INSEKTOID - Gernot Schatzdorfer - E-Book

INSEKTOID E-Book

Gernot Schatzdorfer

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Beschreibung

Die junge Raumschiffpilotin Ines lebt in einem rauen Universum. Mafiabanden kontrollieren Raumstationen und ganze Planeten, und im Weltall lauern Piraten. Ines überlebt nur knapp eine Bruchlandung auf einem verlassenen Planetenstützpunkt und verliert dabei all ihre Crewkameraden. Ganz auf sich gestellt muss sie lebensgefährliche Bedrohungen abwehren. Sie findet aber auch unerwartete Freunde, und sie lernt eine neue Welt kennen, eine Welt intelligenter Insektoiden. Auf einmal ist sie mit ungewohnten Fragen konfrontiert: * Wie erleben Heuschrecken Freundschaft, Liebe und Sex? * Wie kommt die Schwarmintelligenz eines Ameisenvolkes zu ihren Entscheidungen? * Wie kann man verhindern, dass die Menschheit von Schwärmen bewaffneter Rieseninsekten überrannt wird? * Ist friedliches Zusammenleben so unterschiedlicher Spezies überhaupt möglich? Aber Ines' gefährlichster Widersacher ist kein insektoides Wesen, sondern ein Mensch. Genau genommen ein Mann, und noch dazu ein äußerst attraktiver.

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Gernot Schatzdorfer

INSEKTOID

AndroSF 163

Gernot Schatzdorfer

INSEKTOID

AndroSF 163

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: Dezember 2023

p.machinery Michael Haitel

Titelbild & Illustrationen: Klaus Brandt

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat: Kai Beisswenger

Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 318 5

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 786 2

Teil 1: Lotosblüte

1 | Anflug

»Bremsraketen zünden!«, brüllte Jean. »Volle Kraft!«

Ines schrie zurück: »Versuch ich ja, Käpt’n! Die Steuerung ist tot. Nichts reagiert!«

Mit einem Höllentempo durchpflügte das Raumschiff die Atmosphäre des Planeten Pitcairn. Draußen zischte die Luft mit ohrenbetäubendem Tosen vorbei. Die Außenhaut begann zu glühen, im Cockpit wurde es schon unangenehm heiß. Jean bearbeitete hastig die Kontrollen.

»So, Sekundärsystem aktiviert. Wenigstens die Steuerdüsen sollten jetzt wieder funktionieren. Reicht dir das, Ines?«

»Ich hoffe!« Die Pilotin atmete auf, als die Steuerung wieder ansprach. »Ohne die Haupttriebwerke muss ich aerodynamisch herunterbremsen und über den Anstellwinkel steuern. Es wird etwas holprig werden, aber ich werde uns schon …..«

Ihr verschlug es die Sprache, als die enormen g-Kräfte sie in ihren Sitz pressten. Laufend korrigierte sie die Fluglage. Sie musste sich auf ihr Fingerspitzengefühl verlassen, für einen computergesteuerten Anflug fehlten die Daten. Der Systemausfall hatte einen Großteil der Sensoren lahmgelegt.

Nach bangen Minuten rief Jean: »Die Oberfläche!«

Sie rasten über zerklüftetes Bergland, bis endlich ihr Ziel in Sicht kam, der Stützpunkt Pitcairn 1, der am Rand einer kahlen Ebene lag. Im näheren Umkreis des Gebäudes erkannte Ines zahlreiche geparkte Raumfahrzeuge.

»Ich bremse mit Bodenreibung!« Sie drückte den Steuerknüppel bis zum Anschlag nach vorn. Kreischend schrammten die Landekufen über den Untergrund. »Scheiße, wir sind zu schnell!« Das Schiff streifte eines der Raumschiffe und geriet ins Schleudern. Es drehte sich einige Male, ehe es mit dem Heck voraus ein weiteres Shuttle rammte und zum Stillstand kam.

»Wir sind da, Jean! Wie sieht es aus?«

Der Kommandant rief die anderen Besatzungsmitglieder über den Bordfunk: »Paolo, Shiro, bitte melden! Statusbericht!«

Paolos Stimme tönte aus den Kopfhörern: »Ich bin okay, ich konnte mich gerade noch anschnallen, als der Höllenritt losging. Ist bei euch da vorn alles in Ordnung?«

»Ines und ich haben es überstanden«, antwortete Jean. »Hast du was von Shiro gehört?«

»Nein, sie war nicht bei mir, sie wollte kurz in ihre Kabine.«

»Ich sehe nach.« Ines löste ihren Gurt und lief los. Nach wenigen Schritten erreichte sie die Kabine mit der Aufschrift Shiro Nakashi. Die Tür war verklemmt und öffnete sich erst nach kräftigem Rütteln. Drinnen bot sich ein Bild des Grauens. Shiro hatte es nicht mehr geschafft, sich zu sichern. Überall Blut! Bei der Bruchlandung war Shiro kreuz und quer durch die kleine Kammer geschleudert worden. Nun lag sie reglos auf dem Boden. Ines schrie auf: »Shiro! Nein!«, und begann sofort mit der Wiederbelebung. Einen Moment später meldete sich Jean: »Alarm! Brand beim Treibstofftank! Wir müssen raus, in ein paar Minuten geht alles in die Luft!«

»Aber Shiro lebt noch, wir müssen sie mitnehmen!«, keuchte Ines zwischen zwei Beatmungen.

»Vergiss es!«, rief Jean. »Dann sterben wir alle. Scheiße, aber es muss sein. Komm, Ines, mach den Helm zu und lauf!«

Ines verweigerte den Befehl des Kapitäns und versuchte weiterhin verzweifelt, Shiro zu retten. Paolo und Jean zerrten sie aus der Kabine.

Auf dem Gang kam ihnen beißender Qualm entgegen. Ines schloss ihren Helm. Sie blickte zurück und sah züngelnde Flammen. Panisch hetzte sie auf die Ausstiegsluke zu, die Jean inzwischen geöffnet hatte. Er stand schon draußen, winkte ihr zu und rannte los. Ines sprang hinunter und folgte ihm.

Im Funkgerät hörte sie Paolos Stimme: »Verdammter Mist!«

Sie blickte zurück und sah ein klaffendes Loch an Paolos Raumanzug. Jean rief: »Halt durch, Paolo! Du schaffst es!«

»Geht nicht, keine Luft! Lauft weiter, rettet euch. Kümmert – euch – nicht …..«

Der Sauerstoff, der aus Paolos Anzug zischte, traf auf eine glimmende Treibstoffpfütze. Eine riesige Stichflamme züngelte hoch und hüllte Paolo ein. Er brachte noch ein kurzes, gurgelndes Krächzen hervor, ehe er brennend zusammenbrach.

»Nein!« Mit einem lang gezogenen Schrei rannte Ines hinter Jean her, der hinter einem anderen Raumfahrzeug Deckung suchte. Beide stürzten nieder, im nächsten Augenblick explodierte ihr Schiff. Stechender Schmerz durchzuckte Ines’ Ohren, denn ihr Helm konnte den donnernden Knall kaum dämpfen. Weitere Detonationen folgten, brennende Trümmer flogen durch die Luft und schlugen auch in ihrer Nähe ein. Sie kauerten sich noch näher an den schützenden Raumschiffsrumpf, bis das grausige Feuerwerk vorüber war.

Ines schluchzte leise. »Sie sind tot. Shiro. Paolo. Alle tot.«

»Ja, verdammt!« Jean kämpfte mit den Tränen und flüsterte: »Welcher Kommandant verliert schon gern seine Crew? Und welcher Mensch verliert schon gern seine Freunde!«

Schweigend saßen sie auf dem Boden, bis sich Jean einen Ruck gab. »Ines, wir müssen weiter, sonst sterben wir auch noch.«

»Wäre das so schlimm? Wäre es nicht besser gewesen, wenn es uns gleich erwischt hätte?«

»Nein!« Jeans Trauer wandelte sich in Wut. »Jetzt reicht es mit den Toten! Dieser Scheißplanet hat uns schon zwei Leute genommen. Nein, den Gefallen tun wir ihm nicht. Wir werden leben! Komm, Ines, wir gehen zum Stützpunkt, hier draußen reicht unser Sauerstoff nicht mehr lang.«

2 | Bedrohung

»Gut!« Ines kam endlich zur Ruhe. Es war ihnen gelungen, die Systeme des leer stehenden Stützpunkts hochzufahren. »Alles da, Lebenserhaltung, Sauerstoff, Strom, Licht.«

»Zumindest hier in der Kommandozentrale«, wandte Jean ein. »Und wer weiß, wie lange! Die ganze Station macht doch einen ziemlich heruntergekommenen Eindruck und die Anzeigen vom Generator wirken auch nicht wirklich vertrauenerweckend.«

»Du hast recht, in den anderen Teilen der Station sieht es ziemlich finster aus. Wir können nur hoffen, dass wir durchhalten, bis wir von hier wegkommen.«

»Das könnte schwierig werden. Unser Raumschiff ist ein Trümmerhaufen, genauso wie die anderen Wracks da draußen.«

»Denen wird es so gegangen sein wie uns. Ausfall der Bordsysteme. Diese verfluchten Ionenstürme! Dass der Zentralstern hier im Eruptor-System zu solchen Hustenanfällen neigt, haben sie uns ja gesagt. Aber dass es so schlimm kommen würde …..«

»Ja, ich hätte den Job doch nicht übernehmen sollen. Es war ein Himmelfahrtskommando.«

»Oder besser gesagt ein Höllenritt, wie Paolo so treffend …..« Ines konnte nicht weitersprechen, sie seufzte tief und murmelte nur: »Ach, Paolo! Shiro!«

Auch Jean atmete schwer. »Ich hätte auf mein Gefühl hören sollen.«

»Und ich habe dir noch zugeredet, den Auftrag anzunehmen!«

»Du hattest ja recht, für diese Bezahlung hätten wir anderswo mindestens drei Einsätze fliegen müssen. Und mit dir hatte ich die beste Pilotin weit und breit an Bord.«

»Aber jetzt sitzen wir hier in einem desolaten Planetenstützpunkt fest und …..«

»Pst!«, unterbrach Jean sie. »Hast du das gehört?«

Ines lauschte und schüttelte den Kopf. »Ich höre nichts. Bist du sicher?«

»Ich weiß nicht …..« Er hielt inne, aus den Gängen ertönte ein fernes Scheppern, wie von einem über den Boden kullernden Blechbehälter.

Ines wagte nicht, zu sprechen. Versteckte sich hier jemand? Hatten sich Piraten oder anderes Gesindel einquartiert? Oder war das ein Tier gewesen?

Sie hörten keine weiteren Geräusche mehr. Beide waren völlig erschöpft, deshalb beschlossen sie, sich in der Zentrale schlafen zu legen. Jean übernahm die erste Wache, sie wollten sich im Zweistundentakt abwechseln. Ines befürchtete, wegen ihrer inneren Unruhe wach zu bleiben, fiel aber binnen weniger Minuten in tiefen Schlaf.

Nach ihrem Empfinden war sie eben erst eingeschlafen, als Jean sie weckte. Ihre erste Wache war furchtbar. Wirre, düstere Gedanken kreisten in ihrem Kopf. Die Lage schien aussichtslos, der Tod ihrer Crewkameraden machte ihr zu schaffen, dazu kam die Angst vor einer unbekannten Bedrohung aus den finsteren Gängen des Stützpunkts. Sie hatte ständig das Gefühl, beobachtet zu werden.

Nach einiger Zeit wurde dieser Eindruck übermächtig. Sie schlich zur geschlossenen Schiebetür, in die oben ein Sichtfenster eingelassen war, und lugte vorsichtig auf den Korridor hinaus. Drinnen wie draußen war es nahezu stockdunkel, doch sie vermeinte, einen Schatten zu erkennen, der sich langsam entfernte. Die geheimnisvolle Erscheinung war groß, sie hätte sogar den hochgewachsenen Jean deutlich überragt. Noch mehr irritierte Ines, dass der schemenhafte Umriss breiter war als hoch. Es war eindeutig kein Mensch.

Als das unheimliche Phänomen verschwunden war, weckte sie Jean und erzählte ihm, was sie gesehen hatte. Er rieb sich schlaftrunken die Augen und sagte: »Du wirst wohl eingenickt sein und das Ganze nur geträumt haben. Unsere Nerven liegen einfach ziemlich blank. Die Geräusche habe ich zwar auch gehört, aber ich vermute eher, dass sich da ein Mensch versteckt.«

Ines glaubte nicht an einen Traum, zu deutlich war das Erlebte gewesen. Die nächsten Wachen verliefen ereignislos, sie waren lediglich langweilig und deprimierend. Auch Jean bemerkte in der Nacht, die auf Pitcairn etwas kürzer war als auf der Erde, nichts Außergewöhnliches mehr.

Am Morgen fühlte sich Ines wie gerädert. Jean hingegen machte einen ausgeruhten Eindruck. Mit entschlossenem Blick rief er aus: »So, jetzt reicht’s! Wer auch immer da draußen herumgeistert, den schnappe ich mir!« Zielstrebig hielt er auf eine Ecke der Kommandozentrale zu und schob eine unscheinbare Abdeckklappe zur Seite, wobei eine Zifferntastatur zum Vorschein kam. Er tippte eine längere Zahlenkombination ein, und sofort öffnete sich ein geräumiger Hohlraum, dem Jean ein Lasergewehr von beeindruckender Größe entnahm.

Ines sah ihm zu, schwieg und staunte. Jean bemerkte ihren verwunderten Blick und sagte: »Die geheime Notfall-Waffenkammer! Nur Führungsoffiziere werden darüber informiert. Als ich mein erstes Kommando übernahm, haben sie mir den Code verraten, der fast überall auf Raumschiffen und planetaren Stützpunkten verwendet wird. Ich bin froh, dass er hier auch funktioniert.«

Ines nickte. Jean reichte ihr seine Handwaffe und fuhr fort: »Halt du damit hier die Stellung, ich schaue mich in den Gängen um.«

»Sollten wir nicht besser zu zweit gehen?«

»Lieber nicht, wenn es eine Falle gibt, tappen wir beide hinein, und niemand ist übrig, um den anderen herauszuholen. Ich werde im Raumanzug gehen, damit ich nicht ersticke, wenn die Luftversorgung ausfällt. Ich halte über Helmfunk mit dir Kontakt, wir werden Kanal 32 verwenden.«

Dieser Funkkanal war verschlüsselt, hatte aber den Nachteil, dass er keine Bilder von der Helmkamera übertrug.

Jean ging los und war bald außer Sicht. Kurze Zeit später meldete er sich: »Zuerst sehe ich mir die Vorratsmodule an. Die sind nicht nur für uns lebenswichtig, auch unser Bösewicht muss von etwas leben. Ich könnte ihn also dort erwischen. Hier ist die Beleuchtung verdammt schlecht, ich muss die Helmlampe einschalten. Es sieht ziemlich wüst aus, allerhand Schrott liegt im Gang herum, die Wandverkleidungen sind aufgerissen, überall hängen Kabelstränge heraus. Ein Wunder, das hier überhaupt noch was funktioniert.«

Er schwieg eine Weile, dann flüsterte er: »Ich glaube, da ist was.«

Ines hörte, wie sich seine Schritte beschleunigten. Seine Atmung wurde schneller. Plötzlich durchbrach er das Schweigen mit einem Aufschrei, erfüllt von Entsetzen und Schmerz. Er schrie noch zweimal, dann riss die Verbindung ab.

Ines rief verzweifelt ins Mikrofon: »Käpt’n! Jean! Melde dich! Was ist los? Jean! Jean! Bitte!«

Der Kopfhörer blieb stumm. Mit zitternden Händen umklammerte Ines die Waffe und machte sich auf den Weg. Ängstlich sah sie sich nach allen Seiten um, während sie immer weiter in die düsteren Korridore vordrang. Sie wusste schon längst nicht mehr, welche Abzweigungen sie genommen hatte oder ob sie gar im Kreis gegangen war, als sie im Zugang zu einem Vorratslager erstarrte.

Was für ein grauenhafter Anblick!

Auf dem Boden lag Jean. Sein Raumanzug war zerfetzt und blutüberströmt, der Helm lag daneben, und der Kopf hing in einem unnatürlichen Winkel am Körper. Er schien nahezu abgetrennt zu sein.

Ines brach zusammen. Die Waffe glitt ihr aus der Hand. Auf dem Boden liegend, übergab sie sich, von heftigen Krämpfen geschüttelt. Dann rollte sie sich wie ein Embryo zusammen und stieß schluchzend hervor: »Hol mich, du Teufel! Hol mich doch auch! Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr! Mach ein Ende!«

Doch die Bestie, die Jean so schrecklich zugerichtet hatte, ließ sich nicht blicken. Irgendwann zog sich Ines mehr kriechend als gehend in die Zentrale zurück. Sie schaffte es gerade noch, alle Eingänge zu verriegeln, ehe tiefer, ohnmachtsähnlicher Schlaf sie überwältigte.

3 | Verfolgung

Sie wusste nicht, wie lang sie geschlafen hatte, als sie durch lautes Kratzen und Knirschen an einer der Seitentüren aufgeschreckt wurde. Sie fuhr verwirrt hoch. Erst einige Sekunden später war die Erinnerung an die schrecklichen Ereignisse wieder da. Was konnte sie tun? Sie fühlte sich schutzlos. Jeans Waffen lagen nahe seiner Leiche irgendwo da draußen. Sie griff sich einen herumliegenden langen Schraubenschlüssel, um sich wenigstens irgendwie zur Wehr setzen zu können, warf ihn aber zornig wieder weg, als sie sich an Jeans Verletzungen erinnerte. Gegen so einen Feind kam ihr diese Behelfswaffe nur lächerlich vor.

Das Kratzen hörte auf und machte leiseren Geräuschen Platz, die Ines mit noch größerer Angst erfüllten. Es schien, als hätte jemand draußen die Abdeckplatte heruntergerissen und machte sich am Schließmechanismus der Tür zu schaffen. Sie würde nicht mehr lang standhalten.

Ines öffnete den Ausgang zum Hauptkorridor und rannte hinaus. Sie konnte nur hoffen, dass sie nicht von mehreren Gegnern eingekreist war. Hinter sich hörte sie das Zischen einer sich öffnenden Schiebetür und beschleunigte ihren Lauf. Weil sie noch keinen Lageplan des Stützpunkts im Kopf hatte, wählte sie die Route intuitiv. Einmal wandte sie sich kurz um und sah eine große Gestalt an der Kreuzung auftauchen. Ehe sie Genaueres erkennen konnte, rannte sie weiter.

Endlich fand sie Jean. Sie steckte die Handwaffe ein und packte das Lasergewehr. Dann drehte sie sich um. An der Kreuzung lugte etwas um die Ecke, zog sich aber gleich wieder zurück, als Ines die Stelle unter Beschuss nahm. Ines rief: »Ha, jetzt scheißt du dich einmal an vor Angst. Ich kriege dich!« Sie lief los. An der Kreuzung angekommen, konnte sie noch einen Blick auf ihren fliehenden Gegner erhaschen, vermochte im düsteren Korridor aber keine Einzelheiten zu erkennen. Immerhin hatte sie gesehen, welche Abzweigung der unbekannte Feind genommen hatte, und rannte hinterher.

Nach einer weiteren Biegung hielt sie abrupt an. Das fremde Wesen hatte sich, in eine Sackgasse getrieben, ihr zugewandt. Endlich sah sie, womit sie es zu tun hatte. Es war ein riesiges, insektenähnliches Monster, ähnlich einer graugrünen Heuschrecke. Ines hob langsam das Lasergewehr. Das Ungeheuer rührte sich nicht, gab aber zischende und zirpende Laute von sich. Ines erkannte eine Struktur in den Geräuschen, eine sich wiederholende Abfolge. Es klang wie »N’cht sch’ß’n!«

Ines stutzte. »Nicht schießen!« Konnte dieses Alienmonster sprechen? Ein Impuls, den sie selbst nicht verstand, hielt sie davon ab, sofort eine Salve auf das Untier abzufeuern. Sie hielt die Waffe auf den Kopf des Wesens gerichtet und schrie: »Du hast ihn umgebracht! Du hast ihn zerfleischt! Warum? Was willst du? Ich will Antworten!«

»N’tw’r! Notwehr!«, zirpte das Insekt. »Ich musste ihn töten, um zu überleben.« Die Heuschrecke behauptete in knisternder, aber deutlich verständlicher Sprache, Jean habe ohne Vorwarnung geschossen, sie aber knapp verfehlt, und wies auf einen schwarz verschmorten Fleck an ihrer Flanke. In ihrer Todesangst habe sie sie sofort zugeschlagen, eine zweite Chance hätte sie nicht gehabt.

Ines zweifelte daran, dennoch war sie nach wie vor unfähig zu schießen. Dabei saß die monströse Kreatur in der perfekten Falle. Unmittelbar hinter ihr führte der Ausgang einer Luftschleuse in die giftige Atmosphäre Pitcairns. Wenn das sprechende Heuschreckenmonster draußen lebensfähig gewesen wäre, hätte es längst das Weite gesucht. Ines rief: »Keine Bewegung! Bleib, wo du bist!« Sie trat vorsichtig ein paar Schritte zurück und drückte das massive Innenschott der Luftschleuse zu. Damit saß das Wesen fest.

Ines spürte, wie ihre Anspannung nachließ, nachdem die unmittelbare Gefahr gebannt war. Umso deutlicher wurde ihr ihre Erschöpfung bewusst. Wieder schleppte sie sich zu ihrem Lager in der Kommandozentrale und rollte sich zum Schlafen zusammen.

Ein stechender Schmerz am Bein riss sie aus ihrem Schlummer. Im Reflex schlug sie mit der Hand nach unten und erwischte etwas Pelziges. Ein Tier quiekte auf und floh.

Ines verfluchte ihr Schicksal. Konnte nicht einmal endlich Schluss sein? Nein, hier gab es noch weitere heimtückische Kreaturen. Hastig desinfizierte sie die blutende Bisswunde an ihrem Schenkel. Inzwischen war ihre depressive Verzweiflung einem zähen, trotzigen Überlebenswillen gewichen. Sie hatte sich gegen ein riesenhaftes Monster behauptet, mit diesem lästigen Kleinvieh würde sie auch noch fertig werden.

Doch wie sollte es weitergehen? Wie würde sie sich so ganz allein gegen die Bedrohungen dieses ungastlichen Ortes schützen können? Sie sehnte sich nach dem Schutz einer Gemeinschaft. Schon zu zweit, zusammen mit Jean, hätte sie viel bessere Chancen gehabt. Doch hier gab es außer ihr nur noch …..

Nein, diese Idee war zu bizarr! Sollte sie tatsächlich versuchen, mit diesem insektoiden Monster eine Notgemeinschaft zu bilden? Wie sollte sie einem Wesen trauen, das den einzigen Menschen, der ihr verblieben war, auf bestialische Art getötet hatte? Konnte das tatsächlich Notwehr gewesen sein? Ines beschloss, sich zu überwinden und sich Jeans Leichnam noch einmal anzusehen.

Als sie dort angekommen war, schreckte sie mit einem Aufschrei zurück. Das Fleisch des Toten war an vielen Stellen bis auf die Knochen abgefressen. Das Gesicht war so gut wie nicht mehr vorhanden. Jetzt bereute sie, dass sie Jean nicht schon früher auf eine würdevolle Art beigesetzt oder zumindest vor derartiger Entstellung geschützt hatte. Nun würde sie nicht mehr feststellen können, ob Jeans tödliche Verletzungen nur mit Notwehr zu erklären waren.

Da fiel ihr Blick auf seinen Helm, der immer noch in der Ecke lag. Die Helmkamera hatte über den verschlüsselten Kanal zwar keine Bilder senden können, verfügte aber über einen großen Zwischenspeicher. Vielleicht war sie eingeschaltet gewesen und hatte das Geschehen aufgezeichnet.

Mit dem Helm unter dem Arm verließ sie den grauenvollen Ort. In der Zentrale spielte sie die Aufzeichnung ab. Ines hatte richtig vermutet. Die Kamera war die ganze Zeit gelaufen, bis zu Jeans Tod und sogar darüber hinaus. Die Bilder waren zwar dunkel, unscharf und verwackelt, bestätigten aber in allen Details die Aussage des Heuschreckenwesens. Jean hatte tatsächlich ohne Vorwarnung geschossen, die Attacke, die ihn getötet hatte, war reine Notwehr gewesen.

Ines grübelte lang hin und her. Sie würde sich mit dem gefangenen Insektoiden noch ausführlich unterhalten müssen.

4 | Sri

Jennifer. Was für ein widerlicher Name! Schon der Klang hatte etwas Derbes, Grobschlächtiges. So war die Sklavin von ihren Unterdrückern genannt worden. Doch sie hatte für sich selbst schon längst einen angemesseneren Namen gewählt. Sie hatte sich Sri genannt. Sklavenhalter hatten sich schon immer das Recht der Namensgebung herausgenommen, auch als perfide Methode, die ohnehin geschundene Identität der Unterworfenen vollends zu zerstören. Sri weigerte sich, dies zu akzeptieren. Sie konnten mit ihren Elektroschockern, mit Nahrungsentzug und all den anderen grausamen Disziplinierungsmaßnahmen lediglich äußerlichen Gehorsam erzwingen, ihre Seele würden sie nicht brechen. Niemals!

Ein eindringlicher Ton riss sie aus ihrem Sinnieren. Der akustische Alarm wurde durch die aufflammenden Warnlampen ergänzt, sogar hier im heißen und strahlengefährdeten Reaktorsegment des Raumschiffs, wohin sie zu Wartungsarbeiten geschickt worden war. In diesem Bereich wurde die insektoide Sklavin bevorzugt eingesetzt, weil sie als besonders strahlungsresistent galt. Man hatte Sri für Routinehandgriffe eingeschult, doch ihre Herren wussten nicht, dass sie über enorme technische Begabung verfügte und sich heimlich ein umfassendes Ingenieurswissen angeeignet hatte. Mühelos klinkte sie sich ins Schiffsnetz ein und hörte mit, was auf der Brücke gesprochen wurde.

»Scheiße, ein Ionensturm oder so was! Die Elektronik ist komplett im Arsch!«

Eine andere Stimme erwiderte: »Handsteuerung geht noch. Ich muss aber ziemlich steil runtergehen.«

Die Verbindung brach ab. Sri fragte die Sensordaten ab, der einzige noch funktionierende Höhenmesser zeigte raschen Sinkflug an, es war beinahe ein Absturz. Sie suchte schnell einen Platz, wo sie sich festklammern konnte. Sekunden später schlug das Raumschiff mit ohrenbetäubendem Krachen auf. Glücklicherweise waren die tragenden Strukturen im Maschinentrakt besonders stabil und hatten den Aufprall gut überstanden. Auch Sri war unverletzt geblieben. Allerdings füllten sich die Gänge rasch mit Rauch, aus anderen Teilen des Schiffs waren Explosionen zu hören. Sri eilte auf den seitlichen Notausgang zu, der noch am ehesten intakt sein würde.

Doch sie war nicht die Einzige mit dieser Einschätzung. Knapp vor der Ausstiegsluke kam ihr der Kapitän des Raumschiffs in die Quere. Der vierschrötige Mann brüllte: »Aus dem Weg, Mistvieh!« Das war noch eine der freundlicheren unter den vielen Bezeichnungen, die ihr täglich an den Kopf geworfen wurden. Der Kapitän zog eine Waffe. Diesmal war es nicht der übliche Elektroschocker, sondern eine tödliche Strahlenpistole. Sri schlug dem Mann mit der Vorderklaue die Waffe aus der Hand und legte ihre Kieferzangen um seinen Hals. Kurz verspürte sie eine unerklärliche Hemmung, doch binnen Sekundenbruchteilen kochte unbändige Wut hoch. Der Kapitän war der grausamste unter den Sklaventreibern gewesen, er hatte es regelrecht genossen, sie zu misshandeln und zu demütigen. Sris Zorn vereinte sich mit dem Überlebenstrieb, und sie drückte mit voller Kraft zu. Aus den aufgeschlitzten Halsschlagadern des Kapitäns spritzte Blut, nahezu augenblicklich entwich das Leben aus ihm.

Der schwere, schlaffe Körper polterte auf den Boden, als sie losließ. Sie atmete trotz der rauchigen Luft tief durch, denn sie wusste, dass die Atmosphäre des Planeten Pitcairn nicht atembar war. Sie öffnete die äußere Schleusentür und hielt mit großen Sprüngen auf das Stationsgebäude zu. Nahezu ohnmächtig fand sie einen Eingang. Drinnen musste sie eine Pause einlegen, bis sich ihre Tracheen wieder mit Sauerstoff gefüllt hatten. Vom Schiff tauchte niemand mehr auf, Sri hatte als Einzige die Bruchlandung überlebt.

Der Stützpunkt erwies sich als unbesetzt, die Luft roch schlecht und abgestanden. Sri wollte nachprüfen, ob die Anlagen zur Luftaufbereitung defekt oder abgeschaltet waren, bekam aber nicht gleich Zugang zu den Systemen der Station.

Schon am nächsten Tag wurden ihre Bemühungen von zwei Neuankömmlingen unterbrochen. Sie kamen nicht von ihrem Schiff, gehörten aber derselben Spezies an, diesem Volk grausamer Sklavenhalter.

Es waren Menschen.

Diese Erkenntnis erfüllte Sri mit Angst und Wut, sie war aber klug genug, ihre Kampf- und Fluchtreflexe zu unterdrücken. Äußerst vorsichtig beschränkte sich sie sich vorerst darauf, die beiden zu beobachten.

Doch dann war plötzlich einer der Zweibeiner mit einer Waffe hinter ihr her. Er trieb sie in die Enge und schoss auf sie. Ihr blieb keine andere Wahl, als ihn zu töten. Wieder musste sie, bevor sie zudrückte, ein unerwartetes Zögern niederkämpfen, das sie beinahe das Leben gekostet hätte.

Sie beschloss, den anderen Menschen aktiv zu verfolgen. Die Frau floh zuerst, konnte sich dann aber bewaffnen. Sri, die in ihrer Panik die Waffen des Getöteten liegen gelassen hatte, wurde von der Jägerin zur Gejagten und saß schließlich in einer Luftschleuse fest. Ihre Gegnerin ließ sie am Leben und setzte sie nur gefangen. Das war beruhigend, aber auch verwirrend. War das nur eine Schikane? Derartige Foltermethoden hatte sie schon kennengelernt. Auf scheinbare Schonung oder Befreiung waren umso schlimmere Torturen gefolgt. Stand ihr jetzt Ähnliches bevor?