Alles hat seine Geschichte ... - Norman Davies - E-Book

Alles hat seine Geschichte ... E-Book

Norman Davies

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Beschreibung

Eine Reise um die Welt: Welche Geschichte wohnt den Orten inne? Ob in Baku, Singapur oder Cornwall, auf Haiti oder Neuseeland: Jeder Ort hat seine Geschichte, oft unerwartet, ungewöhnlich oder völlig unbekannt. Der renommierte Historiker Norman Davies hat sich auf die Suche nach diesen Geschichten gemacht. Sein Buch "Ins Unbekannte" ist ein Reisebericht der besonderen Art: eine Weltreise in die Vergangenheit, eine historische Spurensuche. Im Alter von 73 Jahren reist Davies von der südlichsten Spitze der Südseeinseln bis zum Nordkap einmal rund um den Globus. So entstand ein sehr persönliches Reisetagebuch, das gleichzeitig ein Füllhorn an historischem Wissen und überraschenden Fakten bereithält. - Von A wie Abessinien bis Z wie Zypern: Ein Streifzug durch die Globalgeschichte - Wortgewandter Erzähler und charmant-witziger Reisebegleiter: eine Expedition voller Abenteuer und Lebensklugheit - Geschichte, Literatur und Reisen: humorvolle und spannende Lektüre für Weltenbummler - Touristische Hotspots und ihre historischen Wurzeln: Wie wurde die Insel Mannahatta zu Manhattan? - Weltreise im Kopf: Reisebuch zum Schmökern und Davonträumen Ein Buch voller Wunder und ein Schatz an Geschichten Norman Davies sieht die Welt als Ganzes. Er berichtet nicht nur von seinen Reiseerlebnissen, sondern unternimmt auch einen Exkurs in die jeweilige Landesgeschichte: zum Beispiel zu den Ursprüngen von Texas, die zwischen Comanchen, Chicanos und Siedlern liegen, oder nach Singapura, der Inselstadt der Tiger und Löwen. Zum Reisen gehört mehr als der bloße Ortswechsel von A nach B das zeigt Norman Davies in diesem einzigartigen Reisebuch auf inspirierende Weise!

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Seitenzahl: 1561

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Norman Davies

Ins Unbekannte

Eine Weltreise in die Geschichte

Aus dem EnglischenvonTobias Gabel und Jörn Pinnow

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Die Originalausgabe erschien unter dem TitelBeneath Another Sky. A Global Journey into Historyby Penguin Books Ltd, London.Text copyright: © Norman Davies 2017

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitungdurch elektronische Systeme.

wbg Theiss ist ein Imprint der wbg© 2020 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.Lektorat: Kristine Althöhn, MainzSatz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. DonauUmschlagabbildung: Claude Lorrain, „Einschiffung des Odysseus“ (1646), Paris, Musée du Louvre.Foto: © akg images.Umschlaggestaltung: Harald Braun, Helmstedt

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-4114-3

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-8062-4123-5eBook (epub): 978-3-8062-4124-2

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Impressum

Inhalt

Einleitung. Wo die Zitronen blühn – Von Pilgern und Entdeckern

  1. Kerno: Das Reich des Quonimorus

  2. Baki – Baku: Flame Towers im Land des Feuers

  3. Al-Imarat: Berge von Geld und tankerweise Missverständnisse

  4. Dilli – Delhi: Dalits, Tempel und Salutschüsse

  5. Melayu: Amok oder amuk an der „schlammigen Mündung“

  6. Singapura: Inselstadt der Tiger und Löwen

IntermezzoOriens: Richtung Sonnenaufgang

  7. Moris: Im Land der Kreolen und Dodos

  8. Tassie: Das „Down Under“ von „Down Under“

  9. Aotearoa: Laufvögel im „Land der langen weißen Wolke“

10. Otaheiti: Auf der Jagd nach dem Paradies

11. Tejas: Comanchen, Chicanos und Siedler – Freunde und Feinde

12. Mannahatta: Delawares, Holländer und viele Sklaven

13. Rückkehr, transatlantisch: Widersinnig oder doch im Sonnensinn?

14. FRA: Boarden, Fliegen, Abstürzen, Verschwinden und Landen

15. Imperium: Europäische Geschichte wird exportiert

Nachwort

Anmerkungen

Ortsregister

Abbildungsverzeichnis

EinleitungWo die Zitronen blühn – Von Pilgern und Entdeckern

Die liebste Lektüre meiner Mutter war John Bunyans Pilgerreise (The Pilgrim’s Progress).1 Über Jahre lag dieses Buch auf ihrem Nachttisch, fast wie ein stiller Tadel an die Adresse meines Vaters, dessen sehr viel seichterer Lieblingsschmöker, Der Graf von Monte Christo, stets neben seinem Kissen auf der gegenüberliegenden Seite des Bettes zu finden war.2 Die Helden dieser beiden Bücher verkörperten die so verschiedenen Gemüter meiner Eltern – und ich habe allen Grund zu der Annahme, dass „der Pilger“ und „der Graf“ auch in jenen Augenblicken diskret zugegen waren, in denen mein eigener Lebensweg seinen Anfang nahm.

Trotz einer obligatorischen Wallfahrt zu der Stelle, wo in Elstow, Bedfordshire, einmal sein Geburtshaus gestanden hatte – ich muss damals sieben oder acht Jahre alt gewesen sein –, bin ich mit Bunyan nie wirklich warm geworden. Er ist Puritaner gewesen – mehr noch: ein puritanischer Prediger, ernst und streng. Und doch habe ich ausgerechnet bei ihm jene wunderbare Allegorie kennengelernt, die den Lebensweg als eine Reise durch wechselvolles Gelände beschreibt, mitsamt allen „Sümpfen der Verzweiflung“, aber auch mit „herrlichen Höhen“; als eine Reise, an deren Ende die Ankunft in einer „himmlischen Stadt“ lockt. Bei der allmorgendlichen Schulversammlung schmetterten wir aus voller Kehle Bunyans mitreißendes To Be a Pilgrim, das einzige Kirchenlied aus seiner Feder:

He who would valiant be

’Gainst all disaster,

Let him in constancy

Follow the Master.

There’s no discouragement

Shall make him once relent

His first avowed intent

To be a pilgrim.

Wer sich im Lebenssturm

fest will bewähren,

folge dem Meister nur

und seinen Lehren.

Keiner Enttäuschung Schlag

zeitigt, dass er verzagt

und schließlich ganz entsagt

dem Weg des Pilgers.3

Die markante Melodie von Ralph Vaughan Williams, nach der Bunyans Text heute meist gesungen wird, trägt zu der immensen Wirkung des Liedes noch einiges bei.

Das Singen von Kirchenliedern war ein wesentlicher Teil meiner Erziehung. Noch immer kann ich mich ans Klavier setzen und Dutzende dieser Lieder aus dem Gedächtnis spielen. Aber keines davon kommt für mich an Cwm Rhondda heran, ein ursprünglich walisisches Lied, das als „Gebet um Stärke auf der Reise durch die Wildnisse dieser Welt“ ins Englische übertragen wurde. Es erklingt in einem kräftigen As-Dur und ist, was kräftigende Kirchenlieder angeht, das Stärkungsmittel überhaupt:

Guide me O Thou, Great Redeemer,

Pilgrim in this barren land.

I am weak, but Thou art mighty;

Hold me with Thy powerful hand.

Bread of Heaven! Bread of Heaven!

Feed me till I want no more.

When I pass the banks of Jordan

Bid my anxious fears subside.

Death of death, and Hell’s destruction

Bring me safe to Canaan’s side.

Songs of Praises! Songs of Praises!

I will ever give to Thee.

Leite mich, du großer Retter,

den Pilger in der Wüstenei.

Ich bin schwach, doch du bist mächtig;

deine Rechte mach’ mich frei.

Brot vom Himmel! Brot vom Himmel!

Gib mir, bis ich hab’ genug.

Wenn ich Jordans Fluten quere,

lindre meiner Ängste Qual. Todes

Tod, der Höll’ Zernichtung

führ’ mich heim in Kanaans Saal.

Halleluja! Halleluja!

will ich singen immerdar.4

Wann immer ein „Sumpf der Verzweiflung“ sich drohend auftut: ein oder zwei schnelle Durchgänge von Cwm Rhondda, und man kann seine Reise sicheren Schrittes fortsetzen.

Ein- oder zweimal im Jahr nimmt mein Sohn Christian (der unter anderem nach dem Helden von Bunyans Buch so getauft wurde) mich mit ins Millennium Stadium von Cardiff – um ein Rugbyspiel zu sehen, natürlich, aber auch, damit ich den Fangesängen lauschen kann. Bei diesen Gelegenheiten wird der walisische Text von Cwm Rhondda gesungen, und das sogar mit noch mehr Inbrunst:

Arglwydd, arwain trwy’r

Fi berein gwael ei wedd

Na does ynof nerth na bywyd

Fel yn gorwedd yn y bedd:

Hollaluog! Hollaluog!

Ydw’r Un a’m cwyd i lan

Ydyw’r Un a’m cwyd i lan.5

Sowohl mein Vater als auch meine Mutter haben ältere Brüder im Ersten Weltkrieg verloren, der noch heute in Großbritannien schlicht als „der große Krieg“, the Great War, bezeichnet wird. Die meisten populären Stücke aus ihrem Liederschatz entstammten jenen Kriegsjahren und tauchten – damit ich auch noch etwas davon hatte – in den 1960er-Jahren in Joan Littlewoods brillantem (später auch verfilmten) Satire-Musical Oh, What a Lovely War! wieder auf. Meist geht es in diesen Liedern um Verlust und Sehnsucht:

There’s a long, long trail a-winding

Into the land of my dreams

Where the nightingales are singing,

And a white moon beams.

There’s a long, long night of waiting

Until my dreams come true,

Till the day when I’ll be going down

That long, long trail with you.

Eine lange Straße windet

sich für mich in einen Traum,

wo die Nachtigall verkündet

Fried’ in mondbeglänztem Baum.

Eine lange Nacht, die dauert

ohne dich noch mal so lang –

wann erwach’ ich mit dem Schauer,

dass ich mit dir dort wandeln kann?6

Nur wenige moderne Popsongs, finde ich, können da mithalten, was Melodie, Stimmung oder Aussage angeht.

In der achten oder neunten Klasse lasen wir in der Schule William Hazlitts On Going a Journey („Über das Reisen zu Fuß“), einen Klassiker des englischen Essays. Für mich war es eine wahre Offenbarung, dass da einer seine eigenen Gedanken und Gefühle mit derart gründlicher Präzision – und in aller Seelenruhe! – zergliedern und reflektieren konnte. Hazlitt (1778–1830), der tatsächlich ein ziemlich erbärmliches Leben führen musste, feiert in seinem Essay die Freuden der Einsamkeit und den therapeutischen Nutzen des Reisens. Am bekanntesten ist der folgende Satz: It is better to travel than to arrive – „Reisen ist besser als ankommen“ oder anders gesagt: Der Weg ist das Ziel. Aber Hazlitts Text enthält noch weitere Perlen: „Nie bin ich weniger allein, als wenn ich ganz allein bin“ etwa oder das folgende Motto: „Gebt mir den strahlend blauen Himmel über mir, das saftig-grüne Gras unter meinen Füßen und drei Stunden Fußmarsch bis zum Abendessen – und dann wird nachgedacht!“7

Zu meinem ewigen Vorteil teilten gleich mehrere meiner Lehrer Hazlitts Philosophie; immer wieder unternahmen sie mit uns Ausflüge, bei denen wir jede Menge saftig-grünes Gras unter die Füße bekamen. Ich kann nicht sehr viel älter als zehn Jahre gewesen sein, da hatte ich bereits die fells des nordenglischen Lake District erklommen, angefangen mit dem Helvellyn und seinen immerhin 951 Metern; ich hatte den Peak District in Mittelengland erkundet (zuerst bestiegen wir den Mam Tor) und war über die Lichtungen des altehrwürdigen New Forest in Südengland gestreift, wo wir in Queen’s Bower auf der Isle of Wight unser Lager aufgeschlagen hatten. Ich war durch die Einöde von Dartmoor im Südwesten Englands gewandert und hatte mein Zelt vor den Mauern einer Burg in den schottischen Highlands aufgeschlagen, während der Dudelsackspieler des lairds – des Burgherrn – uns eine Serenade blies.

Ein weiterer Lehrer, der in nur kurzer Zeit einen tiefen Einfluss auf mich ausübte, war David Curnow, der später Professor für englische Literatur an der Amerikanischen Universität von Beirut werden sollte. Als jungem Cambridge-Absolventen hatte man ihm die beinah unmögliche Aufgabe übertragen, in die Dickschädel einer Horde von Oberstufenschülern, die noch dazu Englisch als Hauptfach bereits abgewählt hatten, so etwas wie literarische Sensibilität einzutrichtern. Hochgewachsen und elegant, spielte er seine Rolle perfekt: das Haar zu einer modischen Tolle nach Art der Teddy Boys frisiert, mit einer etwas geckenhaften Krawatte angetan und in Hosen aus Cavalry-Twill, an deren akkurat gepressten Bügelfalten man sich hätte schneiden können. Seine Strategie war es, leise und unauffällig den Raum zu betreten, die Hände in den Hosentaschen – wobei er den Tumult, den wir gerade veranstalteten, vollkommen ignorierte –, sich ein Stück Kreide zu schnappen und (ohne auch nur ein Wort zu sagen) einige Verse an die Tafel zu schreiben. Dann drehte er sich blitzschnell um, sah den Dickschädeln unerschrocken ins Auge (wobei er weiter schwieg) – und wartete auf eine Reaktion:

Ah Sun-flower! weary of time,

Who countest the steps of the Sun:

Seeking after that sweet golden clime

Where the traveller’s journey is done.

Where the Youth pined away with desire,

And the pale Virgin shrouded in snow:

Arise from their graves and aspire,

Where my Sun-flower wishes to go.

Ach, Sonnenblume! du bist es müd,

zu bemessen der Sonne Hast,

suchend das glückliche Land im Süd,

wo der Reisende findet Rast:

Wo der Jüngling, der hinschwand in Schmachten,

und die Jungfrau, das Herz vereist,

aus den Gräbern erstehn und trachten,

wohin meine Sonnenblume weist.8

Der Effekt war enorm: Der Tumult ebbte ab, und Schweigen fiel auf den Raum voller pubertierender Burschen, die alle bereits selbst erfahren hatten, was es hieß, „in Schmachten hinzuschwinden“, und die nun plötzlich begriffen, dass William Blake mit ihnen selbst sprach, wenn er über das Leben und den Tod, über Sexualität und spirituelle Grenzerfahrungen dichtete.

Etwa zur selben Zeit entdeckte ich, ganz zufällig, die Welt der Reiseliteratur. Beim Stöbern in der Stadtbücherei von Bolton stieß ich auf eine ungewöhnlich große Abteilung mit Reiseberichten und -erzählungen, die meisten davon aus viktorianischer Zeit. Unter den Büchern, die sich mir besonders eingeprägt haben, waren solche Klassiker wie Arthur Youngs Reisen durch Frankreich (1792), Alexander Kinglakes Eothen (1844), Wildes Wales von George Borrow (das meine Neugier auf Genealogie und Familienforschung lenkte), Robert Louis Stevensons Reise mit dem Esel durch die Cevennen (1879), dem ich eine tiefe Faszination mit dem ländlichen Frankreich verdankte, und Joshua Slocums fesselnder Bericht von seiner Solo-Weltumseglung, Allein um die Welt (1900). Mein unbestrittener Favorit war jedoch William Cobbetts Rural Rides („Ritte über Land“, 1830), in dem sich detaillierte Beschreibungen von weiten Ausritten durch das vorindustrielle England mit prägnanten politischen und sozialen Analysen und Urteilen verwoben. Schon lange bevor ich selbst nach Oxford kam, konnte ich bei Cobbett nachlesen, worauf ich mich einzustellen hatte:

Wie mir die große Menge von Bauwerken in den Blick kam, die sie in Oxford als die Bienenstöcke ihrer sogenannten „Gelehrsamkeit“ errichtet haben, da konnte ich nicht anders, als an all die Drohnen zu denken, die darin hausen, und an all die Wespen, die Jahr für Jahr daraus hervorschlüpfen! Mögen manche unter diesen Geschöpfen auch noch so bösartig sein, ihr auffälligster, ja ihr beherrschender Charakterzug bleibt doch die Torheit: völlige Leere in den Köpfen, Mangel an Talent, und die Hälfte der Kerle, die sie hier gebildet nennen, taugte noch nicht einmal als Gehilfe in einem Kramladen oder Tuchkontor. … Da stieß ich unwillkürlich und wie zu mir selbst hervor: „Herbei, o ihr Großkopferten, ihr prächtig genährten Doktoren! Herbei, ihr vermögenden Kirchenmäuse, denen arme Schlucker per annum einhunderttausend Pfund Sterling in die Geldkatze stecken! … So kommt doch herbei und schaut mir ins Gesicht, der ich mit der Schreibarbeit meiner Mußestunden [mehr] unter euren Schäfchen gewirkt habe als ihr alle zusammen in dem vergangenen halben Jahrhundert!9

Kaum weniger inspirierend für einen heranwachsenden Burschen wie mich waren fiktionale Reiseerzählungen. Unter den Büchern, die ich vor Begeisterung geradezu verschlang, waren Jules Vernes Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer, Arthur Conan Doyles Die vergessene Welt und König Salomons Schatzkammer von H. Rider Haggard. Als ich einmal mit Mumps oder Masern das Bett hüten musste, las ich Die Zeitmaschine von H. G. Wells – das heizte meine Fieberträume wohl eher noch an! In meiner Fantasie erfand ich eine eigene Maschine, mit der man die Lichtstrahlen, die von einem beliebigen Ereignis in der Geschichte reflektiert worden waren, auffangen, bündeln und wiederum projizieren konnte. Auf diese Weise – man musste nur die Regler an der Maschine auf einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit einstellen, wie etwa „Thermopylen, – 480“ oder „Hastings, +1066“ – würde man dann ein wahrheitsgetreues Bild der jeweiligen Szene rekonstruieren können. „Tatsächlich gibt es vier Dimensionen“, heißt es bei Wells, „von denen wir drei die Ebenen des Raumes nennen, und eine vierte, die Zeit.“ Das ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Nach mühsamen Reisen durch Raum und Zeit würde ich reich belohnt werden: mit grenzenlosem Wissen, den Eindrücken von unzähligen Wundern und allen Geheimnissen dieser Erde!10

Heute fällt mir immer wieder auf, dass die angeblichen Experten, denen wir Top-10- oder Top-20-Listen der „Besten Reisebücher aller Zeiten“ verdanken, die Ursprünge des reiseliterarischen Genres fast ausnahmslos ignorieren.11 Die meisten Autoren, die sich gegenwärtig über Reiseliteratur äußern, scheinen beispielsweise in seliger Unkenntnis von Goethes Italienischer Reise zu schreiben – eines wahren Grundpfeilers des reiseliterarischen Kanons! Goethe bereiste Italien während zweier Jahre unmittelbar vor der Französischen Revolution, aber er veröffentlichte seine Aufzeichnungen von dieser Rundreise erst mehr als drei Jahrzehnte später, nachdem er sie durch umfangreiche Reflexionen und Kommentare erweitert hatte. Auf den ersten Blick ähnelt sein Bericht den unzähligen Beschreibungen der Grand Tour, die betuchte Bildungsreisende aus ganz Europa schon seit Jahrhunderten zu Papier gebracht hatten. Tatsächlich jedoch war die Italienische Reise höchst innovativ. Nach Goethes über Jahre gereifter Überzeugung bestand der höchste Zweck des Reisens darin, Selbst-Entdeckung zu betreiben; das Reisen war für ihn gleichsam eine „Schule des Sehens“, aber er wollte, wie er schrieb, vor allem sich selbst besser in den Blick bekommen: „Ich mache diese wunderbare Reise nicht, um sich selbst zu betriegen [sic], sondern um mich an den Gegenständen kennen zu lernen …“12 Indem er immer neue, unbekannte Landschaften, Kunstwerke und Menschen aufsuchte und kennenlernte, suchte Goethe also – indem er der Wirkung nachspürte, die diese Erlebnisse auf ihn hatten –, mehr über seine eigenen Vorlieben und vorgefassten Meinungen zu erfahren. Das tat er zu einem großen Teil im Rahmen seiner „Entdeckung der Antike“, wie man diese Etappe seines Lebenswegs charakterisiert hat: Goethe gelangte zu der Einsicht, dass die Griechen und Römer uns keineswegs nur Scherben und Ruinen hinterlassen hatten, sondern quicklebendige Traditionen. So kann man sein Reisen und das Schreiben darüber als Teile eines großen Experiments begreifen, das kulturelle und psychologische Fragestellungen miteinander verband.

Goethe war also alles andere als ein simpler Chronist. Und obwohl die Italienische Reise auf seinen Reisetagebüchern der Jahre 1786–88 basiert, hat ihr die spätere Überarbeitung – sorgfältig, Schicht um Schicht – einen eigentümlichen, schillernd-mehrdeutigen Charakter eingeschrieben. Sie war nun, wie Goethe selbst in einem Brief an seinen Freund Zelter bemerkte, „zugleich völlig wahrhaft und ein anmutiges Märchen“.13 Seine Liebe zu dem Land jenseits der Alpen indes hat ein Leben lang gehalten:

Kennst du das Land? wo die Zitronen blühn

Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn,

Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,

Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,

Kennst du es wohl? Dahin! Dahin

Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn! …14

Und natürlich lautete das berühmte Motto, das Goethe seiner Italienischen Reise voranstellte: „Auch ich in Arkadien!“ – Et in Arcadia ego.

Ich denke mir, dass die damalige Schulleiterin der Bolton School, Margaret Higginson, von ganz ähnlichen Ideen beseelt war, als sie es in den Osterferien 1956 wagte, mit einem Trupp halbwüchsiger Jungen und Mädchen nach Venedig, Florenz und Verona aufzubrechen. Als Lektüreempfehlung für die lange Zugfahrt wies sie uns auf ein schmales Bändchen hin, in dem die Klassiker der lateinischen Literatur in ihrem Zusammenhang mit der italienischen Landschaft vorgestellt werden. Es hieß Poets in a Landscape (Römisches Arkadien. Dichter und ihre Landschaft), und ich war sofort gefesselt – der Beginn einer lebenslangen Begeisterung.15 Was ich damals nicht wusste, war, dass der Verfasser des Büchleins, Gilbert Highet – ein Altphilologe schottischer Herkunft, der sich an amerikanischen Universitäten einen Namen gemacht hatte –, zuvor bereits eine wahre „Bibel“ seiner Zunft publiziert hatte: The Classical Tradition.16 „Die Welt ist klein geworden heutzutage“, hatte Highet in einem anderen Buch namens People, Places and Books geschrieben, „aber die Geschichte bleibt doch weit und tief. Mitunter kommt man weiter herum, wenn man in den eigenen vier Wänden ein Geschichtsbuch liest, als wenn man mit Schiff oder Flugzeug Tausende von Meilen zurücklegt.“17

Ich war gerade achtzehn geworden, da reiste ich zum ersten Mal allein ins Ausland. Die Aufnahmeprüfungen für Oxford hatte ich bereits erfolgreich hinter mich gebracht; nun sollte ich in der Dauphiné, genauer gesagt in Grenoble, mein gesprochenes Französisch vervollkommnen – und wohl auch meine Eigenständigkeit und „Überlebensfähigkeit“ in fremder Umgebung unter Beweis stellen. Den Plan für diese Expedition hatte ich mir selbst überlegt, inspiriert durch meine Lieblingscousine Sheila, die vor dem Zweiten Weltkrieg dort studiert hatte und in deren Fußstapfen ich – so viel stand fest – nun treten wollte. Die genaue Wahl meines Ziels war indes auch durch die Nähe der französischen Alpen beeinflusst. So belegte ich Kurse an der Universität von Grenoble und nahm ein Zimmer bei der Familie De la Marche in der Rue du Lycée, Hausnummer 5 (das Haus steht nun schon lange nicht mehr). Der freundlichen Zuwendung meiner verwitweten Zimmerwirtin – Madame la Baronne – verdanke ich viel. Ich freundete mich mit ihren Söhnen an, Christian und Bernard, und zog – obwohl ich mein Reisegeld ja eigentlich nicht zum Skifahren geschickt bekam – bei jeder sich bietenden Gelegenheit in die Berge hinauf. Wie ich bald herausfand, war es einer der besten Wege, mein Französisch zu verbessern, mich selbst als „Lehrer“ zu betätigten: Ich half Marie-Louise, der kleinen Schwester meiner beiden Kameraden, bei ihren Hausaufgaben und wiederholte die Übungen in ihrem Lehrbuch dann für mich selbst. Marie-Louise, die von allen in der Familie nur Choupette gerufen wurde – „Süße“ oder „Püppchen“ etwa –, mag damals zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein. Eines Tages sollte sie ein Sonett aus dem 16. Jahrhundert auswendig lernen:

Heureux qui, comme Ulysse, a fait un beau voyage,

Ou comme cestuy-là qui conquit la toison,

Et puis est retourné, plein d’usage et raison,

Vivre entre ses parents le reste de son âge.

Quand reverrai-je, hélas, de mon petit village

Fumer la cheminée, et en quelle saison

Reverrai-je le clos de ma pauvre maison,

Qui m’est une province, et beaucoup davantage?

Plus me plaît le séjour qu’ont bâti mes aïeux

Que des palais Romains le front audacieux:

Plus que le marbre dur me plaît l’ardoise fine.

Plus mon Loir [sic] gaulois que le Tibre latin,

Plus mon petit Liré que le Mont Palatin

Et plus que l’air marin la douceur angevine.

GLÜCKLICH, wer wie Odysseus eine schöne Reise

Machte oder der Mann, der einst das Vlies errang

Und wiederkam, erprobt und voller Weisheit, lang

Zu leben für den Rest nur im vertrauten Kreise!

Wann seh ich wieder, ach, in meinem Dorf aufsteigen

Den Rauch übern Kamin? In welcher Jahreszeit

Seh ich den Garten dort, mein armes Haus – bereit

Für mich Provinz zu sein, viel mehr noch: ganz mir eigen?

Ich liebe mehr den Ort, wo meine Väter wohnten,

Als die Paläste Roms mit ihren kühnen Fronten,

Statt harten Marmors sagt mir feiner Schiefer zu,

Mein kleiner gallischer Loir statt des Lateiners Tiber,

Mehr als der Palatin ist mir mein Hügel lieber,

Statt Salz und Meereswind – die Sanftheit des Anjou.18

Der Dichter dieser Zeilen, Joachim du Bellay, hatte die lange Reise aus seiner Heimat – dem Anjou im Westen Frankreichs – nach Rom auf sich genommen und litt nun unter schrecklichem Heimweh – ganz wie ich selbst bisweilen in Grenoble. – Was wohl Choupette heute macht …?

Odysseus – oder „Ulysses“, wie du Bellay und die Römer ihn nannten – ist natürlich der Archetyp des europäischen Wanderers. Homer hat ihn zum Helden des zweiten Ur-Klassikers der europäischen Literatur gemacht. Odysseus (was womöglich so viel bedeutet wie „der Sorgenvolle“) war als Veteran des Trojanischen Krieges von der tückischen Nymphe Kalypso auf deren Insel festgesetzt worden und kehrte erst nach zehn langen Jahren voller gefährlicher Abenteuer in seine Heimat auf der Insel Ithaka zurück. Homers epischer Bericht von diesen Abenteuern umfasst genau 12 110 Verse im daktylischen Hexameter. Meine eigene Ausgabe der Odyssee – eine englische Prosaübertragung – habe ich zu einer Zeit gekauft, als man mir mit einigem Druck nahelegte, ich solle mich doch für den auserlesenen Kreis derer bewerben, die an meiner Schule Griechisch lernten. Die HomerÜbersetzung fand ich dann allerdings – leider! – alles andere als spannend. „Schon hatten alle Überlebenden des Krieges den Weg in die Heimat gefunden“, begann sie ganz nüchtern, „und so die Gefahren von Schlachtfeld und Seefahrt hinter sich gelassen …“19 Vielleicht wäre mein Enthusiasmus größer gewesen, hätte mir nur jemand von der viel älteren Übersetzung George Chapmans (1559–1634) erzählt, eines Zeitgenossen Shakespeares, der nur ein Jahr vor dem Tod Joachim du Bellays geboren wurde. Dann hätte mich womöglich auch jener glühende Eifer gepackt, den John Keats in seinem Sonett On First Looking into Chapman’s Homer („Als er zum ersten Mal in Chapmans Homer las“) so trefflich beschrieben hat:

Much have I travelled in the realms of gold,

And many goodly states and kingdoms seen;

Round many western islands have I been

Which bards in fealty to Apollo hold.

Oft of one wide expanse had I been told

That deep-brow’d Homer ruled as his demesne;

Yet did I never breathe its pure serene

Till I heard Chapman speak out loud and bold …

Viel goldene Lande schon hab ich durchreist,

Glänzende Macht und Herrschaft sah ich viel;

Im Westen manches Eiland fand mein Kiel,

Freistatt den Dichtern nach Apolls Geheiß.

Oft kam von einem Großreich mir die Kunde,

Dort, hieß es, herrscht mit hoher Stirn Homer;

Doch spürt’ ich seine reine Luft nicht eher

Als Chapmans Kraft mir sprach mit kühnem Munde …20

Chapmans Homer-Übertragung aus dem 17. Jahrhundert, von der Keats so begeistert war, ist in kunstvollem Paarreim gehalten, wobei jeder Einzelvers zehn Silben zählt. Die berühmte Eröffnung der Odyssee („Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes …“) klingt bei Chapman demnach so:

The Man (O Muse) informe, that many a way

Wound with his wisedome to his wishèd stay;

That wanderd wondrous farre when He the towne

Of sacred Troy had sackt and shiverd downe.

The cities of a world of nations,

With all their manners, mindes and fashions,

He saw and knew; at sea felt many woes,

Much care sustaind, to save from overthrowes

Himselfe and friends in their retreate for home …21

Nachdem ich das Griechische also törichterweise verschmäht hatte, blieb meine klassische Bildung auf das Lateinische beschränkt, dessen erhabene Perioden und imposantes grammatisches Innenleben ich bald bewundern lernte. Nach kurzer Zeit hatten wir uns genug sprachliches Rüstzeug angeeignet, um mit Vergils Aeneis bekannt gemacht zu werden, die ich allerdings eher mit Ehrfurcht denn mit mühelosem Verständnis las – und nicht selten griff ich auf die willkommene Hilfe eines zweisprachigen „Spickers“ zurück:

Arma virumque cano, Troiae qui primus ab oris

Italiam fato profugus Laviniaque venit

litora, multum ille et terris iactatus et alto

vi superum saevae memorem Iunonis ob iram,

multa quoque et bello passus, dum conderet urbem

inferretque deos Latio, genus unde Latinum

Albanique patres atque altae moenia Romae.22

Waffentat künde ich und den Mann, der als erster von Troja,

schicksalgesandt, auf der Flucht nach Italien kam und Laviniums

Küsten, viel über Lande geworfen und wogendes Meer durch

Göttergewalt, verfolgt vom Groll der grimmigen Juno,

viel auch duldend durch Krieg, bis er gründe die Stadt und die Götter

bringe nach Latium, dem das Geschlecht entstammt der Latiner,

Albas Väter und einst die Mauern der ragenden Roma.23

All diese Texte und Schreibweisen übten einen nachhaltigen Einfluss auf die abendländische Literatur aus. Der bedeutendste unter den vielen Erben und Nachfolgern Homers und Vergils war fraglos Dante Alighieri (1265–1321), dessen tatsächlich göttliche Göttliche Komödie (Divina Commedia) mir noch bevorstand; während meines Studiums in Oxford sollte sie das Herzstück eines vertiefenden Prüfungsmoduls über „Das Zeitalter Dantes“ bilden. Dantes Vision von einer spirituellen Reise durch das Jenseits verdankte sich einer christlichen Perspektive, die seine heidnischen Vorläufer Homer und Vergil selbstverständlich nicht teilen konnten. Dennoch tritt der Florentiner in das große Triumvirat der Seelenreiseführer. Dante nennt Vergil lo mio maestro e ’l mio autore – seinen „Meister und Urheber“, weshalb er ihn auch als seinen Lotsen auf dem ersten Abschnitt der Reise ins Paradies verpflichtet.

Über all diesen inneren wie äußeren Abenteuern und Erkundungsfahrten wurde mir immer deutlicher bewusst, dass zum Reisen mehr gehört als der bloße Ortswechsel von A nach B. Tatsächlich geht es im ganzen Prozess der Erziehung nur einerseits um den Unterricht im Klassenraum und das Studieren schlauer Bücher; genauso wichtig sind jedoch jene prägenden Einflüsse, denen die Lernenden in einer neuen Umgebung ausgesetzt sind, die ihre Wahrnehmung anregt. Zunächst hätte ich also ohne Weiteres dem Leitsatz zugestimmt, der da besagt – vermeintlich unbestreitbar –, dass „Reisen bildet“. Ich hätte auch Mark Twain zugestimmt, der, selbst ein ausgewiesener Weltenbummler, das Folgende schrieb: „Reisen ist für Vorurteile, Bigotterie und Engherzigkeit lebensgefährlich, und viele unserer Leute benötigen es aus diesem Grunde dringend. Umfassende, gesunde und nachsichtige Vorstellungen von Menschen und Dingen kann man nicht dadurch erwerben, dass man sein ganzes Leben lang in einer kleinen Ecke der Welt vegetiert.“24

Heute bin ich mir da nicht mehr ganz so sicher. In einer Welt, in der das Reisen viel von seinen früheren Beschwernissen – körperliche wie geistige – verloren hat, trifft man Menschen, die Tausende von Kilometern fliegen, nur um in Dubai ein wenig zu shoppen, in Bali am Strand zu liegen oder in Adelaide ein Cricket-Match anzusehen. „Dreimal bin ich schon auf den Galapagos-Inseln gewesen“, hat mir eine augenscheinlich betuchte amerikanische Dame einmal auf einem Langstreckenflug anvertraut, „und ich weiß überhaupt nicht, wo ich als Nächstes noch hin soll!“ Was lernen solche Leute, wenn sie reisen – von leichten Temperaturschwankungen und der nicht zu unterschätzenden Aufgabe, sich auf unterschiedlichen Flughäfen zurechtzufinden, einmal abgesehen? Manche Reisenden legen enorme Entfernungen zurück, ohne dass auch nur ein einziges ihrer sorgsam gehüteten Vorurteile dabei zu Bruch ginge. Reisen bildet – das mag sein, aber leider Gottes bildet es nicht automatisch: „Geht der weise Mann auf Reisen, kommt er weiser wieder her;/Will der Narr das auch beweisen, kommt er wieder närrischer“ – da hat der Volksmund nicht ganz unrecht.

Erst kürzlich las ich, dass einer der frühesten Pioniere der Reiseschriftstellerei, der italienische Renaissancedichter Francesco Petrarca, vor fast siebenhundert Jahren zu demselben Schluss gelangt ist. Im Jahr 1336 bestiegen Petrarca und sein Bruder nämlich – was zur damaligen Zeit absolut unerhört war – den Mont Ventoux in der Provence, woraufhin der Dichter in einem Brief an einen Freund seine Eindrücke von dieser Exkursion festhielt. Bei dem Aufstieg hatte er ein Exemplar von Augustinus’ Bekenntnissen (Confessiones) bei sich und las auf dem Gipfel eine passende Passage daraus: „Und da gehen die Menschen hin“, schreibt Augustinus da, „und bestaunen die Gipfel der Berge, die ungeheuren Fluten des Meeres, die breiten Wasserfälle der Flüsse, die Größe des Ozeans und die Bahnen der Sterne, aber sie vergessen dabei sich selbst …“ – über sich selbst staunen die wenigsten.25 Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux am 26. April 1336 ist auch als der „Eröffnungstag der Renaissance“ bezeichnet worden.26 Petrarca selbst jedenfalls war regelrecht entrüstet, weil einige Bekannte, die er zu der Wanderung eingeladen hatte, diese einmalige Chance nicht ergreifen wollten: Seiner Meinung nach ließen sie eine frigida incuriositas erkennen, eine „kühle Teilnahmslosigkeit“ und Mangel an Neugier.27

Der vollständige Name von Bolton in Lancashire, der vormals unabhängigen Stadt, in der ich geboren wurde und aufgewachsen bin, ist „Bolton-le-Moors“, was von der mittelalterlichen Stadtpfarrei gleichen Namens herrührt. (Dass Bolton inzwischen vom Großraum Manchester „geschluckt“ wurde, ist im Übrigen fast so unbegründet wie Putins Annexion der Krim.) Als junger Bursche habe ich viele glückliche Tage damit zugebracht, über die Heidelandschaft rund um Bolton zu streifen (die moors aus dem mittelalterlichen Stadtnamen), dabei die Kraft in meinen Beinen zu spüren, mich in Nebel und Regen zurechtzufinden – und über den „richtigen Weg“ für das Leben im Allgemeinen nachzusinnen.

An lauen Sommerabenden konnte man den Rivington Pike erklimmen, einen hohen Hügelkopf am Rand des Heidelandes, und zusehen, wie die Sonne in der fernen Irischen See versank. Meist war dann auch die Spitze des Blackpool Tower zu sehen, 40 Meilen – gut 65 Kilometer – entfernt, am anderen Ende der flachen Halbinsel Fylde. Und wenn dann der Lichteinfall und die Luftfeuchtigkeit genau richtig waren, konnte man am Horizont gerade so auch noch die dunklen Umrisse der Isle of Man ausmachen. Das war für mich damals „der Westen“. Irgendwo hinter dem Horizont lag Irland, hinter Irland der Atlantik und jenseits des Atlantiks – Amerika! Über viele Jahre hinweg verlockte mich jedoch nichts, über das Meer nach Westen zu gehen. Und auf der Isle of Man bin ich bis heute nicht gewesen.

Wenn ich nun also auf dem Gipfel des – immerhin rund 360 Meter hohen – Rivington Pike hockte, neben dem Aussichtsturm und mit Blick auf einen feuerroten Sonnenball, der langsam im dunklen Wasser versank, dann gab mir das zugleich Gelegenheit, ein wenig über meinen eigenen Ort in der Galaxis nachzudenken. Natürlich war es verlockend, dem jahrtausendealten Denkfehler der Menschheit nachzugeben und zu glauben, dass es die Sonne war, die sich bewegte, während ich selbst, der Aussichtsturm neben mir und der Hügel, auf dem er stand, an Ort und Stelle blieben. Aber irgendwann hatte ich einmal im Schulunterricht von jener großen Entdeckung gehört, die mit dem Namen Nikolaus Kopernikus verbunden ist: dass nämlich die Erde um eine statische Sonne kreist. Tatsächlich raste ja nicht nur die Erde mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa 30 Kilometern pro Sekunde um die Sonne, sondern drehte sich gleichzeitig um ihre eigene Achse, was uns den Wechsel von Tag und Nacht bescherte. Und das mit einem geradezu höllischen Tempo: Auf etwa 53 Grad nördlicher Breite fuhr Rivington Pike (mit mir, dem Turm und der gesamten Erdoberfläche samt Atmosphäre) mit einer Geschwindigkeit von gut 965 Kilometern pro Stunde durch das All. Das konnte man zwar nicht spüren; aber wenn der Wind einem ins Gesicht blies, konnte man sich den Luftwiderstand der Atmosphäre wenigstens vorstellen. Und schloss man die Augen, dann fiel es nicht schwer, sich auszumalen, was „wirklich“ geschah: Ihrer vermeintlichen Bewegung zum Trotz hing die Sonne vollkommen still an ihrem Ort, während der Hügel samt Besatzung in einer weiten elliptischen Flugbahn durch das All auf und davon brauste. Ohne es direkt wahrnehmen zu können, war ich der Reiter einer gewaltigen planetaren Doppel-Schubbewegung – einer größeren um die Sonne, einer kleineren um die Erdachse. Das Einzige, womit man das vielleicht noch vergleichen konnte, waren die komplexen Dreh- und Schraubbewegungen auf den blinkenden Fahrgeschäften, die bei der alljährlichen Neujahrskirmes von Bolton die Hauptattraktion ausmachten. Dort gab es ein großes Karussell, das sich um einen Mittelpfosten drehte, während die einzelnen Gondeln – wir nannten sie „Wirbler“ – zugleich um ihre eigene Achse rotierten.

Wesentlich häufiger jedoch zog es mich nicht nach Westen, sondern in die entgegengesetzte Richtung, und dann stürzte ich mich in die wilden, geheimnisvollen Heidemoore im Landesinneren. Wenn ich an der Ostflanke des Winter Hill stand, konnte ich mühelos den Peel Tower auf dem Holcombe Hill bei Ramsbottom ausmachen sowie, etwas weiter entfernt, das düstere Band der Blackstone Edge, einer langgezogenen Felswand aus dunklem grobem Sandstein, die an der Grenze zwischen Lancashire und Yorkshire liegt. Bevor die Ära der Autobahnen anbrach, war Yorkshire, dessen Einwohner damals noch allgemein als „Tykes“ bekannt waren, eine seltsame und wenig zugängliche Gegend, wo die Leute nur mit Grabesstimme sprachen und aus Prinzip in der Mitte der Straße fuhren. Das war – für mich, wohlgemerkt – die Exotik des „fernen Ostens“. Jenseits von Yorkshire lag die Nordsee und am anderen Ufer der Nordsee, wie ich wusste, das europäische Festland. Wenn Rivington Pike also mein persönlicher Sonnenuntergangs-Tempel war, dann war der Osthang des Winter Hill das Observatorium des Sonnenaufgangs. Man konnte dort herrlich zwischen Heidekraut und Grasbüscheln sitzen, den Lerchen und den Brachvögeln lauschen und dem noch jungen Tag bei seinem allmählichen Anwachsen zusehen, bis er alle Höhenzüge und Täler der Pennines – Englands gebirgigem Rückgrat – im hellen Sonnenlicht gebadet hatte.

Das also war das Wunderland meiner Kindheit und Jugend. Es gab keinen besseren Ort, um sich in Zeit und Raum zu orientieren – und das alles direkt vor meiner Haustür! Ich stieg einfach in den Bus Nummer 19 oder 20 nach Doffcocker (oder noch weiter hinauf bis nach Montserrat) und stiefelte dann entlang der alten Straße nach Chorley an den Zäunen der Schafweiden vorbei. Unten sah ich den gewaltigen Moloch der alten Industriemetropole Manchester liegen, wo Millionen von Menschen zusammengepfercht waren. Vor mir jedoch lockten der klare, offene Himmel, eine leichte Brise, die von den Hügeln strich, und die Leere – selige, vollkommene Leere. Nach etwa einer Meile bog ich auf den Pfad ab, der gegenüber dem Pub Jolly Crofters am Bottom o’th‘ Moor zum Steinbruch hinaufführt, dann immer weiter hinauf zwischen Trockensteinmauern, bis ich, vor Anstrengung und freudiger Erwartung schon leicht außer Puste, auf die hohe, windgepeitschte Heide hinaustrat – als Herr über alles, was ich sah.

Schon früh war mir bewusst, dass meine Freiheit, nach Lust und Laune über Moor und Heide zu streifen, ein Privileg war, das es während der Kindheit meines Vaters beispielsweise noch gar nicht gegeben hatte; und in der Tat waren meine eigenen jugendlichen Ausflüge, wenn man es ganz genau nimmt, illegal. Bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein blieben die braven Bürger von Bolton gezwungenermaßen zu Hause hocken, bis sie im Qualm ihrer eigenen Kohleöfen beinah erstickten, denn die Familie Bridgeman (geadelt mit dem Titel der Earls of Bradford), der das Heideland rund um die Stadt gehörte, wollte dieses als Jagdrevier für Moor- und Rebhühner der Öffentlichkeit vorenthalten. Das Thema lag auch William Cobbett sehr am Herzen. Zu seiner Zeit konnte man für das widerrechtliche Erlegen eines Stücks Federwild nach „Van-Diemens-Land“ deportiert werden – in das heutige Tasmanien –; auf Widerstand gegen den Wildhüter stand gar die Todesstrafe. Cobbetts Entrüstung ist also vollkommen gerechtfertigt:

Es heißt (und ich glaube es aufs Wort), dass in England eine größere Zahl von Männern wegen Verstößen gegen die Jagdgesetze inhaftiert sei, als in Frankreich (mit seiner mehr als doppelt so großen Bevölkerung) wegen aller möglichen Verbrechen zusammengenommen. Als sich ob der an den Priestern und den hohen Herren Frankreichs verübten Grausamkeiten ein lauter Aufschrei erhob …, musste Arthur Young bloß daran erinnern, welche Grausamkeiten unter dem Deckmantel des Jagdrechts am [französischen] Volk verübt worden waren: Wie viele hatte man nicht zu Galeerensklaven gemacht, weil sie Rebhühner, Fasane oder Hasen getötet oder ihnen auch nur nachgestellt hatten!28

Nachdem dann ein neues Jagdgesetz, der Game Act von 1831, erlassen worden war, der sowohl die Registrierung aller Wildhüter als auch feste Schonzeiten für das Wild vorsah, verlegte der Protest sich eher auf Problembereiche wie das Zugangs- und Wegerecht sowie die entsprechenden Strafen für das unbefugte Betreten von Privatgrund.

Ich bin durchaus stolz darauf, dass mein Onkel Don – Donnie Davies, der Cricketspieler und Journalist, der bei dem großen Flugunglück von München im Februar 1958 ums Leben kam – bei den Massenprotesten, die schließlich zur Öffnung der Pennines rund um Bolton für die Allgemeinheit führten, eine entscheidende Rolle gespielt hat. Bereits 1910 – da war er gerade achtzehn Jahre alt – errichteten er und seine Mitverschwörer unter fadenscheinigem Vorwand ein Mahnmal an dem uralten Pfad, der über den Winter Hill führt. Irgendwo in den Akten hatten sie den Fall eines schottischen Kesselflickers namens George Henderson aufgetan, der auf der Heide von Rivington Moor im November 1838 „meuchlings ermordet“ worden war – und bekamen doch tatsächlich die Genehmigung, dem armen Mann ein Denkmal zu setzen: „Zum ewigen Gedenken an …“ Unter den gestrengen Blicken von Polizisten und Wildhütern mühten die geschichtsbeflissenen jungen Männer sich den steilen Pfad hinauf, der von Belmont aus bergan führt; ein Esel zog den Karren mit dem schweren Pfosten aus Gusseisen, an dem die Plakette angebracht werden sollte. Doch kaum war Scotchman’s Stump – „der Schottenstummel“, wie das Denkmal noch heute im Volksmund heißt – fest in seinem Fundament verankert, kaum hatte die eigentliche Zeremonie zu seiner Enthüllung begonnen, da erschienen entlang der Kuppe des Moores Hunderte wild entschlossener „Trauergäste“, deren schiere Anzahl die Ordnungskräfte völlig überforderte. Gegen eine Handvoll Demonstranten wurde ein Ordnungsgeld wegen unbefugten Betretens verhängt, aber von einem Zutrittsverbot für unbescholtene Spaziergänger war nach diesem Vorfall nie wieder die Rede. Andernorts in England dauerten ähnliche Kampagnen noch sehr viel länger. Der größte Fall von massenhaftem – wiewohl friedlichem – Hausfriedensbruch wurde 1932 auf der Hochebene von Kinder Scout in Derbyshire organisiert. Gesetzlich verankert wurde das „Recht auf freies Umherstreifen“ aber erst mit dem Countryside and Rights of Way Act („Gesetz über Landschaftsnutzung und Wegerechte“) aus dem Jahr 2000.

Bei meinen Streifzügen über Moor und Heide gewöhnte ich mir zudem an, den Fakten und Ereignissen der Lokalgeschichte nachzuspüren, was vielleicht half, einen untergründig bereits angelegten, detektivischen Spürinstinkt weiter auszubilden. Wohin ich auch kam, fragte ich mich schon bald (und mit völliger Selbstverständlichkeit) nicht nur: „Was kann ich sehen?“, sondern ich begann, auch über das nachzudenken, was nicht mehr sichtbar war – jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Das faszinierte mich: Dinge zu entdecken, die früher einmal dagewesen, aber inzwischen nur mit Mühe noch erkennbar waren.

Das römische Britannien, für das man im England meiner Kindheit wohl eine gewisse „imperiale Affinität“ empfand, hat in Lancashire nur wenige Spuren hinterlassen. An den Ursprüngen der Stadt Manchester steht das Römerlager Mancunium, von wo ein Fächer von Pflasterstraßen in Richtung der nördlichen Grenze ausstrahlte. Mein Vater fuhr mit uns einmal nach Affetside, wo wir uns die kärglichen Überreste einer dieser Straßen, der in unserer Gegend sogenannten Watling Street, anschauen sollten. Gut 40 Kilometer weiter nördlich lag am Ufer des Flusses Ribble eine bedeutende römische Wehrsiedlung namens Bremetannicum Veteranum, das heutige Ribchester. Ein silberner Reiterhelm, der dort gefunden wurde, befindet sich heute im Britischen Museum in London.29

Zwar verließen die römischen Legionen Britannien im Jahr 410 unserer Zeitrechnung, doch die anschließende Migrationswelle der „angelsächsischen“ Invasoren hat unsere Gegend an der nordwestlichen Küste wohl erst mit einiger Verzögerung erreicht. Früher glaubte ich fälschlicherweise, der Name eines winzigen Dörfchens in der Nähe von Bolton – Anglezarke, das heute von Stauseen für die Wasserversorgung von Liverpool umgeben ist – sei ein Beleg für das frühe Eintreffen der Angeln. Wie sich herausstellte, lag ich mit meiner Herleitung des Namens falsch – aber immerhin damit hatte ich recht, dass sie irgendwann doch eintrafen und ihre Kultur mitbrachten.

Da sowohl die Römer als auch die Angeln in unsere Gegend eingewandert waren, habe ich mir über die Identität der „echten Eingeborenen“ von Lancashire lange Zeit den Kopf zerbrochen. Wenn sie weder Latein noch Angelsächsisch sprachen – wer waren sie dann? Als Träger des urwalisischen Nachnamens „Davies“ hätte ich vielleicht schon etwas früher darauf kommen können … Die entscheidenden Hinweise geben uns zwei Hügel. Der eine heißt „Pendle“ und der andere, gleich hinter der Grenze nach Yorkshire gelegen, heißt „Pen-y-Ghent“. Pen- ist das walisische Wort für „Kopf“ oder „Gipfel“, und so verraten uns die beiden Namen, dass die „Ureinwohner“ von Lancashire – vor Römern und vor Angelsachsen – wohl keltischsprachige Britonen waren. Sie gehörten zu Wales lange bevor sie zu England oder zu Lancashire gehörten. Die Stadt Lancaster bezieht ihren Namen von der brythonischen (also keltischen) Bezeichnung für den heutigen River Lune, der wenige Kilometer hinter der Stadt in die Irische See mündet; und es ist nicht auszuschließen, dass große Teile der späteren Grafschaft Lancashire sich damals in den Grenzen des frühmittelalterlichen Königreichs Strathclyde befanden, dem Kingdom of the Rock, dessen Schwerpunkt entlang dem River Clyde im heutigen Schottland lag.30

Auch die angeblich so furchterregenden Wikinger haben mich immer fasziniert; schließlich bedeutet ja schon mein eigener Vorname, Norman, so viel wie „Nordmann“ oder eben „Wikinger“. Die Drachenschiffe der Männer aus dem Norden erschienen an den Küsten Britanniens erstmals am Ende des 8. Jahrhunderts; danach siedelten sie sich in Irland und im nördlichen Schottland an (das sie – aus ihrer Perspektive, versteht sich – Sutherland nannten, also „Südland“), in der Gegend von York und auch auf dem Gebiet der heutigen Grafschaft Cumbria. Irgendwann erfuhr ich einmal, dass „Anglezarke“ in Wahrheit auf das altnordische Anlafserg zurückgeht, was so viel bedeutet wie „Anlafs Hügelweide“. (In York regierte einst ein Wikingerkönig namens Anlaf Guthrisson.)

Auch die Normannen, die England im Jahr 1066 eroberten, waren ihrer Herkunft nach „Nordmänner“. Erst wenige Generationen zuvor hatten sie sich, aus Skandinavien kommend, im Norden Frankreichs – der Normandie eben – angesiedelt. Diese mittlerweile Französisch parlierenden Ritter teilten nun also die Äcker und Weiden Englands unter sich auf, und einer von ihnen, Harvey de Walter, ein enger Gefolgsmann von Wilhelm „dem Eroberer“, baute sich eine Burg auf einem Hügel nicht weit von Bolton. Seine Nachfahren führten daraufhin den Nachnamen „De Hoghton“ oder „Houghton“, also etwa „vom hohen Platz“. Einmal habe ich meine Mutter zu einem Ausflug nach Hoghton Tower genötigt; wir mussten etliche Male mit dem Bus umsteigen. Beweise für das Gerücht, Shakespeare hätte einmal auf der Burg Zuflucht gesucht, konnten wir jedoch keine finden – und so bleibt der Besuch von König Jakob I. im Jahr 1617, bei dem dieser (der Legende nach) ein besonders schmackhaftes Stück Rindfleisch als „Sir Loin“ zum Ritter geschlagen haben soll, das einzige geschichtliche Ereignis von nationaler Bedeutung, mit dem Hoghton Tower seitdem in Verbindung gebracht wird.

Die Bewohner des mittelalterlichen England waren demnach nicht annähernd so englisch, wie man uns immer glauben machen wollte. Bolton selbst wurde erstmals 1185 als „Boelton“ urkundlich erwähnt, aber ich habe nie herausfinden können, welche Sprache oder Sprachen die damaligen Old Boltonians wohl gesprochen haben. Das älteste Gebäude der Stadt, ein Fachwerk-Wirtshaus namens Ye Olde Man and Scythe („Zum Alten Schnitter“), ist zwar seit 1251 belegt, aber wer weiß schon, wann dort zum ersten Mal ausgeschenkt wurde – geschweige denn, welchen Namen das Wirtshaus damals trug.

Ein einschneidendes Ereignis der englischen Geschichte war natürlich die Reformation, und der traurige Anblick von Klosterruinen, die als letzte Überreste von der Aufhebung der Klöster unter Heinrich VIII. zeugten, hat mich immer tief bewegt. Als Kind habe ich die Broschüren gesammelt, die das damals für ihren Erhalt zuständige Bauministerium über die einzelnen Klöster veröffentlicht hat; ja, ich schrieb dafür sogar das Ministerium in London an, damit man sie mir zusandte. Die selbst noch als Ruinen großartigen Überreste von Bolton Abbey, die wir auch besucht haben, befinden sich jenseits der Grenze zu Yorkshire. Aber Furness Abbey, das war – trotz der etwas weiteren Entfernung – unser Kloster. Dort erfuhr ich, dass Lancashire eines der Zentren der Pilgrimage of Grace („Pilgerfahrt der Gnade“) gewesen war, eines großen Bauernaufstandes, der sich 1536/37 gegen die Abspaltung der englischen Kirche von Rom richtete. Bei uns im Norden blieb der Katholizismus im Geheimen stark. Eine Biografie des 1970 heiliggesprochenen katholischen Märtyrers Edmund Campion untergrub für mich den Mythos, dass England ein von Natur aus tolerantes Land sei.31

Das Elisabethanische Zeitalter – das letzte, bevor die Zusammenführung der englischen und der schottischen Krone sie zu „Briten“ machte – lieben die Engländer ganz besonders. In Bolton ist von dieser Blütezeit nicht viel zu sehen, ausgenommen vielleicht Teile von Smithills Hall, einem herrlich anzusehenden Tudor-Anwesen mit Fachwerkelementen. Gleichwohl wurden im Sommer 1588 auch auf dem Rivington Pike und anderswo in der Umgebung Signalfeuer entzündet, um vor dem Nahen der Spanischen Armada zu warnen.

Als dann 1642 schließlich der Englische Bürgerkrieg ausbrach, befand sich Bolton fest in der Hand von Cromwells puritanischer Parlamentspartei. Im Mai 1644 war die Stadt Schauplatz eines schrecklichen Massakers, bei dem zweitausend Einwohner von königstreuer Reiterei unter dem Prinzen Ruprecht von der Pfalz geradezu abgeschlachtet wurden. Nach Cromwells Sieg bezahlte der Wortführer der Royalisten am Ort, James, Earl of Derby, für dieses Blutbad mit seinem eigenen Leben. Bevor er auf dem Platz vor dem Wirtshaus enthauptet wurde, soll er sich im Old Man and Scythe ein letztes Mal gestärkt haben. Als meiner Grundschulklasse diese Geschichte erzählt wurde, standen wir alle wie versteinert neben der großen Säule mit dem Marktkreuz, nur wenige Schritte entfernt vom Schauplatz des Geschehens.

Die industrielle Revolution machte Großbritannien binnen Kurzem zur Weltmacht, und was ein echter Boltonian ist, der schwört Stein und Bein, dass dies alles in Bolton begann. Genauer gesagt ist Samuel Crompton (1753–1827), der Erfinder des spinning mule, einer frühen Spinnmaschine, der als einfacher Weber in dem alten, schwarz-weiß gezimmerten Fachwerk-Gutshof von Hall i’th‘ Wood begonnen hatte, in der Stadt so etwas wie ein Lokalheld. Als wir – wiederum auf einem Schulausflug – durch jenes altehrwürdige Haus geführt wurden, in dem Crompton einst seine Erfindung gemacht hatte, sagte man uns, dass zwar die Stadt Bolton dank seiner Spinnmaschine reich geworden, der findige Mann selbst jedoch im Armenhaus geendet sei.

Die familiären Wurzeln meiner Mutter reichten offenbar tiefer in die Stadtgeschichte von Bolton zurück als die meines Vaters – immerhin war ihr Mädchenname „Bolton“ gewesen. Mein Großvater mütterlicherseits, Edwin Bolton, war ein Steinmetz und Baumeister, der im Zuge der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren bankrott ging. Seine Frau, meine Großmutter Elizabeth Isherwood, kam aus einer Familie, über deren Vergangenheit nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wurde. In meiner Eigenschaft als Familienhistoriker kam ich der Wahrheit schließlich irgendwann auf die Spur: In den Unterlagen der Volkszählung von 1861 stieß ich auf einen Major James Slater, der mit dem Dienstmädchen Betty Isherwood unter einem Dach lebte – und zwar auf dem Anwesen der Familie Slater in Egerton ein Stück außerhalb der Stadt (wo übrigens auch der Bolton Wanderers F. C. gegründet wurde). Beider Sohn, James Slater Isherwood, genoss eine hervorragende Erziehung und wurde Anwalt, trank sich dann jedoch in ein frühes Grab. Daher rührten also der lebenslange Einsatz meiner Mutter für die Abstinenzlerbewegung, ihr Streben nach einem gottgefälligen Leben und ihre Zuneigung zu John Bunyan.

Die Ursprünge der Familie meines Vaters, der Davies’, sind sogar noch nebulöser. Mein Großvater väterlicherseits, Richard Samson Davies (1863–1939), war angeblich ein walisisch sprechender Waisenknabe, der im Alter von sechzehn Jahren eines Tages nach Manchester gewandert kam, mit einem Halfpenny in der Tasche und dem Kopf voller Mythen aus der alten Heimat. In der freikirchlichen Gemeinde von Pendleton lernte er Ellen Ashton kennen, die er bald darauf in derselben Kirche heiratete. Ihre Mutter war die unverheiratete Tochter eines Bergmanns. Zusammen verbrachten sie vierzig glückliche Jahre und zogen neun Kinder groß. Im Frühjahr 1901 marschierten sie die 10 Meilen (etwa 16 Kilometer) von Pendleton nach Bolton, mit ihrer ganze Habe in einem schweren Bollerwagen und mit ihren fünf ältesten Kindern im Schlepptau. Ihr sechstes Kind, mein Vater Richard, wurde wenig später in einem winzigen, mittlerweile abgerissenen Reihenhaus in der Ash Street geboren.

Und doch, diesen bescheidenen Anfängen zum Trotz: Die Davies’ kamen voran in der Welt. Großpapa stieg bis zum Geschäftsführer von Hodgkinson & Gillibrand auf, einer Strumpfwarenfabrik in der Lower Bridgeman Street – in Anbetracht seiner Herkunft eine geradezu erhabene Führungsposition. Er kaufte ein (frei stehendes!) Einfamilienhaus, das er nach seiner einstigen Waisenanstalt „Wigmore“ taufte; es war um einiges größer als alles, was ich mir später in dieser Hinsicht leisten konnte. Seine älteste Tochter, Lydia – meine „Tante Sis“ –, ging zum Studium nach Cambridge und sein ältester Sohn, Don, besuchte das traditionsreiche Gymnasium der Stadt, die 1514 gegründete Bolton Grammar School.

Wie die meisten britischen Familien hatten beide, die Davies’ wie die Boltons, unter dem Ersten Weltkrieg schwer zu leiden. Der zweitälteste Bruder meines Vaters, der wie ich Norman Davies hieß, kam im September 1918 um sein junges Leben; er war neunzehn Jahre alt und Pilot. Der älteste Bruder meiner Mutter, James Bolton, war Infanterist bei den Lancashire Fusiliers. Er starb an der Westfront am Morgen des 11. November 1918 – am Tag, an dem der Krieg zu Ende ging.

Neben dem prachtvollen Rathaus von Bolton, der 1873 erbauten Town Hall, war es natürlich der Bolton Wanderers Football Club, der die Herzen der Stadt mit Bürgerstolz füllte. Zusammen mit unserem „Nachbarverein“ Blackburn Rovers gehörten die Wanderers zu den Gründungsmitgliedern der englischen Fußballliga. In den Jahrzehnten vor dem Aufkommen des Fernsehens verwandelte sich ihr Heimatstadion, Burnden Park, einmal in der Woche in ein Fußball-Mekka, eine rein männliche Domäne. Mein Onkel Don, der als Amateur in der Nationalmannschaft spielte, trat dort an, bevor er zu Stoke City wechselte. (Eines seiner früheren Teams waren die „Northern Nomads“ gewesen.) Mein Großvater, Richard Samson, behauptete, er sei an der Außenwand des Wembley-Stadions in London hinaufgeklettert, um den Sieg der Wanderers beim legendären Meisterschaftsfinale von 1923 mitzuerleben. Ich selbst war dann in den Jahren nach 1945 auf der Stehtribüne von Burnden Park zu finden, wo ich all die „großen Namen“ jener Jahre spielen sah – Legenden wie Stanley Matthews, Tom Finney und Wilf Mannion. Der unerschrockene Boltoner Mittelstürmer Nat Lofthouse, der vor seiner Profikarriere in einer örtlichen Kohlengrube geschuftet hatte, war der Held meiner Kindheit.

Im frühen 20. Jahrhundert wurde das Leben in Bolton in vielerlei Hinsicht von den Aktivitäten des berühmtesten Sohnes der Stadt geprägt: dem Industriemagnaten William Lever (1851–1925), der später als Lord Leverhulme geadelt wurde und das Fundament für den noch heute bestehenden, international tätigen Konzern Unilever gelegt hat. Der edle Lord hatte sowohl die Freikirche in der St. George’s Road gestiftet, in der meine Eltern sich kennenlernten und zum Gottesdienst gingen, als auch die 1913 mit Abteilungen für Jungen und Mädchen neu gegründete Bolton School, an der ich selbst Schüler gewesen bin. Lever ist in einem kleinen Haus in der Wood Street geboren, dem Geburtshaus meines Vaters gar nicht unähnlich, und hatte den Grundstein für sein sagenhaftes Vermögen mit der Herstellung und dem Verkauf von Seife der Marke „Sunlight Soap“ gelegt. Als Kinder wurden wir allesamt mit dem Bus in die Nähe von Liverpool kutschiert, wo wir uns pflichtschuldigst das Modelldorf Port Sunlight anschauten. Dort war Levers größte Fabrik, und dort legten die Tanker von Levers Flotte an, die das Kokosöl von seinen Plantagen in Afrika herbeischafften. Vergleichsweise weniger bekannt ist Lord Leverhulmes extravagantes Landhaus, der sogenannte „Bungalow“ mit seinem japanischen Garten, beide mit herrlichem Ausblick über dem Stausee von Anglezarke gelegen. Der Bungalow wurde 1913 von militanten Suffragetten niedergebrannt und danach nicht wieder aufgebaut. Vierzig Jahre später, als ich über das Gelände streunte, konnte man sich noch immer in das völlig verwilderte Gestrüpp schlagen und die Hände voller exotischer Blüten wieder hinauskommen – Überreste der einstigen orientalischen Pracht. Wenn sich aus der Vergänglichkeit aller menschlichen Mühen überhaupt eine Lehre ziehen lässt, dann habe ich diese Lektion dort gelernt.

Mit meinem Aufstieg in die höheren Schulklassen zogen unsere Exkursionen immer weitere Kreise. Während die früheren Sommerlager des Boltoner Pfadfindertrupps Nr. 19 stets innerhalb Großbritanniens stattgefunden hatten, schickte man die Senior Scouts – also die vierzehn- bis achtzehnjährigen Pfadfinder – traditionell ins Ausland. Einem Vergleich mit den „Klassenfahrten“ des Jet-Zeitalters, bei denen die lieben Kleinen beinahe routinemäßig bis nach Nepal, Namibia oder Patagonien verfrachtet werden, hätten unsere Touren sicher nicht standgehalten; und doch waren sie nicht weniger aufregend oder herausfordernd. Innerhalb kurzer Zeit fand ich mich beim Zelten in Luxemburg wieder, wo wir rostige Helme ausgruben – Überreste der blutigen Schlacht in den Ardennen im Kriegswinter 1944/45; in einem Kanu, das die Loire hinabtrieb, während wir die Schlösser entlang des Flusses bestaunten; als Wanderer in den Kärntner Alpen nahe der jugoslawischen – heute slowenischen – Grenze; und beim Bergsteigen in Tirol, wo uns im Morgengrauen ein Bergführer auf den Dachsteingletscher brachte, der erst kurz zuvor aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war. Dieser kräftige Tiroler erzählte uns seine Geschichte, während wir am Rand des Gletschers ein karges Frühstück zu uns nahmen. Das öffnete mir die Augen für die andere, mir zuvor völlig unbekannte Seite des Zweiten Weltkriegs. Als junger Bursche etwa in unserem Alter war er zur Wehrmacht eingezogen worden, bei Stalingrad in Gefangenschaft geraten und hatte in einem sibirischen Arbeitslager dem Tod ins Auge geblickt. Die meisten anderen Gefangenen hatten die Strapazen nicht überlebt. Gerettet hatten ihn seine robuste Konstitution sowie die Überlebenstechniken, die er schon in jungen Jahren gelernt hatte – und zwar in einer raueren Umgebung als dem Winter Hill.

Etwa um dieselbe Zeit begann ich auch, ein Notizheft zu führen, in dem ich meine Lieblingszitate festhielt. Dort finden sich bereits all die Autoren, die einen prägenden Einfluss auf mich hatten: Shakespeare, Hobbes, Michelet, Macaulay, Milton, Vidal de La Blache (der Begründer der Humangeografie), Bacon, Platon, Aristoteles, Gibbon, Augustinus, Blake, Byron, Shelley, Keats, Lamartine, Donne, Gray, Carlyle, Mill, Hazlitt und viele andere mehr. Einer der ersten Einträge, datiert „August 1955“, ist ein Cobbett-Zitat:

Gott hat uns das beste Land der Welt geschenkt; unsere tapferen und weisen und tugendhaften Vorväter … haben uns die beste Regierung auf der ganzen Welt geschenkt – und wir, ihre feigen und törichten und liederlichen Söhne, haben dieses einstige Paradies zu dem gemacht, als das es heute vor uns steht!32

Zum Zeitpunkt der letzten Einträge hatte ich gerade Gibbons monumentales Geschichtswerk vom Verfall und Untergang des Römischen Imperiums ausgelesen:

Wenn die christlichen Apostel, Petrus und Paulus, nach dem Vatikan zurückkehren könnten, dürften sie möglicherweise nach dem Namen der Gottheit fragen, die mit so geheimnisvoller Zeremonie in diesem prachtvollen Tempel verehrt wird …33

Beide Autoren schienen mir sagen zu wollen, dass es mit der Welt beständig bergab gehe.

Unweigerlich enthielt meine recht eklektische Sammlung von Gedichtbänden auch etliche Werke, die mit Reisen und insbesondere mit der Reise auf dem Lebensweg zu tun hatten. Wie so oft, sind auch in diesem Punkt die Beobachtungen Shakespeares von kaum zu überbietender Prägnanz:

Weary with toil, I haste me to my bed,

The dear repose for limbs with travel tired,

But then begins a journey in my head,

To work my mind when body’s work’s expired.

For then my thoughts (from far where I abide)

Intend a zealous pilgrimage to thee,

And keep my drooping eyelids open wide,

Looking on darkness which the blind do see …

Wenn ich, erschöpft von Mühsal, ruhen will,

die müden Augen fallen mir nicht zu;

ach, dann ist’s erst in meinem Kopf nicht still:

der Leib will Ruh, der Geist gibt keine Ruh.

Denn dich sucht bald er in der weiten Ferne,

in die es ihn mit frommem Sehnen zieht.

Vergebens aber leuchten Augensterne

durch jenes Dunkel, das der Blinde sieht …34

Es ist, als ob Shakespeare dreihundert Jahre vor Rainer Maria Rilke eine Einsicht gehabt hätte, die oft Rilke zugeschrieben wird: „Die einzige Reise ist die innere.“ Rilke, auf den ich erst viel später traf, hat überhaupt sehr wortgewaltig über den Effekt geschrieben, den das Reisen auf den Reisenden hat, etwa in seinem späten Gedicht Spaziergang:

Schon ist mein Blick am Hügel, dem besonnten,

dem Wege, den ich kaum begann, voran.

So faßt uns das, was wir nicht fassen konnten,

voller Erscheinung, aus der Ferne an –

und wandelt uns, auch wenn wirs nicht erreichen,

in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind;

ein Zeichen weht, erwidernd unserm Zeichen …

wir aber spüren nur den Gegenwind.35

Robert Louis Stevenson (1850–1894), dessen Romane Die Schatzinsel und Entführt echte Lieblingsbücher meiner Jugend waren, kam als Reisender so weit herum, dass er nie wieder heimkehrte: Begraben liegt er auf einem Berggipfel der samoanischen Insel Upolu, weit draußen im Pazifik. Ferne Länder erfüllten ihn mit einer geradezu kindlichen Begeisterung, wie man in seinem Gedicht Travel („Das Reisen“) noch heute spüren kann:

I should like to rise and go

Where the golden apples grow;

Where below another sky

Parrot islands anchored lie,

And, watched by cockatoos and goats,

Lonely Crusoes building boats;

Where in sunshine reaching out

Eastern cities, miles about,

Are with mosque and minaret

Among sandy gardens set,

And the rich goods from near and far

Hang for sale in the bazaar …

Where are forests hot as fire,

Wide as England, tall as a spire,

Full of apes and cocoa-nuts

And the [native] hunters’ huts;

Where the knotty crocodile

Lies and blinks in the Nile,

And the red flamingo flies

Hunting fish before his eyes,

Where among the desert sands

Some deserted city stands,

All its children, sweep and prince,

Grown to manhood ages since,

Not a foot in street or house,

Not a stir of child or mouse,

And when kindly falls the night

In all the town no spark of light.

There I’ll come when I’m a man

With a camel caravan …

Wie gern ging ich, jetzt und gleich

nach der goldnen Äpfel Reich,

wo fern unter fremden Himmeln

Papageieninseln wimmeln

und wo – beäugt von Kakadus

und Ziegen – einsame Crusoes

still an ihren Booten schnitzen;

wo östlich-reiche Städte blitzen

in der Sonne, meilenweit,

mit Moscheen in Gärten breit;

wo Minarette prunken

und Flotten kleiner Dschunken

verführerische Waren bringen,

einen Basar von manchen Dingen …

Wo Wälder ragen, himmelhoch

und ewig fern, und schwüler noch;

voll Affenrasen, Kokosnüssen,

wo eingeborne [Jäger] grüßen;

wo das garst’ge Krokodil

liegt und blinzelt in dem Nil

und der Zwergflamingo fliegt,

weil Fischjagd ihm am Herzen liegt

Wo irgendwo im Wüstensand

einst eine Stadt (nun wüst) entstand,

deren Kinder – Bettler, Prinzchen –

schon lange nicht mehr Mann noch Kind sind;

in keiner Straße, keinem Haus

rührt sich Kind noch oder Maus.

Und wenn gütig dann die Nacht

heranbricht – nichts! Nicht eine Kerze wacht.

Dahin komm’ ich einst als Mann

per Kamelkarawane an …36

Charles Baudelaire (1821–1867), der, ähnlich wie Stevenson, sein Leben lang an diversen Krankheiten litt, war ebenfalls ein Wortschmied von beinah magischem Geschick. Immer wieder hörte ich als Student von seinen poetischen Heldentaten, meist von Freundinnen – Margaret, Helen oder Jenny –, die für moderne Fremdsprachen eingeschrieben waren. Mit seinem Gedichtband Die Blumen des Bösen (Les Fleurs du mal, 1857) handelte Baudelaire sich einen Gerichtsprozess wegen „Verletzung der öffentlichen Sittlichkeit“ ein, und schon als junger Bursche war er von seinem Stiefvater auf eine lange Reise nach Indien geschickt worden, die seine angebliche Arbeitsscheu heilen sollte. Diese Erfahrung änderte zwar nichts an Baudelaires eigensinnigem Verhalten, aber er dachte doch gern und merklich begeistert daran zurück:

Pour l’enfant, amoureux de cartes et d’estampes,

L’univers est égal à son vaste appétit.

Ah! que le monde est grand à la clarté des lampes!

Aux yeux du souvenir que le monde est petit! …

Dites, qu’avez-vous vu?

Dem Kind verliebt in Stiche und Atlanten

Genügt das All zu Hungers Sättigung.

Wie groß sahn wir die Welt, wenn Lampen brannten,

Und, ach! wie klein sieht sie Erinnerung.

Ein Tag bricht an …im Hirne Flammen gaukeln …

Die Brust brennt Groll und Sehnens Bitterkeit …

Wir ziehn und tragen nach der Woge Schaukeln

Unendlich Herz in Meeres Endlichkeit.

Allein die echten Wandrer sind, die gehen,

Um fortzugehn; sie weichen nie vom Plan

Des Schicksals ab, und wenn die Winde drehen,

Ruft, unbewußt warum, ihr Herz: „Wohlan!“

Ein Segler nach Ikarien ist die Seele.

„Habt acht“, ruft einer von dem Mittelschiff.

Vom Mars ein andrer, Wahnsinn in der Kehle:

„Glück … Liebe … Ruhm!“ Zum Teufel, s’ist ein Riff …

Ihr mächtigen Wandrer, welche Abenteuer

Sehn wir auf eurer Augen Meeresgrund!

Tut auf den Schrein Erinnerns! Welch ein Feuer

Geschmeids aus Stern und Düften wird uns kund!

Was saht ihr denn! O sagt! …37

Auch ich war eines von jenen Kindern gewesen, von denen Baudelaire schreibt, „verliebt in Stiche und Atlanten“; auch ich war so begierig wie wohl jedes Kind gewesen, von den Abenteuern aus dem Erinnerungsschatz der Reisenden zu hören.

Als ich auf meinem Lebensweg dann, im Alter von zwanzig Jahren, endlich bei der Divina Commedia ankam, musste ich zu meiner Überraschung feststellen, dass Dante für Odysseus, den