Steuern auf die »Übergewinne« von Energieerzeugern fordert. Darüber hinaus fordert er: »Wir müssen so wichtige Sektoren, wie den Energiesektor aus dem Markt nehmen und in die öffentliche Hand zurückführen, damit sie zum Wohle der Menschen und des Planeten arbeiten und nicht für den Profit. Das ist die einzige wirkliche Lösung für die Krise, die wir gerade erleben.«

»Von London bis Athen, von Madrid bis Bukarest – überall in Europa machen es unsere Nachbarn vor. Auch die Bundesregierung muss endlich eine Übergewinnsteuer umsetzen. Das Gebot der Stunde ist es, Kriegsgewinne umzuverteilen«, kommentiert Martin Schirdewan (Die LINKE) die jüngste Studie des Netzwerks-Steuergerechtigkeit, die im Detail vorrechnet, wie allein aus den Extraprofiten der Energiebranche jährlich 30 bis 100 Milliarden Euro staatlicher Mehreinnahmen zu generieren sind. Ja, Schirdewan sagt »Kriegsgewinne« und das ist gut gesprochen. Also ran an die Kriegskassen!

Protest gegen die Folgen der Krise ohne Nennung ihrer Ursachen? Einige notwendig polemische Einwände

Knut Mellenthin

Anders als manche ihrer Basisorganisationen ruft Führungspersonal der Partei »Die Linke« zu Demonstrationen gegen die Folgen der wirtschaftlichen und sozialen Krise auf, ohne auch die Sanktionen gegen Russland als Ursache zu erwähnen. Mehr noch: Sie unterstützt diese Sanktionen uneingeschränkt, verurteilt Kritik an den Sanktionen aus den eigenen Reihen – wie in der Bundestagsrede von Sahra Wagenknecht vom 8. September – und stellt sich gegen Demonstrationen und Kundgebungen, bei denen die Forderung nach Aufhebung der Sanktionen erhoben wird.

Angeblich ergibt sich dieses Vorgehen unmittelbar, alternativlos und zwingend aus der Hauptresolution des Parteitags der »Linken« im Juni. (»Kriege und Aufrüstung stoppen. Schritte zur Abrüstung jetzt! Für eine neue Friedensordnung und internationale Solidarität«)

In Wirklichkeit geht dieses Argument fehl, weil die Resolution zum Thema Sanktionen gegen Russland konträre, einander absolut ausschließende Aussagen enthält.

Einerseits heißt es dort:

Sanktionen müssen sich gegen Putins Machtapparat und den militärisch-industriellen Komplex und damit gegen die Fähigkeit zur Kriegsführung richten. Sanktionen, die sich vor allem gegen die Bevölkerung richten oder zur Verarmung im Globalen Süden beitragen, lehnen wir ab.

Andererseits steht in der Resolution aber auch:

Die Möglichkeiten, den Import von fossilen Energieträgern aus Russland schnellstmöglich stärker einzuschränken, müssen ausgenutzt werden. Auch den Import von umweltschädlichem Fracking-Gas lehnen wir ab. Es ist richtig, dass angesichts des Ukrainekrieges Nordstream 2 nicht in Betrieb genommen wird.

Vom zeitlichen Ablauf her ist eindeutig, dass die klare, keine unterschiedlichen Interpretationen zulassende Ablehnung von Strafmaßnahmen, »die sich vor allem gegen die Bevölkerung richten oder zur Verarmung im Globalen Süden beitragen«, die ursprüngliche Positionierung der Partei »Die Linke« in den ersten Wochen nach Beginn der russischen Militäroperationen gegen die Ukraine wiedergibt. Die gegensätzliche Position, die die schwerwiegenden Folgen für die Bevölkerung Europas und weit schlimmer noch für die Bewohnerinnen und Bewohner des »Globalen Südens« als Kollateralschäden in Kauf nimmt, wurde erst später zur Maxime der Parteiführung. Die Unvereinbarkeit der früheren mit der späteren Positionierung wurde und wird anscheinend nicht einmal bewusst wahrgenommen, geschweige denn kritisch reflektiert und diskutiert.

Gegen die vorherrschende Praxis, die wirtschaftlichen Strafmaßnahmen gegen Russland als Hauptursache für die Preisexplosion beim Erdgas, dem hohen Preisniveau bei Erdöl, Kohle und Strom, und für die von diesen Faktoren ausgehende oder verstärkte Inflation zu verschweigen und die Sanktionen sogar konsequent aus allen Protestaktionen heraushalten zu wollen, lassen sich mit guten Gründen mehrere Einwände vortragen. Hier die vermutlich wichtigsten:

Erstens: Es gibt für die Staaten der EU insgesamt und vor allem für Deutschland keinen ausreichenden Ersatz für die Energieträger aus Russland, auf die durch die nach dem 24. Februar beschlossenen Sanktionspakete nicht nur langfristig, sondern erklärtermaßen dauerhaft verzichtet wurde. Dieser Stand der Dinge war den Regierenden schon vor dem von Russland ausgelösten Krieg bekannt, wurde aber zunächst bewusst geleugnet.

Zum Beispiel: Die deutsche Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, betonte am 16. Februar in einer Ansprache an das Europa-Parlament, die Gemeinschaft habe »umfangreiche Vorkehrungen« für den Fall der Einstellung aller Erdgaslieferungen aus Russland getroffen und sei für alle Eventualitäten gerüstet. Indessen kamen schon damals alle ernstzunehmenden Analysten zur Schlussfolgerung, dass die EU nicht einmal annähernd in der Lage wäre, eine plötzliche Unterbrechung der russischen Lieferungen, die im dritten Quartal 2021 etwas mehr als 43 Prozent des europäischen Gasverbrauchs ausmachten, zu verkraften.

Im Vorfeld des Krieges und der für diesen Fall verabredeten Sanktionen hatten Regierungen und Diplomaten der USA und der Europäischen Union Erkundigungen bei den wichtigsten Lieferländern von verflüssigtem Erdgas (Katar und Australien) sowie von Erdöl (Saudi-Arabien und Vereinigte Arabische Emirate) eingeholt. Das übereinstimmende Ergebnis war, dass gegenwärtig und mindestens noch bis 2024/2025 keine wesentlichen Steigerungen der auf dem Weltmarkt verfügbaren Mengen möglich sind. Diese Tatsache wurde nach Kriegsbeginn bei wirtschaftlich sinnlosen Propaganda-Reisen deutscher Politiker nach Norwegen, Katar und in die Emirate (Minister Robert Habeck im März), nach Israel und Ägypten (von der Leyen im Juni), nach Aserbaidschan (von der Leyen im Juli), nach Kanada (Kanzler Olaf Scholz und Minister Habeck im August) sowie nach Saudi-Arabien und nochmals in die Emirate und nach Katar (Scholz im September) vollauf bestätigt. Dass überall dort aktuell nichts zu holen ist, hätte man, falls es wirklich nicht bekannt war, schnell und billig durch ein Telefongespräch oder eine Mail erfahren können.

Die Unterstützung für die Sanktionen der westlichen Allianz gegen Russland nimmt also wissentlich in Kauf, dass Erdgas nicht nur unerträglich teuer geworden ist, sondern im Winter nicht einmal in ausreichender Menge zur Verfügung stehen wird. Voraussichtlich werden dann Rationierungen unvermeidlich werden, die zum einen dazu führen, dass auch in wichtigen Wirtschaftszweigen »die Produktion heruntergefahren« wird, und die darüber hinaus auch die privaten Haushalte beeinträchtigen. Es droht der Bevölkerung der BRD in diesem und mindestens auch im nächsten Jahr eine tiefe Rezession, die schwerste Inflation seit 70 Jahren und ein »permanenter Wohlstandverlust«, wie es Ende September im Herbstgutachten der deutschen Wirtschaftsinstitute hieß.

Zweitens: Die Verknappung der auf den Weltmarkt gelangenden Energieträger durch die westlichen Sanktionen gegen Russland und der heftige Konkurrenzkampf um die noch verfügbaren Ressourcen haben – unter den gegebenen, nämlich vom Kapitalismus geprägten Bedingungen unvermeidbar – deren Preis in die Höhe getrieben. Die BRD an erster Stelle ist ein Land, das aufgrund seiner wirtschaftlichen und finanziellen Stärke andere, zum Teil sehr viel ärmere Länder wie etwa Pakistan überbieten und »aus dem Feld schlagen« konnte. Zu über 90 Prozent gefüllte Gasspeicher in der EU haben krassen Mangel an Energieträgern und Strom in anderen Ländern nicht nur zur Folge, sondern auch zur Voraussetzung. Noch weniger internationale Solidarität – eine scheinheilig gewordene Lieblingsparole der deutschen Mainstream-Linken – ist kaum vorstellbar. In ihrem Diskurs »problematisiert« sie diese zwangsläufige Folge der von ihr uneingeschränkt befürworteten westlichen Sanktionsstrategie jedoch nirgendwo und niemals.

Unbeachtet bleibt in diesem Zusammenhang auch, dass der mit den Sanktionen untrennbar verbundene plötzliche Umstieg vom Pipeline-Gas auf LNG-Transporte die vorhandenen Schiffskapazitäten enorm überfordert. Die unmittelbare Folge ist eine Verteuerung der Frachtraten und eine scharfe Konkurrenz um den verfügbaren Transportraum, der durch den Bau zusätzlicher Schiffe erst nach mehreren Monaten vergrößert werden kann.

Drittens: Mit ellenlangen Forderungslisten verlangt die deutsche Mainstream-Linke vom Staat, über dessen eindeutigen Klassencharakter sie lieber schweigt, die soziale Abfederung und im Grunde sogar Annullierung sämtlicher Folgen der von ihr unterstützten westlichen Sanktionsstrategie. Dass das beim gegenwärtigen Stand der Klassenkämpfe und des politisch-sozialen Kräfteverhältnisses nicht funktionieren kann, ist aber der Mehrheit der Menschen in diesem Land mehr oder weniger bewusst. Wie schon während der immer noch nicht ganz beendeten Corona-Krise stimmt die deutsche Mainstream-Linke den staatlichen Maßnahmen uneingeschränkt und bedingungslos zu, ohne verhindern zu können, dass deren soziale Folgen regelmäßig auf die schwachen, am wenigsten widerstandsfähigen Teile der Bevölkerung abgewälzt werden.

Auf die meisten Betroffenen wirken die Forderungslisten, die den Verzicht auf die russischen Energieträger als entscheidende Ursache der Misere nicht nur ignoriert, sondern sogar bis in die eigenen Reihen hinein aggressiv verteidigt, unglaubwürdig. Hinzu kommt, dass Führung und Mehrheitsströmung der Partei »Die Linke« von unüberwindlichem Ekel gegenüber der Rückständigkeit und Rechtsoffenheit der real existierenden »Massen« geschüttelt erscheinen. Wo sich auch nur 1000 Menschen zum Protest versammeln, sind nach statistischer Wahrscheinlichkeit 140 Wählerinnen und Wähler der AfD unter ihnen. In Wirklichkeit ist der Anteil der Rechten unter ihnen wahrscheinlich sogar noch erheblich größer, weil diese stärker dazu neigen, »auf die Straße zu gehen«, als der Anhang der Regierungs-Koalition oder auch der CDU/CSU. Die Mainstream-Linke kennt gegen diese Tatsache kein anderes Mittel als die ständig beteuerte und konsequent praktizierte Abgrenzung. Damit überlässt sie die real existierenden »Massen« von vornherein und völlig hilflos den Rechten. Wer diesem herrschenden Trend entschieden widerspricht, steht am Rande eines Ausschlussverfahrens.

Viertens: Die Abwendung oder wenigstens Abschwächung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der westlichen Sanktionsstrategie gegen Russland kann selbst in einem vergleichsweise »wohlhabenden« Land wie der BRD bestenfalls nur in einem geringen Ausmaß gelingen. Weltweit kann der Anstieg der Preise für die wichtigsten Energieträger und die dadurch ausgelöste oder verstärkte Inflation und Rezession gar nicht aufgefangen werden. Die ellenlangen Forderungslisten der Linkspartei sind nicht nur mit Bezug auf die BRD illusionär, sondern sie bleiben auch in einem streng bornierten nationalen, um nicht zu sagen nationalistischen Rahmen. Zu den globalen Auswirkungen des westlichen Wirtschaftskrieges gegen Russland hat die deutsche Mainstream-Linke absolut nichts zu sagen. Sie ist »solidarisch mit der Ukraine«, aber nicht mit dem Rest der Welt.

Europa auf dem Weg nach rechts

Ulrich Schneider

Eigentlich wurden nur nationale Parlamente neu zusammengesetzt. Aber die Wahlen in Frankreich, Schweden und Italien haben politische Auswirkungen auf ganz Europa.

Schon im Sommer 2022 zeigten in Frankreich die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen den gewachsenen Einfluss der extremen Rechten von Marine Le Pen im Land und im Parlament. Zwar gewann Macron noch die Stichwahl. Da die Partei des Präsidenten im Parlament jedoch keine eigene Regierungsmehrheit mehr besitzt, steht zu befürchten, dass Le Pen – ohne selbst in der Regierung zu sein – direkten Einfluss auf die französische Politik bekommt, insbesondere wenn es um die Durchsetzung von Verschlechterungen in der Sozialpolitik und bei Gewerkschaftsrechten geht.

Ähnlich sieht es in Schweden aus, wo die »Schwedendemokraten« eine offen rassistische Partei, die aus dem Umfeld der neofaschistischen Hooligans entstanden ist, nicht nur zweitstärkste Partei im schwedischen Parlament geworden sind, sondern als Mitglied einer rechten Zählkoalition dazu beigetragen hat, dass die sozialdemokratische Mitte-links-Regierung gestürzt wurde. Ob die Schwedendemokraten in der neuen Rechtsregierung vertreten sein werden, ist noch nicht ausgemacht. Es ist aber auch nicht das vorrangige Ziel dieser Partei. Ihr Ziel ist es, dass sich die Ausländerpolitik Schwedens in ihrem rassistischen Sinne ändert. Zudem vertritt sie einen sozialpolitischen Kurs, der sich am besten mit dem Slogan »Schweden zuerst« beschreiben lässt. Es geht um eine Politik, die ähnlich wie ehemals Donald Trump und andere rechtspopulistische Bewegungen einen nationalistischen Sozialrassismus vertritt. Da nicht zu befürchten ist, dass die im Zuge des Ukraine-Krieges forcierte NATO-Orientierung durch die Rechtsregierung geändert wird, gab es von der Europäischen Kommission bislang keine Kritik an dieser Politik.

Dramatisch sind die Ergebnisse in Italien. Zwar deutete sich schon vorher an, dass die extreme Rechte bei den italienischen Parlaments- und Senatswahlen deutliche Stimmengewinne erzielen würde. Doch das Wahlergebnis ist in mehrfacher Hinsicht erschreckend.

Die Wahlbeteiligung ist noch einmal gesunken und liegt nun ungefähr bei 63 %. Mit Blick auf die politischen Debatten vor der Wahl, bei denen die Gefahr einer offenen Rechtsregierung für alle klar und deutlich formuliert wurde, ist dies ein gefährliches Signal politischer Resignation auf der linken und demokratischen Seite.

Die Zusammensetzung des Rechtsbündnisses ist ebenfalls problematisch. Die mit Abstand stärkste Kraft sind die Fratelli d’Italia, eine offen faschistische Organisation, die bis heute ihre Affinität zum Mussolini-Faschismus zeigt. Wenn bundesdeutsche Medien die Vorsitzende Giorgia Meloni als angeblich »gemäßigt« darstellen, entspricht das nicht der politischen Programmatik. Matteo Salvini verlor mit seiner Lega deutlich an Stimmen. Aber nicht wegen seiner rassistischen Flüchtlingspolitik, sondern weil Meloni noch mehr sozialpolitische Versprechungen zugunsten der »kleinen Leute« gemacht hatte. Mit den neuen Kräfteverhältnissen in Parlament und Senat, wo die extreme Rechte nun eine komfortable Mehrheit besitzt, kann nicht nur »durchregiert« werden, sondern sind zudem die antifaschistischen Grundsätze der italienischen Verfassung in Gefahr.

Die politische Linke insgesamt hat eine deutliche Niederlage erlitten. Maurizio Acerbo (Rifondazione Comunista) betonte, dass es der Linken trotz Krieg und Inflation, des offensichtlichen Scheiterns der neoliberalen Politik und der Unpopularität der Draghi-Agenda nicht gelungen sei, als Alternative von den Menschen wahrgenommen zu werden.

Die europäische Dimension unterstrich Fabien Roussel, Nationalsekretär des PCF. Das Ergebnis in einem der Gründungsländer der EU sei ein politischer Wendepunkt für ganz Europa. Es zeige das Ausmaß der europäischen und italienischen sozialen, politischen und demokratischen Krise und das Ausmaß der sozialen und territorialen Ungleichheiten. Der extrem rechte Block habe zudem Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gesteigert und damit die Wut der Bevölkerung fehlgeleitet.

Mit dem Regierungswechsel in Italien wird die Gruppe der Rechtsregierungen von Ungarn, Polen und im Baltikum durch ein politisches Schwergewicht aus dem Süden gestärkt. Während beim Abbau demokratischer und sozialer Rechte zunehmend nationale Alleingänge zu erwarten sind, dürften sich in der Flüchtlingspolitik – verstärkt um die neue schwedische Regierung – Abschottung und Ausgrenzung verschärfen. Europa ist deutlich auf dem Weg nach rechts.

Der Präsident des italienischen Partisanenverbandes ANPI rief als Konsequenz dieser Wahlergebnisse auf, das gesellschaftliche Bündnis zu stärken, um die antifaschistischen Grundlagen der italienischen Verfassung zu verteidigen. Fabien Roussel sieht die Notwendigkeit, wieder eine Linke aufzubauen, die in Verbindung mit sozialen Bewegungen und den Forderungen der Bevölkerung neue soziale und politische Mehrheiten entwickeln kann. Antifaschisten und Linke in allen europäischen Ländern sind gefordert, ihre politische Strategie neu zu denken.

250 000 bei Gewerkschaftsaktionstag in Frankreich

Georg Polikeit

Den deutschen Medien war das so gut wie keine Berichterstattung wert: eine Viertelmillion Menschen beteiligten sich am letzten Donnerstag (29. September) in rund 200 Orten an einem landesweiten Aktionstag der Gewerkschaften, zu dem die linksorientierte CGT zusammen mit den Gewerkschaften FSU und »Solidaires« sowie mehrere Studenten- und Jugendorganisationen aufgerufen hatten (Zahlen laut Eigenangaben der Veranstalter).

Die Beteiligung war deutlich größer als bei den vorhergehenden gewerkschaftlichen Aktionstagen im Frühjahr (150 000 am 27. Januar, 89 000 am 17. März). Offenkundig war dies ein Zeichen der inzwischen stark gestiegenen Unzufriedenheit und Wut in der Bevölkerung über die Verschlechterung ihrer sozialen Lebensverhältnisse durch die auch in Frankreich rasant ansteigenden Energie- und Lebensmittelpreise. Das hatten die beteiligten Gewerkschaften und Linkskräfte offensichtlich nicht der sozialen Demagogie der Rechtsextremisten überlassen wollen.

Unterstützt wurde der Aktionstag durch alle vier in der Koalition »NUPES« zusammengeschlossenen Linksparteien (Kommunisten, Sozialisten, »Insoumises« und sogar bislang nahezu undenkbar, selbst EELV/Die Grünen). Sie nahmen alle mit ihren führenden Politikern an den Demonstrationen in Paris (u. a. Fabien Roussel, Nationalsekretär der Kommunisten, und Olivier Faure, Erster Sekretär der Sozialisten) und Marseille (Jean-Luc Mélenchon von LFI) teil.

In vielen Orten und Betrieben waren die gewerkschaftlichen Kundgebungen und Demonstrationen mit zuvor teilweise in Belegschaftsvollversammlungen beschlossenen stundenweisen oder längeren Streikaktionen verbunden. Besonders in Energieunternehmen und im Bildungswesen – nachdem die Beschäftigen des Gesundheitswesens bereits am Donnerstag zuvor (22.9.) die Arbeit niedergelegt hatten und in vielen Städten und Gemeinden auf die Straße gegangen waren.

Laut Angaben der führenden bürgerlichen Tageszeitung »Le Monde« streikten im landesweiten Durchschnitt rund 20-30 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer, etwa 10 Prozent der Schulen blieben den ganzen Tag über geschlossen. Ein bereits dreitägiger Streik im führenden Energiekonzern TotalEnergy und Streiks in mehreren anderen französischen AKWs führten dazu, dass die Stromproduktion in Frankreich am 29.9. um etwa 8,5 Prozent zurückging. Bei den Eisenbahnen beteiligte sich auch die Eisenbahnergewerkschaft des ansonsten sozialpartnerschaftlich orientierten Gewerkschaftsbundes CFDT an den Aktionen. Laut Angaben der CGT war durchschnittlich einer von drei Beschäftigten der Regionalzüge im Großraum Paris im Streik.

Im Vordergrund der von den Aktionsteilnehmern erhobenen Forderungen stand angesichts der auch in Frankreich rapid steigenden Energie- und Lebensmittelpreise die Forderung nach einer Erhöhung der Massenkaufkraft durch allgemeine Erhöhung der Löhne und Gehälter, der Renten und Sozialleistungen. Die CGT betonte, dass dies mit einer Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes auf 2000 €, der völligen Gleichstellung von Frauen- und Männerlöhnen und einer Verkürzung der Normalarbeitszeit auf 32 Stunden pro Woche verbunden sein müsse. Zu den auf Transparenten mitgeführten Losungen gehörte u. a. »Erhöht unsere Löhne, nicht unsere Misere!« oder auch »Macron, gib mir deinen Frigo« (Kühlschrank) und »Lasst uns die Reichen verspeisen!«

Der zweite inhaltliche Schwerpunkt der Aktionen war das »Nein« zu der von Staatschef Macron angestrebten »Rentenreform« mit der Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf zunächst 64 und danach auf 65 Jahre und der Verlängerung der erforderlichen Dauer der Beitragszahlung für den Erhalt einer Vollrente. Kurz zuvor hatte Macrons aktuelle Premierministerin Élisabeth Borne angekündigt, dass in Kürze neue »Konsultationen« mit den »Sozialpartnern« und den im Parlament vertretenen politischen Parteien stattfinden sollen mit dem Ziel, »vor Ende des Winters« ein Gesetz zur Rentenreform im Parlament durchzubringen, damit es, wie Macron verkündet hatte, im Sommer 2023 in Kraft treten kann.

Das Problem für Macron und Co. besteht aber darin, dass seine Koalition im Parlament bei der letzten Parlamentswahl im Frühjahr 2022 die absolute Mehrheit verloren hat. Deshalb sind seine Getreuen, um die anvisierte Rentenverschlechterung im Parlament durchbringen zu können, auf Unterstützung durch Stimmen außerhalb des derzeitigen Regierungslagers angewiesen. Diese ist aber nur schwierig zu finden. Denn die »Rentenreform« ist in der Bevölkerung und damit bei den Wählerinnen und Wählern äußerst unpopulär. Deshalb will niemand von den nicht in das Regierungslager eingebundenen Kräften sein Ansehen damit belasten.

Wiederholt war daher in der französischen Öffentlichkeit davon die Rede, dass das Macron-Lager auch versuchen könnte, seine »Rentenreform« mit einem parlamentarischen Trick unter Umgehung einer Abstimmung im Parlament in Kraft zu setzen, und zwar unter Anwendung des Artikels 49,3 der französischen Verfassung. Dieser aus Zeiten von Staatschef De Gaulle stammende Ausnahmeartikel ermächtigt den Staatspräsidenten nämlich, ein Gesetz auch ohne Abstimmung im Parlament in Kraft zu setzen, wenn die Regierung sich bereit erklärt, sich anschließend einer Vertrauensabstimmung zu stellen, wonach sie, wenn sie diese verliert, zum Rücktritt gezwungen ist und der Staatspräsident das Parlament auflösen und Neuwahlen ansetzen kann. Die Anwendung dieser deutlich erkennbar undemokratischen Prozedur in Sachen Rentenreform ist allerdings auch im Regierungslager selbst auf Widerspruch gestoßen. Die zu Macrons Koalition gehörende rechtsliberale MoDem-Fraktion machte gegen den »Schnellschuss« mit dem Artikel 49,3 Bedenken geltend. Seit der jüngsten Ankündigung der Premierministerin Borne scheint diese Variante nun zunächst vom Tisch – ohne dass sicher wäre, dass Staatschef Macron endgültig darauf verzichtet, falls die nun vorgesehenen »Konsultationen« bis zum Dezember zu keiner »Lösung« für die Annahme der »Rentenreform« im Parlament führen.

CGT-Gewerkschaftschef Philippe Martinez bewertete den Aktionstag vom 29. September mit seiner deutlichen Zunahme an Beteiligung als eine »erste Warnung an Regierung und Unternehmer«. Geboten sei die rasche Aufnahme von Verhandlungen über die Erhöhung der Löhne und Gehälter in allen Branchen des Wirtschaftslebens und der definitive Verzicht auf Pläne zur Verschlechterung der Rentenregelungen. Die Franzosen hätten deutlich genug gezeigt, dass sie »nicht länger arbeiten« wollen. Für die Gewerkschaften jedenfalls sei auch in den kommenden Wochen »die Stunde der Mobilisierung, nicht die der Resignation«.

In gemeinsamer Sache

IT-Teufel hat zugeschlagen

Im Schwerpunktheft der Marxistischen Blätter »Geschichte erkennen« ist auf den inneren Umschlagseiten beim Druck Text verschwunden, der in der Druckdatei noch vorhanden war. Unsere Dienstleistungspartner in der Druckerei suchen fieberhaft nach der Ursache. Wir bitten um Entschuldigung.

Brief an unsere Leser:innen

Dieser Ausgabe liegt ein persönlicher Brief des Verlagsgeschäftsführers bei. Wir bitten um Beachtung.

Revolutionäre Realpolitik

Eine Stadtregierung an der Seite der Menschen

Anne Rieger

Seit Mitte November 2021 stellt die Koalition aus KPÖ, Grünen und SPÖ die Regierung in Graz. Die Kommunistin Elke Kahr wurde zur Bürgermeisterin gewählt. Ziel der Koalition war »Graz freundlicher, sozialer, ökologischer und demokratischer zu machen.« Nun fragen viele: ist da was gelungen, kann man schon erste Erfolge sehen?

Ja man kann! Zwar ist der Kapitalismus in Graz nicht abgeschafft, die herrschenden Machtblöcke wirken nach wie vor in der Stadt, haben aber die Stadtverwaltung nicht mehr uneingeschränkt in der Hand. Soziale, ökologische, demokratische Verbesserungen wurden und werden ihnen von der fortschrittlichen Regierung abgerungen. In erster Linie nutzt das den arbeitenden Menschen, den Erwerbslosen und Pensionist:innen, denjenigen, die in finanzieller Bedrängnis sind. Doch auch andere profitieren davon.

Wohnen, Soziales

Bereits nach einem Monat im Amt fror die neue Stadtregierung die Kanal- und Müllgebühren für alle Grazer Haushalte ein. Ein gewaltiger Unterschied zur Vorgängerregierung, die diese Wohnkosten Jahr für Jahr um drei Prozent erhöhte.

Auch die vergünstigte Öffi-Jahreskarte für Graz bleibt mit 315 Euro für alle auf dem Niveau des Vorjahres. Ein Gegensatz zum Steirischen Verkehrsverbund, der jährlich die Preise für die Jahreskarte für Graz anhebt, auf nun 504 Euro. Für alle, die ihren Hauptwohnsitz in Graz haben, zahlt die Stadt die Differenz.

Der Zugang zu den 4350 Gemeindewohnungen wurde erleichtert. Wer ein Jahr in Graz seinen Hauptwohnsitz hat oder hier arbeitet, kann einen Antrag stellen. Die FPÖ hatte die Wartezeit auf fünf Jahren verschärft. Die Mieten in den Gemeindewohnungen steigen nicht. 200 neue Gemeindewohnungen sind bereits im Bau, weitere in Planung. Bei 6832 Wohnungen mit Zuweisungsrecht der Stadt, gibt es Mietzuzahlung. Sie gewährleisten, dass niemand mehr als ein Drittel des Einkommens für Wohnkosten ausgeben muss.

Der SocialCard-Bezug für Menschen mit geringem Einkommen wurde ausgeweitet. 23.000 statt bisher 13.000 Menschen erhalten dadurch eine Öffi-Jahreskarte für 50 Euro, Ermäßigungen bei Gebühren, Abgaben, diversen Freizeit- und Kultureinrichtungen, u. a. bei Bädern. Die Mittel für die Stadtteilarbeit, unter Schwarz-Blau beinahe zum Erliegen gekommen, wurden wieder angehoben. Die Stadtteilzentren sind wichtige Anlaufstellen in den Bezirken, wo Menschen Beratungen in Anspruch nehmen und soziale Kontakte knüpfen können. Sie sind ein wichtiger gesellschaftlicher Faktor, gerade für Menschen, die in schwierigen finanziellen Verhältnissen leben. Der städtische Sozialfonds »Graz hilft« wird unbürokratischer und treffsicherer.

Im ersten Dreivierteljahr konnte so die progressive Stadtregierung, mit der Kommunistin an der Spitze, in kleinen und großen Fragen zeigen, dass auch im Neoliberalismus Alternativen möglich und Gestaltungsspielräume im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung durchgesetzt werden können. Die gezahlten Steuern werden sinnvoll ausgegeben.

»Gehts der Pflege gut, gehts uns allen gut«

Robert Krotzer, schon zuvor KPÖ-Stadtrat für Gesundheit und Pflege, baut den Bereich weiter aus. Mit dem Grazer Tarifmodell verbleibt Pflege-Bedürftigen in der Hauskrankenpflege die Mindestpension von aktuell 977 Euro, sie müssen somit nicht ins Heim. Die KPÖ fordert das für die gesamte Steiermark. Die Pflegedrehscheibe, eine Pflegeplatz-Datenbank, finanzielle Verbesserungen für die Mitarbeiter:innen der Corona-Taskforce sowie bei Springerdiensten in städtischen Pflegeheimen, wurden etabliert.

Die Zuständigkeit eines KPÖ-Stadtrats, hier für Pflege, zeigt wie im Brennglas, die Grenzen aber auch die Möglichkeiten einer fortschrittlichen Stadtregierung im Kapitalismus. Ausgebrannte Pflegekräfte in Stadt, Land und Bund, in Krankenhäusern und Pflegeheimen, leerstehende Betten durch Personalmangel, fehlende Ausbildungsplätze, sind seit vielen Jahren bekannt. Landes- und Bundesregierung glänzen durch Ignorieren bzw. Sparappelle. Eine Stadtregierung allein kann diesen Notstand nicht lösen.

Auf die Straße

Krotzer zeigt die Möglichkeiten auf, aus einer Stadtadministration heraus, solch brennendes Thema auf die Straße zu tragen, um die Barrikaden der herrschenden Kreise – sprich ihre neoliberalen Kostensenkungsstrategien – zu durchbrechen. Initiiert vom Pflegearbeitskreises der KPÖ, unterstützt durch Demonstrationen, geht nun die KPÖ, gemeinsam mit Betroffenen und weiteren Bevölkerungskreisen, auf die Straße und sammelt Unterschriften für eine Petition »Gehts der Pflege gut, gehts uns allen gut«. Ziel sind mindestens 10 000 Unterschriften. 4000 wurden bereits gesammelt, auch im heißen Sommer, morgens vor den Pforten der Krankenhäuser, tagsüber auf Straßen und Bauernmärkten. Gefordert werden mehr Ausbildungsplätze und Personal, höhere Entlohnung der Pflegekräfte und finanzielle Absicherung in der Pflege-Ausbildung in Höhe eines Polizeischülers, Verringerung der Arbeitszeit mit dem Ziel einer 35-Stunden-Woche. »Und wenn uns Grenzen gesetzt werden, dann bauen wir außerparlamentarischen Druck auf«, so die kommunistische Bürgermeisterin schon im Frühjahr.

Im städtischen Gesundheitsbereich wird die Subvention auf deutlich mehr als einen Euro pro Grazer:in angehoben. Im Gesundheitsamt werden zwei neue Referate geschaffen: Eines für Infektions- und Seuchenschutz, in das der enorme Erfahrungsschatz der Corona-Task-Force dauerhaft einfließen soll, sowie eines für Gesundheitsversorgung mit einer Gesundheitsdrehscheibe, für präventive Angebote und als Lotsenfunktion im oft unübersichtlichen Gesundheitswesen.

Krotzer ist zusätzlich für »Arbeit und Beschäftigung« sowie »Integration und Zusammenleben« zuständig. Sommerkurse für Kinder und Jugendliche wurden stark ausgebaut, für Kinder und Jugendliche aus so genannten »bildungsfernen« Familien sind sie kostenlos.

Zustimmung

Die Schritte werden von der großen Mehrheit der Grazer Bevölkerung positiv wahrgenommen, davon zeugt auch eine Umfrage vom Juni: Von 300 befragten Grazer:innen hatten 65 Prozent eine gute Meinung, »wenn sie an die bisherige Arbeit Elke Kahrs als Grazer Bürgermeisterin denken«, 30 Prozent eine »sehr gute«, 34 Prozent eine »eher gute«.1

Offenes Rathaus

Das ist nicht verwunderlich. Die Grazer Regierung ist bürgernah und handelt transparent. Die Büros im Rathaus sind für alle offen, zuvor waren Stadtregierer:innen, Gemeinderät:innen und Verwaltung durch Sicherheitskräfte abgeschirmt. Die Bürgermeisterin berät am Wochenende in persönlichen Gesprächen Rat- und Hilfesuchende. Natürlich gibt es darüber hinaus große Beratungs- und Hilfsangebote in allen KPÖ-Stadtratbüros. Auf Initiative des Frauenreferats kommt niederschwellige Frauenberatung direkt zu den Frauen – in Parks und auf Spielplätze – mit dem Lastenfahrrad Fritzi.

Budget mit sozialem Gesicht statt Prestigeobjekte

Das fulminante Wahlergebnis im letzten Jahr brachte einen dritten Stadtsenatssitz für die KPÖ: Finanzstadtrat Manfred Eber verantwortet die Budgets der Abteilungen, zahllosen Eigenbetriebe und Beteiligungen der Stadt. Die Koalition übernahm einen Schuldenberg von 1,6 Mrd. Euro von der Vorgängerregierung. »Die schwierige finanzielle Ausgangslage ist hinlänglich bekannt. Uns ist es dennoch gelungen, einen beträchtlichen Rahmen für notwendige Investitionen, die der Mehrheit der Grazer Bevölkerung dienen, zu gewährleisten«, so Eber. »Zuerst müssen Basis-Hausaufgaben wie die dringend notwendige Sanierung der Kläranlage oder jene der Wasserleitung nach Feldkirchen vorgenommen werden, die unsere Vorgänger aus unerklärlichen Gründen hintangestellt haben«, erklärte er. Geplante Investitionen für das Doppelbudget sind der Ankauf längerer Straßenbahnen, die Innenstadtentlastung des Öffi-Verkehrs, die Schule im neuen Stadtteil, die Radoffensive, Klimaschutz u. a.. Soziales bekommt jetzt einen hohen Stellenwert, ohne dabei wichtige andere Bereiche zu vergessen. Kein Geld gibt es für Prestigeprojekte, die nicht dem Großteil der Bevölkerung dienlich sind. Alleine eine ursprünglich geplante »Surf- und Kajakwelle« des Vorgängers hätte die Stadt bis zu drei Millionen Euro gekostet, für eine Tiefgarage unter der Burg hätten bis zu 13,7 Millionen Euro anfallen können.

Sparen bei Parteien, Präsentation und Werbung

Grazer Parteien werden großzügig mit Steuergeld gefördert. Zwischen Juli 2021 und Juni 2022 hat allein die KPÖ-Gemeinderatsfraktion 324.944 Euro an Fraktionsförderung bezogen. Mehr als zwei Drittel dieser Fördersumme gab sie allerdings als Unterstützungsleistung direkt an Menschen in sozialen Notlagen weiter.

Insgesamt 1,24 Millionen Euro beträgt die jährliche Förderung für die im Rathaus vertretenen Parteien. Die Rot-Grün-Rote Stadtregierung kürzte diese Mittel bereits im Dezember um zehn Prozent. Die frei gewordenen Mittel von 127.000 Euro werden 2022 für den »Graz hilft«-Fonds im Sozialamt zweckgewidmet, um Grazer:innen zu unterstützen. In der gesamten Legislaturperiode sollen so insgesamt 600.000 Euro für soziale Zwecke verwendet werden. Die Kürzung der Förderung erfolgte nicht linear, sondern ist vom Stimmenanteil bei der Gemeinderatswahl abhängig. Damit sollen jene Parteien, die nicht Teil der Regierung sind, einen gerechteren Anteil an Fördermitteln bekommen. Dadurch erhielt die Partei mit den wenigsten Wählerstimmen, die NEOS (vergleichbar FDP), die höchste Aufstockung im Vergleich zum Vorjahr, bei der KPÖ, der stimmenstärksten Partei, wurde am meisten gekürzt!

Die Holding Graz, der kommunale Dienstleister der Stadt, hat bislang fast drei Mio. Euro jährlich für Sponsoring ausgegeben. Um 625.000 Euro oder 17 Prozent wird das zurückgefahren. »Keine Sorgen müssen sich aber kleine Vereine oder Veranstalter machen, die in ihrer wichtigen Arbeit auf diese Sponsorgelder angewiesen sind«, betont der KPÖ-Finanzstadtrat. »Künftig werden soziale und ökologische Aspekte stärker berücksichtigt werden.« Das Budget für die Öffentlichkeitsarbeit wird um 160.000 Euro gekürzt, noch einmal so viel bei den Repräsentationsausgaben im Rathaus. Auch für die Eigenwerbung der Politik gibt es weniger Geld. Inserate sollen der Information der Bevölkerung dienen. Alles andere darf künftig nicht mehr aus den Ämtern und Abteilungen finanziert werden.

Die großen Rücklagen mancher Abteilungen fließen nun in ihr operatives Budget. 25 Mio. Euro der angesparten 36 Mio werden so durchdacht verwendet, statt neue Schulden zu machen. Auch die Streichung der Gagen für Politiker:innen in Aufsichtsräten, die die letzte Regierung 2017 eingeführt hatte, spart Steuergeld.

Personalaufbau

Die Stadt Graz erhöht ihr Personal um 162 Dienstposten. Die Abteilung für Bildung und Integration bekommt 70 Dienstposten, davon 54 für Pädagog:innen und Kinderbetreuer:innen. Die Sozialarbeit wird mit zusätzlichen 14 Sozialarbeiter:innen, Sozialpädagog:innen und Psycholog:innen sowie Amtssachverständigen gestärkt. Außerdem wird ein neues Referat Wohnen in diesem Bereich angesiedelt. Weitere Aufnahmen sind für die Bereiche Jugend und Familie, Gesundheits-, Umwelt- und Sportamt vorgesehen.

Demokratisierung und Transparenz