Ingenieur Menni - Alexandr A. Bogdanow - E-Book

Ingenieur Menni E-Book

Alexandr A. Bogdanow

0,0
2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der 1913 veröffentlichten Roman »Der Ingenieur Menni« ist quasi ein Prequel zu seiner fünf Jahre zuvor veröffentlichten Gesellschaftsutopie »Der rote Planet«. Mit dem Roman kehrt Alexander A. Bogdanov noch einmal zum Mars zurück. FiktiverErzähler der Geschichte ist der Revolutionär Leonid – Protagonist in »Der rote Planet«, der nun jene Vorgeschichte berichtet, die einst während des Baus der Großen Kanäle zum Entstehen der kommunistischen Bewegung auf dem Mars führte. Zugleich dient Bogdanow die Romanhandlung zur Darlegung seiner Vorstellung einer »organisierten Wissenschaft«, die er später in seinem theoretischen Werk »Tektologie« ausführlich darlegen sollte. Von Lenin heftig kritisiert verschwand der Roman in den 20er Jahren aus dem Buchhandel und konnte in Russland erst 60 Jahre später wieder aufgelegt werden. Bogdanow war zweiter Mann in der von Lenin geführten Bolschewistischen Partei. Nach dem Scheitern der ersten russischen Revolution unternahm der Arzt, Philosoph und Politiker in phantastischer Form ein erstaunlich weitsichtiges Denkabenteuer: Nach der Perspektive der russischen Revolution und des Weltsozialismus wird gefragt, indem die irdische realgeschichtliche Entwicklung mit einem idealen Mars-Kommunismus konfrontiert wird.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 198

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alexandr A. Bogdanow

Ingenieur Menni

Titel

 

 

 

 

Ingenieur Menni

(1913)

 

Alexandr A. Bogdanow

 

 

Ingenieur Menni

(1913)

Impressum

 

 

 

Copyright: NDV im vss-verlag Her,mann Schladt

Jahr: 2021

 

 

Lektorat/ Korrektorat: Hermann Schladt

Übersetzer: Waldemar Korowich

Covergestaltung: Hermann Schladt unter Verwendung eines Fotos von Pixabay

 

Verlagsportal: www.vss-verlag.de

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässigInhalt

 

 

Vorwort des Übersetzers

 

Nach den Ereignissen, die ich in dem Buch »Der rote Planet« beschrieben habe, lebe ich jetzt wieder bei meinen Freunden, den Marsmenschen, und arbeite für die Sache, die mir teuer ist - die Annäherung zwischen unseren Welten.

Die Marsmenschen haben beschlossen, für die nächste Zukunft auf jegliche direkte Einmischung in die Belange der Erde zu verzichten; sie wollen sich vorerst darauf beschränken, sie zu erforschen und die Erdenmenschheit ganz allmählich mit der weit älteren Kultur des Mars vertraut zu machen. Und ich stimme völlig mit ihnen überein, dass Vorsicht in dieser Angelegenheit unabdingbar ist. Denn würden die Entdeckungen der Marswissenschaft über den Aufbau der Materie auf der Erde bekannt, so besäße der Militarismus einander feindlich gesinnter Staaten plötzlich Vernichtungswaffen von so ungeheurer Kraft, dass der gesamte Planet innerhalb weniger Monate verödet wäre.

Die Marsianische Gesellschaft für Kolonisation bildete eine spezielle Gruppe zur Verbreitung der Neuen Kultur auf der Erde. Ich übernahm in dieser Gruppe die für mich geeignetste Rolle - die des Übersetzers. Für dieses Ziel hoffen wir in nächster Zukunft noch weitere Erdenmenschen verschiedenster Nationalität zu gewinnen. Denn die Aufgabe ist bei weitem nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Die Schwierigkeiten beim Übersetzen der einheitlichen Marssprache in die einzelnen Erdensprachen sind ungleich größer als beim Übertragen einer Erdensprache in die andere. Eine vollständige und bis ins letzte exakte Wiedergabe der Originalgedanken ist oftmals sogar unmöglich.

Stellen Sie sich vor, Sie müssten ein zeitgenössisches wissenschaftliches Werk, einen psychologischen Roman, einen politischen Artikel in die Sprache Homers oder ins Kirchenslawische übertragen . . . Mir ist bewusst, wie wenig schmeichelhaft ein solcher Vergleich für uns, die Erdenmenschen, ausfällt, doch ist er leider nicht übertrieben: Der Unterschied zwischen unseren beiden Kulturen ist in der Tat ähnlich groß. Eine andere Lebensordnung, abweichende Beziehungen der Menschen untereinander, ein völlig unterschiedlicher Erfahrungsschatz. Zahlreiche Begriffe - dort bis ins Detail ausgearbeitet und alltäglich - fehlen hier ganz. Ideen - dort in einem Maße allgemeingültig, dass man sie nicht einmal mehr ausspricht, sondern permanent voraussetzt - werden hier nicht selten als etwas Unverständliches, Unwahrscheinliches, ja Ungeheuerliches empfunden, so wie es etwa der Atheismus für einen strenggläubigen Katholiken des Mittelalters war oder die freie Liebe für einen Kleinbürger vergangener Zeiten. Die Sprache der Gedanken kann viel mehr Abweichungen bringen als die des Wortes: Sie ist mitunter selbst da nicht in Übereinstimmung zu bringen, wo Wörter etwas Gleiches auszudrücken scheinen.

Die größte Schwierigkeit, der die neue Idee auf ihrem Weg begegnet, liegt darin, sie in die gewöhnliche Sprache zu übertragen. Als Kopernikus, Bruno und Galilei sagten, die Erde drehe sich, war dieser Satz den meisten noch unverständlich: »Drehen« war ja in erster Linie eine bestimmte lebendige Empfindung, verbunden mit einer kreisförmigen Bewegung des Menschen oder der ihn umgebenden Gegenstände; eine solche Empfindung aber hatte es in genau dieser konkreten Situation nicht gegeben. Eine Geschichte, die sich bis heute auf Schritt und Tritt wiederholt.

Sie werden nun leicht verstehen, welcher Art die Hindernisse bei der Übersetzung aus einer Sprache sind, die zu einer anderen und zudem weit höheren, komplizierteren Kultur gehört. Einleuchtend also, dass wir mit dem Leichtesten beginnen müssen. Daraus erklärt sich auch die Wahl,die unsere Gruppe für den ersten Versuch getroffen hat. Wir entschieden uns für den historischen Roman der Schriftstellerin Enno, mit der ich befreundet bin. Er spielt in einer Epoche, die ungefähr dem jetzigen Stand der Erdenzivilisation entspricht: den letzten Phasen des Kapitalismus. Es werden Typen und Beziehungen dargestellt, die den unseren verwandt sind und deshalb einigermaßen verständlich für den Erdenleser. Enno selbst war mehrmals bei uns und kennt einige unserer Sprachen, so dass sie mir .teilweise bei der Arbeit helfen konnte, doch eben nur teilweise. Die Verantwortung für die Darstellung insgesamt - wenn schon von Verantwortung gesprochen werden soll - muss ich allein auf mich nehmen.

Maße, Gewichte und die auf dem Mars üblichen Zeitrechnungen habe ich natürlich überall durch unsere irdischen ersetzt; für Länder, Meere und Kanäle, wo es möglich war, jene Bezeichnungen genommen, die unsere Astronomen jetzt auf ihren Karten verwenden, das heißt die griechischen und lateinischen Namen Schiaparellis. Doch im Roman ist nicht selten von Details die Rede, die unseren Teleskopen völlig unzugänglich sind - von Städten, Gebirgsketten, kleinen Meeresbuchten. In diesen Fällen habe ich entweder einfach den Marsnamen übernommen oder mich bemüht, ihn in der Art Schiaparellis in einer geeigneten griechischen Form wiederzugeben.

Nun aber will ich den Leser mit dem Milieu bekanntmachen, in dem die Handlung des Romans spielt.

Der Mars ist seinem astronomischen Alter nach doppelt so alt wie die Erde; aus diesem Grund besitzt er wenig Wasser. In langen Jahrmillionen sind seine Ozeane zum größten Teil in die Rinde des Planeten eingesickert - die Meere des Mars bilden heute lediglich die Hälfe seiner Oberfläche, auch sind sie bedeutend flacher als die irdischen. Das Festland nimmt als geschlossener Kontinent drei Viertel der nördlichen Halbkugel ein und etwa ein Viertel der südlichen, wo es auch einige kleine Binnenmeere gibt. Den größten Teil aber beansprucht der Südliche Ozean mit einer Vielzahl von Inseln, von denen einige ziemlich ausgedehnt sind. Das Festland ist in allen Richtungen von den berühmten Kanälen durchschnitten.

Soweit das heutige Bild - es stellte sich vor dreihundert Jahren allerdings noch anders dar. Hätten Galilei und Kepler über moderne Teleskope verfügt, sie würden die riesige Anzahl von Kanälen, Seen und Binnenmeeren in der Marslandschaft trotzdem nicht entdeckt haben. Die »Großen Kanäle« gab es damals nämlich noch gar nicht. Nur einige recht breite Meerengen existierten, die von den Erdenastronomen fälschlich als Kanäle bezeichnet wurden. Der Beginn der »Großen Arbeiten« wurde erst vor zweihundertfünfzig Jahren durch den Ingenieur Menni begründet. Es war die historische Notwendigkeit, die dieses Wunder an menschlichem Willen und Werk hervorbrachte.

Die Geschichte der Marsmenschen ähnelt in den Grundzügen der Geschichte der Erdenbewohner: der gleiche Weg von der Stammesgemeinschaft über den Feudalismus zur Herrschaft des Kapitals und dabei zur Vereinigung der Arbeit. Nur vollzog sich diese Entwicklung langsamer und sanfter. Die Natur des Mars ist nicht so reich wie die irdische, deshalb war auch das Leben nicht so verschwenderisch. Jede Seite der Erdengeschichte ist mit Feuer und Blut bedeckt, und das in einem Maße, dass die Chronisten und Historiker lange Zeit fast nichts anderes mehr aus ihr herauslesen konnten. Natürlich spielten Gewalt, Zerstörung und Vernichtung auch auf dem Mars eine Rolle, nur nahmen sie dort niemals diese ungeheuerlichen Ausmaße an. Die Menschheit des Mars schritt langsamer voran, doch kannte sie niemals den Tod ganzer Zivilisationen, eine so tief verwurzelte, grausame Reaktion wie bei uns. Selbst die unzähligen Kriege im Feudalismus über einige Jahrtausende hinweg waren nicht jenem sinnlosen, tierischen Blutrausch vergleichbar, der den feudalen Kriegen auf der Erde innewohnte: Den grausamen Schlachten dort folgten nur selten Massenmorde und Plünderungen unter der Zivilbevölkerung. Trotz der Barbarei jener Epoche schimmerte eine instinktive Achtung vor dem Leben und vor der Arbeit durch.

Der Grund dafür? Die Natur des Mars war arm und kärglich, und in der Erfahrung Tausender von Generationen hatte sich die verschwommene Erkenntnis herausgebildet, wie schwer es ist, Zerstörtes wiedererstehen zu lassen. Auch gab es nicht so viel Trennendes zwischen den Menschen: Die verschiedenen Stämme und Nationalitäten standen einander näher, der Umgang miteinander war leichter. Das Festland wurde nicht durch breite Meere und Ozeane in selbständige Kontinente zerrissen; die Gebirgsketten waren nicht so hoch und unüberwindlich wie auf der Erde; die Fortbewegung fiel, dank der geringeren Schwerkraft, um vieles leichter: Das Gewicht aller Gegenstände war mehr als zweieinhalb mal niedriger als bei uns. Die verschiedenen Sprachen, hervorgegangen aus einem gemeinsamen Ursprung, hatten sich niemals bis zur völligen Unkenntlichkeit voneinander entfernt und glichen sich bereits in der Feudalepoche, mit der Zunahme der Handelsbeziehungen und Reisen, einander erneut an; gegen Ende dieser Epoche waren es dann eher territoriale Dialekte als eigenständige Sprachen. Das Verständnis unter den Leuten war größer, ihr Erfahrungsschatz einheitlicher und tiefer.

Etwa 1000 nach Christi Geburt, entsprechend unserer Zeitrechnung, lag der Feudalismus in den meisten Ländern des Mars in den letzten Zügen. Die Geldwirtschaft hatte sich in den vorangegangenen fünfzig Jahrhunderten Bahn gebrochen, und das Handelskapital machte dem alten Landadel die Macht über die Gesellschaft immer entschiedener streitig. Überall war die Kulturrevolution im Gange, doch noch immer in religiöser Umhüllung - unter dem Schein, die althergebrachten feudalen Religionen zu reformieren. Die Großfürsten und Könige, die »Bodeneintreiber«, nutzten die Situation, um die Macht ihres gefährlichsten Gegners - des Priestertums - zu brechen und das monarchistische System zu festigen. Um das Jahr 1000 gab es statt der früheren tausend kleinen Teilfürstentümer nur noch an die zwanzig Beamtenmonarchien, während die Mehrheit der vornehmen Feudalherren in den Militärdienst trat oder an die Königshöfe ging.

In dieser Zeit fanden aber auch die Manufakturen Verbreitung, und das Kapital wuchs an. Da es ihm unter der Vormundschaft des Polizeistaats zu eng wurde, begann es seinen Befreiungskampf. Von ungefähr 1200 bis 1600 erfolgten, unter seiner unsichtbaren Herrschaft, eine Reihe politischer Revolutionen in verschiedenen Ländern.

Zum Ende des 14. Jahrhunderts begann, hervorgerufen durch das Auftauchen von Maschinen, die Industrierevolution, und der Gang der Entwicklung wurde beschleunigt. Gegen 1560 setzte sich, von einigen rückständigen Randprovinzen des Kontinents abgesehen, nicht nur überall die demokratische Ordnung durch, es wurde noch mehr erreicht - eine fast vollständige kulturelle und politische Einigung. Eine gemeinsame Literatursprache entstand, die die Mehrzahl der früheren Dialekte in sich aufnahm. Teils durch Kriege, teils durch Verhandlungen wurde eine gigantische Föderative Republik gegründet, die fast drei Viertel des Planeten umfasste. Um die Einigung zu vollenden, unterwarf die Regierung in den folgenden fünfzig Jahren systematisch die noch verbliebenen halbfeudalen Staaten.

Etwa um 1620 war der letzte unabhängige Staat besiegt - ein Land, das auf unseren Karten die Bezeichnung »Taumasia Felix« (Glückliches Wunderland) trägt, und wo das alte Herzogsgeschlecht der Aldos herrschte. Taumasien ist eine große Halbinsel im Süden des Kontinents, von dem es inzwischen übrigens durch Kanäle und Seen vollständig abgetrennt wurde. Zu jener Zeit war lediglich der Küstenstreifen Taumasiens besiedelt, der an den Südlichen Ozean grenzte; das gesamte innere Territorium, jetzt mit dem riesigen »Sonnensee«, war wasserlose Wüste. Die Bevölkerung - einige hunderttausend Bauern und Fischer - zeichnete sich durch raue, schlichte Sitten aus, durch Konservatismus und Religiosität; in erster Linie herrschte noch Naturalwirtschaft, das Verhältnis zwischen Feudalherren und Bauernschaft war ganz und gar patriarchalisch. Eine richtige Vendee, die in der Geschichte des Mars auch die Rolle der Vendee spielte.

Der alte Herzog Aldo überlebte die Niederlage nicht. Doch es blieb sein Sohn und Nachfolger, der junge Ormen. Als die Föderierten Taumasien den Krieg erklärten, befand er sich gerade in Zentropolis, der Hauptstadt der Republik, wo er Verhandlungen führen wollte. Dort wurde er auch verhaftet und für die Dauer des Krieges festgehalten. Die Republik hatte die Besitztümer des Herzogshauses nicht konfisziert, und Ormen Aldo behielt, wenngleich ohne politische Macht, den Hauptanteil taumasischen Bodens in der Eigenschaft eines Gutsbesitzers. Äußerlich hatte er sich mit seiner neuen Situation völlig abgefunden. Er reiste jedes Jahr für ein paar Monate nach Zentropolis, führte dort das Leben eines Millionärs der jeunesse doree und gab vor, sich absolut nicht für Politik zu interessieren. In Wirklichkeit aber beobachtete er aufmerksam die Lage unter den gesellschaftlichen Kräften und suchte Verbindungen zu den unzufriedenen Schichten - zu den Resten des Klerus und der Aristokratie ebenso wie zu den verschiedenen Separatisten, die von einer Wiederherstellung der Unabhängigkeit ihrer Heimatgebiete träumten. Die restliche Zeit verbrachte er bei sich in Taumasien, bereiste das gesamte Gebiet unter dem Vorwand der Jagd oder wirtschaftlicher Absprachen mit den Pächtern.

Der Boden für seine Agitation war äußerst günstig. Er wurde nicht nur durch das starke Vermächtnis der Vergangenheit und den Einfluss des Klerus auf die rückständigen Massen unterstützt, sondern mehr noch durch die qualvolle ökonomische Evolution des Landes: das Eindringen des Handels- und Wucherkapitals. Die Steuern, von der Zentralregierung auferlegt, wogen für sich genommen nicht schwer, doch sie mussten in Geld entrichtet werden. Geld aber stellte eine Seltenheit in Taumasien dar. Die Bauern waren es von alters her gewohnt, direkt von den Produkten ihrer Arbeit zu leben, wobei sie Fehlendes im Nachbarschaftstausch ergänzten. In Naturalien wurden auch die Abgaben an die Gutsbesitzer geleistet; selbst die Abgaben an das alte Regime wurden zu neun Zehntel durch Produkte und Dienste entrichtet. Nun aber musste man den Steuereintreibern zu einer bestimmten Zeit des Jahres Geldsummen bezahlen, die für bäuerliche Verhältnisse riesig waren, und zu diesem Zweck musste irgend etwas verkauft werden. Um jeden Preis. So geriet die Masse der Bevölkerung in die Gewalt von Spekulanten und fliegenden Händlern, die diese Situation gnadenlos ausnutzten: Sie kauften zu Billigpreisen, gewährten Anleihen zu nicht rückzahlbaren Wucherzinsen, zwangen den Bauern Waren auf, die sie oftmals gar nicht gebrauchen konnten, eigneten sich nach Kulakenart Getreide an, das noch auf dem Halm stand, Fisch, der noch gar nicht gefangen war, und vergrößerten ihre Gewinne außerdem durch systematischen Betrug, gegen den die unwissende Masse wehr­os war. Mit dem Handel kamen für die Bauern neue Versuchungen und Bedürfnisse, die zu befriedigen abermals Geld erforderte. Das aber gestattete den Räubern wiederum, ihre Ausbeutung zu verstärken. Der Verfall schritt schnell voran, und mit ihm wuchs die Unzufriedenheit im Volk von Taumasien.

Nach zwanzig Jahren unsichtbarer Arbeit Ormen Aldos und seiner Freunde war alles ausgezeichnet vorbereitet: Zehntausende energischer Leute waren bereit, sich auf das erste Signal hin zu erheben; in den Kellern der übers ganze Land verstreuten Schlösser lagen massenhaft Waffen, die nach und nach herbeigeschafft worden waren. Nun hieß es nur noch, einen günstigen Augenblick abzuwarten. Gleichzeitig beschloss Ormen aber auch, sich um den Fortbestand seiner Dynastie zu kümmern. Er heiratete ein junges Mädchen, die Tochter eines Großgrundbesitzers, der ein leidenschaftlicher Anhänger der Verschwörung war. Von Liebe konnte in dieser Ehe keine Rede sein: Zwanzig Jahre Politik und Diplomatie hatten aus Ormen einen düsteren, unsympathischen Mann gemacht. Einige Monate später erhielt Ormen zwei freudige Nachrichten: Ein Nachfolger war ihm geboren worden, und eine harte Wirtschaftskrise hatte die gesamte Republik erfasst. Eine bessere Gelegenheit konnte er sich nicht wünschen - er erhob das alte Banner der Aldo- Dynastie.

Der Kampf war beharrlich, doch ziemlich ungleich. Ormen entwickelte ein großes Talent als Heerführer und errang mehrere glanzvolle Siege. Doch die Republik bildete schnell eine riesige Armee - andere ernstzunehmende Aufstände, auf die Herzog Aldo gebaut hatte, blieben aus. Und wie es die Ironie des Lebens so will, war es ausgerechnet der Krieg mit Taumasien, der die Republik schneller über die ökonomische Krise hinwegkommen ließ: Die nun erforderlichen Großeinkäufe und Aufträge verbesserten schlagartig die Situation erst einiger, dann weiterer Produktionszweige. Ein Jahr später war alles vorbei - Herzog Ormen starb mit der Waffe in der Hand; Taumasien war für immer besiegt, die feudalistische Idee erstand nicht wieder auf.

Aldos Witwe wurde mit ihrem Kind - wohl um sie besser unter Kontrolle zu haben - nach Zentropolis umgesiedelt, in die Hauptstadt, die sich mehrere tausend Kilometer von Taumasien entfernt befand. Sie lag inmitten des Kontinents, am Ufer eines Binnenmeeres, Nilsee genannt, an der Mündung der breiten und sehr langen Indus-Meerenge. Sie verbindet den Nilsee mit der Perlenbucht des Südlichen Ozeans. Die junge Frau starb bald darauf vor Sehnsucht nach der fernen Heimat. Der Junge wuchs unter fremden Menschen auf, wurde nach republikanischen Grundsätzen erzogen. Er hieß, wie auch sein Vater, Ormen, nannte sich später aber Menni, was ein und dasselbe bedeutet, doch gewissermaßen die demokratische Form ist, vergleichbar etwa mit unserer Art, eine gekrönte Persönlichkeit Johannes zu nennen, einen gewöhnlichen Menschen dagegen Hans.

Aus Menni wurde ein herausragender Wissenschaftler - ein Physiker und Ingenieur. Er hatte nie Not leiden müssen, denn obwohl sämtliche Besitztümer des Vaters konfisziert worden waren, blieb ihm doch eine beträchtliche Erbschaft durch die Verwandten der Mutter. Das erlaubte ihm, ab seinem zwanzigsten Lebensjahr fünf Jahre lang, eine Reihe kühner ferner Reisen durch die großen Wüsten des Kontinents zu unternehmen. Zu jener Zeit war weniger als die Hälfte des Festlands besiedelt: Das Kanalsystem existierte noch nicht, und fast das ganze Innere des Kontinents, etwa drei Fünftel seiner Oberfläche, war ohne Wasser. Während dieser Reisen muss in ihm der Plan für die Großen Arbeiten gereift sein.

Das erste Arbeitsfeld des Ingenieurs Menni wurde Libyen. Dieses Land, in der Nähe des Äquators gelegen, an der weiten Bucht der Großen Syrte, besitzt bei den Erdenastronomen unverdientermaßen einen schlechten Ruf. Schiaparelli fand heraus, dass die große Westhalbinsel Libyens im Verlauf mehrerer Jahre im Wasser versank. In Wirklichkeit aber war das ein Beobachtungsfehler. An den Küsten Libyens befinden sich ausgedehnte Sandbänke; dort betrieben die Marsmenschen lange Zeit gigantische Plantagen mit einer bestimmten Art von Wasserpflanzen, deren Fasern für die Textilherstellung verwendet wurden. Ihre Farbe - rot wie bei allen Pflanzen des Mars - erweckte die Illusion, es handle sich um Festland. Eine neue Produktionstechnik bei der Textilherstellung machte den weiteren Anbau dieser Pflanzen überflüssig - und die Illusion verschwand. In eine kleine Bucht nördlich dieser Sandbänke mündet jetzt der Kanal Nepentes. Auf seinem Weg nach Osten bildet er, mehrere Dutzend Kilometer vom Meer entfernt, den Möris-See, der doppelt so groß ist wie unser Ladogasee. Dann verläuft er bogenförmig weiter in Richtung Norden und mündet durch den Triton-See in ein ganzes System anderer Kanäle. Menni baute den ersten Teil des Nepentes-Kanals vom Meer bis zum Möris-See, der seinerzeit inmitten der Wüste entstanden war, weil ein Teil von ihr eine Senke darstellte, deren Grund ein beträchtliches Stück unter dem Meeresspiegel lag.

Dank ähnlicher Bedingungen bildeten die Kanäle Nektar und Ambrosia, die von Ingenieur Menni durch Taumasien geführt wurden, den Sonnensee - ein Binnenmeer, etwa halb so groß wie das Kaspische.

Zu Lebzeiten Mennis war nur ein geringfügiger Teil des heute bestehenden Kanalnetzes verwirklicht worden, doch existierte es in den Projekten, die er und sein Nachfolger, der Ingenieur Netti, ausgearbeitet hatten, bereits damals fast vollständig.

Diese beiden Menschen sind die Hauptpersonen des Romans.

Leonid N.

 

 

Prolog

.

1 Menni

 

Die offizielle Beratung über den Kanalbau durch Westlibyen wurde im Winter 1667 nach Erdenrechnung im Ministerium für Gesellschaftliche Arbeiten einberufen. Unter den Hunderten Teilnehmern befanden sich Vertreter der wichtigsten Bankkartelle, aber auch besonders interessierter Industrietrusts und großer Privatunternehmen, eine ganze Reihe bekannter Wissenschaftler und hervorragender Ingenieure, Deputierte des Parlaments und Regierungsabgeordnete. Der Minister eröffnete die Versammlung mit einer kurzen Rede, in der er das Ziel darlegte.

»Sie alle«, begann er, »sind mit dem Projekt des Ingenieurs Menni Aldo in den Grundzügen bereits vertraut, kennen sein ausgezeichnetes Buch >Die Zukunft der Libyschen Wüste« Gesellschaft und Parlament bringen diesem Projekt große Aufmerksamkeit entgegen; davon zeugt Ihre Anwesenheit hier. Auf Vorschlag der Zentralregierung wird der Autor selbst uns heute einen Vortrag halten, in dem er die technische und die finanzielle Seite der Angelegenheit detailliert darlegt. Die Regierung baut auf Ihre hohe Kompetenz, sie misst Ihrer Meinung und Ihren Ratschlägen große Bedeutung bei. Es wäre sehr begrüßenswert, käme der Kongress in seiner Gesamtheit zu einer prinzipiellen Entscheidung für oder gegen das Projekt. Denn es geht ja nicht nur um das friedliche Erkämpfen neuen Landes für die Menschheit, sondern auch um Kosten, die auf ein bis zwei Milliarden veranschlagt wurden.«

Danach erteilte er dem Referenten das Wort.

Zunächst beschrieb Menni komprimiert und genau, mit Zahlen und Skizzen, die sogleich auf eine Leinwand proji­ziert wurden, das Geländerelief.

»Ich selbst«, sagte er, »habe mit meinen Helfern eine neue Vermessung des Libyschen Beckens von Süd nach Nord und von Ost nach West durchgeführt: Die Angaben früherer Reisender waren ungenau und unvollständig. Eine Fläche von mehr als sechshunderttausend Quadratkilometern ist von allen Seiten durch Berge begrenzt, die so hoch sind, dass sie keine Regenwolken passieren lassen. Im Süden und Westen reichen diese Berge ziemlich dicht an den Ozean heran, im Norden und Osten aber beginnen jenseitig andere Wüsten. Früher war dieses Becken eine Meeres­senke, doch da der Meeresspiegel stark sank, wurde die Ver­bindung zum Ozean unterbrochen, und die Senke trocknete aus. Noch heute freilich befindet sich ihr zentraler Teil, wie Sie aus den Querschnittsskizzen ersehen können, fünfzig bis zweihundert Meter unter der Meeresoberfläche, stellenweise sogar bis dreihundert Meter. Diese Fläche von etwa fünfzigtausend Quadratkilometern würde erneut überflutet, gelänge es uns, sie wieder mit dem Ozean zu verbinden. Dadurch würde sich das gesamte Klima des Landes entscheidend verändern.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es dort nur hoffnungslos trockene Wüste, mit einer Sandfläche, die in ihrer oberen Schicht tödlicher, Lungen und Augen verbrennender Staub geworden ist. Es gibt keine Oasen, an denen Reisende verschnaufen könnten. In den letzten hundert Jahren sind von acht Expeditionen, die in die Tiefe der Wüste vordrangen, zwei überhaupt nicht zurückgekehrt, die anderen haben einen Teil ihrer Mitglieder verloren. Unsere Expedition war besser als alle vorangegangenen ausgerüstet, hat allerdings auch bedeutend länger durchgehalten. Doch ist nur die Hälfte von uns zurückgekommen, und alle außer mir waren ernstlich krank. Besonders schwer wogen die Nervenerkrankungen, hervorgerufen durch die Eintönigkeit der Gegend und das Fehlen jeglicher Geräusche. Ein regelrechtes Reich des Schweigens.

Wenn es gelingt, in Libyen ein Binnenmeer zu schaffen,wird sich das Land grundsätzlich verändern. Die Feuchtigkeit, die bei tropischer Sonne über der Oberfläche dieses Meeres durch Verdunstung entsteht, wird von den Bergen rings um das Becken aufgehalten werden und in Form von Bächen und Flüsschen wieder zurückströmen, was keine übermäßige, doch eine ausreichende Bewässerung garantiert. Der Wüstengrund enthält nach unserer Analyse im Überfluss Salze, die für das Pflanzenwachstum unentbehrlich sind, und das Wasser würde ihn mit einem Schlage fruchtbar machen. Die Landwirtschaft, würde sie wissenschaftlich betrieben, könnte bis zu zwanzig Millionen Menschen ernähren - die Gesamtbevölkerung unseres Planeten beträgt gegenwärtig dreihundert Millionen.

Natürlich wären für eine solche Kolonisation mehrere Dutzend Jahre notwendig. Doch nach Entstehen des Binnenmeeres würde sehr schnell ein leichter Zugang zu den nördlichen und östlichen Bergen Libyens möglich, wo die gigantischen Mineralreichtümer lagern. Dort wurden schon früher ganze Felsen besten Magneteisenerzes entdeckt und ausgedehnte Steinkohlenflöze, die in den Spalten und Verschiebungen geologischer Formationen zutagetreten. Wir haben Muster von Silberbleierz mitgebracht, die nach Meinung von Spezialisten zu den besten in der Welt zählen, aber auch Proben von Quecksilber, und sogar Uranerz. Wir haben ein Gebiet gefunden, wo es natürliches Platin gibt und wertvolles Edelmetall. Es besteht auch keinerlei Zweifel, dass wir längst nicht alles, sondern nur einen unbedeutenden Teil gesehen haben - zu kurz war die Zeit, die wir zur Verfügung hatten, zu beschränkt unsre Kraft.«

Danach ging Menni zu Fragen über, die den Kanal direkt betrafen. Die Wahl des Anlageortes bereitete keinerlei Schwierigkeiten, gab es doch nur einen einzigen geeigneten Punkt: den nämlich, wo das Becken am weitesten an die Ostküste heranreichte und wo sich das Gebirgsmassiv bis auf einige Kilometer verengte.

»Hier«, sagte Menni, »wird die Gesamtlänge des Kanals keine siebzig Kilometer überschreiten, und wir besitzen Schiffahrtskanäle, die zwei- bis dreimal länger sind. Das Problem ist nur, das Binnenmeer zu füllen und den Wasserstand zu halten. Ein gewöhnlicher Kanal würde im Wüstensand einfach versickern. Die Berechnungen haben ergeben, dass er hier fünfmal so breit und dreimal so tief sein muss wie sonst üblich. Ein Teil von ihm, ungefähr ein Drittel, muss über Felsengrund geführt werden, das Entscheidende aber - wir müssen einen Gebirgspass durchtrennen. Wir werden eine gigantische Masse von Kalkgestein zu sprengen haben und in größerer Tiefe sogar Granit, der die Basis der Gebirgskette bildet. Dazu ist etwa eine halbe Million Tonnen Dynamit nötig. An die zweihunderttausend Arbeitskräfte werden nach voraussichtlichen Schätzungen gebraucht, und das für vier Jahre bei Verwendung bester und teuerster Maschinen.«