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Endlich durchatmen! Als Jule bei ihrer Schwester auf Rügen ankommt, fällt ihr eine riesige Last von den Schultern. Wie sehr ihr Leben in München - und ihr Exfreund - sie eingeengt haben, merkt sie erst jetzt so richtig. Doch mit den Füßen im warmen Ostseesand geht es ihr gleich viel besser. Und dann eröffnet sich ihr auch noch eine unerwartete Chance: Sie soll ein altes Schlosshotel auf Vordermann bringen. Alles könnte perfekt sein. Wenn da nur nicht ihr unausstehlicher neuer Chef wäre ...
Wunderbar heiter und entspannend - ein Buch wie ein Tag am Meer
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Seitenzahl: 513
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
Marie Merburg wurde am 7.7.1977 in Mühlacker in Süddeutschland geboren. Nach dem Studium in Stuttgart zog sie mit ihrer Familie in die Nähe von Heilbronn, wo sie auch heute noch lebt. Für ihre Romane WELLENGLITZERN und INSELLEUCHTEN hat sie sich die deutsche Ostseeküste als Schauplatz ausgesucht, weil sie von der Landschaft und den Menschen dort fasziniert ist. Unter dem Namen Janine Wilk schreibt die Autorin auch erfolgreich Kinder- und Jugendbücher.
Marie Merburg
Insel-leuchten
Ostsee-Roman
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch dieMichael Meller Literary Agency GmbH, München
Copyright © 2018 by Marie Merburg und Bastei Lübbe AG, KölnTitelillustration: © shutterstock/Eisfrei;© Elektrons 08/plainpicture; © Sundra/shutterstockUmschlaggestaltung: Kirstin OsenauSatz: Urban SatzKonzept, DüsseldorfGesetzt aus der GaramondDruck und Verarbeitung: CPI books GmbH, Leck – GermanyPrinted in Germany
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-5006-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für meine Hündin Lilu,die während der Arbeit an diesem Roman
»Rügen ist unglaublich schön«, hatte meine Schwester Sophie ihre neue Heimat angepriesen. »Hier kannst du entspannen und die Seele baumeln lassen.«
Von wegen! Seit ich in meinem Kombi die Rügenbrücke von Stralsund nach Altefähr passiert hatte, ging es nur noch im Schritttempo vorwärts. In einigen Bundesländern waren momentan noch Osterferien und wie es schien, hielten sich sämtliche Einwohner Baden-Württembergs und Bayerns in diesem Stau auf. Statt einer frischen Meeresbrise drang stickige Abgasluft durch das geöffnete Fenster.
Für April war es ein ungewöhnlich heißer Tag, und meine Klimaanlage streikte schon seit Ende des letzten Sommers. Weshalb hatte ich das Teil eigentlich noch nicht reparieren lassen? Ach ja, das war mir in der Herbst-Winter-Saison nicht wichtig erschienen. Da war es schließlich kalt gewesen. Jetzt verfluchte ich meinen Hang, solche Dinge immer auf die lange Bank zu schieben.
Im Auto vor mir konnte ich durch das Heckfenster zwei Geschwister dabei beobachten, wie sie sich um einen bunt gestreiften Schwimmring zankten. Allerdings bezweifelte ich, dass sie ihn überhaupt brauchen würden. Fiel ein Bad in der Ostsee um diese Jahreszeit nicht unter den Begriff Eisschwimmen? Oder machte ich mir da falsche Vorstellungen? Leider war ich bisher noch nie in dieser Ecke von Deutschland gewesen.
Mir fiel ein, dass mein Handy vorhin auf der Autobahn gepiept hatte, und da es hier gerade nicht voranging, nahm ich es in die Hand. Eine Nachricht meiner besten Freundin Katrin: Du bist also wirklich gefahren? Jule, musste das denn sein?
Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Katrin war mit meinem spontanen Trip nach Rügen leider überhaupt nicht einverstanden. Das hatte sie mir unverblümt ins Gesicht gesagt, als ich ihr gestern von der Idee erzählt hatte.
Ich tippte schnell eine Antwort ein: Ja, das musste sein, und ich habe dir auch erklärt, warum. Du bist meine beste Freundin. Du bist verpflichtet, mich zu unterstützen!
Ich legte das Handy beiseite und schloss für einen Moment meine brennenden Augen. Ich war mitten in der Nacht in München losgefahren, da ich seit ein paar Wochen – seit mein Leben immer mehr im Chaos versank – ohnehin immer nur ein paar Stunden am Stück schlafen konnte. Nach neun Stunden Fahrt machte sich die Müdigkeit allerdings deutlich bemerkbar, und ich wollte nur noch so schnell wie möglich ankommen. Wobei ich momentan den Eindruck hatte, dass ich den nördlichen Teil der Insel womöglich erst beim Eintritt meiner Wechseljahre erreichen würde. Blöder Stau!
Meine große Schwester lebte schon seit einem Dreivierteljahr in Glowe, und jedes Mal, wenn wir miteinander telefonierten, lag Sophie mir damit in den Ohren, dass ich sie endlich einmal besuchen musste. Deshalb hatte ich mich nun einfach ins Auto gesetzt und war hergefahren, um ihrer Bitte nachzukommen. Nett von mir, oder? Meine Freundin Katrin sah das allerdings anders. Ihrer Meinung nach war es nämlich der Gipfel der Unhöflichkeit, bei jemandem unangemeldet vor der Tür zu stehen. Selbst wenn es sich bei diesem Jemand um ein Familienmitglied handelte.
»So etwas nennt man Überraschungsbesuch«, hatte ich sie aufgeklärt. »Darüber freuen sich die Leute.«
»Ach, wirklich?« Katrin hatte eine Augenbraue hochgezogen. »Normalerweise hat der Überraschungsbesucher aber nicht den Kofferraum voller Umzugskartons. Da schlägt die Freude schnell in Panik um.«
Blödsinn! Meine Schwester kannte mich gut genug, um das nicht falsch zu interpretieren. Denn natürlich hatte ich nicht vor, bei ihr und ihrem Lebensgefährten Ole Jansen einzuziehen! Seit mich mein Freund Lars aus seiner Wohnung geschmissen hatte, wusste ich nur nicht, wohin mit meinem ganzen Kram. Einige Sachen hatte ich zwar in Katrins Kellerabteil unterbringen können, doch mit dem Rest fuhr ich jetzt in der Gegend herum. Ein Glück, dass ich einen Kombi hatte.
Der Urlaub bei meiner Schwester sollte lediglich eine Zeit der Neuorientierung werden, bis ich mein Leben wieder geordnet hatte. Wie lange konnte das schon dauern? Ein, zwei Wochen vielleicht. Wenn es hochkam, vier. So lange hatte ich jedenfalls Urlaub. Na gut, ein vierwöchiger Überraschungsbesuch klang wirklich etwas heftig. Wahrscheinlich hatte ich mein Kommen genau aus diesem Grund nicht angekündigt. Wenn ich leibhaftig vor Sophie stand, brachte es meine Schwester bestimmt nicht übers Herz, mich wegzuschicken. Und ich wusste einfach nicht, wohin ich sonst auf die Schnelle flüchten sollte. Ich war ehrlich verzweifelt. Immerhin hatte ich als kleine Entschuldigung für meinen überfallartigen Besuch an ein Gastgeschenk gedacht: einen gewaltigen Geschenkkorb mit bayrischen Leckereien und einer putzigen Schloss-Neuschwanstein-Schneekugel. Über so etwas freut sich doch jeder. Oder?
Die Autokarawane kroch ein paar Meter vorwärts und kam wieder zum Stillstand. Neidisch blickte ich auf den Zug, der auf der Bahnstrecke neben der Straße gerade ungehindert seinem Ziel entgegenraste. Im Wagen vor mir hatte mittlerweile eines der Kinder den Schwimmring für sich gewonnen. Offensichtlich war er nicht nur zum Schwimmen gedacht, sondern auch dazu, ihn dem ungeliebten Geschwisterkind im Sekundentakt auf den Kopf zu dreschen. Ich musste grinsen. Das erinnerte mich an meine Schwester und mich.
Ich wandte mich nach hinten zur Rückbank um. »Na, Süßer«, sagte ich zu meinem männlichen Mitfahrer, dessen Kopf bis an die Decke stieß. »Bist du schon in Urlaubsstimmung?«
Als Antwort tropfte von seiner Zunge ein Spuckefaden auf meinen Sitz. Igitt!
»Muffin, kannst du nicht etwas weniger feucht hecheln?«
Die schwarz-weiß gefleckte Riesendogge klappte abrupt ihr Maul zu und schluckte hörbar, um danach noch eifriger weiterzuhecheln.
Ich tätschelte ihm den Rücken, wozu ich mich etwas strecken musste. »Immerhin hast du es versucht.«
Ich war erst seit ein paar Wochen seine Besitzerin. Eigentlich hatte ich überhaupt keinen Hund gewollt, schon gar nicht in der Größe eines Mini-Ponys. Mein Freund Lars hatte die Dogge für eine horrende Summe einem Arbeitskollegen abgekauft. Und zwar ohne es vorher mit mir abzusprechen! Ohne Vorwarnung hatte Lars einfach mit dem riesigen Hund in unserer Münchner Zwei-Zimmer-Wohnung gestanden. Eigentlich hieß die Züchterdogge Morpheus vom Horiberg, aber ich hatte den Hund kurzerhand Muffin getauft. Mir war schnell klar geworden, weshalb Lars’ Arbeitskollege sich von Muffin getrennt hatte, denn er war alles andere als gut erzogen und ignorierte Befehle konsequent.
Bei unserer Trennung, die kurz danach erfolgt war, hatte Lars mir Muffins Leine wortlos in die Hand gedrückt. Keine Ahnung, ob aus einem Rest von Zuneigung oder aus purer Gehässigkeit. Aber da mein Freund an jenem Abend vor Wut gekocht hatte, war ihm in dem Moment das dauerhafte Hundesorgerecht wohl gleichgültig gewesen. Mittlerweile war ich dankbar für Muffins Gegenwart. Er war ein äußerst geduldiger Zuhörer, und wenn man schluchzend an seinem Hals hing, saugte sein Fell überraschend gut die Tränen auf.
»Ist das auch wirklich nicht zu eng?« Zum gefühlt hundertsten Mal kontrollierte ich Muffins Hundesicherheitsgurt, wofür er mir liebevoll über die Wange leckte. Bäh!
In diesem Augenblick klingelte mein Handy. Kaum hatte ich abgenommen, hörte ich über die Freisprecheinrichtung schon Katrins Stimme mit dem typisch bayrischen Akzent.
»Ja mei, wie soll ich dich denn unterstützen?«, fragte sie empört. Katrin war deutlich aus der Puste, und im Hintergrund vernahm ich Straßenlärm. »Hier alles stehen und liegen zu lassen, um nach Rügen abzuhauen, ist doch keine Lösung, Himmelherrgodnoamoi!«
Obwohl wir beide gleich alt waren, hatte ich manchmal das Gefühl, dass Katrin mich für eines ihrer Kinder hielt. Insgeheim wartete ich schon auf den Tag, an dem sie mir Hausarrest oder Fernsehverbot erteilte.
»Wie geht es denn meinem kleinen Sonnenschein?«, fragte ich ausweichend. Wie immer, wenn ich an Katrins zuckersüßes Baby dachte, musste ich lächeln.
»Moanst du mich?«, entgegnete Katrin schnaubend. »Oder Mia? Die hat mich mal wieder wachgehalten. Sie ist wohl eine kleine Nachteule.«
»Oh, du Arme!«, sagte ich seufzend. Schließlich hatte Katrin auch noch drei ältere Kinder, um die sie sich kümmern musste. »Und warum bist du gerade so außer Atem?«
»Ich bin auf dem Weg zur Kita. Und du? Bist du schon bei deiner Schwester angekommen?«
»Nein, ich steh im Stau.« Wie um mich Lügen zu strafen, kam der Verkehr prompt wieder ins Rollen.
»Dann dreh doch um und komm wieder zurück!«, meinte Katrin. »Du fehlst mir nämlich jetzt schon. Es ist doch deppert, nur wegen einer gescheiterten Beziehung alles aufzugeben.«
Damit beschönigte Katrin die Sache leider ein wenig, denn es ging nicht allein um Lars. Vor ein paar Tagen war mir im Job nämlich ein übler Fehler unterlaufen, und mein Chef war offenbar nicht bereit, einfach darüber hinwegzusehen. Er hatte mir recht unverblümt vorgeschlagen, ich sollte meinen vierwöchigen Urlaub nutzen und schon mal die Stellenanzeigen studieren. Dabei hatte ich mir vorher noch nie etwas zuschulden kommen lassen und mir für das Hotel fast ein Bein ausgerissen. Tja, damit war ich seit Neuestem also wieder Single, hatte keine Kinder, keinen Job und keine Wohnung. Wäre ich ein negativ eingestellter Mensch, würde ich jetzt wahrscheinlich herumjammern, weil ich mit meinen neununddreißig Jahren wieder ganz bei null anfangen musste. Doch ich bemühte mich, optimistisch zu bleiben: Mit meinem vollbeladenen Kombi war ich eben eine echte Nomadin. Bereit, in die Ferne zu ziehen, um irgendwo aufs Neue meine Zelte aufzuschlagen. Denn abgesehen von meiner besten Freundin hielt mich nichts mehr in München. Wieso also nicht einen radikalen Neuanfang wagen?
»Ich musste einfach weg, Katrin«, erklärte ich ihr geduldig. »Lars redet seit zwei Wochen kein Wort mehr mit mir, und in München werde ich andauernd an den Mist erinnert, den ich gebaut habe.«
»Jetzt gib dir doch nicht allein die Schuld an allem!«, verlangte Katrin. »Hätte dieses damische Rindviech sich nicht so bescheuert verhalten, hättest du auch nicht zu so extremen Mitteln greifen müssen.«
Damit hatte sie wahrscheinlich recht, trotzdem zog ich erstaunt die Augenbrauen in die Höhe. So hatte sie noch nie über Lars geredet. »Rindviech ist vielleicht etwas übertrieben.«
»Ach, ich bin einfach wütend!«, zischte sie. »Dieser Depp ist schuld daran, dass meine beste Freundin weg ist. Am liebsten würde ich Lars eine von Mias Windeln auf die Windschutzscheibe kleben.«
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Bitte nicht!«
Leider stellten sich bei diesem Thema unweigerlich die Erinnerungen wieder ein. An das Baby-Projekt mit Lars, meine plötzlichen Zweifel, die darauffolgenden Lügen und Heimlichkeiten, unseren schlimmen Streit und an das schlechte Gewissen, das mich seither plagte. Ich fuhr mir müde über die Augen, während sich die Autoschlange in langsamem Tempo vorwärts bewegte.
»Lass uns über etwas anderes reden, okay?«, bat ich Katrin. »Ich habe dafür gerade echt keine Kraft.«
Für einen Moment herrschte Stille, dann stieß Katrin hörbar die Luft aus. »Na schön, ich kapituliere! Vielleicht ist es tatsächlich gut, wenn du etwas Abstand bekommst. Aber überleg dir während deines Urlaubs die Sache mit dem Umzug noch mal, ja?«
»Mach ich, versprochen!«
Katrin war in München geboren, und für sie war es unvorstellbar, ihre Heimatstadt zu verlassen. Ich dagegen war in meinem Job im Hotelmanagement schon viel in der Welt herumgekommen. Heimatgefühle hatte ich mir im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte abgewöhnen müssen.
»Du, ich bin jetzt in der Kita«, informierte mich Katrin, wobei der Geräuschpegel im Hintergrund explosionsartig anstieg. In der Hoffnung, eine Horde aufgeregter Kleinkinder zu übertönen, brüllte sie: »Wir telefonieren später noch mal, okay? Bussl, Jule!«
Nachdem ich aufgelegt hatte, war ich wieder mit meinen Gedanken allein. Bisher machte Rügen einen recht ländlichen Eindruck auf mich. Es gab weitläufige Felder und Wiesen, die von Laubbäumen, Sträuchern und Büschen eingerahmt wurden. Keine Spur vom Meer oder von den berühmten Sandstränden.
Ich stellte das Radio an, und Xavier Naidoos Stimme ertönte. Einige Sekunden lang lauschte ich dem Text, der von steinigen Wegen und schweren Zeiten handelte.
Na, vielen Dank auch! Ich wechselte den Sender, und nun war es Annett Louisan, die ein schwermütiges Lied zum Besten gab. Sie sang von verschlungenen Labyrinthen und gescheiterten Zukunftsplänen.
Da hatte ich den Beweis: Die ganze Welt hatte sich gegen mich verschworen. Sogar die Radiosender setzten alles daran, meinen Optimismus im Keim zu ersticken. Also schön, dann eben keine Musik!
Irgendwann erreichte ich Rügens Hauptstadt Bergen. Der dichte Verkehr begann sich hier aufzulösen, und ich kam zügiger voran. Endlich. Muffin und ich fuhren durch romantische Buchenwälder, die sich über eine sanfte Hügellandschaft ausbreiteten. Die kleinen Hügel sahen fast aus wie mit Laub bedeckte Meereswellen. Wirklich hübsch! Bei Muffin wurde anscheinend die Lust auf einen Spaziergang geweckt, denn er begann begeistert die Fensterscheibe abzuschlabbern, wohl im Versuch, sich durch das Glas in die Freiheit zu lecken.
»Nicht mehr lange, mein Großer«, tröstete ich ihn.
Ob sich meine Schwester wohl verändert hatte? Im Laufe der Jahre hatten wir den Kontakt leider etwas einschlafen lassen, und unsere persönlichen Treffen konnte man an einer Hand abzählen. Das lag in erster Linie an meinem Job, denn in den letzten zwei Jahrzehnten hatte ich in Städten wie London, Orlando oder Paris gelebt. Das machte regelmäßige Familientreffen etwas schwierig. Davon abgesehen hatte mich Sophies Ehemann Felix nicht ausstehen können. Wahrscheinlich hatte er gespürt, dass ich ihn für einen unterkühlten, konservativen Stoffel hielt, der meine Schwester überhaupt nicht verdiente. Und Sophie hatte mir bei unseren seltenen Treffen offenbar immer wieder beweisen zu müssen, wie toll und großartig ihre Ehe und ihre beiden Söhne waren. Im Gegenzug hatte ich betont, wie froh ich war, frei zu sein und meine Karriere verfolgen zu können. Wer von uns beiden sich dabei mehr belogen hatte, wusste ich bis heute nicht.
Trotz unserer Schwierigkeiten vermisste ich meine Schwester. Erst seit ein paar Monaten schafften wir es, wenigstens in regelmäßigen Abständen miteinander zu telefonieren. Seit der längst überfälligen Trennung von ihrem Ehemann und dem Umzug nach Rügen schien Sophie wie ausgewechselt zu sein. Was wahrscheinlich auch an Ole Jansen lag. Sophie hatte bei Ole letzten Sommer einen Segelkurs gemacht, und die beiden hatten sich Hals über Kopf ineinander verliebt. Ich war schon unglaublich gespannt auf die zwei!
Auf dem Messingschild stand in geschwungenen Lettern: Ole und Emma Jansen & Sophie Lehmann. Zum dritten Mal klingelte ich Sturm, doch hinter der schwarz lackierten Holztür blieb es still.
Das längliche Haus am Ortsrand leuchtete in einem warmen Rotton, der perfekt zum Dunkelbraun des Reetdachs und den weißen Sprossenfenstern passte. Sophies neues Zuhause, das sie mit Ole und seiner elfjährigen Tochter zusammen bewohnte, wirkte einladend und behaglich. Nach der langen Autofahrt wollte ich jedenfalls nichts lieber, als dort drinnen in ein gemütliches Sofa zu sinken und eine schöne Tasse Tee zu trinken. Doch daraus wurde offenbar nichts. Da ich meinen Besuch nicht angekündigt hatte, hätte ich eigentlich damit rechnen müssen, dass niemand zu Hause war. Trotzdem machte sich Enttäuschung in mir breit.
Mit einem Seufzen wandte ich mich zu dem gepflegten Garten um. Etwas abseits unter einer Trauerweide stand eine Holzbank mit direktem Blick auf die Ostsee. Wie ein Willkommensgruß wehte mir eine laue Meeresbrise die Locken aus dem Gesicht und trug den salzigen Duft der See zu mir. Für einen Moment schloss ich die Augen und atmete tief durch. Nach den vielen Stunden im Auto tat das wirklich gut.
Obwohl ich damit den Überraschungseffekt zunichte machte, zog ich mein Handy hervor, um Sophie anzurufen. Leider ging nur die Mailbox ran, und so hinterließ ich ihr eine Nachricht. Na toll, und jetzt?
Mir fiel ein, dass Oles Eltern im anderen Teil der Doppelhaushälfte lebten. Ob ich es mal bei ihnen versuchen sollte? Ich lief über den Rasen und entdeckte an der Haustür von Oles Eltern einen Zettel: Hallo Trudi, wir sind schon am Hafen. Kommst du nach?
Daraus schloss ich, dass Klingeln relativ sinnlos wäre. Leider wusste ich weder, wo der Hafen war, noch, ob mit dem ›wir‹ womöglich auch meine Schwester gemeint war.
»Großartig«, schnaubte jemand direkt hinter mir.
Ich fuhr erschrocken herum. Vor mir stand eine alte Frau, deren sonnengegerbtes Gesicht so faltig war, dass es mich an eine Walnuss erinnerte. In ihren hellblauen Augen lag ein scharfsinniges Funkeln. Seltsamerweise steckten in ihren Ohren rosa Wattebäuschchen, deren feine Fäden leicht im Wind wehten.
»Sehe ich etwa aus wie eine Leistungssportlerin?«, fragte sie, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Anscheinend handelte es sich um besagte Trudi.
»Ich bin doch kein junger Hüpfer, den man durch die Gegend scheuchen kann. Wäre es denn zu viel verlangt gewesen, auf mich zu warten?« Nun wandte sie mir den Kopf zu und blickte mich fragend an.
»Ähm …«, antwortete ich wenig geistreich. »Ist es denn weit? Ich meine, bis zum Hafen.«
Sie zuckte mit den Schultern und zupfte sich ihre geblümte Kittelschürze zurecht. »Das kommt darauf an.«
Ich wartete auf weitere Auskünfte, doch Trudi schwieg. Die alte Dame erfüllte das Klischee einer verschrobenen Insulanerin auf vorbildliche Weise. »Und auf was?«, hakte ich nach.
»Wenn du Arthritis in den Knien hast, so wie ich, dann ist es weit.« Sie musterte mich vom Kopf bis zu den Zehenspitzen, was nicht viel Zeit in Anspruch nahm, da ich recht klein war. »Du brauchst wahrscheinlich nur fünf Minuten.«
»Ich könnte Sie hinfahren«, bot ich an. »Ich habe ohnehin nichts Besseres zu tun, und vielleicht treffe ich am Hafen meine Schwester.«
Da fiel mir ein, dass ich mich noch gar nicht vorgestellt hatte. Mit einem freundlichen Lächeln streckte ich ihr die Hand hin. »Ich bin Jule Seidel, die Schwester von Sophie.«
»Tach schön! Du kannst mich Trudi nennen.« Sie ergriff meine Hand, wobei ich erneut von ihr gemustert wurde. »Sophie siehst du aber überhaupt nicht ähnlich.«
»Ja, ich weiß«, murmelte ich und unterdrückte ein Seufzen.
Meine Schwester hatte lange glänzende Haare, während ich lediglich mit einem wuscheligen Lockenkopf aufwarten konnte, der nur mit sehr viel Mühe einer Frisur ähnlich sah. Zudem war Sophie in zweifacher Hinsicht meine große Schwester: Sie war nicht nur die Erstgeborene, sie überragte mich auch um dreizehn Zentimeter. Ich nahm ihr das sehr übel. Sophie hätte mir ruhig ein paar Zentimeter überlassen können, aber so musste ich ständig mit mörderisch hohen Schuhen mein Größendefizit ausgleichen. Heute trug ich wegen der langen Autostrecke allerdings ausnahmsweise Ballerinas.
»Was hast du gesagt?«, brüllte Trudi. »Du musst lauter sprechen, ich habe Watte im Ohr. Ich kriege oft Mittelohrentzündung. Vom ständigen Wind.« Einen Moment lang starrte sie missmutig in Richtung Meer, von dem besagter Wind herüberwehte.
Ich winkte ab. »War auch nicht so wichtig.«
Sie wandte sich zur Straße um. »Los denn, fahr mich zum Hafen!«
Keine Ahnung, weshalb ich mich von einer Wildfremden herumkommandieren ließ, vielleicht war es mein natürlicher Respekt vor dem Alter. Wie dem auch sei, ich sauste voran und versuchte, im Auto Platz für Trudi zu schaffen. Das war wegen Muffin, der neugierig den Kopf aus dem offenen Fenster streckte, und meinen Umzugskartons allerdings gar nicht so einfach. Trudi befahl mir kurzerhand, den Karton vom Beifahrersitz vor Sophies Haustür abzustellen. Darin befand sich jedoch mein wichtigstes Hab und Gut, worauf schon die Aufschrift SCHUHE! Eigentum von Jule Seidel hinwies. Meinen Einwand, der Karton könnte während meiner Abwesenheit von skrupellosen Schuhdieben gestohlen werden, wiegelte Trudi mit den Worten ab: »Hier klaut niemand was!«
Die ganze Umräumaktion dauerte fünf Mal so lange wie die eigentliche Fahrt zum Hafen. Kaum waren wir losgefahren, lotste mich Trudi auch schon auf einen Schotterparklatz, der sich zwischen dem Hafen und der Strandpromenade befand.
Ich stieg aus und sah mich neugierig um. Möwengeschrei, das Rauschen der Wellen und das fröhliche Lachen der Strandbesucher empfingen mich. Glowe lag in einer Nehrung, und vom Hafen aus konnte man bis zum anderen Ende des Dorfes sehen. Am äußersten Zipfel der Bucht entdeckte ich an der dicht bewaldeten Landzunge die Umrisse eines Leuchtturms.
»Hier ist es ja wirklich herrlich«, entfuhr es mir.
Sophie hatte nicht zu viel versprochen. Hinter der mit Strandhafer bewachsenen Hochwasserschutzdüne erstreckte sich feiner weißer Sandstrand, so weit das Auge reichte. Die ersten Badeurlauber des Jahres entspannten sich in den blau-weiß gestreiften Strandkörben und genossen die Nachmittagssonne. Tatsächlich entdeckte ich einige Wagemutige sogar im Wasser. Brrr!
»Das ist Die Schaabe«, informierte mich Trudi. »Eine über acht Kilometer lange Nehrung zwischen den Halbinseln Jasmund und Wittow. Der Strand wird im Allgemeinen von Möwen, Touristen, Kindern und Frischverliebten bevölkert. In genau dieser Reihenfolge.«
»Die Schaabe?«, wiederholte ich mit hochgezogenen Augenbrauen. »Kein sehr einladender Name für ein Urlaubsparadies. Dann hätte man es auch gleich ›Zur Gülle‹ oder ›Die Rattenbucht‹ nennen können.«
»Keine fünf Minuten hier, aber schon an unseren althergebrachten Namen herummeckern«, blaffte Trudi mich an.
»’schuldigung«, murmelte ich ehrlich zerknirscht. »Ich plaudere ständig aus, was mir im Kopf herumgeht. Sophie nimmt mir das auch oft übel.«
Trudi war zum Glück nicht nachtragend. »Eigentlich mag ich Leute, die offen und ehrlich sind«, räumte sie ein und fügte grinsend hinzu: »Ich mach das auch.«
Ich nahm mir noch einen Moment Zeit und beobachtete den stetigen Rhythmus der Brandung. Getrieben vom Wind kamen die Wellen angerollt und legten sich wie ein Teppich aus glasklarem Wasser über den Sand, verziert mit einer Borte aus Gischt. Am liebsten hätte ich mich an den Strand gesetzt und diesen beruhigenden Anblick noch eine Weile genossen.
»Kommst du?«, fragte Trudi ungeduldig. »Und vergiss das Kalb nicht! Ich glaube, das muss mal.«
»Muffin ist kein Kalb«, knurrte ich.
Ich ging zum Auto, zog Muffin das Sicherheitsgeschirr aus und entließ ihn in die Freiheit. Aus mir unbekannten Gründen hatte der Hund eine tiefe Abneigung gegen seine Leine entwickelt. Sobald ich die sonst so friedliche Riesendogge anleinte, mutierte sie plötzlich zu Zerberus: einem von Jagdlust getriebenen Höllenhund. Für eine kleine, zierliche Person wie mich war das fatal. Meistens flog ich dann wie eine mit Helium gefüllte Gummipuppe hinter Zerberus her. Ich hielt also die Luft an, als Muffin aus dem Auto sprang, doch trotz der langen Fahrt blieb er auch ohne Leine brav bei mir, und keiner der Passanten blickte mich vorwurfsvoll an.
Über den Kai erreichten wir den Hafen, der für ein Dörfchen überraschend groß war. Jollen, Segeljachten, Motor- und Fischerboote schaukelten einträchtig nebeneinander auf den Wellen und luden zu einer Fahrt auf der Ostsee ein. Sofort fühlte ich mich an meine Kindheit und unsere alljährlichen Sylt-Urlaube erinnert. Der Höhepunkt des Urlaubs war immer der Tag gewesen, an dem mein Vater ein Segelboot gemietet hatte und mit uns aufs Meer hinausgefahren war. Deshalb hatte es mich auch nicht gewundert, dass meine Schwester letztes Jahr unbedingt den Segelschein machen wollte.
»Da vorne sind sie!«, informierte mich Trudi.
Vor einem leeren Bootsliegeplatz stand eine Gruppe von vier Personen mit Luftballons, Kuchen und Sektgläsern. Meine Schwester war jedoch nirgends zu erblicken. Trudi und ich erreichten die Anlegestelle genau in dem Moment, als eine Segeljacht in den Hafen einfuhr und die vier Personen vor uns in Jubel ausbrachen.
»Papaaa!«, rief ein Mädchen mit dunklen Locken und winkte aufgeregt. »Sophie!«
Eine weißhaarige Dame mit einem gepflegten Kurzhaarbob stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Endlich!«
Braun gebrannt und selbstbewusst stand Sophie am Steuer der Jacht und manövrierte das Schiff gekonnt an den Steg. Neben ihr lehnte entspannt ein Mann in T-Shirt und Jeans, dessen braunes Haar an der Schläfe leicht angegraut war.
»Ich glaub’s ja nicht«, entfuhr es mir. »Ist das tatsächlich meine Schwester?«
»Mach mal lieber den Mund wieder zu«, riet mir Trudi, »sonst spuckt dir noch jemand rein.«
Um sie nicht in Versuchung zu führen, presste ich hastig die Lippen zusammen, doch meine Überraschung konnte ich trotzdem nicht so schnell überwinden. So glücklich und unbeschwert hatte ich Sophie noch nie gesehen. Und dazu noch als Skipper eines Segelschiffes, wow!
»Ist der Mann neben ihr Ole Jansen? Der Segellehrer, der mit ihr zusammenlebt?«
»Ein Sahneschnittchen, nicht wahr?«, sagte die alte Dame und zwinkerte mir zu. »Wenn ich vierzig Jahre jünger wäre, hätte ich ihn ihr schon längst weggeschnappt.«
Noch nie hatte mir einer der Typen gefallen, die Sophie in der Vergangenheit angeschleppt hatte, aber ich musste zugeben, dass Trudi absolut recht hatte. Rein äußerlich war Ole Jansen jedenfalls ein richtig guter Fang.
Wie ein seit Jahren eingespieltes Team legten die beiden an und hatten dabei sogar noch Zeit, sich verliebte Blicke zuzuwerfen. Sophie winkte den anderen am Steg lächelnd zu … und erstarrte.
»Jule?« Sie blinzelte mich von Bord aus ungläubig an. Dann strahlte sie plötzlich über das ganze Gesicht. »Ich glaub es ja nicht!«
Wie auf Kommando drehte sich das ganze Empfangskomitee zu uns um. Bisher waren sie so auf Ole und Sophie konzentriert gewesen, dass sie Trudi und mich gar nicht bemerkt hatten.
»Das ist Sophies Schwester Jule«, verkündete Trudi stolz. »Ich habe sie gefunden.«
Aus ihrem Mund klang das so, als hätte sie mich irgendwo verwirrt und orientierungslos im Straßengraben aufgelesen.
Ich winkte lächelnd in die Runde. »Hallo miteinander!«
Ein mehrstimmiges und durchaus freundliches »Hallo« war die Antwort. Immerhin besaß Trudi die Höflichkeit, mich im Schnelldurchlauf mit den anderen bekannt zu machen.
»Das sind Nane und Lorenz, Oles Eltern.« Sie deutete auf die weißhaarige Frau mit Kurzhaarbob und einen älteren Mann in Strickweste. »Der kleine Wildfang hier ist Oles Tochter Emma, und das ist Jutta Plümer, Sophies Freundin!«
Juttas fester Händedruck ließ mich zusammenzucken, doch ihr Lächeln war herzlich. Sie war schlank, hatte einen flotten Kurzhaarschnitt und wirkte, als könnte sie nichts so schnell aus der Ruhe bringen. »Freut mich, Jule! Ich habe schon viel von dir gehört.«
»Ebenso!« Ich erwiderte ihr Lächeln. »Sophie meinte, ohne dich wäre ihr der Abschied von Freiburg viel schwerer gefallen.«
Ehe Jutta noch etwas sagen konnte, hörten wir Sophie vom Schiff aus rufen: »Jule? Ich komme schon.« Sie sauste mit einer Reisetasche im Arm über das Deck. »Warte einen Moment, ja?«
Wo sollte ich denn bitte schön hin? Hatte sie etwa Angst, ich würde mich in Luft auflösen?
»An Bord wird nicht gerannt!«, brüllte Ole ihr in alarmiertem Tonfall hinterher.
Wie aufs Stichwort verhedderte sich Sophies Fuß in einem losen Tau. Sie stolperte in die Reling und versuchte mit hektischem Armrudern das Gleichgewicht wiederzufinden.
»Oh, oh«, sagte Trudi trocken. »Unsere Sophie macht gleich den Abflug.«
Und schon kippte meine Schwester über die Reling und landete mit einem lauten Platsch im Hafenbecken.
*
Kurz darauf saßen wir im Hafencafé an einem Bistrotisch beisammen. Mit seinen Getränkeautomaten und roten Plastikstühlen glich das Café eher einem Aufenthaltsraum, doch dafür war es rundum verglast, sodass man einen wunderbaren Blick sowohl auf den Hafen als auch auf Die Schaabe hatte.
Ich musterte meine Schwester besorgt. Ihre Wimperntusche war verlaufen, und die nassen Haare steckten in einem grün gestreiften Handtuch. »Geht es dir wirklich gut?«
Zum Glück hatte sie an Bord der Jacht noch frische Kleidung gefunden, sodass sie die nassen Sachen gleich hatte ausziehen können.
»Mach dir keine Sorgen!«, beruhigte sie mich. »Es ist nicht das erste Mal, dass ich ein unfreiwilliges Bad genommen habe. Bisher hat Ole mich noch jedes Mal unversehrt aus dem Wasser gefischt.«
»Das war wirklich noch harmlos«, bestätigte Oles Tochter Emma und steckte sich ein großes Stück Kuchen in den Mund, den Nane auf Papptellern verteilt hatte.
Von Sophie wusste ich, dass sich Emmas Mutter Giulia vor einigen Jahren nach Berlin abgesetzt hatte, um sich ihrer Karriere als Malerin zu widmen. Sie kam ihre Tochter nur sporadisch besuchen, was dem elfjährigen Mädchen ziemlich zusetzte. Wenn ich mich richtig erinnerte, hatte Sophie im Zusammenhang mit Giulia die Begriffe »südländische Schönheit« und »egoistische Kuh« benutzt.
»Sophie ist nämlich eine grottenschlechte Seglerin«, erklärte Emma mir kauend. »Während des Segeltörns haben Oma und ich jeden Abend zum lieben Gott gebetet, dass Papa und Sophie heil zurückkommen.«
Ich blickte grinsend zu Sophie. »Ah ja?«
Eine zarte Röte überzog ihre Wangen. »Emma hat nicht ganz unrecht«, räumte sie ein und nippte verlegen an ihrem Kaffee. »Mir ist in der Vergangenheit beim Segeln schon das ein oder andere Malheur passiert.«
Oles Mutter Nane zog amüsiert ihre Augenbrauen in die Höhe. »So kann man es natürlich auch nennen.«
»Jetzt will ich aber Details wissen!«, verlangte ich.
Dieser Bitte kam Trudi nur allzu gerne nach. »Schon während des Segelkurses hat Sophie eine von Oles Jollen im Breeger Bodden versenkt«, berichtete sie mit sichtlichem Vergnügen. »Direkt vor ihrer Prüfung hat sie dann seine Jacht in den Schlick gefahren, sodass das Schiff zur Seite kippte. Vor den Augen des Prüfers! Ach ja, und eine Gehirnerschütterung hatte Sophie auch noch, weil ihr der Mast an den Kopf gedonnert ist – gleich zwei Mal hintereinander. Einmal von vorne und einmal von hinten.«
Besorgt blickte ich zu meiner Schwester. So etwas bezeichnete sie als das »ein oder andere Malheur«? Trotzdem musste ich gleich darauf losprusten, und die anderen am Tisch stimmten mit ein. Selbst Oles Vater, der eher ein schweigsamer, ruhiger Mann war, grinste breit.
»Re … Re … Respekt, Schwesterherz!«, sagte ich japsend. Kein Wunder, dass sie mir nichts davon erzählt hatte.
Sophie reckte ihr Kinn in die Höhe. »Pah, lacht ihr nur über mich! Da steh’ ich drüber.«
»Entschuldige, Liebes!« Oles Mutter tätschelte ihre Hand. Gutmütige Lachfältchen zeichneten sich um Nanes Augen ab. »Bitte sei uns nicht böse!«
Nane war mir auf Anhieb sympathisch, auch wenn sie wohl eine von Trudis besten Freundinnen war. Da ich mir noch keine endgültige Meinung über die schrullige Trudi gebildet hatte, wusste ich nicht, ob das für oder gegen Nane sprach.
»Quatsch, natürlich bin ich euch nicht böse!« Sophie zog sich das Handtuch vom Kopf und begann, ihre Haare zu frottieren. »Jutta ist echt ein Schatz«, wechselte sie das Thema. »Sie hätte es wirklich nicht für mich übernehmen müssen, mit Ole die Lebensmittel und das restliche Gepäck von Bord zu schaffen. Dieser Sturz ins Wasser war halb so wild.«
Nane räusperte sich. »Vielleicht ging es Jutta in erster Linie darum, dass du deine Schwester in Ruhe auf Rügen willkommen heißen kannst?«, half sie Sophie auf die Sprünge.
»Oh Gott, du hast ja recht! Entschuldige, das habe ich in der Aufregung ganz vergessen.« Sofort ließ Sophie das Handtuch sinken, beugte sich zu mir und griff nach meinen Händen. »Ich freue mich so, dass du gekommen bist, Jule. Aber weshalb hast du denn nicht vorher angerufen? Zum Glück haben Ole und ich gute Fahrt gemacht. Deshalb sind wir zwei Tage früher von unserem Segeltörn zurück, sonst wäre ich noch gar nicht hier, stell dir das mal vor! Oh, ich weiß schon, was ich dir auf Rügen alles zeigen werde, Jule, du wirst die Insel l-i-e-b-e-n …« Auf diese Weise ging es die nächsten paar Minuten weiter.
Das war meine Schwester, wie sie leibte und lebte. Sie konnte eine Unterhaltung quasi allein übernehmen, man musste nur ab und an nicken oder den Kopf schütteln. Heute war ich dafür allerdings dankbar, denn das war der Beweis, dass Sophie – trotz ihres komplett neuen Lebens – immer noch die Alte war.
Währenddessen übersah ich großzügig, dass ein Stückchen Apfelkuchen heimlich den Besitzer wechselte und von Emmas Hand in Muffins Maul wanderte. Mein Hund schluckte hörbar, legte den Kopf auf den Tisch und richtete seine traurigen Kulleraugen auf das Mädchen. Ich konnte förmlich sehen, wie Emmas Kinderherz der Riesendogge zuflog.
»… und wo ist eigentlich dein Freund Lars?«, fragte Sophie gerade und verstummte kurz, um Luft zu holen.
Prompt stand Trudi auf und nutzte den Moment der Stille. »Nachdem ich mich mit eigenen Augen davon überzeugen konnte, dass Ole und du noch leben, mache ich mich mal vom Acker. Daheim wartet noch Arbeit.«
Auch Nane erhob sich und zog ihren Mann Lorenz am Hemdsärmel in die Höhe. »Wir fahren dich heim, Trudi.«
»Das ist nett. Mit meiner Arthritis wäre ich bestimmt erst nach Einbruch der Dunkelheit zu Hause.«
»So bald schon?«, frotzelte Nane, während sie die Pappteller einsammelte und den restlichen Kuchen im Korb verstaute. »Ich dachte, du hättest einen Fußmarsch von zwei Tagen vor dir.«
»Eigentlich schon«, gab Trudi ungerührt zurück. »Aber die Hauptstraße runter trampe ich neuerdings, das spart Zeit. Bei Fremden mitzufahren ist bei meinem guten Aussehen natürlich verflixt gefährlich. Deswegen habe ich mir extra Pfefferspray besorgt.«
Nane runzelte die Stirn. »Das ist doch ein Witz, oder?«
Trudi holte, ohne mit der Wimper zu zucken, eine Dose Pfefferspray aus ihrer Tasche und hielt sie kampfbereit in die Höhe. In dieser Pose sah sie aus wie eine stark gealterte Uma Thurman in Kill Bill – nur eben mit Kittelschürze und Dauerwelle.
»Gütiger Gott!«, entfuhr es Nanes Ehemann. Es war das erste Mal, dass ich ihn etwas sagen hörte.
»Jetzt müssen wir auch noch Warnschilder am Ortseingang aufstellen«, murmelte Sophie neben mir. »Vorsicht vor trampenden Greisinnen!«
»Außer natürlich«, räumte Trudi grinsend ein, »der zudringliche Autofahrer gefällt mir. Wenn er aussieht wie der junge Cary Grant, darf er mich gerne bis zu meiner Haustür fahren.«
Okay, so langsam hatte ich mir doch eine Meinung gebildet: Trudi war total verrückt.
Nane schüttelte seufzend den Kopf und wandte sich an Emma. »Kommst du, Kleines?«
Das Mädchen sprang vom Stuhl auf, sodass ihre braunen Locken auf und ab hüpften. Sie schnappte sich die Luftballons und rief: »Wer als Erster beim Auto ist!«
Trudi verdrehte die Augen. »Dieses Spiel kannst du auch nur mit uns drei alten Säcken machen.«
»Genau!« Mit einem frechen Grinsen lief Emma voraus zur Tür, wobei sie ihr rechtes Bein leicht hinter sich herzog. Sophie hatte mir von Emmas Hinken schon am Telefon erzählt. Es war das Resultat einer OP, bei der Oles Tochter ein Tumor am Oberschenkel entfernt worden war. Die Erkrankung lag einige Jahre zurück, aber die Gehbehinderung machte Emma noch zu schaffen, vor allem psychisch.
»Er ist in München«, sagte ich schließlich, als die vier das Hafencafé verlassen hatten.
Sophie blinzelte mich verständnislos an. »Wie bitte?«
»Du hast gefragt, wo Lars ist«, erklärte ich. »Er ist daheim. Jedenfalls nehme ich das an. Wir haben seit zwei Wochen keinen Kontakt mehr.«
Sophie blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. »Ihr … ihr habt euch getrennt?«
»Ja, haben wir.« Ehrlicherweise fügte ich hinzu: »Eigentlich hat er sich von mir getrennt.«
»Und es ist endgültig?«, hakte meine Schwester nach.
Ich nickte schweigend.
»Scheiße!« Sophie warf mir einen mitfühlenden Blick zu.
Ich rechnete es ihr hoch an, dass sie weder erleichtert aufatmete noch einen Jubelschrei ausstieß. Sophie konnte Lars nämlich nicht ausstehen.
Meine Schwester erhob sich entschlossen und sammelte unsere leeren Kaffeebecher ein. »Los, Jule, steh auf!«, befahl sie. »Wir machen einen Spaziergang! Beim Laufen lässt es sich besser reden.«
Der Wind hatte merklich aufgefrischt, und es war trotz des strahlenden Sonnenscheins kühl geworden. Sophie und ich schlenderten die Strandpromenade entlang, die sich mittlerweile etwas geleert hatte. Offenbar waren die meisten Touristen in ihre Hotels oder auf den Campingplatz zurückgekehrt. Ich war dankbar für die Ruhe und lauschte dem Rhythmus der Brandung.
Sophie hakte sich bei mir unter. »Ich weiß, es fällt schwer, darüber zu reden. Aber auf der anderen Seite ist es besser, wenn du gleich mit der Sprache herausrückst. Sonst muss ich dir die Einzelheiten mühsam aus der Nase ziehen. Und das wird für uns beide unangenehm und unnötig anstrengend.«
»Deine Logik ist mal wieder bestechend.« Ich zog eine Grimasse. »Dann bringe ich es lieber gleich hinter mich!«
Aber wo sollte ich nur anfangen? Ich musste wohl etwas weiter ausholen.
»Vor ungefähr drei Monaten hat meine Freundin Katrin ihr viertes Kind bekommen. Und natürlich haben Lars und ich sie nach der Geburt im Krankenhaus besucht«, berichtete ich. »Ich war von der kleinen Mia sofort hingerissen, wie bei jedem Baby. Doch dieses Mal fühlte ich auch noch was … anderes.« Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. »Als ich dieses süße Baby im Arm hielt, stieg Panik in mir auf. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass ich niemals eigene Kinder haben würde. Dass es jeden Augenblick zu spät dafür sein könnte.«
»Torschlusspanik, ganz eindeutig«, diagnostizierte meine Schwester. »Was mit deinen neununddreißig Jahren auch kein Wunder ist.«
»Na lieben Dank auch!« Ich warf ihr einen gereizten Blick zu. »Da Lars sowieso schon seit Jahren Nachwuchs haben will, habe ich mich deshalb spontan bereit erklärt, die Pille abzusetzen.«
Sophie verzog ihr Gesicht. »Ich kann deinen Wunsch nach einem Baby absolut nachvollziehen. Aber ausgerechnet mit Lars?«
»Sophie«, fiel ich ihr ungehalten ins Wort, »bleib fair, okay? Immerhin war ich einige Jahre mit ihm zusammen, und Lars hat auch gute Seiten.«
»Tut mir leid«, entschuldigte Sofie sich reumütig. Sie blickte mich auffordernd an. »Dann belehre mich doch bitte eines Besseren und erzähle mir von seinen guten Seiten!«
»Er hat mir zum Beispiel jeden Sonntag das Frühstück ans Bett gebracht«, gab ich zurück. »Um Punkt sieben Uhr stand er mit vollem Tablett und einer roten Rose neben meinem Bett.«
Sophies blaugrüne Augen, die sie von unserer Mutter geerbt hatte, verengten sich. »Aber du schläfst doch eigentlich gerne aus, oder nicht? Früher hast du mich fast erwürgt, wenn ich am Wochenende vor zwölf Uhr in dein Zimmer gekommen bin.«
Mist! Ich hatte ganz vergessen, wie gut mich meine Schwester kannte.
»Na schön, manchmal hätte ich ihm das Tablett gerne aus der Hand geschlagen«, räumte ich zähneknirschend ein. »Aber Lars ist eben ein Frühaufsteher.«
Sophie war offenbar nicht bereit, das Thema damit auf sich beruhen zu lassen. »Du arbeitest im Hotel verdammt hart und musst viel Verantwortung tragen. Von deinen Überstunden fange ich gar nicht erst an. Kein Vergleich zu Lars’ popligem Beamtenjob im Rathaus. Ich finde, es ist dein gutes Recht, an deinem freien Tag auszuschlafen.«
»In einer Beziehung muss man eben Kompromisse machen!«, entgegnete ich weise. »Lars musste wegen meines Jobs ohnehin sehr viel zurückstecken. Da konnte ich ihm zuliebe doch wenigstens ein bisschen früher aufstehen, oder?«
Als ich vor vier Jahren meinen Job in München angetreten hatte, war ich entschlossen gewesen, einen radikalen Neuanfang zu wagen. Bis dahin war ich immer auf dieselbe Art von Männern hereingefallen: Selbstbewusst, erfolgreich, stark, eine Spur arrogant. Und jedes Mal war ich am Ende enttäuscht, betrogen, im Stich gelassen oder durch eine Jüngere ersetzt worden. Von dieser Sorte Mann hatte ich die Nase gestrichen voll! Deshalb hatte ich damals den Entschluss gefasst, dass sich mein Beuteschema ab sofort grundlegend ändern musste. Der bodenständige Lars war mir dabei wie ein Geschenk des Himmels vorgekommen. Schon bei unserem ersten Date hatte er mir verkündet, dass er unbedingt heiraten und eine Familie gründen wollte. Das war Musik in meinen Ohren gewesen! In den folgenden Jahren stellte ich jedoch fest, dass Lars auch ziemlich bestimmend und penibel veranlagt war. Zum Beispiel musste ich mehr als die Hälfte der monatlichen Miete übernehmen – nämlich genau siebzig Prozent –, weil ich nach Lars’ Meinung überall meine Sachen herumliegen ließ und daher siebzig Prozent der Wohnung für mich einnahm. Leider hatte er damit nicht ganz unrecht, denn ich besaß tatsächlich einen Hang zum Chaos. Während mir seine penible Art noch ansatzweise einleuchtete, fand ich Lars’ cholerische Anfälle allerdings doch ein wenig erschreckend. Er bekam sie immer, wenn etwas nicht nach seinen Vorstellungen lief. Dann machte er seiner Fassungslosigkeit Luft, indem er herumbrüllte. Manchmal warf er sogar Sachen durch die Gegend – aber zum Glück kam das nicht allzu oft vor.
»Hallo, Erde an Jule!« Sophie schnipste mit den Fingern vor meinem Gesicht herum. »Ich würde gerne wissen, wie die Geschichte mit dem Baby-Projekt weitergegangen ist.«
»Oh. Okay.« Ich wand mich innerlich, doch dann fuhr ich fort: »Lars war natürlich begeistert. Noch am gleichen Abend hat er sich meine Pillenpackung geschnappt und die Tabletten mit triumphierender Miene die Toilette runtergespült. Und …« Ich kratzte mich verlegen am Hals. »Und irgendwie ist das Ticken meiner biologischen Uhr schlagartig leiser geworden. Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, einen Fehler zu machen.«
Da wir nicht mehr verhüten wollten, war es natürlich die logische Folge, die Pille zu entsorgen. Ich hätte mir nur gewünscht, dass Lars die Sache mir überlassen hätte.
»Als ich am nächsten Abend von der Arbeit gekommen bin«, berichtete ich weiter, »saß er schon mit einem Buch auf der Couch mit dem Titel Wir werden Eltern. Dann drückte er mir für das Baby-Projekt eine Excel-Tabelle in die Hand, in der er meinen Zyklus für die kommenden Monate vorausberechnet hatte. Die besten Kopulationstage waren himmelblau markiert.«
Lars liebte Listen und Tabellen. Aber schon allein bei dem Wort Kopulationstage war mir ganz übel geworden. Der Anblick der Tabelle hatte in mir das Bedürfnis geweckt, mir sofort einen Keuschheitsgürtel umzuschnallen, während meine Fortpflanzungsorgane zeitgleich ein Out of Order-Schild vor die Tür gehängt hatten.
»Kopulationstage? Und an denen musstet ihr dann … Ach du Scheiße!«, entfuhr es Sophie. Sie blieb wie angewurzelt stehen. Für einen Moment hörte man nur noch das Krächzen der Möwen über unseren Köpfen.
Ich blieb ebenfalls stehen, und Muffin, der treu hinter mir hertrottete, rammte meinen Oberschenkel. »Ich fand das zwar übertrieben, aber ich wollte Lars auch nicht vor den Kopf stoßen. Schließlich war ich es, die mit dem Thema Kinderkriegen angefangen hatte.«
Tatsächlich war mein Herz vor Sehnsucht nach einem Baby fast zerflossen, doch gleichzeitig hatte ich Lars’ Enthusiasmus erdrückend und beunruhigend gefunden. Ich wusste selbst nicht, was mit mir los war.
»Ich habe mir gesagt, dass ich wahrscheinlich nur etwas Zeit brauche. Um mich an den Gedanken, Mutter zu werden, zu gewöhnen.« Fröstelnd zog ich die Schultern hoch, weil eine kühle Meeresböe meinen Nacken streifte. »Im Grunde war es doch genau das, was ich immer wollte. Ich hatte mir nichts sehnlicher gewünscht als eine feste Beziehung und einen Mann, der sich genauso für das Thema Familie und Kinder begeistern kann wie ich. Eigentlich hätte ich glücklich sein müssen.«
Sophie, Muffin und ich setzten uns wieder in Bewegung. Ich atmete tief ein und stieß langsam die Luft aus. »Lars begann dann aber wirklich zu übertreiben. Er wollte mir allen Ernstes eine streng limitierte Handyzeit verordnen, weil die Strahlung angeblich die Einnistung der Eizelle verhindern kann. Und er war dagegen, dass ich abends mit meinen Arbeitskolleginnen ausgehe, weil all der Lärm und der zusätzliche Stress schlecht für die Empfängnis wären.«
Ich hob abwehrend die Hand, um Sophie, die schon voller Entrüstung den Mund geöffnet hatte, zu stoppen. »In dem Moment wurde mir natürlich auch klar, dass es so nicht weitergehen konnte.«
Ich schwieg, sodass Sophie nachhakte: »Dann hast du ihm endlich gesagt, dass du deine Meinung geändert hast, weil er sich wie ein Vollidiot verhält?«
Das hätte ich wohl tun sollen. Vor allem weil ich mich zu dem Zeitpunkt so langsam gefragt hatte, ob Lars und ich wirklich so gut zusammenpassten, wie ich mir bisher immer eingeredet hatte.
Ich schluckte schwer. »Nicht direkt. Nein.«
Sophie runzelte die Stirn. »Du hast es dir nicht anders überlegt und wolltest doch ein Baby?«
»Ähm … nein.«
»JULE!«, rief Sophie am Ende ihrer Geduld. »Jetzt sag mir um Himmels willen, was du getan hast!«
Ein Ehepaar, das ein paar Meter vor uns lief, drehte sich erstaunt zu uns um, und Sophie lächelte ihnen entschuldigend zu.
Wie ein Sack Kartoffeln ließ ich mich auf eine nahe gelegene Sitzbank fallen. »Schon fünf Tage nachdem ich die Pille abgesetzt hatte, bin ich zum Frauenarzt gegangen und habe mir ein neues Pillenrezept geholt«, gestand ich meiner Schwester mit hängenden Schultern. Ich spürte, wie meine Wangen vor Scham zu glühen begannen. »Heimlich. Ich brauchte Zeit, um mir darüber klar zu werden, ob diese Beziehung noch eine Chance hatte oder nicht. Also habe ich – während mein Freund darüber nachgegrübelt hat, wie er meinen Uterus bestmöglich vor elektromagnetischer Strahlung schützen kann – hinter seinem Rücken wieder verhütet.«
Ich hatte einen riesengroßen Fehler gemacht, das wusste ich selbst. »Die Sache mit der Pille sollte lediglich eine vorübergehende Lösung sein. Nur für einen Monat. Bis ich wieder etwas klarer sah. Ich wollte doch wirklich ein Baby haben, Sophie!« Ich rang verzweifelt die Hände. »Aber immer, wenn ich an die Zukunft dachte, bekam ich Panik und hätte am liebsten die ganze Pillenpackung auf einmal geschluckt. Ich wollte mir einfach nicht eingestehen, dass das eigentliche Problem unsere Beziehung war.«
In meinem Job war ich normalerweise zielstrebig und konnte mich durchsetzen, doch in meinem Privatleben baute ich nur Mist. Was stimmte nur nicht mit mir?
Ich schüttelte ratlos den Kopf. »Das war total unfair Lars gegenüber. Aber jetzt kann ich das alles nicht mehr rückgängig machen.«
»Mensch, Jule …« Sophie streichelte tröstend über meinen Rücken.
Ich deutete auf Muffin, der gerade interessiert jeden Zentimeter rund um unsere Bank abschnüffelte. »Zu allem Überfluss kam Lars bei meiner ersten Periode auch noch mit dem Hund an«, jammerte ich, »als Trost und Ablenkung für uns, weil es mit dem Baby nicht auf Anhieb geklappt hat. Spätestens da hätte ich es ihm sagen müssen. Ich bin so ein Scheusal, Sophie!«
Obwohl das vermutlich kein guter Zeitpunkt für eine Aussprache gewesen wäre. Denn dann wäre die Situation eskaliert. Im ersten Moment, als Lars plötzlich mit Muffin in unserer kleinen Münchner Wohnung stand, war ich nämlich stocksauer gewesen. Wie konnte er so etwas Entscheidendes wie die Anschaffung einer Riesendogge nicht mit mir absprechen? Das war so typisch für Lars! Wenn er etwas für richtig hielt, war ihm meine Meinung egal. Und weshalb musste es denn ausgerechnet eine ausgewachsene Riesendogge sein? Immerhin ging Lars davon aus, dass wir schon bald ein Baby bekommen würden. Als ich ihn gefragt hatte, ob er nicht etwas Kleines und Kompaktes wie einen Dackel aus dem Tierheim hätte holen können, hatte er nur gemeint, ein richtiger Mann bräuchte auch einen richtigen Hund. Was für ein Schwachsinn! Aber meine wütenden Vorwürfe blieben mir im Hals stecken. Wie sollte ich Lars Vorhaltungen machen, wenn ich mich selbst so falsch verhielt? Gäbe es eine Rangliste für die schlimmsten Fehler, die man in einer Beziehung machen konnte, stünde Heimlich verhüten trotz Baby-Wunsch bestimmt weit vor Ungefragt eine Riesendogge kaufen.
»Jetzt übertreib mal nicht! Du bist kein Scheusal, Jule«, widersprach meine Schwester sanft.
»Nach dieser Sache war ich fest entschlossen, Lars endlich die Wahrheit zu gestehen«, erzählte ich weiter. »Ich wollte reinen Tisch machen. Keine weiteren Heimlichkeiten und Lügen mehr! Aber …« Ich stockte.
»Lass mich raten: Bevor es dazu kam, ist er dir auf die Schliche gekommen?«
»Ja«, brachte ich mit heiserer Stimme hervor.
Schon am nächsten Tag empfing Lars mich mit der Pillenpackung in der Hand im Flur. Seine Wut und Enttäuschung standen ihm ins Gesicht geschrieben. Er sagte kein Wort, sondern pfefferte mir lediglich die Packung vor die Füße. Mein gestammelter Erklärungsversuch, dass ich einfach noch etwas Zeit zum Nachdenken benötigte, beruhigte ihn keineswegs. Stattdessen steigerte er sich immer weiter in seine Wut hinein, bis er schließlich einen seiner cholerischen Anfälle bekam, der damit endete, dass er alles zu Boden schleuderte, was er in die Finger bekam.
»Er hat mich rausgeschmissen. Und seither haben wir nicht mehr miteinander geredet. Ich habe Lars unzählige Entschuldigungen und Erklärungsversuche auf der Mailbox hinterlassen, aber er hat nicht darauf reagiert. Was ich ihm nicht verübeln kann. Ich kann mir ja selbst nicht verzeihen.«
Nur ein einziges Mal hatte ich von Lars noch eine SMS erhalten. Drei Tage nach meinem Rauswurf hatte er mir geschrieben, dass er all meine Sachen in Umzugskartons gepackt hatte und ich sie in seinem Kellerabteil abholen sollte. Unsere einzige gemeinsame Anschaffung war der Fernseher gewesen, und für den hatte er mir exakt die Hälfte des derzeitigen Gebrauchtwarenwertes auf mein Konto überwiesen. Typisch Beamter!
Daraufhin hatte ich mit Muffin zwei Wochen lang in einem kleinen Hotelzimmer gewohnt und viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Irgendwann konnte ich die Augen vor der Wahrheit nicht mehr länger verschließen: Ich war unglücklich darüber, wie die Beziehung geendet war, aber nicht darüber, dass sie vorbei war. Lars und ich waren ein schreckliches Paar gewesen. Wir passten ungefähr so gut zusammen wie eine Weißwurst zu Nutella. Aber mir einzugestehen, dass ich zu blind gewesen war, das zu erkennen, war nicht leicht gewesen.
In meinem Kopf hatte sich die Idee festgesetzt, dass Lars meine allerletzte Chance auf einen Ehemann und Kinder war. Diese Beziehung durfte einfach nicht scheitern. Deshalb hatte ich mir jahrelang eingeredet, dass mich sein Verhalten nicht wirklich störte. Die Tatsache, dass ich jeden Sonntagmorgen um sieben Uhr mit meinem Kissen im Badezimmer verschwunden war, um voller Frust hineinzubrüllen, hätte mir eigentlich Hinweis genug sein sollen. Wie hatte ich nur so dämlich sein können? Jetzt wollte ich einfach nur mit der Sache abschließen. Vor allem hätte ich mich wirklich gern noch einmal persönlich bei Lars entschuldigt. Das war das Mindeste, was er verdiente.
»Bist du jetzt enttäuscht von mir?«, fragte ich verunsichert, da Sophie nichts sagte.
»Ein ganz klein wenig vielleicht, aber im Grunde kann ich dich verstehen.« Meine Schwester wartete, bis ein älterer Mann unsere Bank passiert hatte, und griff dann nach meiner Hand. »Eigentlich bin ich froh, dass du die Pille genommen hast und dich nicht von dem schwachbrüstigen Wurzelgnom hast schwängern lassen.«
Mir blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. »Ich … bitte … Was?«, ächzte ich.
»Wenn ich mal ehrlich sein darf: Das war das einzig Kluge, was du seit Langem getan hast.« Sie hob lehrerhaft den Zeigefinger. »Obwohl ich dich für eine äußerst intelligente und moderne Frau halte, hast du dich in dieser ganzen Beziehung mit Lars nämlich überraschend dämlich verhalten.«
Da ich zu genau demselben Schluss gekommen war, konnte ich Sophie diese Feststellung nicht verübeln. Wenn sie meinen Exfreund nur nicht als schwachbrüstigen Wurzelgnom bezeichnet hätte! Meine Güte, ich war mit diesem Kerl im Bett gewesen.
»Ganz klar, du hast dich nicht mit Ruhm bekleckert, als du heimlich die Pille genommen hast. Das möchte ich überhaupt nicht schönreden.« Sie warf mir einen strengen Große-Schwester-Blick zu. »Du hättest sofort mit ihm reden müssen, aber das weißt du selbst am besten.«
Fast war ich erleichtert: Da waren ja endlich die Vorwürfe, die ich verdiente. Ich war eine verlogene, feige und erbärmliche Kuh gewesen, so sah es nämlich aus!
Sophie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Alles in allem finde ich es jedoch gut, dass es zwischen Lars und dir zum Knall gekommen ist. Das war längst überfällig. Man kann sich nicht an eine Beziehung zu einem Mann klammern, mit dem man eigentlich überhaupt nicht zusammenpasst. So etwas lässt sich eben nicht erzwingen.«
Ich nickte zustimmend. Trotzdem stiegen mir mit einem Mal die Tränen in die Augen.
»Aber jetzt steh ich vor einem Scherbenhaufen, Sophie«, schniefte ich. »Mein ganzes Leben ist im Eimer. Scheiße, ich bin neununddreißig und völlig allein.«
»So ein Blödsinn!« Sophie schüttelte den Kopf und schloss mich mit einem nachsichtigen Lächeln in die Arme. »Du bist ganz und gar nicht allein.«
»… und hier ist unser Gästezimmer«, beendete Ole die Führung durch sein Haus.
Der Freund meiner Schwester hielt mir die Tür auf, und ich betrat das geräumige Zimmer unter dem Dach. Die Einrichtung bestand aus alten Möbelstücken, die liebevoll restauriert worden waren. Das Holz war abgebeizt und weiß lasiert worden, sodass das Zimmer gemütlich und zugleich hell wirkte. Beim Anblick des großzügigen Bettes mit den dicken Daunenkissen hätte ich mich am liebsten gleich hineinfallen lassen.
»Ich hoffe, es gefällt dir?«, fragte Ole. »Im Vergleich zu dem Hotel, in dem du arbeitest, ist es wahrscheinlich ein bisschen schlicht und rustikal.«
Wow, hatte dieser Mann strahlend blaue Augen! Sie zogen den Blick an wie zwei Magnete, und ich ertappte mich dabei, wie ich den Lebensgefährten meiner Schwester unverhohlen angaffte.
»Quatsch, es ist perfekt«, widersprach ich hastig. »Ich fühle mich jetzt schon wohl. Unsere Hotelzimmer besitzen lange nicht so viel Charme und Wärme.«
Schließlich war ich nicht im Vier Jahreszeiten angestellt. Ich arbeitete für eine internationale Hotelkette, die in jeder größeren Stadt eine anonyme Bettenburg mit mindestens einhundert Zimmern besaß. Zur Unternehmensphilosophie gehörte, dass der Einrichtungsstil – schnörkellos, benutzerfreundlich, sauber – immer gleich sein musste. So wussten die Kunden stets, was sie erwartete. Ich dagegen fand das gruselig. Wie sollten sich die Geschäftsleute morgens nach dem Aufwachen denn noch daran erinnern, in welcher Stadt sie sich gerade befanden? Unsere Hotels lieferten ihnen jedenfalls keine Anhaltspunkte. Auch in Bezug auf die Angestellten war die Unternehmensphilosophie strikt: Abweichungen von den Regeln wurden nicht geduldet. Das hatte ich gerade am eigenen Leib erfahren müssen.
»Die Möbel stammen von Oles Großeltern. Er hat sie selbst restauriert«, verkündete Sophie stolz und stieß mit dem Finger gegen ein selbst gebasteltes Mobile aus Muscheln.
»Das war doch nicht der Rede wert«, wiegelte Ole ab. »Die Winter auf Rügen sind eben lang und irgendetwas muss man mit seiner Freizeit ja anstellen. Zum Glück habe ich jetzt eine neue Beschäftigung gefunden.«
Er grinste vielsagend und zog Sophie in seine Arme. Sie wehrte sich zuerst kichernd, doch dann erwiderte sie seine Umarmung und küsste ihn zärtlich auf die Lippen. Dabei hatten die beiden schon während der Hausbesichtigung kaum die Finger voneinander lassen können. Ich gönnte meiner Schwester ja ihr Glück, aber so zwei Schwerverliebte konnten einem wirklich auf die Nerven gehen! Besonders wenn man selbst seit Kurzem wieder der Singlefraktion angehörte.
Ich wandte mich diskret ab und warf einen Blick aus dem geöffneten Sprossenfenster. Unten auf dem Rasen entdeckte ich Emma, die mit Muffin Ball spielte. Allerdings war sie mit deutlich mehr Begeisterung bei der Sache als mein bewegungsfauler Hund. Muffin schleppte sich im Schneckentempo zum Ball und blieb dort für einige Sekunden regungslos stehen, bis er sich überwinden konnte, den Ball ins Maul zu nehmen und den Rückweg anzutreten. Emma feuerte ihn währenddessen unermüdlich an. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.
Als ich mich wieder umdrehte, hingen Ole und Sophie noch immer wie festgeklebt aneinander und flüsterten sich Zärtlichkeiten zu.
Ich räusperte mich lautstark. »Soll ich euch besser allein lassen?«, fragte ich grinsend.
Mit geröteten Wangen machte Sophie sich von Ole los. »Tut mir leid.«
»Mir nicht.« Ole grinste mich an. »Ich kann von deiner Schwester einfach nicht genug bekommen.«
Ich zog eine Grimasse. »Ach weißt du, spätestens nach zehn, fünfzehn Jahren fängt sie an, einem tierisch auf die Nerven zu gehen. Ich spreche da aus Erfahrung.«
Als Antwort streckte mir Sophie die Zunge heraus. Sehr erwachsen! Fiel man eigentlich immer in kindliche Verhaltensmuster zurück, wenn man seine Geschwister wiedersah?
Ole ergriff mit einem liebevollen Blick Sophies Hand. »Hey, in fünfzehn Jahren bin ich schon bald Rentner, und ich wäre überglücklich, wenn diese Frau dann noch an meiner Seite wäre.«
»Ach, Ole …« Sophie schmolz bei seinen Worten förmlich dahin.
Bevor sie sich ihm wieder an den Hals werfen konnte, stellte ich mich schnell zwischen die beiden, sozusagen als lebende Kussbarriere. Ich blickte von einem zum anderen.
»Also ich bin wirklich froh, hier zu sein«, sagte ich heiter. »Ich bin schon sehr gespannt auf eure Insel.«
»Leider werde ich mich euch nur selten anschließen können«, sagte Ole. »In ein paar Tagen beginnt ein neuer Segelkurs. Zum Glück sind wir früher als geplant von unserem Törn zurück, denn ich muss noch einiges vorbereiten.« Er verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Anscheinend freute er sich nicht gerade auf die Arbeit.
Sophie tätschelte meine Schulter. »Du wirst es wohl verkraften, dass du nicht von einem waschechten ›Rüganer‹, sondern nur von mir herumgeführt wirst.«
»Das wird sich noch herausstellen«, gab ich zurück und wandte mich mit betont ernster Miene an Ole. »Ich werde dich wissen lassen, wie sich deine Freundin als Fremdenführerin schlägt. Ich könnte ihre einzelnen Leistungen auch benoten, wenn du möchtest?«
»Das Erste, was ich dir zeige, werden die Steilklippen sein«, meinte Sophie mit süßlichem Lächeln. »Dort sind schon einige Touristen versehentlich in den Tod gestürzt.«
Ole schüttelte schmunzelnd den Kopf, während ich nur mühsam den Drang unterdrücken konnte, meiner Schwester die Zunge rauszustrecken. Ja, wirklich sehr erwachsen.
»So, dann lasse ich euch mal allein. Bestimmt habt ihr euch viel zu erzählen.« Ole warf mir einen Blick zu. »Ach ja, den Karton, der vor der Haustür stand, habe ich übrigens in den Wandschrank gestellt.« Er betrachtete mich mit hochgezogenen Augenbrauen. »Sind da tatsächlich nur Schuhe drin?«
Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss. »Ähm. Ja.«
»Ohne ihre Schuhe fährt Jule nirgendwohin«, erklärte Sophie.
Ole riss ungläubig die Augen auf. »Ich habe ja schon gehört, dass Frauen im Urlaub einen zusätzlichen Koffer für ihre Schuhe brauchen. Aber einen ganzen Karton …«
»Wenn es sein muss, kann ich sehr wohl mit einem Minimum an Gepäck reisen«, versicherte ich ihm. »Ehrlich!«
Sophie und Ole wirkten nicht gerade überzeugt.
»Soll ich deine restlichen Sachen auch gleich aus dem Auto holen?«, bot Ole an.
Ich spürte, wie sich meine Schultern verkrampften. »Nein, nein, mach dir bitte keine Umstände«, wiegelte ich hastig ab.
Die anderen Umzugskartons konnte ich schließlich nicht einfach mit einem ausgeprägten Schuhfetisch erklären. In Gegenwart von Ole wollte ich jetzt wirklich noch nicht über die geplante Dauer meines Überraschungsbesuchs sprechen. Das würde ich so bald wie möglich in Ruhe und unter vier Augen mit Sofie abklären.
»Okay, wenn meine Dienste als starker Mann nicht mehr benötigt werden, kann ich mich ja aus dem Staub machen.« Ole ging zu Sophie und gab ihr zum Abschied ein Küsschen auf die Wange. »Ist es okay, wenn ich vor dem Abendessen noch schnell bei Markus vorbeischaue? Bei ihm geht es durch den Umbau momentan recht chaotisch zu, und der Unfall seiner Mutter scheint ihn ziemlich mitgenommen zu haben.«
Sophie nickte. »Richte Markus bitte liebe Grüße aus! Aber seine Mutter hat sich nur das Bein gebrochen. Er soll sich nicht so viele Sorgen machen. Unkraut vergeht nicht.«
»So schlimm ist seine Mutter auch wieder nicht«, erwiderte er und gab Sophie noch einen zweiten Kuss. Mit großen Schritten verließ er das Zimmer, doch an der Tür wandte er sich noch einmal zu uns um. »Wisst ihr, dass ich euch beneide? Ich finde es wirklich schade, keine Geschwister zu haben. Es wäre schön, wenn es da einen Menschen gäbe, mit dem ich immer verbunden bin, egal was passiert.«
Sophie und ich sahen ihm in überraschtem Schweigen hinterher. Ich … er … er hatte recht. Ich sollte Sophie nicht als selbstverständlich ansehen! Ich war froh, sie als Schwester zu haben. Dass es mich in meiner Notsituation ausgerechnet zur ihr nach Rügen gezogen hatte, sprach ja wohl Bände. Außerdem schien Sophie sich über meinen Überraschungsbesuch wirklich zu freuen. Ha, das musste ich unbedingt Katrin erzählen!
Sophie kratzte sich verlegen am Hals. »Weißt du, ich habe Ole erzählt, wie leid es mir tut, dass wir in den letzten Jahren so wenig Kontakt hatten. Ich … äh … vermisse dich irgendwie in meinem Leben.«
Gerührt blickte ich sie an. »Ich dich auch … Ich bin wirklich froh, hier zu sein.«
Sophies Kinn zitterte verdächtig. Meine große Schwester sah so aus, als würde sie mich jeden Moment schluchzend an ihre Brust reißen wollen.
»Hey, ich will jetzt wirklich nicht anfangen zu heulen!« Ich schluckte schwer. »Tränen hatte ich in den letzten zwei Wochen wirklich genug.«
Sofie nickte verständnisvoll, und ich wies hastig auf die andere Seite des Zimmers. »Gibt es dort draußen etwa einen Balkon?«
Ich ging zur Sprossenglastür, deren Zwischenräume mit selbst gemachten Fensterbildern beklebt waren. Den etwas unförmigen Sonnenblumen und Margeriten nach zu urteilen, hatte Emma sie als kleines Kind gebastelt.
»Das ist eher ein Balkönchen«, warnte Sophie mich vor. Ihre Stimme war noch etwas belegt, aber sie schien auch dankbar für den Themenwechsel. »Da passt gerade mal ein Stuhl drauf.«
Ich trat hinaus und nahm einen genüsslichen Atemzug frischer, klarer Meeresluft. »Ich finde es schön hier draußen, auch wenn man nicht viel Platz hat.«
Mein Blick glitt über die Bäume und die dunkelbraunen Reetdächer der Nachbarhäuser. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals. »Kann man auch die Ostsee sehen?«