Innovation und Disruption: Sanierungen, Exits, LIBOR-Ablösung und Blockchain -  - kostenlos E-Book

Innovation und Disruption: Sanierungen, Exits, LIBOR-Ablösung und Blockchain E-Book

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Beschreibung

Der Tagungsband «Kapitalmarkt – Recht und Transaktionen» fokussiert traditionell auf relevante Entwicklungen im Bereich Finanz- und Kapitalmarktrecht unter besonderer Berücksichtigung von Transaktionen. Aktuelle Rechtsfragen stellten sich im Zusammenhang mit Sanierungstransaktionen und dem Einstieg von neuen Ankerinvestoren bei börsenkotierten Gesellschaften. Das Jahr 2020 war zudem geprägt von der Coronakrise, die den technologischen Fortschritt beschleunigte, und der sich nun langsam abschliessenden Aufarbeitung der Finanzkrise. Die Herausgeber haben deshalb Fragen zu zivil- und finanzmarktrechtlichen Aspekten von Zukunftsthemen wie Blockchain, aber auch zu Paradigmenwechseln wie der Ablösung des LIBOR als Referenzzinssatz, ins Zentrum gestellt.

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Herausgeber: Thomas U. Reutter, Thomas Werlen
Innovation und Disruption: Sanierungen, Exits, LIBOR-Ablösung und Blockchain
16. Tagung zu Kapitalmarkt – Recht und Transaktionen Tagungsband 2020

Innovation und Disruption: Sanierungen, Exits, LIBOR-Ablösung und Blockchain von Thomas U. Reutter und Thomas Werlen wird unter Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitung 4.0 International lizenziert, sofern nichts anderes angegeben ist.

© 2021 – CC BY-NC-ND (Werk), CC BY-SA (Text)

Herausgeber: Thomas U. Reutter, Thomas Werlen – Europa Institut an der Universität ZürichVerlag: EIZ PublishingProduktion, Satz & Vertrieb: buch & netz (buchundnetz.com)Cover: buch & netzISBN:978-3-03805-401-6 (Print – Softcover)978-3-03805-430-6 (PDF)978-3-03805-431-3 (ePub)978-3-03805-432-0 (mobi/Kindle)DOI: https://doi.org/10.36862/eiz-401Version: 1.00a – 20210803

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Vorwort

Die Tagung Kapitalmarkt – Recht und Transaktionen fokussiert traditionell auf relevante Entwicklungen im Bereich Finanz- und Kapitalmarktrecht mit einem Fokus auf Transaktionen. Das Jahr 2020 war geprägt von der Coronakrise, die den technologischen Fortschritt beschleunigte, und der sich nun langsam abschliessenden Aufarbeitung der Finanzkrise.

Die Tagung vom 11. November 2020 stellte aktuelle Rechtsfragen im Zusammenhang mit Sanierungstransaktionen und dem Einstieg von neuen Ankerinvestoren bei börsenkotierten Gesellschaften in den Fokus. Die Herausgeber haben zudem Fragen zu zivil- und finanzmarktrechtlichen Aspekten von Zukunftsthemen wie Blockchain, aber auch zu Paradigmenwechseln wie der Ablösung des LIBOR als Referenzzinssatz, ins Zentrum gestellt. Wie in den Vorjahren wurde die Tagung von Thomas U. Reutter und Thomas Werlen geleitet.

Urs Schenker zeigte Herausforderungen bei Sanierungstransaktionen auf dem Kapitalmarkt auf. Zur Fokussierung auf das Kerngeschäft und der damit verbunden Trennung von anderen Aktivitäten und Beteiligungen sprachen Daniel Raun in seinem Beitrag zu „Spin-Offs“ sowie Hans-Jakob Diem und Patrick Schärli in ihrem Beitrag zu „Exits“ aus Aktienbeteiligungen über den Kapitalmarkt. Mit PIPE-Transaktionen setzte sich Christoph Vonlanthen auseinander. Benjamin Leisinger zeigte die Folgen der LIBOR-Ablösung für Kapitalmarktinstrumente auf. Mit den zivil- und finanzmarktrechtlichen Aspekten von Blockchain / distributed ledger technology befassten sich Cornelia Stengel und Arie Gerstz. Peter Probst berichtete aus Sicht einer Prüfstelle über die ersten Erfahrungen in der Praxis.

Die Tagung richtet sich seit nunmehr sechzehn Jahren an Rechtsanwälte und Unternehmensjuristen im Bereich Kapital- und Finanzmarktrecht. Der Fokus lag wie bis anhin auf der Vermittlung von praktischem Know-how. Mit diesem Tagungsband hoffen die Herausgeber, die thematisch vielfältigen Beiträge aus dem schweizerischen Kapitalmarktrecht einem grösseren Publikum zugänglich zu machen.

Für das gute Gelingen der Tagung und der Veröffentlichung dieses Bandes möchten wir herzlich danken: den Referenten und Verfassern der Beiträge, Valeria Piritore für die Durchführung der Veranstaltung sowie Noura Ranja Mourad, Sue Osterwalder und Petra Bitterli für die Gestaltung dieses Tagungsbandes.

Zürich, im Juni 2021 Thomas U. Reutter/Thomas Werlen

Inhalt

VorwortThomas U. Reutter und Thomas WerlenSanierungstransaktionen auf dem KapitalmarktProf. Dr. Urs Schenker, Rechtsanwalt, LL.M., Walder Wyss AG, ZürichChristian Schmid, Rechtsanwalt, LL.M., Walder Wyss AG, ZürichUrs Schenker„LIBOR-Ablösung“ bei KapitalmarktinstrumentenDr. Benjamin K. Leisinger, Rechtsanwalt, LL.M., Homburger AG, ZürichBenjamin K. LeisingerSpin-offs bei PublikumsgesellschaftenDaniel Raun, Rechtsanwalt, LL.M., Advestra AG, Zürich Anna Capaul, Rechtsanwältin, Advestra AG, ZürichDaniel Raun und Anna CapaulExit von Aktienbeteiligungen über den KapitalmarktHans-Jakob Diem, Rechtsanwalt, LL.M., Partner bei Lenz & Staehelin, Zürich Patrick Schärli, Rechtsanwalt, LL.M., Lenz & Staehelin, ZürichHans-Jakob Diem und Patrick SchärliBlockchain/Distributed Ledger Technology – Eine zivilrechtliche BetrachtungProf. Dr. Cornelia Stengel, Rechtsanwältin, Partnerin bei Kellerhals Carrard, ZürichCornelia StengelBlockchain/Distributed Ledger Technology – Eine finanzmarktrechtliche BetrachtungStefan Tränkle, Rechtsanwalt, Policy Advisor beim Staatssekretariat für internationale Finanzfragen SIF, BernStefan TränklePIPE Transactions RevisitedChristoph Vonlanthen, Rechtsanwalt, LL.M., Schellenberg Wittmer AG, Zürich/Genf Sophie Bastardoz, Rechtsanwältin, Schellenberg Wittmer AG, GenfChristoph Vonlanthen und Sophie BastardozPublikationsliste

Sanierungstransaktionen auf dem Kapitalmarkt

Prof. Dr. Urs Schenker, Rechtsanwalt, LL.M., Walder Wyss AG, ZürichChristian Schmid, Rechtsanwalt, LL.M., Walder Wyss AG, Zürich

Urs Schenker und Christian Schmid

Die Autoren möchten sich bei Natascha Kords für die kritische Durchsicht und die Aufarbeitung der Fussnoten bedanken.

Inhalt

Kotierte Gesellschaften in finanziellen SchwierigkeitenPflichten des VerwaltungsratesDie Pflicht, die Existenz der Gesellschaft zu erhaltenDie unübertragbaren Pflichten des Verwaltungsrates in der Krisensituation des UnternehmensOberleitungs- und OberaufsichtspflichtFestlegung der Organisation und Bestimmung der obersten FührungsebeneDie Ausgestaltung des RechnungswesensPflichten des Verwaltungsrates bei drohender ZahlungsunfähigkeitBegriff der ZahlungsunfähigkeitPflicht des Verwaltungsrates zur Überwachung der LiquiditätMassnahmen bei drohender ZahlungsunfähigkeitPflichten des Verwaltungsrates bei KapitalverlustDer Begriff des KapitalverlustesMassnahmen bei KapitalverlustHandlungspflichten des Verwaltungsrates bei ÜberschuldungBegriff der ÜberschuldungPflichten des Verwaltungsrates bei ÜberschuldungBenachrichtigung des Gerichts und Aufschub aufgrund von SanierungsaussichtenKonkursrechtliche RahmenbedingungenHaftung des VerwaltungsratesBörsenrechtliche Rahmenbedingungen: PublizitätspflichtPublizitätspflichten im Rahmen des Kotierungsreglements der SIX und FinfraG/FinfraVVeröffentlichung von Jahres- und HalbjahresabschlüssenAd hoc-PublizitätPflicht zur Bekanntgabe kursrelevanter TatsachenAufschub der BekanntgabeProspektpflicht bei der Emission von AktienAuswirkungen der Transparenzvorschriften auf die Kursbildung im Rahmen einer SanierungSanierungsmassnahmen bei PublikumsgesellschaftenDeklaratorische KapitalherabsetzungGründe für die deklaratorische KapitalherabsetzungDurchführung der KapitalherabsetzungKapitalerhöhungZiel und wirtschaftliche Grundlage der KapitalerhöhungVoraussetzungen der KapitalerhöhungBeschluss der GeneralversammlungAusgabepreisDas BezugsrechtDurchführung der KapitalerhöhungDebt-Equity-Swap mit FinanzgläubigernWirtschaftliche Grundlagen des Debt-Equity-SwapsRechtliche Grundlagen des Debt-Equity-SwapsVereinbarung mit den betroffenen GläubigernAktienrechtliche Umsetzung: Liberierung durch Verrechnung und Entzug des BezugsrechtesSanierungsmassnahmen bei Obligationen: Erleichterung bei Zins und Laufzeit, Debt-Equity-SwapEinleitung des VerfahrensStundung der AnsprücheMögliche MassnahmenDer Debt-Equity-Swap bei ObligationenDer Beschluss der GläubigerversammlungBestätigung des Entscheids der kantonalen NachlassbehördeBedeutung der Restrukturierung einer ObligationenanleiheSchlussfolgerungenLiteraturverzeichnis

Kotierte Gesellschaften in finanziellen Schwierigkeiten

Es gibt viele Ursachen, die zu finanziellen Schwierigkeiten bei kotierten Gesellschaften führen können, wobei konjunkturelle Probleme im Vordergrund stehen. Eine finanzielle Krise eines Unternehmens kann aber auch durch Fehlentscheide der Unternehmensleitung selbst ausgelöst oder zumindest verschärft werden. Beim Umgang mit einer finanziellen Krise haben kotierte Gesellschaften strengere Vorschriften zu beachten als nichtkotierte Unternehmen: sie müssen die sich aus der Kotierung ergebenden speziellen Rahmenbedingungen beachten. Dabei werden vor allem die Publizitätsvorschriften, die bei kotierten Unternehmen zu einer hohen Transparenz gegenüber den Anlegern führen, häufig zu einem Problem für die Organe, da eine „stille Behebung“ der finanziellen Probleme, anders als bei einer privat gehaltenen Gesellschaft, nicht möglich ist. Auch der Umstand, dass bei kotierten Gesellschaften eine Vielzahl von Aktionären beteiligt sind, kann eine Sanierung erheblich erschweren. Es ist bei diesen Gesellschaften nicht möglich, mit den Aktionären potenzielle Massnahmen bezüglich des Eigenkapitals im „kleinen Kreis“ zu besprechen und so verbindliche Lösungen zu finden. Bei Massnahmen im Bereich des Eigenkapitals muss immer eine Generalversammlung einberufen werden, was in der Öffentlichkeit, aber vor allem auch unter Kunden und Lieferanten des Unternehmens Diskussionen und Zweifel über die Überlebensfähigkeit des kotierten Unternehmens auslöst. Die Hauptunterschiede zwischen der Sanierung privat gehaltener und kotierten Unternehmen liegt letztlich darin, dass die Sanierung bei kotierten Unternehmen unter der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit stattfindet, was alle Beteiligten einem erheblichen Druck aussetzt und das Unternehmen in betrieblicher Hinsicht zusätzlich destabilisiert. Dieser Beitrag zeigt auf, welche Pflichten den Verwaltungsrat von kotierten Unternehmen bei Sanierungstransaktionen treffen. Der Beitrag berücksichtigt dabei auch relevante Änderungen im Zuge der Aktienrechtsrevision[1].

Pflichten des Verwaltungsrates

In kotierten Gesellschaften versteht sich der Verwaltungsrat in der Regel als reiner „Aufsichtsrat“ der Gesellschaft und sieht seine Hauptaufgaben in der Überwachung der Geschäftsleitung, der Risikokontrolle, der Sicherstellung der Compliance sowie der Umsetzung der Publizitätsvorschriften[2]. Verwaltungsräte kotierter Gesellschaften bringen sich zwar auch in die Strategieentwicklung des Unternehmens ein, beschränken sich aber meistens darauf, die von der Geschäftsleitung entwickelte Strategie zu diskutieren und zu genehmigen. Eine aktive Mitwirkung des Verwaltungsrates oder einzelner Mitglieder bei der Strategiegestaltung ist sehr selten[3]. Noch seltener kommt es vor, dass der Verwaltungsrat von sich aus in operative Belange des Unternehmens eingreift und versucht, einzelne Entscheide der Geschäftsleitung in Bezug auf die Umsetzung der Strategie zu beeinflussen. Die Verwaltungsratsmitglieder halten sich im Allgemeinen konsequent an die Delegation und überlassen die operative Führung des Unternehmens der Geschäftsleitung bzw. dem CEO als Vorsitzendem der Geschäftsleitung. Die Zurückhaltung des Verwaltungsrates von kotierten Gesellschaften kommt meistens auch darin zum Ausdruck, dass in der Öffentlichkeit der CEO im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und dieser auch gegenüber den Aktionären die Strategie und die operative Umsetzung vertritt. Der Verwaltungsrat wird folglich auch von den Aktionären und der Öffentlichkeit als Aufsichts- und Kontrollorgan wahrgenommen. Diese Zurückhaltung des Verwaltungsrates zeigt sich sodann oftmals auch bei der zeitlichen Beanspruchung: Während CEO und Geschäftsleitung vollamtlich tätig sind, nehmen Verwaltungsratsmitglieder ihre Funktion als Nebenamt war und wenden in realistischer Betrachtung in aller Regel weit unter 10% ihrer Zeit für die Tätigkeit auf. Lediglich der Präsident des Verwaltungsrates wendet manchmal etwas mehr Zeit auf.

Dieses Verständnis des Verwaltungsrates als blosses Aufsichtsorgan ist nach Art. 716 Abs. 2 und Art. 716b des Obligationenrechts (OR) grundsätzlich zulässig. Danach ist die Delegierung der Geschäftsführung erlaubt, jedoch nur unter Vorbehalt der in Art. 716a OR aufgeführten unübertragbaren Aufgaben des Verwaltungsrates. Die Interpretation des Verwaltungsrates als zurückhaltendes Organ entspricht aber nicht dem ursprünglichen gesetzgeberischen Bild. Der Verwaltungsrat ist gemäss Art. 716 Abs. 2 OR als höchstes Exekutivorgan der Gesellschaft grundsätzlich für die Geschäftsführung verantwortlich. Die Delegation an eine Geschäftsleitung führt nicht dazu, dass der Verwaltungsrat seine Verantwortung oder seinen Verantwortungsbereich einschränkt, sondern nur dazu, dass ein anderes Organ die Geschäftsführung wahrnimmt. Die Delegation kann aber immer nur solange gelten, wie das spezielle Geschäftsleitungsorgan tatsächlich vorhanden ist und der Verwaltungsrat diesem bezüglich der Geschäftsführung vertrauen kann. In Krisensituationen rückt aber die Verantwortung des Verwaltungsrates für die Führung des Unternehmens wieder in den Vordergrund, denn eine Krise entsteht ja gerade dadurch, dass es der operativen Geschäftsleitung auf ihrer Stufe nicht möglich ist, die Probleme der Gesellschaft zu lösen. Der Verwaltungsrat kann sich in der Krise nicht mehr im vollen Umfang auf die Delegation der Geschäftsführungsfunktion verlassen, sondern muss sich stärker einbringen als in „normalen“ Zeiten. Das Bewältigen der Krise gehört zu den unübertragbaren Aufgaben des Verwaltungsrates nach Art. 716a OR[4].

Die Pflicht, die Existenz der Gesellschaft zu erhalten

Gemäss Art. 717 Abs. 1 OR hat der Verwaltungsrat die grundlegende Pflicht, die Interessen der Gesellschaft zu wahren. Diese zentrale Aufgabe verpflichtet den Verwaltungsrat bei finanziellen Schwierigkeiten insbesondere dazu, Massnahmen einzuleiten, welche die Existenz der Gesellschaft sichern[5]. Darunter fallen Massnahmen, welche die für die Betriebsführung notwendige Liquidität sicherstellen, die Ertragskraft stärken und das Eigenkapital wiederherstellen, sofern dieses durch Verluste geschmälert worden ist.

Diese Verpflichtung zur Einleitung von Sanierungsmassnahmen in einer finanziellen Krise mit dem Ziel, das Unternehmen zu erhalten, gilt unabhängig von Art. 725 ff. OR, die dem Verwaltungsrat spezifische Handlungspflichten auferlegen, wenn die finanzielle Krise die Liquidität des Unternehmens gefährdet oder sogar zu einem Kapitalverlust bzw. zu einer Überschuldung führt. Die Verpflichtung, die Interessen der Gesellschaft zu wahren und ihre Existenz zu sichern, gilt auch unabhängig von der Delegation der Geschäftsführungskompetenz an einen CEO oder eine Geschäftsleitung. Der Verwaltungsrat muss im Rahmen der Kompetenzen, die er bei der Delegation vorbehalten hat, zur Sanierung des Unternehmens beitragen. Die Krise kann aber, wie oben gezeigt, gerade auch Anlass sein, die Delegation zu überdenken und sie entweder aufzuheben, sodass die Geschäftsführungskompetenz wieder an den Verwaltungsrat zurückfällt, oder aber die Geschäftsführung einer oder mehreren anderen Person(en) zu übertragen, um das Unternehmen wieder aus der Krise zu führen[6].

Die unübertragbaren Pflichten des Verwaltungsrates in der Krisensituation des Unternehmens

Der Verwaltungsrat hat gemäss Art. 716a OR gewisse unübertragbare Pflichten, die auch bei einer vollständigen Delegation der Geschäftsführung an einen CEO bzw. an die Geschäftsleitung beim Verwaltungsrat verbleiben. Im Rahmen seiner allgemeinen Verpflichtung die Existenz des Unternehmens zu sichern, sind insbesondere die folgenden in Art. 716a OR aufgeführten Pflichten in einer Krisensituation relevant:

Oberleitungs- und Oberaufsichtspflicht

Gemäss Art. 716a Abs. 1 Ziff. 1 OR muss der Verwaltungsrat die Oberleitung der Gesellschaft auf strategischer Ebene wahrnehmen und hat gemäss Art. 716a Abs. 1 Ziff. 5 OR die Aufsicht über Personen, die er mit der Geschäftsleitung betraut hat. Solange ein Unternehmen sich nicht in einer Krise befindet, kommt der Verwaltungsrat dieser Pflicht normalerweise dadurch nach, dass er die von der Geschäftsleitung entwickelte Strategie genehmigt und sich durch ein Reporting System sowie durch mündliche und schriftliche Mitteilung der Geschäftsleitung über die Umsetzung der Strategie, die Erreichung der Ziele und den allgemeinen Geschäftsgang informieren lässt[7].

Befindet sich das Unternehmen jedoch in einer finanziellen Krise, kann sich der Verwaltungsrat im Rahmen seiner Oberleitungskompetenz nicht mehr auf ein passives Monitoring der Geschäftsleitung und die Genehmigung von Strategien beschränken, sondern muss aktiv Massnahmen einleiten, die der Erhaltung der Liquidität, der Wiedererlangung der Ertragskraft und ‒ soweit dies nötig ist ‒ der Wiederherstellung des Eigenkapitals dienen. Der Verwaltungsrat muss der Geschäftsleitung mindestens die Weisung erteilen, entsprechende Konzepte zu erarbeiten oder diese von Dritten erarbeiten zu lassen. Ist ein Sanierungskonzept festgelegt, so muss der Verwaltungsrat im Rahmen seiner Oberleitungskompetenz die Implementierung kontrollieren und ‒ falls keine Fortschritte erzielt werden ‒ korrigierend eingreifen[8].

Damit zwingt eine Krisensituation den Verwaltungsrat zu einer – gegenüber dem oben dargestellten Normalfall – verstärkten Aktivität in der Gesellschaft. Er muss die von der Geschäftsleitung entwickelte Strategie in Frage stellen, da sie das Unternehmen nicht vor der Krise bewahrt hat und allenfalls sogar Grund für die Krise war. Er muss sich aber auch überlegen, ob er im Rahmen eines Sanierungskonzeptes die Strategie nicht grundsätzlich ändern und diese beispielsweise der tatsächlich noch vorhandenen Liquidität und Eigenmitteln anpassen muss. Dabei ist allenfalls eine Reduktion der strategischen Stossrichtungen, d.h. ein Verzicht auf gewisse Tätigkeiten und Investitionen, angesagt. Bei der kritischen Überprüfung der Strategie kann sich der Verwaltungsrat gerade nicht mehr auf die Geschäftsleitung verlassen, die ihm die bisherige, offensichtlich erfolglose Strategie vorgeschlagen hat. Er muss diese neue Strategie bzw. Anpassungen der bisherigen Strategie demnach selber erarbeiten oder von Dritten erarbeiten lassen. In beiden Fällen muss der Verwaltungsrat aus der reinen Aufsichtsfunktion heraustreten und in Bezug auf Strategieentwicklung und -überprüfung eine wesentlich aktivere Rolle einnehmen als bisher.

Festlegung der Organisation und Bestimmung der obersten Führungsebene

Gemäss Art. 716a Abs. 1 Ziff. 2 OR obliegt dem Verwaltungsrat die Festlegung der Organisation des Unternehmens und gemäss Art. 716a Abs. 1 Ziff. 4 OR die Ernennung und Abberufung der mit der Geschäftsführung betrauten Personen. Damit muss der Verwaltungsrat die grundsätzliche Organisationsstruktur einer Gesellschaft festlegen und gleichzeitig auch die oberste Führungsebene bestimmen. Auch diese Pflicht hat im Falle einer finanziellen Krise eine erhöhte Bedeutung. Der Verwaltungsrat ist nämlich gezwungen, die Organisationsstruktur auf ihre Tauglichkeit zur Bewältigung der anstehenden Krise zu überprüfen. Er muss sich dabei auch die Frage stellen, ob die Organisation tatsächlich angemessen ist, da durch sie nicht verhindert werden konnte, dass das Unternehmen in eine Krise gerät. Wiederum kann er sich dabei nicht umfassend auf den CEO oder die Geschäftsleitung verlassen und sich wie in „normalen“ Zeiten entsprechende Vorschläge unterbreiten lassen, denn die Krise zeigt, dass die von der Geschäftsleitung bisher realisierte Organisation die Krise nicht verhindern konnte[9].

Da die finanzielle Krise allenfalls auch auf das Unvermögen der mit der Geschäftsleitung betrauten Personen zurückzuführen ist, stellt sich die Frage, ob diese Personen, welche die Krise nicht verhindern konnten, die Richtigen sind, um das Unternehmen wieder zum Erfolg zu führen. Daher muss der Verwaltungsrat in der Krisensituation auch die personelle Besetzung der Geschäftsleitung überdenken. Der Verwaltungsrat kann dabei entweder die entscheidenden Führungspositionen durch Dritte neu besetzen oder kann auch selbst die Geschäftsführung wieder übernehmen, indem er die Delegation aufhebt oder die CEO-Position vorübergehend durch ein Mitglied des Verwaltungsrates besetzt. Nicht zuletzt muss der Verwaltungsrat auch die Kosten der Organisation und der mit der Geschäftsleitung betrauten Personen kritisch hinterfragen, da das Management ein grosser Kostenfaktor ist, der den Ertrag und die Liquidität des Unternehmens belastet.

Wenn diese kritische Analyse der Geschäftsleitung zeigt, dass diese nicht geeignet ist, um das Unternehmen aus der Krise zu führen und harte Sanierungsmassnahmen durchzuführen oder sich sogar zeigt, dass der CEO, CFO oder andere Geschäftsleitungsmitglieder für die Krise mitverantwortlich sind, sind die Voraussetzungen für die Delegation gar nicht mehr gegeben, da der Verwaltungsrat die „cura in eligendo“[10] nicht mehr erfüllt. Der Verwaltungsrat kann somit nicht mehr nachweisen, dass er bei der Auswahl der Geschäftsleitung die nach den Umständen gebotene Sorgfalt angewendet hat, weswegen er sich auch nicht mehr nach Art. 754 Abs. 2 OR von der Haftung für die Fehler der Geschäftsleitung befreien kann. Die Sorgfalt bei der Auswahl muss gerade nicht nur in dem Zeitpunkt erfüllt werden, in dem die Auswahl einer Person für die Geschäftsleitung erstmals erfolgt, sondern muss während der gesamten Zeit gegeben sein, in der diese Person in der Geschäftsleitung tätig ist. Wenn der Verwaltungsrat also feststellt, dass der CEO oder ein anderes Geschäftsleitungsmitglied den Anforderungen, die an Geschäftsleitungsorgane gestellt werden, nicht mehr gewachsen ist, so muss er diese Person abberufen, wenn er seine Sorgfalt weiterhin erfüllen und von Haftungsbefreiung durch die Delegation gemäss Art. 754 Abs. 2 OR profitieren will[11]. Letztlich fällt die Verantwortung für die operative Geschäftsführung wieder an den Verwaltungsrat zurück, wenn die Krisensituation zeigt, dass die Personen, denen der Verwaltungsrat die Geschäftsführung nach Art. 716b OR delegiert hat, ihren Aufgaben nicht gewachsen sind.

Die Ausgestaltung des Rechnungswesens

Gemäss Art. 716a Abs. 1 Ziff. 3 OR ist der Verwaltungsrat für die Ausgestaltung des Rechnungswesens, der Finanzkontrolle und der Finanzplanung zuständig. Er kann sich dabei in diesen Gebieten allerdings auf die grundsätzlichen Entscheide beschränken und die Einzelheiten sowie insbesondere die Umsetzung von Konzepten und Systemen der Geschäftsleitung überlassen[12]. In einer finanziellen Krisensituation muss der Verwaltungsrat jedoch auch in diesem Aufgabenbereich eine aktivere Haltung einnehmen.

Im Rahmen seiner Pflicht zur zweckmässigen Ausgestaltung des Rechnungswesens muss der Verwaltungsrat sicherstellen, dass er die Informationen, die notwendig sind, um die Situation der Gesellschaft und insbesondere die Gefahr einer Illiquidität oder Überschuldung zu beurteilen, zeitnahe erhält, da er gemäss Art. 725 ff. OR in diesem Bereich direkte Pflichten hat. Im Bereich der Finanzplanung hat der Verwaltungsrat sicherzustellen, dass diese konsequent in den Dienst der Sanierungsziele gestellt wird und alle Möglichkeiten zur Wiederherstellung und Sicherung der Liquidität und des Eigenkapitals analysiert und allenfalls umgesetzt werden. Der Verwaltungsrat muss im Bereich der Finanzkontrolle die notwendigen Weisungen bezüglich der Aufarbeitung von Zahlen zur Beurteilung der Liquiditäts- und Eigenkapitalsituation geben.

Gerade wenn Rechnungswesen und Reporting System dazu führten, dass der Verwaltungsrat relativ spät über die Entwicklung des Unternehmens orientiert wurde und er die Krise deshalb erst in einem späten Stadium erkennen konnte, muss der Verwaltungsrat die Position des CFO kritisch überdenken, da dieser offensichtlich nicht in der Lage war, in seinem Kompetenzbereich ein schnelles Reporting sicherzustellen, die ersten Anzeichen einer Krise zu erkennen und auch nicht die Instrumente zur Anwendung gebracht hat, welche es erlaubt hätten, die Gesellschaft frühzeitig und ohne eine grössere Krise wieder zum Erfolg zu bringen. Daher kann sich auch die Neubesetzung der CFO-Position oder mindestens der Beizug von Beratern, die mit Fragen der finanziellen Steuerung in Krisensituationen vertraut sind, empfehlen.

Pflichten des Verwaltungsrates bei drohender Zahlungsunfähigkeit

Begriff der Zahlungsunfähigkeit

Eine Gesellschaft ist zahlungsunfähig im Sinne von Art. 725 Abs. 2 revOR, wenn sie nicht mehr genügend Liquidität hat, um ihre Schulden zu zahlen und auch nicht mehr über Kreditlinien bzw. -zusagen verfügt, um sich die dafür notwendige Liquidität zu beschaffen[13]. Art. 725 Abs. 2 revOR kommt allerdings nur zur Anwendung, wenn es sich bei dieser Zahlungsunfähigkeit um einen länger andauernden Zustand handelt. Bloss vorübergehende Liquiditätsprobleme, die es einer Gesellschaft vorübergehend verunmöglichen, ihren Zahlungsverpflichtungen zeitgerecht nachzukommen, können noch nicht als Zahlungsunfähigkeit im Sinne dieser Bestimmung betrachtet werden[14], sofern die Forderungen mit einer Verzögerung von einigen Tagen oder Wochen bezahlt werden können oder es sich nur um Probleme bezüglich einzelner Zahlungen handelt[15].

Pflicht des Verwaltungsrates zur Überwachung der Liquidität

Die Pflichten des Verwaltungsrats bei drohender Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft bilden Gegenstand der Aktienrechtsrevision[16]. Art. 725 Abs. 1 revOR[17] auferlegt dem Verwaltungsrat neu ausdrücklich die Pflicht, die Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft zu überwachen. Damit nimmt diese Bestimmung einen Aspekt von Art. 716a Abs. 1 Ziff. 3 OR auf, gemäss dem die Finanzkontrolle und die Finanzplanung zu den unübertragbaren und unentziehbaren Aufgaben des Verwaltungsrates gehören, was bereits die Verpflichtung zur Überwachung der Liquidität beinhaltet[18]. Art. 725 Abs. 1 revOR betont und konkretisiert die Verantwortung des Verwaltungsrates in diesem Bereich[19].

Im Rahmen von Art. 716a Abs. 1 Ziff. 3 OR und Art. 725 Abs. 1 revOR muss der Verwaltungsrat sicherstellen, dass die Liquidität der Gesellschaft laufend überwacht und eine Liquiditätsplanung erstellt wird, die der Geschäftstätigkeit und Komplexität der Gesellschaft angepasst wird[20]. In der Krisensituation akzentuiert sich diese Pflicht, weil Liquiditätsprobleme in Krisensituationen die Existenz des Unternehmens bedrohen. Wenn ein Unternehmen mangels genügender Liquidität nicht mehr in der Lage ist, seinen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen, so kann es gezwungen sein, Konkurs anzumelden oder Nachlassstundung zu beantragen. Es kann in eine Überschuldungssituation geraten, da es mangels ausreichender Finanzierung der Geschäftstätigkeit nicht mehr zu Fortführungswerten bilanziert werden kann, sondern im Sinne von Art. 958a Abs. 2 OR zu Veräusserungswerten übergehen muss, was bei den meisten Unternehmen direkt zur Überschuldung führt.

Massnahmen bei drohender Zahlungsunfähigkeit

Stellt der Verwaltungsrat fest, dass die Gefahr einer Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft der Gesellschaft besteht, so muss er die in Art. 725 Abs. 2 revOR vorgesehenen Massnahmen zur Sicherstellung der Zahlungsfähigkeit treffen. Als Massnahme sieht Art. 725 Abs. 2 revOR die Nachlassstundung im Sinne von Art. 293 ff. des Schuldbetreibungs- und Konkursgesetzes (SchKG) vor. Da dies allein aber nicht ausreicht, um die Zahlungsfähigkeit des Unternehmens sicherzustellen,[21] muss der Verwaltungsrat weitere Massnahmen zur Sanierung der Gesellschaft anordnen bzw. der Generalversammlung entsprechende Anträge stellen.

Die Pflicht des Verwaltungsrates, bei drohender Zahlungsunfähigkeit Massnahmen einzuleiten, ist, genau wie die weiter unten dargestellten Pflichten bei Kapitalverlust und Überschuldung, eine unübertragbare und unentziehbare Pflicht des Verwaltungsrates gemäss Art. 716a Abs. 1 OR[22]. Daran ändert auch ein Organisationsreglement nichts, welches ausdrücklich vorsieht, dass die Geschäftsleitung für die Sicherstellung genügender Liquidität verantwortlich ist. Der Verwaltungsrat muss bei Zahlungsunfähigkeit in jedem Fall selbst tätig werden[23]. Er kann zwar die Ausführung der von ihm beschlossenen Massnahmen, die der Herstellung der Liquidität dienen, der Geschäftsleitung übertragen, er muss aber die notwendigen Anordnungen selbst treffen. Die Revision des Aktienrechts hat damit die Pflichten des Verwaltungsrates in Krisensituationen noch einmal geschärft.

Pflichten des Verwaltungsrates bei Kapitalverlust

Art. 725a revOR definiert die Pflichten des Verwaltungsrates bei einem Kapitalverlust. Dabei handelt es sich um eine unentziehbare und unübertragbare Aufgabe des Verwaltungsrates. Der Verwaltungsrat muss, wenn die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Bestimmung gegeben sind, selbst handeln. Wiederum genügt es also nicht in einem Organisationsreglement darauf hinzuweisen, dass der Verwaltungsrat der Geschäftsleitung die Aufgabe überträgt, die Bilanzverhältnisse zu überwachen.

Der Begriff des Kapitalverlustes

Art. 725a Abs. 1 revOR definiert den Begriff des Kapitalverlustes neu sehr klar und beendet die Auseinandersetzung über die richtige Auslegung des aktuell noch geltenden Art. 725 Abs. 1 OR. Ein Kapitalverlust liegt nach dem Wortlaut dieser Bestimmung vor, wenn die Aktiven nach Abzug aller Verbindlichkeiten die Hälfte der Summe aus (i) Aktienkapital, (ii) nicht an die Aktionäre zurückzahlbaren gesetzlichen Kapitalreserven und (iii) der gesetzlichen Gewinnreserve nicht mehr decken. Da die Positionen (ii) und (iii) zusammen gemäss Art. 671 Abs. 2 revOR e contrario bzw. Art. 672 Abs. 2 revOR bis zur Höhe von 50% des Aktienkapitals nicht ausgeschüttet werden können, beläuft sich die massgebliche Grenze für den Kapitalverlust auf maximal 75% des Aktienkapitals. Diese Grenze liegt entsprechend tiefer, wenn die Gesellschaft weniger gesetzliche Reserven geschaffen hat oder diese bereits in früheren Jahren gemäss Art. 674 Abs. 1 Ziff. 3 bzw. Ziff. 4 revOR mit Verlusten verrechnet hat.

Massnahmen bei Kapitalverlust

Das revidierte Aktienrecht stellt nun auch klar, dass die in Art. 725a revOR vorgesehenen Handlungspflichten des Verwaltungsrates bei Kapitalverlust nur ausgelöst werden, wenn die Jahresrechnung einen Kapitalverlust ausweist. Damit hat der Gesetzgeber die bisher in der Literatur umstrittene Frage beantwortet, ob auch bereits ein Kapitalverlust, der in einer Zwischenbilanz ausgewiesen wird, Handlungspflichten des Verwaltungsrates auslöst bzw. ob der Verwaltungsrat bei Verdacht auf einen Kapitalverlust eine Zwischenbilanz erstellen muss[24]. Aufgrund des Wortlauts ist nach dem revidierten Aktienrecht klar, dass der Verwaltungsrat keine Pflicht zur Erstellung einer Zwischenbilanz hat und er nach Art. 725a revOR auch nicht reagieren muss, wenn ein Kapitalverlust in einer Zwischenbilanz ausgewiesen wird, wie beispielsweise im Halbjahresbericht, der bei kotierten Gesellschaften gemäss Art. 50 KR SIX obligatorisch zu erstellen ist. Diese Klarstellung befreit den Verwaltungsrat aber nicht von allen Pflichten, die ihn im Falle eines Kapitalverlustes treffen. Wie oben dargestellt, ist der Verwaltungsrat in derartigen Situationen schon aufgrund von Art. 717 Abs. 1 und Art. 716a Abs. 1 OR verpflichtet, alle notwendigen Anstrengungen zu unternehmen, um die Existenz des Unternehmens zu sichern und eine Sanierung herbeizuführen[25].

Bei Kapitalverlust hat der Verwaltungsrat gemäss Art. 725a revOR die Pflicht, Massnahmen zur Beseitigung des Kapitalverlustes zu ergreifen und auch weitere Massnahmen zur Sanierung der Gesellschaft einzuleiten bzw. die für diese Zwecke notwendigen Anträge an die Generalversammlung zu stellen. Die bisher in Art. 725 Abs. 2 OR vorgesehene Pflicht des Verwaltungsrates, bei einem Kapitalverlust unverzüglich eine ausserordentliche Generalversammlung einzuberufen, entfällt dagegen mit der Aktienrechtsrevision. Diese Pflicht hat in der Praxis auch kaum Bedeutung, da, nachdem der Verwaltungsrat im Jahresabschluss einen Kapitalverlust feststellen musste, ohnehin die ordentliche Generalversammlung gemäss Art. 699 OR bevorsteht, an der allfällige Sanierungsmassnahmen traktandiert werden können.

Da die Verpflichtung aus Art. 725a revOR eine unübertragbare Pflicht des Verwaltungsrates ist, muss er die notwendigen Massnahmen selbst entwickeln und auslösen. Er kann zwar Detailplanung und Ausführung delegieren, er kann sich aber nicht der Pflicht entziehen, bei einem Kapitalverlust die notwendigen Anordnungen selbst zu treffen und die Massnahmen mindestens in ihren Grundzügen selbst zu definieren.

Handlungspflichten des Verwaltungsrates bei Überschuldung

Die Handlungspflichten des Verwaltungsrates bei einer Überschuldung werden in Art. 725b revOR geregelt. Auch bei diesen Pflichten handelt es sich gemäss Art. 716a OR um unentziehbare und unübertragbare Aufgaben des Verwaltungsrates. Eine Delegation dieser Pflichten ist nicht möglich. Der Verwaltungsrat kann sich seiner Pflichten nicht dadurch entziehen, dass er im Organisationsreglement die Überwachung der Eigenkapitalposition an die Geschäftsleitung delegiert. Der Verwaltungsrat muss bei möglichen Zeichen einer Überschuldung selbst nach Art. 725b revOR handeln und kann sich bei Passivität nicht darauf berufen, dass er von der Geschäftsleitung nicht auf die Probleme aufmerksam gemacht worden ist.

Der Begriff der Überschuldung

Überschuldung liegt vor, wenn die Aktiven der Gesellschaft geringer sind als ihr Fremdkapital[26]. Das Eigenkapital als Residualgrösse ist diesfalls negativ. Die Aktiven werden bei der Berechnung der Überschuldung zu Fortführungswerten im Sinne von Art. 958a OR bewertet. Soweit die Gesellschaft die Fortführung ihres Geschäftsbetriebes nicht finanzieren kann, muss sie ihre Aktiven aber zu Veräusserungswerten bewerten und zusätzlich auch die Passiven einbuchen, die bei einer Einstellung des Betriebes anfallen würden[27]. Veräusserungswerte sind die Werte, welche die Gesellschaft erzielen kann, wenn sie ihre Aktiven oder, soweit möglich, einzelne Betriebe und Betriebsteile schnell veräussert. Diese Werte liegen meist erheblich unter den Fortführungswerten, weshalb die Bilanzierung zu Veräusserungswerten meist ein wesentlich schlechteres Bild ergibt als die Bilanzierung zu Fortführungswerten. Dies zeigt auch, weshalb eine Illiquidität schnell zu einer Überschuldung führen kann: Ist eine Gesellschaft zahlungsunfähig und kann sie ihren Geschäftsteil nicht weiterführen, so ist sie spätestens dann meist auch überschuldet, wenn konsequent nach Veräusserungswerten bilanziert wird.

Pflichten des Verwaltungsrates bei Überschuldung

Besteht begründete Besorgnis, dass die Verbindlichkeiten der Gesellschaft nicht mehr durch ihre Aktiven gedeckt sind, also eine Überschuldung im oben definierten Sinne vorliegt, so muss der Verwaltungsrat gemäss Art. 725b revOR unverzüglich eine Zwischenbilanz zu Fortführungswerten, bzw., soweit die Fortführung nicht finanziert werden kann, zu Veräusserungswerten erstellen, um festzustellen, ob die Gesellschaft tatsächlich überschuldet ist. Ergibt die Zwischenbilanz zu Fortführungswerten eine Überschuldung, so muss der Verwaltungsrat zusätzlich eine Zwischenbilanz zu Veräusserungswerten erstellen, um festzustellen, ob die Gesellschaft auch unter Berücksichtigung dieser Werte überschuldet ist[28].

Obwohl der Begriff der „begründeten Besorgnis“ einer Überschuldung für die Auslösung der Pflichten des Verwaltungsrates zentral ist, definiert Art. 725b Abs. 1 revOR nicht, wann eine derartige Besorgnis besteht. In Lehre und Gerichtspraxis hat sich eine gewisse Übereinstimmung bezüglich der „bösen Zeichen“ entwickelt, die auf eine Überschuldung hindeuten und so die Pflichten des Verwaltungsrates auslösen. So kann angenommen werden, dass hohe laufende Verluste, ein Cashdrain, ein starker Rückgang der Liquidität[29], ein Preiseinbruch bei den Gütern, welche die Gesellschaft an Lager hat bzw. verkauft, oder auch die Zahlungsunfähigkeit grosser Kunden oder ein starker Einbruch der Verkäufe an Kunden Anzeichen für eine Überschuldung sind. Dabei muss der Verwaltungsrat natürlich auch die Ausgangslage der Gesellschaft beachten. Wenn die Gesellschaft zu Beginn des Geschäftsjahres bereits wenig Eigenkapital aufweist, so liegt der Gedanke an eine Überschuldung wesentlich näher als bei einer Gesellschaft, die zwar hohe Verluste macht, das Geschäftsjahr aber mit einer hohen Eigenkapitalposition begonnen hat[30].

Benachrichtigung des Gerichts und Aufschub aufgrund von Sanierungsaussichten

Zeigt eine durch die Revisionsstelle geprüfte Zwischenbilanz, dass die Gesellschaft sowohl zu Fortführungs- als auch zu Veräusserungswerten überschuldet ist, so muss der Verwaltungsrat gemäss Art. 725b revOR das zuständige Gericht benachrichtigen. Das Gericht eröffnet den Konkurs. Es kann den Entscheid über den Konkurs aussetzen, wenn die Gesellschaft oder ein Gläubiger ein Gesuch um Nachlassstundung im Sinne von Art. 293 ff. SchKG stellen oder sonst Anhaltspunkte für das Zustandekommen eines Nachlassvertrages bestehen.

Der Verwaltungsrat kann die Benachrichtigung des Gerichts allerdings gemäss Art. 725b Abs. 4 Ziff. 2 revOR aufschieben, sofern und solange konkrete, erfolgsversprechende Aussichten auf eine Sanierung bestehen und eine (zusätzliche) Schädigung der Gläubiger während des Aufschubs vermieden werden kann. Dieser Benachrichtigungsaufschub ist allerdings auf eine Frist von 90 Tagen beschränkt. Der Lauf dieser Frist beginnt in dem Zeitpunkt, indem die geprüfte Zwischenbilanz vorliegt, welche die Überschuldung ausweist. Diese Frist von 90 Tagen und die genaue Regelung der Voraussetzungen für den Aufschub sind in der Revision des Aktienrechts neu in das Gesetz aufgenommen worden, womit die bisher uneinheitliche Praxis der Gerichte zum Aufschub der Benachrichtigung vereinheitlicht wird.

Die Möglichkeit des Aufschubs ist gerade bei kotierten Gesellschaften zentral, da eine Sanierung einen Generalversammlungsbeschluss erforderlich macht. Die 90 Tage-Frist ermöglicht es, zunächst Verhandlung über die Refinanzierung einer überschuldeten Gesellschaft abzuschliessen und danach die Generalversammlung einzuberufen. Gelingt es in den 90 Tagen, die Bilanz der Gesellschaft zu sanieren, also wieder ein positives Eigenkapital herbeizuführen, so kann der Verwaltungsrat auf die Benachrichtigung des Richters verzichten. Andernfalls ist er zu diesem Schritt gezwungen.

Konkursrechtliche Rahmenbedingungen

Wenn sich ein Unternehmen in einer finanziellen Krise befindet, müssen sich Verwaltungsrat und Geschäftsleitung für eine Sanierung des Unternehmens einsetzen und versuchen, die Krise abzuwenden. Die Organe müssen sich aber bewusst sein, dass ihre Handlungsfreiheit in der Krisensituation durch verschiedene gesetzliche Gläubigerschutzbestimmungen eingeschränkt wird. Wenn die geplante Sanierung nicht funktioniert und am Ende tatsächlich der Konkurs oder die Nachlassliquidation notwendig wird, können Handlungen, die Verwaltungsrat und Geschäftsleitung vor oder während dem Sanierungsversuch vorgenommen haben und die das Haftungssubstrat der Gläubiger verringern, zu rechtlichen Problemen führen. Diese Handlungen können anfechtbar sein und/oder zu zivilrechtlichen sowie ‒ in Extremfällen ‒ zur strafrechtlichen Verantwortung der handelnden Organe führen.

Im Konkursverfahren kann die Konkursverwaltung bzw. können einzelne Konkursgläubiger mittels Anfechtungsklage gemäss Art. 285 ff. SchKG der Konkursmasse Vermögenswerte zuführen, die dem Unternehmen vor der Eröffnung des Konkurses bzw. des Nachlassverfahrens entzogen worden sind.

In der Praxis steht dabei die Absichtsanfechtung im Sinne von Art. 288 SchKG im Vordergrund. Gemäss dieser Bestimmung sind sämtliche Rechtshandlungen anfechtbar, die Verwaltungsrat oder Geschäftsleitung eines Unternehmens innerhalb der letzten fünf Jahre[31] vor der Eröffnung des Konkursverfahrens vorgenommen haben, sofern diese Handlungen in der Absicht vorgenommen wurden, die Gläubiger des Unternehmens zu benachteiligen oder einzelne Gläubiger zum Nachteil anderer zu begünstigen und diese Absicht für die betreffende Drittperson erkennbar war. Nach der Praxis des Bundesgerichtes ist die Schädigungsabsicht schon gegeben, wenn der Schuldner im Zeitpunkt der Handlung voraussah oder bei genügender Aufmerksamkeit hätte voraussehen können, dass die angefochtene Handlung Gläubiger benachteiligt oder einzelne Gläubiger gegenüber anderen bevorzugt. Es ist dabei nicht notwendig, dass der Schuldner die Benachteiligung bzw. Begünstigung einzelner Gläubiger als Handlungsziel verfolgt. Nach der Bundesgerichtspraxis genügt es vielmehr, wenn der Schuldner in Kauf nimmt, dass die Schädigung von Gläubigern Nebenwirkung seiner Handlung ist[32]. Daher werden auch alle Handlungen erfasst, welche Verwaltungsrat und Geschäftsleitung in dem Glauben vornehmen, dass sie dem Unternehmen nützen, wie zum Beispiel die Rückzahlung an einen Finanzgläubiger, welcher der Gesellschaft mit einem Konkursbegehren droht und diesen auch aufgrund eines definitiven Titels[33] durchsetzen kann, wenn diese Rückzahlung zu einer Schädigung der übrigen Gläubiger führt, weil deren Forderungen als Folge dieser Rückzahlung nicht mehr oder bloss in geringerem Umfang bezahlt werden können. Die Schädigungs- bzw. Begünstigungsabsicht ist für den begünstigten Gläubiger erkennbar, wenn er bei der für einen normalen Dritten zumutbaren Aufmerksamkeit hätte erkennen können, dass die betreffende Handlung Dritte schädigt. Das Mass der Sorgfalt ist dabei umso höher, je näher sich Schuldner und Gläubiger stehen[34] und je grösser die wirtschaftliche Bedeutung der Transaktion für den Gläubiger ist[35]. Daher ist die Anfechtungsgefahr immer dann am grössten, wenn hohe Beträge betroffen und Finanzgläubiger involviert sind, die aufgrund von vertraglichen Informationspflichten Einblicke in das Unternehmen und dessen finanzielle Situation haben. Das Gleiche gilt, wenn konzerninterne Schulden zurückbezahlt werden[36].

Die Absichtsanfechtung kommt letztlich also immer dann zur Anwendung, wenn einem Unternehmen durch eine Transaktion Aktiven entzogen oder Schulden aufgebürdet werden, die sich nicht durch die normale Geschäftstätigkeit rechtfertigen lassen und die das Haftungssubstrat der übrigen Gläubiger vermindern. Nicht anfechtbar sind jedoch Handlungen die einen Austausch gleichwertiger Leistungen darstellen[37]. Dazu gehören in der Regel Handlungen, die im Rahmen des normalen Geschäftsganges liegen, wie zum Beispiel der Verkauf von Produkten, die Erbringung von Dienstleistungen und ‒ sofern ein Unternehmen davon ausgehen kann, dass grundsätzlich alle Gläubiger im Zeitpunkt der Fälligkeit ihrer Forderung befriedigt werden können ‒ die Bezahlung fälliger Forderungen, selbst wenn dies aus der Optik des späteren Konkurses betrachtet die den Gläubigern zur Verfügung stehenden Aktiven verringert bzw. die Exekutionsrechte der Gläubiger beeinträchtigt. Anfechtbar sind dagegen Rechtsgeschäfte, die nicht mehr innerhalb des normalen Geschäftsganges liegen. Insbesondere werden folgende Transaktionen anfechtbar sein:

Rückzahlung von Finanzschulden im Bewusstsein, dass nicht alle Finanzschulden im Zeitpunkt ihrer Fälligkeit zurückbezahlt werden können[38];Nachträgliche Besicherung von bestehenden Schulden;Veräusserung von Aktiven unter dem Verkehrswert;Tilgung von Schulden durch Übertragung von Aktiven (Dept-Asset-Swap);Sanierungsgeschäfte zugunsten nahestehender Personen ohne adäquate Gegenleistung.

Die Gefahr von Anfechtungsklagen schränkt die Handlungsfreiheit von Verwaltungsrat und Geschäftsleitung bei Sanierungen erheblich ein. Sie sind insbesondere dazu verpflichtet, die Finanzschulden unabhängig von ihrer Fälligkeit gleich zu behandeln, wenn sie davon ausgehen müssen, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht möglich sein wird, alle Finanzschulden bei Fälligkeit zu bezahlen. Das Problem für Verwaltungsrat und Geschäftsleitung besteht nicht allein darin, dass bei der erfolgreichen Anfechtung einer Handlung ein Gläubiger oder eine andere Drittpartei die von der Gesellschaft erhaltenen Zahlungen zurückerstatten muss oder zu günstig verkaufte Aktiven gegen Zahlung des Verkaufspreises zurückgeben muss. Nach der Bundesgerichtspraxis begründen nach Art. 285 ff. SchKG anfechtbare Handlungen auch immer eine Pflichtverletzung von Verwaltungsrat und Geschäftsführung im Sinne von Art. 754 OR[39]. Bei kotierten Gesellschaften, die Obligationen ausgegeben haben, hat dies in der Praxis zudem die Konsequenz, dass Obligationen und Kredite gleichbehandelt werden müssen, dass also Kredite nicht zurückbezahlt werden können, solange Obligationen nicht ebenfalls zurückbezahlt oder sichergestellt werden.

Haftung des Verwaltungsrates

Bei Klagen gemäss Art. 754 Abs. 1 OR haften die Mitglieder des Verwaltungsrates und alle mit der Geschäftsführung befassten Personen gegenüber der Gesellschaft, den einzelnen Aktionären sowie den Gläubigern für den Schaden, den sie durch absichtliche oder fahrlässige Verletzung ihrer Pflichten verursacht haben. Während Klagen nach Art. 754 OR ausserhalb eines Konkurses noch sehr selten sind, werden sie nach einem Konkurs regelmässig erhoben oder mindestens angedroht. Gerade bei Publikumsgesellschaften, die für Medien und Politiker interessant sind, wird häufig auch in der Öffentlichkeit der Ruf nach der Haftung des Verwaltungsrats und der Geschäftsleitung laut.

Solche Klagen sind aber selten erfolgreich. Erfahrungsgemäss ist es kaum möglich, Verwaltungsrat und Geschäftsleitung für die geschäftlichen Entscheide zur Verantwortung zu ziehen, die zum Konkurs geführt haben. Unzureichende Finanzierung und einfache Fehler in der Umsetzung führen im Allgemeinen nicht zur Haftung, da Verwaltungsrat und Geschäftsleitung durch die Business Judgment Rule geschützt sind. Diese Regel schützt Geschäftsentscheide, die sich zwar im Nachhinein als falsch erweisen, die jedoch ohne Interessenkonflikte und nach Analyse der damals verfügbaren Informationen in einem ordnungsgemässen Entscheidungsprozess gefasst wurden und aus damaliger Sicht nicht völlig unvertretbar waren, d.h. nicht ausserhalb des Ermessensspielraums vernünftiger Unternehmensführung lagen. Entscheide, die durch die Business Judgement Rule geschützt werden, führen nicht zur Haftung[40].