Strandkorbzauber - Marie Merburg - E-Book
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Strandkorbzauber E-Book

Marie Merburg

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Beschreibung

Ein Auftrag führt die Künstlerin Hannah zurück in ihren Heimatort. Liebwitz soll das "Dorf der Liebe" werden - und Hannah das neue Standesamt verschönern. Doch der Empfang ihrer Familie verläuft frostig, und auch eine Begegnung mit ihrem Ex Finn lässt nicht lange auf sich warten. Und dann wird Hannah auch noch dafür verantwortlich gemacht, dass das älteste Ehepaar Deutschlands plötzlich Scheidungsabsichten hegt. Leider scheint nur einer helfen zu können - Finn, der ihr einst das Herz gebrochen hat ...

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Seitenzahl: 497

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

Nachwort

Über das Buch

Ein Auftrag führt die Künstlerin Hannah zurück in ihren Heimatort. Liebwitz soll das »Dorf der Liebe« werden – und Hannah das neue Standesamt verschönern. Doch der Empfang ihrer Familie verläuft frostig, und auch eine Begegnung mit ihrem Ex Finn lässt nicht lange auf sich warten. Und dann wird Hannah auch noch dafür verantwortlich gemacht, dass das älteste Ehepaar Deutschlands plötzlich Scheidungsabsichten hegt. Leider scheint nur einer helfen zu können – Finn, der ihr einst das Herz gebrochen hat …

Über die Autorin

Marie Merburg ist im Süden Deutschlands aufgewachsen und lebt auch heute noch mit ihrer Familie in Baden-Württemberg. Für ihren Roman Wellenglitzern hat sie sich aber die deutsche Ostseeküste als Setting ausgesucht. Sie lässt ihre Heldin von der beeindruckend schönen Landschaft Rügens bezaubern und ihr bei einem Segelkurs salzige Meerluft um die Nase wehen. Ein weiterer Roman ist bereits in Vorbereitung.

Unter dem Namen Janine Wilk schreibt die Autorin auch erfolgreich Kinder- und Jugendbücher.

Marie Merburg

Strandkorbzauber

Ostsee-Roman

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, MindhouseTitelillustration: © shutterstock/Eisfrei; © Irina Fischer/Shutterstock; © Michael Leidel/Shutterstock; © Sergey Sidelnikov/ShutterstockUmschlaggestaltung: Kirstin OsenaueBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-1021-3

luebbe.delesejury.de

Für meine Schwiegermutter Uschi,weil sie so ein herzensguter Mensch ist, immer hilft und mich stets mit dem hausgemachten Frischkäse versorgt, den ich so sehr mag

Prolog

Fünfzehn Jahre zuvor

Halbinsel Fischland-Darß-Zingst

Unsere Hände waren fest ineinander verschlungen, und Finn zog mich hinter sich her durch die Augustnacht. Die Wellen brandeten leise und träge ans Ufer, als würde die Ostsee bereits in tiefem Schlummer liegen – genau wie der Rest des Dorfes. Wir schienen die einzigen Menschen zu sein, die um diese Uhrzeit noch unterwegs waren. Der Lichtstrahl von Finns Taschenlampe tanzte fröhlich vor uns durch die Dunkelheit und erhellte einen Teil des Strandes.

»Nicht so schnell!«, rief ich lachend. Meine Flip-Flops baumelten in meiner Hand, und der feine Sand, der noch die Wärme des Tages in sich trug, bohrte sich zwischen meine Zehen. Ich hatte immer noch nur ein Top und kurze Jeansshorts an, und der Nachtwind strich kühl um meine nackten Arme und Beine. Finn und ich waren den ganzen Tag auf dem oder im Meer gewesen, da wir einen Ausflug mit dem Zeesboot seines Onkels gemacht hatten. Finn liebte diese traditionellen Fischerboote mit den typischen braunen Segeln. Unsere Haut verströmte den Duft des Sommers – ein letzter Hauch Sonnencreme, eine Prise Meersalz und der Duft der grenzenlosen Freiheit. Und nun schwebte ich an Finns Hand am Strand von Liebwitz durch die Nacht. Leicht und unbeschwert, getragen vom Augenblick.

»Jetzt verrate mir endlich, wo du mit mir hinwillst!«, quengelte ich. Geduld war noch nie meine Stärke gewesen, und ich platzte fast vor Neugier.

Finn lachte und blickte, ohne innezuhalten, über die Schulter zu mir. Obwohl sein Gesicht im Dunkeln lag, wusste ich genau, dass er mir gerade zuzwinkerte. Seit Kindertagen waren wir miteinander befreundet, und manchmal hatte ich das Gefühl, dass ich Finn besser kannte als mich selbst.

»Wir sind gleich da«, versprach er und lachte. »Du musst es nicht mehr lange aushalten.«

Finn wandte sich vom Strand ab, und wir kletterten eine steile Düne hinauf. Keuchend erreichten wir einen Trampelpfad, der rechts und links von hohen Gräsern gesäumt war. Mittlerweile hatten wir uns schon so weit vom Dorf entfernt, dass die Lichter kaum noch zu sehen waren.

Endlich blieb Finn stehen. Seine Taschenlampe wanderte über das verfallene Reetdachhaus, das sich vor uns erhob. Der Fassadenputz war abgebröckelt, die Fensterläden hingen schief in den Angeln, und das Dach war verrottet. Früher hatte der alte Herr Olafson hier gewohnt, aber seit er gestorben war, kümmerte sich niemand mehr um das Godewind-Haus und den Garten. Man hatte lediglich einen Bauzaun um das Grundstück aufgestellt, um spielende Kinder fernzuhalten. Hier war ich schon seit Jahren nicht mehr gewesen.

»Was willst du denn bei dieser Bruchbude?«, entfuhr es mir perplex.

»Hey, beleidige nicht unser zukünftiges Haus!«, entgegnete Finn mit gespielter Empörung.

»Unser zukünftiges Haus?« Ich schüttelte grinsend den Kopf. Da er seine Ausbildung zum Schiffsbauer noch nicht abgeschlossen und ich gerade erst mein Abitur gemacht hatte, war für uns ein Hauskauf ungefähr so realistisch wie ein Flug zum Mond.

Finn schien meine Gedanken erraten zu haben. »Natürlich wird das noch etwas dauern«, erklärte er, ohne sich in seinem Optimismus bremsen zu lassen. »Aber ich habe es im Gefühl, Hannah! Das ist das Haus, in dem wir glücklich werden.«

Ehe ich etwas erwidern konnte, zog er mich wieder mit sich. »Komm, ich zeig es dir!«

Er wollte doch nicht etwa in das verlassene Haus hineingehen? Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube folgte ich Finn zum hinteren Teil des Grundstücks. Dort schob er einen der Bauzäune zur Seite, sodass eine Lücke entstand und wir hindurchschlüpfen konnten. Die Verbindungsschellen, die die beiden Zaunteile miteinander verbunden hatten, waren offensichtlich schon vorher entfernt worden. Ob ich überhaupt wissen wollte, wer dafür verantwortlich war?

»Das ist Einbruch, Finn!«, flüsterte ich. »Das können wir nicht machen.«

Er winkte ab. »Ach, das interessiert doch niemanden«, antwortete er unbekümmert. »Um diese Uhrzeit taucht hier garantiert kein Polizist auf.«

Vor der Polizei hatte ich auch keine Angst – vor meiner Mutter allerdings schon. Wenn uns irgendjemand aus dem Dorf beobachtete und meinen Eltern davon erzählte, war ich geliefert. Mir war quasi mit der Muttermilch eingeflößt worden, stets alle Regeln zu befolgen und bloß nicht unangenehm aufzufallen. Das Motto meiner Mutter lautete: »Wir mögen arm sein, aber unseren guten Ruf kann uns keiner nehmen!« Seltsamerweise musste ich auf den guten Ruf der Familie Bradhering etwas mehr achten als mein jüngerer Bruder Bastian. Bei ihm würde meine Mutter das unbefugte Betreten eines verlassenen Hauses mitten in der Nacht wohl als Lausbubenstreich abtun. Bei mir dagegen wäre es sicherlich ein Grund zu großer Sorge wegen meiner kriminellen Tendenzen und ein Zeichen für den anstehenden Verfall meiner moralischen Werte.

Finn schien mein Zögern zu bemerken. Er hielt inne und strich liebevoll über meine Wange. »Ich pass auf dich auf, Hannah!«, versprach er und küsste mich herzzerreißend sanft. Noch Sekunden später spürte ich den Nachhall dieser zärtlichen Berührung als leichtes Kribbeln in meinem Körper. Finns Küsse hatten immer diese Wirkung auf mich.

»Und falls wir – wider Erwarten – erwischt werden, nehme ich alle Schuld auf mich. Ich behaupte einfach, ich hätte dich über die Schulter geworfen und gegen deinen Willen hierhergeschleppt.«

Ich schnaubte amüsiert. »Als ob dir das jemand glauben würde! Das ganze Dorf weiß mittlerweile, dass wir zusammen sind.«

Tatsächlich waren wir noch nicht lange ein Paar. Allerdings war ich vorher zwei Jahre lang heimlich in Finn verliebt gewesen. Noch nicht einmal meiner besten Freundin Ella hatte ich meine Gefühle anvertraut. Stattdessen hatte ich jedes Mal in Finns Nähe stille Seelenqualen erlitten und versucht, mir nichts anmerken zu lassen. In der Hoffnung, meine heimliche Liebe würde vorüberziehen wie ein plötzlich auftretender Seenebel im Frühling. Mein Herzklopfen und meine zittrigen Knie waren mir einfach nicht richtig vorgekommen. Immerhin waren Finn, Ella und ich schon seit der Grundschule miteinander befreundet. Mit jeder Faser meines Körpers hatte ich mich in den letzten Jahren nach einem Kuss von Finn gesehnt, aber gleichzeitig hatte mich dieser Gedanke auch mit Angst erfüllt: Womöglich bildete ich mir meine Gefühle für ihn nur ein? Was wusste ich denn schon großartig von der Liebe? Wollte ich dafür wirklich unsere Freundschaft riskieren? Dummerweise hatten sich meine Gefühle nicht verflüchtigt, im Gegenteil – es war mir immer schwerer gefallen, mich zu verstellen. Ich hatte mir sogar überlegt, ein Freiwilliges Soziales Jahr zu machen und die Insel zu verlassen, nur um nicht mehr ständig in Finns Nähe sein zu müssen.

Doch dann hatte er mich vor einigen Wochen am Abend meines achtzehnten Geburtstags am Strand zum ersten Mal geküsst. Und es hatte sich angefühlt, als würden die Sterne über dem Meer auf uns herabregnen und uns in ihr funkelndes Licht hüllen. Unser Kuss war wie ein erster Atemzug, der erste Schlag eines Herzens gewesen. Als wäre ich in diesem Moment erst richtig zum Leben erwacht. Seit diesem Moment waren wir unzertrennlich. Fast alle im Dorf hatten sich für uns gefreut und gemeint, dass das schon längst überfällig gewesen war. Nur Finns Mutter war über unsere Beziehung nicht sonderlich begeistert. Und auch meine beste Freundin Ella benahm sich seither eigenartig.

»Sieh mal!«, sagte Finn in diesem Augenblick.

Das Licht seiner Taschenlampe streifte eine kunstvoll geschnitzte Holztafel, die über der Tür hing und dem Haus seinen Namen gegeben hatte: Godewind, guter Wind. Die Tafel war von der Sonne schon so ausgebleicht, dass die ursprüngliche Farbe nicht mehr zu erkennen war. Die Tür hing schief in den Angeln und war in ebenso schlimmem Zustand wie der Rest des Hauses.

Finn drückte mir die Taschenlampe in die Hand. »Übernimmst du mal bitte das Leuchten?«

»Aber wieso …«, wollte ich gerade fragen, als Finn mich auch schon hochhob und mühelos auf seinen Armen hielt.

»Was wird denn das?«, keuchte ich überrascht.

»Na, wonach sieht es denn aus?«, erwiderte er grinsend. »Ich trage die Dame des Hauses natürlich über die Schwelle.«

»Du verrückter Knallkopf!«, rief ich lachend.

Er ließ sich von seinem Vorhaben jedoch nicht abbringen: Feierlich trug Finn mich über die Schwelle. Danach setzte er mich wieder ab, legte die Hände an meine Taille und zog mich an sich. »Wie hast du mich eben noch gleich genannt?«

»Einen Knallkopf«, wiederholte ich und verschränkte die Arme in seinem Nacken. Das führte dazu, dass die Taschenlampe nicht mehr uns, sondern einen Balken schräg über uns beleuchtete. »Du bist ein Träumer und ein Knallkopf – weil du dauernd wundervoll verrückte Ideen hast.«

Sanft hob er mit seinen Fingern mein Kinn an. »Ich bin kein Träumer, Hannah«, widersprach er mit ernster Stimme und senkte den Kopf, »denn ich weiß genau, was ich will.«

Finns Kuss ließ meine Knie weich werden und nahm mir den Atem. Wie hatte ich es nur geschafft, ohne diese Küsse auszukommen? Sie raubten mir den Verstand, machten mich süchtig und weckten ein Verlangen in mir, das ich nie zuvor gefühlt hatte. Doch offenbar hatte Finn anderes im Sinn. Viel zu schnell löste er sich wieder von mir und nahm mir die Taschenlampe ab, um mit der Führung fortzufahren.

»Du musst vorsichtig sein!«, ermahnte er mich. »Am besten du bleibst dicht hinter mir.«

»Okay.«

Mit klopfendem Herzen folgte ich ihm. Es befanden sich kaum noch Möbel in den Räumen, dafür gab es überall Staub, Schutt und Sandverwehungen, die sich wie kleine Wanderdünen in den Zimmern verteilten. Auch wenn nichts mehr an den früheren Bewohner Herrn Olafson erinnerte, fand ich es trotzdem unheimlich, bei Nacht durch ein verlassenes Haus zu streifen. Mit angehaltenem Atem schlich ich hinter Finn her.

»Schau mal, das ist die Küche!« Finn blieb stehen und beleuchtete eine Nische. Dort stand ein alter Herd, den man noch mit Holz beheizen musste. Er war wohl zu schwer gewesen, um ihn wegzuschaffen.

»Wieso begeistert dich dieses Haus eigentlich so sehr?« Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper, weil mich fröstelte. »Das ist doch abbruchreif.«

»Seine Schönheit erkennt man erst auf den zweiten Blick.« Finn kniete sich hin und schob den Schutt beiseite. Darunter kamen dunkle Holzdielen zum Vorschein.

»Das sind keine normalen Dielen«, erklärte er. »Das sind alte Schiffsplanken. Kannst du dir das vorstellen?« Ehrfürchtig strich er über den Boden. »Dieses Holz war mal Teil eines Schiffs, das die Weltmeere besegelt hat. Es hat gefährliche Stürme überstanden und abenteuerliche Reisen hinter sich.«

Er stand auf und richtete das Licht der Taschenlampe nach oben. »Und sieh dir mal diesen Gebälkfries an! Er zeigt Schiffe, Fische und Meereswellen.«

Staunend betrachtete ich die kunstvollen Schnitzereien. Hier hatte sich jemand unglaublich viel Mühe gemacht und Liebe hineingesteckt. Finn hatte recht: Das Haus war bei genauerem Hinsehen ein Schatz, aber es würde viel Arbeit erfordern, um es wieder bewohnbar zu machen. Das wurde besonders deutlich, als ich Finn ins nächste Zimmer folgte.

»Ach, du meine Güte!« Ich schaute direkt in den Sternenhimmel über uns.

»Da fehlt ein Teil des Dachs, Finn«, wies ich ihn auf das Offensichtliche hin, obwohl ihm das bestimmt nicht entgangen war.

»Das kann man alles reparieren«, entgegnete er schulterzuckend, als handele es sich lediglich um ein loses Tapetenstück. Zielsicher marschierte er in eine Zimmerecke zu einem Picknickkorb. Da dieser staubfrei war und völlig intakt zu sein schien, wirkte er in dieser Umgebung wie ein Fremdkörper.

»Ist das die Überraschung?«, jauchzte ich.

Finn nickte. »Ein nächtliches Picknick unter dem Sternenhimmel«, erklärte er. »In unserem zukünftigen Haus.«

Also war er vorher schon mindestens einmal hier gewesen, um alles vorzubereiten. Erst jetzt fiel mir auf, dass dieses Zimmer auch bedeutend sauberer war als der Rest des Hauses.

Finn breitete eine Decke aus, mit der der Korb abgedeckt gewesen war. Dann zauberte er eine Flasche Sekt, zwei Gläser und eine Schüssel Erdbeeren daraus hervor. Zum Abschluss entzündete er ein paar Teelichter, die er zur Sicherheit in alte Marmeladengläser steckte.

»Wir wollen doch nicht, dass unser Traumhaus abbrennt«, erklärte er.

»Natürlich nicht«, bestätigte ich überaus ernsthaft.

Während Finn alles vorbereitete, warf ich einen kurzen Blick auf mein Handy. Ich seufzte. Meine Freundin Ella hatte immer noch nicht geantwortet – dabei hatte ich ihr seit gestern Abend schon vier Nachrichten geschickt und sie drei Mal erfolglos angerufen. Das war absolut untypisch für sie. Seit dem Tag, an dem Finn und ich ein Paar geworden waren, verhielt sie sich seltsam und ging mir aus dem Weg. Hätte ich nicht gewusst, dass sie sich nicht im Mindesten für Männer interessierte, hätte ich wohl vermutet, dass sie heimlich in Finn verliebt war. Aber auch in meinem Fall kam Eifersucht nicht infrage – meine beste Freundin hatte mir schon vor Jahren glaubhaft versichert, dass ich als Frau nicht ihr Typ und außerdem wie eine Schwester für sie wäre. Deshalb verstand ich einfach nicht, was mit ihr los war.

Finn umschlang mich von hinten und küsste mich auf die empfindliche Stelle direkt unter meinem Ohr. »Was ist los? Gefällt dir die Überraschung nicht?«

»Doch, natürlich, sehr sogar! Es ist nur wegen Ella. Es herrscht mal wieder absolute Funkstille von ihrer Seite.« Wieder seufzte ich tief. Ich drehte mich in seinen Armen um und sah zu ihm auf. »Wieso zieht sie sich plötzlich zurück, Finn? Sie ist doch meine beste Freundin.«

Er dachte kurz nach, ehe er antwortete. Im flackernden Kerzenschein erinnerten mich seine dunkelgrünen Augen noch mehr als sonst an das dichte Blätterdach des Darßwaldes. Bei uns auf der Insel galt der Wald als ein geheimnisvoller Ort voller Legenden. Und von all diesen mystischen Geschichten schienen Finns Augen zu erzählen. Sein karamellfarbenes Haar fiel ihm in die Stirn, denn es war wie immer etwas zu lang. Reflexartig hob ich die Hand, um eine Strähne zurückzustreichen. Meine Fingerspitzen glitten durch sein seidiges Haar und verharrten in seinem Nacken. Ich konnte einfach nicht genug davon bekommen, ihn zu berühren.

»Vielleicht ist Ella mit der neuen Situation einfach überfordert«, sagte er schließlich. »Wir drei sind ja schon miteinander befreundet, seit wir Kinder waren. Womöglich fühlt sie sich jetzt überflüssig.«

Ich schüttelte stumm den Kopf. Das konnte ich mir nicht vorstellen. Denn selbstverständlich waren Finn und ich keine unsensiblen Vollpfosten. Bei den wenigen Malen, in denen wir in den vergangenen Wochen mit Ella zusammen unterwegs gewesen waren, hatten wir uns wohlweislich zurückgenommen und in ihrer Anwesenheit nicht mal Händchen gehalten. Wir hatten uns allergrößte Mühe gegeben, uns ganz normal zu benehmen.

»Vielleicht redest du mal mit ihr darüber?«, schlug er mit einem aufmunternden Lächeln vor. »Frag sie offen und direkt, ob sie ein Problem mit unserer Beziehung hat. Dann muss sie dir eine ehrliche Antwort geben.«

Da ich ein harmonieliebender Mensch war, vermied ich normalerweise offene Konfrontationen. Doch in diesem Fall würde mir wohl keine andere Wahl bleiben. »Das wird wohl das Beste sein«, murmelte ich.

Mein Blick glitt zur Seite. Der Sekt perlte schon verlockend in den Gläsern. Verflixt! Finn hatte sich so viel Mühe gegeben, und ich dankte es ihm, indem ich uns die Stimmung verdarb. Ich griff nach seiner Hand und zog ihn zur Picknickdecke. »Lass uns anstoßen!«

Wir setzten uns im Schneidersitz einander gegenüber. Finn hob feierlich sein Glas. »Auf uns!«, verkündete er und fügte augenzwinkernd hinzu: »Und unser zukünftiges Haus!«

Als ich einen Schluck trank und dabei den Kopf hob, sah ich unweigerlich durch das Loch im Dach. Es war eine klare Nacht, und ein Meer aus Sternen funkelte am Firmament. »Du denkst wirklich, dass wir mal in dieser Bruchbude leben werden?«, fragte ich skeptisch.

»Irgendwann ja! Dann wirst du eine berühmte Malerin sein, und ich werde als Schiffsbauer eine eigene kleine Werft besitzen«, prophezeite Finn.

Das klang traumhaft! Und leider auch zu schön, um wahr zu sein. »Das würde deinem Vater bestimmt nicht gefallen«, erwiderte ich.

Finn liebte die Ostsee, und ganz besonders liebte er es, mit dem Zeesboot hinauszufahren. Schon vor seiner Ausbildung hatte er an dem Kahn seines Onkels in jeder freien Minute herumgewerkelt und ihn instand gehalten. Finns Vater war über diese Leidenschaft alles andere als glücklich. Für ihn stand fest, dass seine beiden Söhne irgendwann seine Firma übernehmen würden. Deshalb hatte Finns Entschluss, eine Ausbildung als Schiffsbauer zu machen, auch zu einem riesigen Eklat geführt. Bisher hoffte sein Vater jedoch noch, dass Finn irgendwann wieder »zur Vernunft« kommen würde.

»Ich bin nicht dazu geboren worden, meinen Vater glücklich zu machen«, meinte Finn selbstbewusst. »Das ist mein Leben, Hannah. Darüber entscheide ich selbst. Außerdem gibt es auch noch Noah. Mein Bruder wird ein ganz hervorragender Geschäftsführer sein.«

Ich bewunderte Finn für seinen Mut und seine Entschlossenheit. Denn auch meine Eltern hatten eine klare Vorstellung von meiner Zukunft – und sie wollten, dass ich nach dem Schulabschluss eine handfeste Berufsausbildung machte. Ein Kunststudium war für sie völlig indiskutabel. Nur wenn ich mit Finn zusammen war, schienen meine Wünsche und Träume plötzlich in greifbare Nähe zu rücken – als müsste ich lediglich die Hand danach ausstrecken und zugreifen. Bei ihm konnte ich für einen kurzen Moment daran glauben, dass uns eine ganz wundervolle Zukunft erwartete. Allein Finns Begeisterung für dieses heruntergekommene Gemäuer konnte ich nicht ganz teilen. Erneut glitt mein Blick durch das Zimmer. Selbst der sanfte Kerzenschein konnte den Zerfall nicht kaschieren.

»Du musst dir das alles hier renoviert vorstellen«, meinte Finn. »Als Künstlerin hast du doch jede Menge kreative Ideen. Wie könnte das fertige Haus denn aussehen?«

»Okay.« Ich trank noch einen Schluck Sekt und ließ meine Fantasie spielen. »Der alte Herd in der Küche darf bleiben. Der hat etwas Nostalgisches. Und die Schiffsplanken müssen auf Hochglanz poliert sein. Dazu passt eine helle sommerliche Landhausküche.«

So langsam machte mir die Sache Spaß! Begeistert fuhr ich fort: »Und an den Sprossenfenstern sollen Scheibengardinen mit Häkelborte hängen. Obwohl … Nein, ich will keine Gardinen! Man soll ungehindert nach draußen aufs Meer und den Garten blicken können. Dann möchte ich Blumen im Garten, jede Menge bunte Blumen.«

Finn lächelte. »Und welche Farbe soll das Haus haben?«

»Pastellblau – wie der Himmel über dem Meer kurz vor Sonnenaufgang«, gab ich wie aus der Pistole geschossen zurück. Und grinsend ergänzte ich: »Mit Fensterläden in Pastellrosa.«

»Rosa?« Finn verzog angewidert das Gesicht. »Igitt! Du kannst doch von einem gestandenen, vor Testosteron strotzenden Mann nicht erwarten, dass er in einem Haus mit rosafarbenen Fensterläden wohnt.«

Ich lachte, beugte mich zu ihm und gab ihm einen zärtlichen Kuss. »Und wenn ich dich ganz lieb darum bitte?«, hauchte ich an seine Lippen.

Blitzartig schlang Finn seine Arme um mich, zog mich an seine Brust und drückte mich mit seinem Körper zu Boden. Sofort beschleunigte sich mein Herzschlag, und mich durchlief ein verheißungsvolles Prickeln.

Finns Haare fielen ihm in die Stirn, als er mich für einen Moment fast ehrfürchtig betrachtete. »Du bist wunderschön, Hannah!«

Ich wusste, dass ich nicht gerade hässlich war, aber als »wunderschön« hätte ich mich sicher nicht bezeichnet. Ich war eben der typisch nordische Typ: für eine Frau recht groß, etwas zu wenig Busen, etwas zu wenig Hintern, im Gesicht zahlreiche Sommersprossen und natürlich blond. Doch Finn gab mir das Gefühl, die schönste Frau auf der Welt zu sein. Jedenfalls für ihn. Und das war alles, was zählte.

Er neigte den Kopf zur Seite und setzte eine Spur aus federleichten Küssen meine Schläfe hinab bis zu der empfindlichen Stelle in meinem Nacken. Es kitzelte so sehr, dass ich quiekte.

»Keine Chance, du wirst mich nicht umstimmen!«, kicherte ich. »Ich bleibe bei Rosa für die Fensterläden.«

»Ich will dich gar nicht umstimmen«, raunte Finn mir ins Ohr. »Dein Wunsch ist mir Befehl. Du wirst deine rosafarbenen Fensterläden bekommen.«

Er intensivierte seine Küsse – nun waren sie intensiv, heiß und hungrig. Dieses Mal kitzelte es nicht, und Finns Leidenschaft schien direkt auf mich überzuspringen. Wie von selbst bog sich ihm mein Oberkörper entgegen, und ich stöhnte leise auf. Finn verschloss meinen Mund mit seinen Lippen. Ich ließ mich in diesen Kuss fallen, umschlang Finn mit meinen Armen und genoss das warme Glücksgefühl, das mich durchströmte.

Schließlich legte er seine Stirn auf meine, und unser Atem verschmolz miteinander. »Ich liebe dich, Hannah – und werde dich immer lieben!«

»Das kannst du doch jetzt noch gar nicht wissen«, flüsterte ich überwältigt.

»Doch, das kann ich«, beharrte er. Er beugte sich ein Stück zurück, sodass wir uns in die Augen sehen konnten. Der flackernde Kerzenschein ließ unruhige Schatten über sein Gesicht tanzen. Die Ernsthaftigkeit, die plötzlich in seinen Zügen lag, wirkte dadurch noch bedeutungsvoller. »Und ich verspreche dir, dass ich alles dafür tun werde, um dich glücklich zu machen.«

»Wirklich alles?«, fragte ich mit heiserer Stimme.

»Ich würde mein Leben für dich geben, Hannah. Du hast einen Mann verdient, der für dich durchs Feuer geht.«

Mein Herz zog sich vor Freude zusammen. Mit den Fingerspitzen strich ich zärtlich seine Haare aus der Stirn. »Ich liebe dich auch«, flüsterte ich und hob den Kopf, um ihn zu küssen.

Ich schmeckte das Salz auf seiner Haut, den Sommer, die Liebe und die Freiheit. In diesem Moment wollte ich Finn so sehr, dass es über rein körperliches Verlangen weit hinausging. Ich wollte mit ihm verschmelzen, ihn in mich aufnehmen, in seinen Küssen ertrinken und seine Seele berühren. Ich wünschte mir sehnlichst, dass dieser Augenblick niemals, niemals endete.

1. Kapitel

Fünfzehn Jahre später

»Ich kann nicht«, jammerte ich und klammerte mich am Lenkrad fest. »Ich kann das nicht, Oliver.«

»Du kannst schon – du willst nur nicht«, tönte die Stimme meines besten Freundes aus der Freisprechanlage.

Ich stand mit laufendem Motor mitten auf der Straße und starrte auf das gelbe Ortsschild: Liebwitz. Das Dorf auf der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst, in dem ich geboren und aufgewachsen war. Das Dorf, in das ich seit fünf Jahren keinen Fuß mehr gesetzt hatte.

»Nur Mut, Süße! Es wird bestimmt nicht so schlimm, wie du befürchtest«, sagte Oliver.

Ich ließ den Kopf gegen das Lenkrad sinken. »Du hast leicht reden«, hauchte ich. Oliver saß schließlich gerade in seiner Galerie in Berlin und schlürfte in aller Seelenruhe eine Tasse Grüntee. »Wieso hab ich mich bloß darauf eingelassen?«

Heute früh in Berlin war ich noch überzeugt gewesen, alldem gewachsen zu sein. Dummerweise hatte ich nicht mit den intensiven Gefühlen gerechnet, die der Anblick meines Heimatdorfes in mir auslösen würde. Leider waren die meisten Erinnerungen, die mir gerade im Kopf herumschwirrten, nicht positiver Natur. Dabei lag Liebwitz an diesem Junimorgen unschuldig und malerisch im strahlenden Sonnenschein vor mir: ein Dorf zwischen Ostsee und Saaler Bodden, umgeben von Salzwiesen, Schilfrohrgürteln, einem herrlichen Sandstrand und dem mystischen Darßwald. Das Einzige, was die ländliche Idylle momentan ein wenig störte, war ein jugendlicher Tramper am Straßenrand. Er war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und gehörte wohl der Gothic-Bewegung an. In der Hand hielt er ein Pappschild, und neben ihm lag ein vollbepackter Seesack. Der junge Mann sah immer wieder neugierig zu mir herüber. Dabei blitzten seine zahlreichen Gesichtspiercings im Sonnenlicht.

»Du hast dich darauf eingelassen, weil du das Geld brauchst, Hannah. Dringend«, erinnerte mich Oliver.

»Schon. Aber jetzt frage ich mich, ob ein Haufen Geld es wert ist, dass ich das alles auf mich nehme«, erwiderte ich störrisch. »Ich will nicht zurück!«

Wäre ich nicht hier aufgewachsen, hätte ich das Dorf wahrscheinlich bezaubernd gefunden, aber ich kannte jeden Baum, jedes Haus und die dazugehörigen Bewohner. Die Männer in Liebwitz hatten tiefe durchdringende Stimmen und trugen Anzüge nur zu besonderen Gelegenheiten. Die Frauen buken Kuchen für das Sommerfest der Grundschule und trafen sich einmal pro Woche im Heimatverein oder zum Zumba-Kurs in der Sporthalle. In Liebwitz stellte Tratsch eine eigene Währung dar, man pflegte sein Häuschen und liebte das Meer. Außerdem hielt man es für moralisch bedenklich, wenn jemand allzu oft zur Beichte in die Kirche ging. Ein Mensch, der sich nichts zuschulden kommen ließ und anständig lebte, hatte nämlich weder etwas zu beichten noch Gott zu fürchten.

Doch man kämpfte im Dorf auch ums finanzielle Überleben. Liebwitz war klein, es gab nur ein einziges Hotel, keine Sehenswürdigkeiten und nur wenige Touristen. Dass ich heute von Bürgermeister Dirk Jansen hierherbeordert worden war, ließ mich vermuten, dass er momentan wieder an einer Idee tüftelte, um Geld in die leere Gemeindekasse zu spülen. Die Details würde ich jedoch erst am Nachmittag erfahren.

»Ich könnte einfach umkehren und zurück nach Berlin fahren«, sagte ich mehr zu mir selbst als zu Oliver. Dann wäre ich am Nachmittag wieder zu Hause.

Eine Überlegung, die – meiner Meinung nach – absolut nachvollziehbar war. Denn ich fühlte mich elend. Plötzlich spürte ich wieder den stechenden Schmerz in meinem Herzen, der selbst nach fünf Jahren so intensiv war, dass es mir den Atem raubte. Er vermischte sich mit Wut und einer kleinen Prise Rachedurst. Allerdings waren da auch Neugierde, Sehnsucht, Freude und Herzklopfen. Gekrönt wurde mein emotionales Chaos von Schuldgefühlen und einer ordentlichen Portion Scham – vor allem meiner Familie gegenüber. Kein Wunder, dass ich kurz vor einem seelischen Kollaps stand. Müsste ein Mann so viele Empfindungen auf einmal ertragen, würde er bestimmt wie ein gefällter Baum bewusstlos umkippen.

»Du könntest natürlich umkehren«, meinte Oliver. »Aber dann würde ich dich für eine schrecklich feige Pissnelke halten. Und das willst du doch nicht, oder?«

Ehe ich mich über die Betitelung »feige Pissnelke« beschweren konnte, fuhr er auch schon fort: »Ich bin überzeugt, dass es nicht so schlimm wird, wie du es dir ausmalst. Es ist doch nur für zwei, drei Tage, Hannah! Und deine Familie freut sich bestimmt, dich wiederzusehen. Wahrscheinlich haben sie deinen Lieblingskuchen gebacken und erwarten dich schon voller Aufregung.«

Tatsächlich war es der Gedanke an meine Eltern und meinen Bruder, der mich bisher vom Umkehren abgehalten hatte. Nur waren sie leider nicht die einzigen Einwohner in Liebwitz. Seufzend fuhr ich mir mit den Händen übers Gesicht.

»Alles in mir sträubt sich dagegen weiterzufahren«, versuchte ich, Oliver mein Dilemma zu erklären. Obwohl er mich nicht sehen konnte, deutete ich vom Ortsschild quer über die Fahrbahn. »Das ist wie eine magische Grenze, die ich nicht überqueren kann.«

»Wieso? Landest du dann in Hogwarts?« Er kicherte.

»Haha.« Ich verzog das Gesicht. »Hier geht es um sehr viel mehr. Du weißt genau, dass ich einige Geheimnisse im Gepäck habe, von denen niemand weiß.«

»Dann sorg einfach dafür, dass es so bleibt!«, meinte mein Freund pragmatisch. Er und sein Ehemann Thomas wussten über jedes Detail meines Lebens Bescheid. Trotzdem liebten sie mich und begleiteten mich seit Jahren durch dick und dünn.

Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung wahr. Der Gothic-Typ kam auf mein Auto zumarschiert und klopfte an mein Fenster. Wahnsinn, für einen Teenager hatte er wirklich beeindruckend viele Piercings im Gesicht!

Ich beendete kurzerhand mein Telefonat mit Oliver und versprach ihm, mich heute Abend noch mal zu melden.

»Ja bitte?«, fragte ich den Tramper, nachdem ich das Fenster heruntergelassen hatte. Ich betrachtete sein weißes Gesicht mit den schwarz bemalten Augen. Irgendwie kam er mir bekannt vor.

»Entschuldige, ich möchte nicht aufdringlich sein«, erwiderte er erstaunlich höflich. »Aber brauchst du vielleicht Hilfe? Hast du dich verfahren?«

Peinlich berührt schüttelte ich den Kopf. Dass ich hier mit laufendem Motor mitten auf der Straße stand und brütend auf das Ortsschild starrte, mutete sicherlich recht merkwürdig an.

»Nein, danke! Es ist alles in Ordnung. Aber ich finde es sehr nett von dir, dass du mir helfen …« Mitten im Satz verlor ich den Faden. Verflixt, ich kannte diesen Jungen! Ganz bestimmt sogar. Nachdenklich wanderte mein Blick über sein Gesicht. Doch die Schminke und die Piercings machten es mir nicht leicht.

Plötzlich entgleisten die Gesichtszüge des Teenagers, und er riss die Augen auf. »Hannah?«, stieß er überrascht aus. »Hannah Bradhering aus dem Distelweg?«

»Äh, ja«, bestätigte ich mit zaghaftem Lächeln.

»Ich halts nicht aus!« Er klatschte in die Hände und grinste bis über beide Ohren – was nicht ganz zu seiner düsteren Aufmachung passte. »Dass ich dich hier treffe, hätte ich echt nicht gedacht.«

Mit Nachdruck forderte ich mein Hirn auf, mir jetzt endlich eine Information zu liefern – aber da kam nichts. Es entstand eine unangenehme Gesprächspause, und ich biss mir auf die Unterlippe.

Er legte den Kopf schräg. »Du hast keine Ahnung, wer ich bin, oder?«

»Hilf mir mal auf die Sprünge!«, bat ich ihn.

»Ich geb dir einen Tipp: Du warst bis vor sieben, acht Jahren noch meine Babysitterin«, sagte er und ließ amüsiert die gepiercten Augenbrauen hüpfen.

Das schränkte die Auswahl ein. Schon während meiner Schulzeit hatte ich mir als Babysitterin im Dorf etwas dazuverdient. Nachdem ich meine Ausbildung zur Hotelfachfrau beendet hatte, war dafür jedoch leider kaum noch Zeit geblieben. Zum Schluss hatte ich nur noch ab und zu zwei aufgeweckte und unglaublich liebenswerte Geschwister betreut. Endlich fiel bei mir der Groschen.

»Sören?«, fragte ich ungläubig. »Du bist Sören Winkler?«

»Spike«, korrigierte er mich umgehend. »Ich ziehe mittlerweile den Namen Spike vor.«

Auf meine fragende Miene hin erklärte er in rebellischem Tonfall: »Ich bin der Stachel im Auge meiner Eltern.«

Ich schmunzelte. Das konnte ich mir gut vorstellen. Mit seinen Piercings, der Schminke und den schwarzen Klamotten eckte Spike im Dorf sicherlich an.

Als ich Liebwitz verlassen hatte, war Sören alias Spike noch ein pummeliger Zwölfjähriger gewesen. In den vergangenen fünf Jahren war er in die Höhe geschossen und hatte die Metamorphose zu einem jungen Mann durchlaufen.

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, warst du noch ein kleiner Junge und hast deiner Schwester Tine Juckpulver ins Bett gestreut.«

»Ja, aus mir ist ein attraktiver Mann geworden.« Er warf seine schwarzen Haare zurück und grinste frech. »Aber das mit dem Juckpulver mache ich heute noch gern. Tine regt sich jedes Mal so schön auf.«

Mein Blick fiel auf das Pappschild in seiner Hand. Dort stand in großen Lettern der Zielort: EINFACH WEG. Mir schwante Übles.

»Wolltest du gerade abhauen?«, fragte ich alarmiert. »Oder wie darf man dein Schild und den Seesack verstehen?«

Er winkte ab. »Ach, ungefähr einmal im Monat halte ich es in dem Kaff nicht mehr aus und setze mich für ein paar Tage ab. Meine Eltern sind daran gewöhnt. Nur die Schule macht immer Theater.«

Ich verzog das Gesicht. Spike war gerade erst siebzehn und eindeutig zu jung, um allein auf Tour zu gehen. Trotzdem konnte ich ihn verstehen. Wahrscheinlich besser, als er ahnte.

»Es ist nicht leicht, in Liebwitz ein Außenseiter zu sein«, sagte ich mitfühlend. Zwar hatte ich nie außergewöhnliche Klamotten getragen wie Spike, aber in Gedanken hatte ich stets gegen das konservative Leben rebelliert und mich nach der großen weiten Welt gesehnt.

»Aber permanent abzuhauen ist keine Lösung«, fügte ich mahnend hinzu.

Spike zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. »Es wird die Leute umhauen, dass du zurück bist!«

»Es hat noch nicht die Runde gemacht, dass ich heute komme?«, entgegnete ich überrascht. Normalerweise verbreiteten sich Neuigkeiten im Dorf rasend schnell.

Spike spielte nachdenklich mit der Zunge an seinem Lippenpiercing. »Nicht, dass ich wüsste.«

Seltsam! Das konnte nur bedeuten, dass meine Eltern niemanden über meine Rückkehr informiert hatten. Aber wieso? Ich rief mir das letzte Telefonat mit meiner Mutter in Erinnerung. Tatsächlich hatte sie auf meine Ankündigung, dass ich zu Besuch kommen würde, recht verhalten reagiert. Als hätte sie nicht recht glauben können, dass ich mein Vorhaben wirklich in die Tat umsetzen würde. Aber vielleicht war ihr meine Rückkehr auch nicht wichtig genug gewesen, um jemandem im Dorf davon zu erzählen? Kein schöner Gedanke.

Spike stützte sich mit den Ellbogen am Fenster ab. »Stimmt es, dass du jetzt eine berühmte Künstlerin bist?«

Geistesabwesend sah ich auf. »Eine berühmte Künstlerin?« Verlegen kratzte ich mich am Hals. Na toll! Ich hatte noch nicht mal das Ortsschild passiert, da holte mich auch schon mein erstes Geheimnis ein. »Nun ja, relativ berühmt.«

»Relativ« war schließlich ein dehnbarer Begriff. Oft drückte man damit negative Sachverhalte in positiver Weise aus: relativ dünn, relativ schön oder relativ intelligent. Ich war als Künstlerin eben relativ berühmt – im Vergleich zu einem malenden Gorilla im Zoo. Zum Glück war Spike auf solche sprachlichen Spitzfindigkeiten noch nicht gepolt.

»Wow! Das ist echt cool«, meinte er begeistert. »Ich fand deine Bilder schon immer toll. Meine Eltern haben noch heute ein Gemälde von dir im Wohnzimmer hängen. Wie war noch mal der Titel?« Er tippte sich nachdenklich an die Lippen.

»Der mystische Darßwald«, murmelte ich beschämt, denn ich erinnerte mich nur ungern an das Bild.

Nachdem ich vor fünf Jahren meinen Job im Hotel aufgegeben und Liebwitz verlassen hatte, war ich nach Berlin gezogen und hatte an der Kunstakademie studiert. Das Studium hatte meine Art zu malen natürlich verändert. Früher als Hobbymalerin hatte ich einen deutlich naiveren Stil verfolgt. Okay, man könnte auch sagen, dass die Bilder ziemlich kitschig waren. Das Gemälde der Familie Winkler zeigte auf den ersten Blick zwar nur einen erwachenden Wald im Morgengrauen, doch bei genauerem Hinsehen konnte man sogar eine Fee entdecken, die ich zwischen den Blättern eines Farns versteckt hatte. Eine Fee! War das zu fassen? Für eine ernsthafte Künstlerin ein absolutes No-Go. Nur ein Einhorn wäre noch schlimmer gewesen. Meine früheren Werke waren mir heute abgrundtief peinlich. Abgesehen von den Motiven war auch meine Technik damals nicht ansatzweise ausgereift gewesen.

»Als Kind habe ich das Bild manchmal stundenlang angeschaut«, meinte Spike versonnen. »Es steckt voller Details. Ein Kaninchen, das gerade in seinen Bau hoppelt. Mystische Runen auf einer Buche. Das Geweih eines Hirsches, das über den Büschen hervorlugt. Käfer, Ameisen und Würmer, die sich über einen kleinen Kadaver hermachen.« Er beugte sich vertraulich zu mir ins Auto. »Ich habe ewig gebraucht, um die Fee zu entdecken.«

Auch wenn mein Kunstprofessor sich vermutlich für das frühe Werk seiner Schülerin geschämt hätte, rührte mich Spikes ehrliche Begeisterung. »Schön, dass es dir gefällt!«

Ohne ein weiteres Wort schulterte Spike seinen Seesack und ging ums Auto herum, wobei der lange schwarze Mantel um seine schlaksigen Beine schwang. Wie selbstverständlich öffnete er die Tür, ließ sich neben mir auf den Beifahrersitz fallen und verstaute sein Gepäck zwischen den Beinen.

Überrascht sah ich ihn an. »Du willst nicht mehr weg? Ich fahre nämlich nach Liebwitz.« Vielsagend deutete ich auf das Ortsschild.

»Ich hab’s mir anders überlegt«, erklärte er. »Deine Rückkehr wird bestimmt für Aufregung im Dorf sorgen. Das will ich nicht verpassen.«

Ich schnaubte. »Na, danke!«

Eigentlich widerstrebte es mir, den Moralapostel zu spielen, doch ich konnte mit meiner Meinung nicht hinterm Berg halten. »Allerdings finde ich es gut, dass du hierbleiben willst. Ich weiß, für einen jungen Mann zählt das Hier und Jetzt. Und momentan findest du es richtig doof, in Liebwitz festzusitzen. Aber schon bald bist du mit der Schule fertig, kannst hier weg und raus in die Welt. Du musst nur noch ein bisschen Geduld haben«, ließ ich Spike an meiner Lebensweisheit teilhaben und betonte erneut: »Immer wieder abzuhauen ist keine Lösung.«

»Du bist nach Berlin abgehauen«, stellte er trocken fest.

»Ich bin nicht abgehauen«, korrigierte ich ihn, obwohl man darüber wahrscheinlich streiten konnte. »Ich habe angefangen zu studieren. Nachdem ich die Schule und meine Ausbildung abgeschlossen hatte. Und wenn ich es geschafft habe, so lange durchzuhalten, wirst du das wohl auch hinkriegen.«

Diesem Argument konnte Spike nicht viel entgegensetzen. Er starrte einen Moment brütend aus dem Fenster. Dann stieß er die Luft aus und hob ergeben die Hände. »Okay, okay! Botschaft angekommen. Ich werde versuchen, mich zusammenzureißen. Auch wenn mein Berufswunsch schon feststeht und ich dafür kein Abi brauche.«

Ich sah ihn fragend an, und er erklärte: »Ich will ein Tattoo-Studio eröffnen. Das ist mein großer Traum. Ich stehe total auf Körperkunst – meine Piercings habe ich auch alle selbst gemacht.« Er sah mich hoffnungsvoll an. »Willst du auch eins? Für zwanzig Euro verpasse ich dir ein tolles Augenbrauen-Piercing.«

»Nein, danke, auf gar keinen Fall!«, wehrte ich eilig ab. Da Spike ziemlich enttäuscht wirkte, fügte ich hinzu: »Ich mag grundsätzlich keine Spritzen und spitzen Nadeln. Besonders nicht in der Nähe meines Gesichts.«

Durch das geöffnete Fenster nahm ich ein Motorengeräusch wahr. Ich blickte in den Rückspiegel und sah einen Traktor näher kommen. Dass ich mit dem Auto bis jetzt unbehelligt mitten auf der Straße hatte stehen bleiben können, war nicht ungewöhnlich. Richtung Liebwitz gab es nicht viel Verkehr. Die meisten Touristen fuhren die L 21 in Richtung Prerow und Zingst und bemerkten die Abzweigung nach Liebwitz nicht einmal. Dass der Traktor hinter mir einen Bootsanhänger zog, machte mich allerdings stutzig. Wie paralysiert starrte ich in den Rückspiegel. Das würde doch nicht ausgerechnet er sein? So viel Pech konnte nicht mal ich haben! Je näher der Traktor kam, desto besser konnte ich die Gestalt darauf erkennen: breite Schultern, attraktive männliche Gesichtszüge, braun gebrannt, karamellfarbene zerzauste Haare, dunkelgrüne Augen. Zugegeben, die markante Augenfarbe hatte ich nicht über den Rückspiegel erkannt. Aber dass mein Ex-Freund diese verhängnisvoll schönen Augen besaß, wusste ich leider nur allzu gut. Viel zu oft hatte mich dieses intensive Grün in der Vergangenheit gefangen genommen und verzaubert.

Mittlerweile war der Traktor schon so nahe, dass Finn die Hupe betätigte und ärgerlich auf das Hindernis vor ihm starrte. Wenn ich weiter hier stehenblieb, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass er haltmachte und herkam, um mich zum Weiterfahren aufzufordern. Nein, für ein Zusammentreffen war ich eindeutig noch nicht bereit! Vielleicht nach weiteren fünf Jahren, aber noch nicht jetzt. Als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter mir her, trat ich das Gaspedal durch. Mit quietschenden Reifen fuhr ich über die »magische Grenze«, von der ich noch vor wenigen Minuten behauptet hatte, sie nicht überqueren zu können. Bedauerlicherweise landete ich jedoch nicht in Hogwarts, sondern in meiner Vergangenheit.

2. Kapitel

Ich setzte Spike am anderen Ende des Dorfes vor dem Haus seiner Eltern ab. Meine Panikreaktion bei Finns Anblick war mir mittlerweile überaus peinlich. Ich musste mir überlegen, wie ich meinem Ex-Freund in den nächsten Tagen am besten aus dem Weg gehen konnte. Eine Möglichkeit war, ab sofort in einem Spiderman-Anzug mit Gesichtsmaske herumzulaufen, damit er mich nicht erkennen konnte. Die Idee war natürlich absurd, aber bedauerlicherweise meine bisher beste.

Bis zu meinem Treffen mit dem Bürgermeister blieb mir noch etwas Zeit, sodass ich erst mal zu meinen Eltern fuhr. Obwohl es mich fast genauso stark an den Strand und das Meer zog. Ich liebte die Ostsee. Und wenigstens versprach das Wiedersehen mit dem Meer, an dem ich aufgewachsen war, unproblematisch zu werden. Da war ich mir bei meiner Familie nicht so sicher.

Im Schritttempo fuhr ich den Distelweg zum Haus meiner Eltern entlang. Als kleine Nebenstraße war es ein reiner Sandweg und nicht asphaltiert. Das war mir – und dem Auto – allerdings lieber als das holprige Kopfsteinpflaster der Hauptstraße. Auf den ersten Blick hatte sich in der Nachbarschaft meiner Eltern kaum etwas verändert. Selbst das Schlagloch vor dem Haus der Jahnkes war immer noch da. Es tarnte sich schon seit vielen Jahren als unscheinbare kleine Pfütze, doch seinem Wagen zuliebe musste man das Loch unbedingt meiden. Vorsichtig umfuhr ich es, schließlich wollte ich Olivers Auto nicht beschädigen.

Mein bester Freund hatte sich den gebrauchten Kastenwagen zugelegt, um Gemälde für seine Galerie zu transportieren. Genau deshalb hatte ich ihn mir für meinen Trip nach Liebwitz auch von ihm ausgeliehen, denn ich hatte eine Auswahl meiner besten Arbeiten mitgebracht. Sobald ich zwei der Bilder an den Bürgermeister verkauft hätte, würde ich Oliver das Auto spätestens übermorgen ohne den kleinsten Kratzer zurückbringen.

Am Ende des Distelwegs suchte ich mir einen Parkplatz. Meine Eltern wohnten in einem hellblauen kleinen Holzhaus mit Reetdach. Sofort fiel mir das Moos auf, das sich unterhalb des Dachfirsts großflächig ausgebreitet hatte. Das verlieh dem Haus zwar eine mystische Note, aber eigentlich war das Moos schlecht fürs Dach. Es sah meinen Eltern überhaupt nicht ähnlich, sich nicht darum zu kümmern. Meine Mutter achtete normalerweise penibel auf solche Dinge – schon allein wegen der Nachbarn. Seit ich denken konnte, machte sich meine Mutter darüber Sorgen, dass im Dorf schlecht über uns geredet wurde.

Ich stieg aus und atmete die frische salzhaltige Luft ein. Die Dahlien, Kartoffelrosen und Hortensien im Vorgarten standen in voller Blüte, und das Pampasgras wiegte sich sanft im Wind. Gleich hinter meinem Elternhaus erhob sich der Deich. Er verhinderte zwar den freien Blick aufs Meer, aber das Rauschen der Brandung und das Möwengeschrei waren allgegenwärtig. Ich war wieder zurück. Zu Hause. Es war wie ein Aufatmen der Seele. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie sehr ich all das vermisst hatte.

Ich zog meinen Rollkoffer hinter mir her und ging unseren Gartenweg entlang. In den Fugen der Pflastersteine wucherte das Unkraut, und eine Rolle meines Koffers blieb an einem besonders üppigen Löwenzahn hängen. Das ungute Gefühl, dass bei meiner Familie etwas nicht stimmte, verstärkte sich. Was war hier nur los? Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie meine Mutter mich früher die Fugen mit dem Gartenmesser hatte säubern lassen. Das war eine wirklich mühselige Arbeit gewesen. Mein Bruder Bastian, die faule Socke, hatte höchstens mal den Rasen mähen müssen.

Seufzend zupfte ich ein Löwenzahnblatt aus der Rolle meines Koffers und ging weiter. Wie auf Darß-Fischland-Zingst üblich war unsere Haustür mit bunten Schnitzereien verziert: ein graubemalter Kranich, ein bunter Tulpenstrauß und eine gelbe halbe Sonne. Sie stellte eine aufgehende Morgensonne am Horizont dar und galt als Symbol für das Leben. Das gezackte Schuppenmuster, das die anderen Schnitzereien einfasste, sollte das Haus vor einem Blitzeinschlag schützen. Selbst in so etwas Alltäglichem wie einer Haustür wurde der Aberglaube der Insulaner spürbar. Doch ich liebte diese Tradition.

Unschlüssig blieb ich auf der Fußmatte stehen. Zwar hatte ich einen Schlüssel, aber nach meiner langen Abwesenheit hielt ich es für unangebracht, einfach ins Haus zu spazieren. Ich hob die Hand und klingelte. Jetzt gab es kein Zurück mehr!

Während ich wartete, hörte ich vom Nachbargrundstück aufgeregtes Geschrei. Ein Mann und eine Frau keiften sich im Garten wutentbrannt an. Ich konnte mir ein amüsiertes Schmunzeln nicht verkneifen, denn die Stimmen gehörten unseren Nachbarn Else und Heinz Jahnke. Seit ich zurückdenken konnte, stritten sich die beiden wie die Kesselflicker. Das kauzige alte Ehepaar war wie Feuer und Wasser. Trotz ihres hohen Alters von fast hundert Jahren waren sie geistig fit. Was vermutlich eher ein Nachteil war. Denn so vergaßen sie nicht versehentlich, wie groß ihre gegenseitige Abneigung war. Früher war ich von dem permanenten Unfrieden, der vom Nachbargrundstück zu uns herüberschwappte, oft genervt gewesen. Vor allem, da ich sowohl Else als auch Heinz mochte. Aber nach fünf Jahren der Abwesenheit fand ich es auf merkwürdige Weise tröstlich, dass sich manche Dinge offenbar niemals änderten – selbst wenn es sich dabei um ein zänkisches Ehepaar handelte.

Ich klingelte noch einmal bei meinen Eltern. War niemand zu Hause? Ich trat einen Schritt zurück und ließ meinen Blick über die Fassade gleiten. Alles wirkte ruhig. Die einzigen Augenpaare, die sich hinter den Fenstern auf mich richteten, gehörten den Porzellanhunden meiner Mutter. Schon seit meiner Kindheit sammelte sie englische Kaminhunde, die immer paarweise verkauft wurden. Auch das war eine alte Seefahrertradition auf der Insel. Leider war Mutters Hundesammlung anscheinend mein einziges Empfangskommando. So viel zu Olivers Theorie, dass meine Familie mich sehnlichst erwartete …

»Hannah?«, ertönte in diesem Moment eine Stimme. »Bist du das etwa?« Unsere Nachbarin Else Jahnke stand mit hellblauen Lockenwicklern im Haar am Zaun und musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. Anscheinend hatte sie Probleme, mich auf die Entfernung sicher zu identifizieren.

»Hallo, Else!«, begrüßte ich sie. Ich ließ meinen Koffer neben der Haustür stehen und ging zu ihr. »Wie schön, dich zu sehen.«

Ein strahlendes Lächeln erhellte das runzlige Gesicht der alten Frau. »Du bist es wirklich! Und ich dachte schon, meine trüben Augen täuschen mich.« Sie breitete die Arme aus und zog mich – trotz des Zauns zwischen uns – in eine innige Umarmung. »Ich hab dich vermisst, mien Diern.«

Else war fünfundneunzig Jahre alt, eine begnadete Köchin und liebte Kinder. Somit war es nur logisch, dass ich mich früher häufig in der Küche unserer Nachbarin aufgehalten und mir den Bauch mit Leckereien vollgeschlagen hatte. Elses rosige Pausbäckchen und ihre füllige Figur verrieten, dass sie ebenfalls gern dem Essen zusprach. Außerdem konnte niemand so gut Geschichten über unsere Insel erzählen wie sie.

Als Kinder hatten Finn, Ella und ich davon geträumt, einen versunkenen Schiffsschatz zu finden. Geweckt hatte diese Fantasien Else, die von zahlreichen gekenterten Schiffen und ihrer angeschwemmten Ladung zu berichten wusste. Vor unserer Küste waren angeblich außergewöhnlich viele Schiffe untergegangen. Else meinte, unsere Urahnen hätten in stürmischen Nächten einer Kuh eine Laterne an den Schwanz gebunden und sie am Strand herumgeführt, um die Kapitäne zu verwirren und die Schiffe zum Kentern zu bringen. Manche waren aber auch von selbst gesunken. Zum Beispiel war im Jahr 1931 an Weihnachten die Helene vor unserer Insel auf ein Riff gelaufen. Die gesamte Ladung war an Land gespült worden: Mehrere Kilometer des Ufers waren von Kisten mit 250 Zentnern Margarine bedeckt gewesen. Dazu kamen noch Konserven und Fässer mit Wein und Rum. Der Weststrand, der sonst immer so verlassen und friedlich dalag, hatte in dieser Nacht ein völlig anderes Bild geboten. An diesem Weihnachtsabend jubelten und tanzten dort die Insulaner und feierten die reiche Bescherung. Der Fund war so gewaltig, dass die Badegäste damals fast zwei Jahre lang mit der sogenannten »Helenenbutter« bekocht werden konnten. Noch heute war das Ereignis als »dat Boddergriepen« bekannt. Elses Erzählung war so eindrücklich gewesen, dass ich damals als Kind zu meinen Stiften gegriffen hatte, um ein Bild von dieser Nacht zu malen.

»Wie geht es dir, Else?«, fragte ich. »Was macht die Gesundheit?«

Sie wiegte den Kopf. »Ach, manchmal ziept und zwackt es, aber im Grunde kann ich mich nicht beschweren. Du weißt ja, meine Familie hat gute Gene! Meine Cousine Trudi ist erst kürzlich hundert Jahre alt geworden. Ich habe sie zum Geburtstag sogar auf Rügen besucht«, erzählte sie. »Leider haben wir uns etwas in die Wolle gekriegt, weil Trudi behauptet hat, dass ihr Strand in Glowe der schönste der Ostsee wäre. Das stimmt aber natürlich nicht! Jeder, der Augen im Kopf hat, kann sehen, dass wir die schönsten Strände haben.«

Ich versuchte, mir das Lachen zu verkneifen. »Aber selbstverständlich!«

»Hannah, du warst viel zu lange weg«, rügte mich die alte Frau. »Lass dich mal ansehen!« Sie trat einen Schritt zurück und musterte mich eingehend. »Meine Güte, du bist noch hübscher geworden! Und dein Haar trägst du jetzt kürzer als früher.«

Ich strich mir eine Strähne hinters Ohr. »Ja, es ist einfach praktischer.«

Als ich vor fünf Jahren mit gebrochenem Herzen in Berlin angekommen war, hatte ich mir meine langen Haare bis knapp unter die Schultern abschneiden lassen. Eine geradezu klassische weibliche Verhaltensweise nach einer unglücklichen Trennung.

»Wie ich gehört habe, bist du jetzt eine berühmte Malerin«, meinte Else mit sichtlichem Stolz. Zum Glück wartete sie nicht auf eine Antwort und redete gleich weiter: »Ich wusste schon immer, dass aus dir was wird! Du bist nämlich sonntags in einer Vollmondnacht geboren. Diese Menschen haben immer eine besondere Begabung. Das Schicksal hatte von Anfang an Großes mit dir vor.«

Ach, wie hatte ich Elses abergläubische Anwandlungen vermisst! Der Gedanke, dass das Schicksal für alles die Verantwortung trug, hatte etwas Befreiendes. Dann war es nämlich auch nicht meine Schuld, dass meine Berühmtheit nur von kurzer Dauer gewesen war.

Ich zuckte zusammen, denn aus dem Schuppen der Jahnkes ertönte plötzlich das ohrenbetäubende Kreischen einer Stichsäge. Laut Else war der Schuppen Heinz’ zweites Zuhause, in dem er einen Großteil seiner Zeit verbrachte.

»Heinz!«, rief Else wütend. Sie wandte sich an mich. »Das macht er mit Absicht. Weil ich ihm gerade gesagt habe, dass ich mich kurz hinlegen will. Meine neuen Blutdruckmedikamente machen mich so müde.«

Ich seufzte. »Streitet ihr etwa immer noch von morgens bis abends?«

Die Frage war eigentlich überflüssig. Ich hatte die beiden schließlich eben noch herumzanken hören.

»An mir liegt das nicht!«, verteidigte sich Else. »Der alte Sturkopp legt es Tag für Tag darauf an, mich zur Weißglut zu treiben.«

Sie wandte sich in Richtung Schuppen und brüllte in eine kurze Kreischpause der Säge hinein: »Dein Lärm stört mich überhaupt nicht! Ich bin nämlich wach. Aber hoffentlich sägst du dir in den Daumen, du Düwel!«

Einen Moment später erstarb das Rattern der Maschine. Heinz tauchte mit wutentbrannter Miene an der Schuppentür auf. Wie immer hatte er seine schlohweißen schütteren Haare wie Cary Grant zu einem gepflegten Seitenscheitel gekämmt. Er trug eine dunkle Cordhose, ein kariertes Hemd und eine braune Strickweste. Zwar brauchte er zum Laufen einen Gehstock, und seine Stirn war von Altersflecken überzogen, doch seine dunkelgrünen Augen wirkten immer noch aufmerksam und hellwach.

Ich winkte ihm grüßend zu. »Hallo, Heinz!«

Er entdeckte mich. Schlagartig wurde seine Miene weich, und ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Hannah, wieder mal im Land? Du glaubst gar nicht, wie schön es ist, ein freundliches Gesicht zu sehen.« Er warf seiner Ehefrau einen bitteren Seitenblick zu. »Den Rest des Tages hab ich nämlich eine grässliche alte Hex vor mir.«

Else winkte genervt ab. Offenbar hatte sie nicht vor, diese Gemeinheit mit einer Antwort zu würdigen.

Das schien Heinz jedoch nicht milder zu stimmen, im Gegenteil. »Du bist das Schlimmste, was mir in meinem Leben widerfahren ist – und dabei war ich sogar im Krieg!«

Er wandte sich an mich. »Weißt du, Hannah, damals wurde ich als blutjunger Mann nach Russland geschickt. Ich wollte da nicht hin, und ich wollte auch nicht kämpfen, aber ich hatte keine andere Wahl. Sie hätten mich sonst erschossen. Eines Nachts hatten wir uns auf einem Feld zum Schutz in Erdlöcher eingebuddelt und haben geschlafen. Aber dann sind plötzlich die russischen Panzer gekommen. Sie sind direkt auf uns zugerollt. Ich dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen und jetzt bin ich gleich tot …«

Heinz erzählte diese Geschichte unglaublich gern, und obwohl ich sie schon unzählige Male gehört hatte, lauschte ich ihm aufmerksam. In diesem Alter war das Wiederholen der immer gleichen Geschichten schließlich normal. Wahrscheinlich würde es mir selbst irgendwann genauso ergehen. Dann würde ich mir auch wünschen, dass mir die jüngere Generation zuhört und ich nicht kaltherzig angeschnauzt wurde, dass ich »diesen Mist schon tausend Mal erzählt« hätte. Sobald man die siebzig überschritten hatte, schien einem – abgesehen von den neuesten Krankheiten – nichts mehr Interessantes zu passieren. Als wären dem Schicksal die Ideen ausgegangen, was es noch mit einem anstellen sollte. Kein Wunder also, dass die alten Leute so gern über ihre Vergangenheit sprachen. Doch Heinz kam mit seiner Story nicht weiter, denn Else fiel ihm rüde ins Wort.

»Wenn du noch einmal die Geschichte von den russischen Panzern erzählst, drehe ich durch!«, unterbrach sie ihn mit hochrotem Kopf. »Seit fünfundsiebzig Jahren erzählst du sie jedem, der dir über den Weg läuft. Weil es das einzig Spannende ist, was dir jemals passiert ist. Hannah kennt deine ollen Kamellen sicher auch schon in- und auswendig.« Sie fixierte ihren Mann mit wild entschlossenem Blick. »Wenn ich mir diese Geschichte noch ein einziges Mal anhören muss, wirst du das bitterlich bereuen, das schwöre ich dir!«

»Ach, wirklich?«, erwiderte er unbeeindruckt.

Er tat mir leid, weil er seine Geschichte nicht zu Ende hatte erzählen dürfen. Auf der anderen Seite konnte ich auch Else verstehen. Über so eine immens lange Zeitspanne hinweg konnte einem das als Ehepartner schon gewaltig auf die Nerven gehen.

»Ja, wirklich«, wiederholte Else ihre Drohung und hob ihren Zeigefinger. »Noch ein Mal – und ich vergesse mich!«

Ihr schien es bitterernst zu sein. Heinz öffnete den Mund, überlegte es sich dann jedoch anders und zuckte mit den Schultern. Er wandte sich wieder in Richtung Schuppen. »Ich hab vorhin übrigens deine Küchenschürze in den Müll geschmissen!«, informierte er seine Frau im Weggehen, »weil ich das hässliche Ding einfach nicht mehr sehen konnte.«

Er winkte mir zum Abschied zu, ehe er wieder im Schuppen verschwand. »Mach’s gut, Hannah!«

»Tschüss, Heinz!«

Else knirschte mit den Zähnen und drehte sich zu mir um. »Dafür brat ich ihm zum Abendessen ein richtig sehniges Schnitzel, das zäh wie Gummi ist.«

Ich sparte mir einen Kommentar. Es half ja doch nichts. Die beiden würden sich niemals ändern. Ich wechselte lieber das Thema. »Weißt du zufällig, ob meine Eltern zu Hause sind?«

»Also deine Eltern sind unterwegs, glaub ich. Aber dein Bruder müsste da sein. Seit er arbeitslos ist und wieder bei deinen Eltern wohnt, sieht man nicht mehr viel von ihm. Er ist ein richtiger Stubenhocker geworden.«

Das waren gleich mehrere Informationen, die mich völlig unerwartet trafen. Bastian hatte seinen Job in der Bank verloren? Und war wieder bei unseren Eltern eingezogen? Das hatte meine Mutter am Telefon mit keinem Wort erwähnt.

»Dann haben sich Bastian und Silke getrennt?«, fragte ich überrascht.

Else nickte mit ernster Miene. »Vor ungefähr zwei Monaten. Es hat den Armen schwer getroffen.«

Das konnte ich mir vorstellen. Ich war fest davon ausgegangen, dass die beiden bald heiraten würden. Wieso ihre Beziehung wohl in die Brüche gegangen war? Spontan hätte ich vermutet, dass der Egoismus meines Bruders etwas damit zu tun hatte. Aber im Grunde hatte ich keine Ahnung. Wieso hatte meine Mutter mir nichts davon erzählt?

»Guten Tag, Renate!«

Elses Gruß riss mich aus meinen Gedanken. Sie hob die Hand und winkte unserer Nachbarin von schräg gegenüber. Renate nickte uns zu und lief mit schmerzverzerrtem Gesicht weiter die Straße entlang.

»Ist sie krank?«, fragte ich Else.

»Schlimme Arthrose«, antwortete sie mit gesenkter Stimme. »Aber sie will nicht auf meine Ratschläge hören. Ich hab ihr gesagt, dass ihr eine Krupeiche helfen würde.«

»Eine Krupeiche?« Mein Hirn hatte etwas Mühe, mit dem Themenwechsel mitzuhalten. In Gedanken beschäftigte mich noch mein Bruder.

»Eine Eiche, die im Stamm ein Loch hat, durch das man kriechen kann«, erklärte Else seufzend. Offenbar hielt sie das für Allgemeinwissen. »Solche Bäume haben große Heilkraft und können Menschen wieder gesund machen. Besonders wenn man in der Dämmerung durchkriecht. Ohne einen Laut von sich zu geben.« Sie blickte nachdenklich in den Himmel. »Der beste Tag dafür ist der Freitag.«

»Aha.« Manchmal fragte ich mich, ob Else sich dieses abergläubische Zeug einfach ausdachte, um uns für dumm zu verkaufen.

»Guck nicht so skeptisch!«, rügte sie mich prompt. »Das weiß ich von meiner Uroma. Man sollte danach auch unbedingt etwas Geld zurücklassen, um sich bei der Krupeiche für die Heilung zu bedanken. Aber kein Münzgeld! Nur Scheine.«

»Geld? Für einen Baum?« Mir leuchtete nicht ganz ein, was die Eiche damit anfangen sollte. Etwa eine Ladung Dünger kaufen? Da fiel mir etwas ein. »Dieser alte Baum bei euch hinter dem Haus ist nicht zufällig eine Krupeiche, oder?«

Verlegen kratzte sich Else am Hals. »Ja, zufällig«, sagte sie. »Sie wächst nämlich gern in der Nähe von gläubigen Menschen. Renate hat großes Glück, dass sie jemanden wie mich kennt.«

Ich schüttelte schmunzelnd den Kopf. Dass Renate mit ihrer Arthrose sich nicht durch ein Loch im Baum quetschen wollte, konnte ich absolut nachvollziehen.

»Entschuldige, Else, ich hab gleich einen Termin und muss weiter! Vorher klingele ich noch mal bei uns. Vielleicht macht Basti mir jetzt die Tür auf.«

Sie schloss mich zum Abschied in die Arme. »Morgen Nachmittag halb vier kommst du zum Kaffee!«, befahl sie. »Ich backe für dich Eisenbahnschienen.«

»Mein Lieblingsgebäck!«, rief ich begeistert. »Du weißt genau, dass ich da nicht widerstehen kann.«

»Natürlich.« Sie lächelte verschmitzt. »Dann bis morgen!«

Ich ging zurück zu unserem Haus. Als ich dieses Mal klingelte, wurde mir kurz darauf geöffnet. Vor mir stand mein Bruder Bastian – groß, durchtrainiert und mit dichten dunkelblonden Haaren. Er hatte die gleichen braunen Augen wie ich, aber bei ihm zeichneten sich nun darunter dunkle Augenringe ab. Außerdem hatte er eine erschreckend missmutige Miene aufgesetzt, die bar jeder Lebensfreude wirkte. Hätte ich ihn nicht besser gekannt, hätte ich vermutet, dass er depressiv wäre.

»Dach uk«, grüßte er mich wenig enthusiastisch.

Bastian war fünf Jahre jünger als ich und würde in zwei Monaten achtundzwanzig. Beim Anblick meines kleinen Bruders überrollte mich eine warme Welle der Zuneigung. Zum letzten Mal hatten wir uns vergangenen Herbst gesehen, als er mich zusammen mit seiner Freundin Silke in Berlin besucht hatte. Mein Bruder konnte eine Nervensäge sein, aber ich hatte ihn vermisst.

»Hallo, Bastian! Wie schön, dich zu sehen.«

Er erwiderte mein Lächeln nicht. »Mhm«, brummte er, wandte sich ab und schlurfte zurück ins Haus.

Was für ein warmes Willkommen! Ich ließ meinen Koffer neben der Treppe stehen und folgte meinem Bruder in die Küche. Mein Blick glitt durch den Raum. Bis auf die neuen gelben Vorhänge mit den aufgedruckten Kirschen hatte sich nicht viel verändert. Auch die Eckbank aus Kiefernholz war noch dieselbe. Meine Eltern hatten nie viel Geld besessen, doch für mich strahlte dieser Raum pure Gemütlichkeit aus. Auf der Fensterbank standen Küchenkräuter, der Duft der letzten Mahlzeit lag noch in der Luft, und auf dem Herd wartete einsatzbereit der Teekessel. Für einen Moment fühlte es sich so an, als wäre ich nie weg gewesen.

»Ich hab schon mal geklingelt, aber es hat niemand aufgemacht«, sagte ich.

»Aha«, gab Bastian knapp zurück. Er öffnete den Kühlschrank und studierte den Inhalt mit so konzentriertem Gesichtsausdruck, als würde er einen Kreditvertrag prüfen. Als Freizeitsportler war Ernährung für ihn ein wichtiges Thema. Wenn ich früher Chips oder Schokolade futterte, hatte er mir so lange einen Vortrag über meine schlechten Ernährungsgewohnheiten gehalten, bis mir der Appetit vergangen war.

Er nahm einen Naturjoghurt aus dem Kühlschrank und begann, ihn im Stehen zu löffeln.

»Wo sind denn Mama und Papa?«, fragte ich.

»Weg.«

»Und wo ist das genau?«, bohrte ich weiter.

Er schnaufte genervt. »Mama arbeitet, und Papa ist im Vereinsheim. Der Anglerverein renoviert gerade.«

Ich nickte. Von der Renovierung hatte mir meine Mutter am Telefon erzählt. Meine Eltern schienen somit ihrem normalen Alltag nachzugehen. Kein Kuchen, kein Empfangskomitee.

»Kein Problem, ich sehe sie ja später«, entgegnete ich gespielt fröhlich.

»Mhm«, machte er zwischen zwei Löffeln.

Zaghaft ging ich auf ihn zu. »Basti, wie geht es dir?«

»Bestens«, knurrte er.

Er hatte noch nie zu den redseligen Typen gehört. Er zockte gern mit seinen Kumpels, guckte Fußball und liebte es, seinen Körper beim Sport zu quälen. Über Gefühle zu reden war nicht sein Ding.

»Nein, ernsthaft!«, hakte ich deshalb nach. »Ich möchte wissen, wie es dir geht und was in deinem Leben gerade passiert.«

»Das hat dich in den letzten Monaten doch auch nicht interessiert«, gab er gereizt zurück.

»Hat es wohl!«, widersprach ich heftig. »Du hast doch nicht auf meine Nachrichten reagiert. Und zurückgerufen hast du auch nie. Außerdem hat Mama mir überhaupt nicht erzählt, dass du arbeitslos bist und mit Silke …« Ich stockte. Bastians Gesichtsausdruck machte deutlich, dass ich gerade eine Spur zu direkt gewesen war.