Inseltochter - Marlies Folkens - E-Book

Inseltochter E-Book

Marlies Folkens

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Beschreibung

Nordseeküste 1946: Zu siebt in einer Baracke zu leben ist kein Zuckerschlecken. Dennoch können Wiebke und ihre Familie sich glücklich schätzen, im Fischerdorf Fedderwardersiel eine neue Bleibe gefunden zu haben. Denn ihre Heimat, die Insel Helgoland, liegt nach einem Bombenangriff in Schutt und Asche. Besonders dankbar ist Wiebke für die Unterstützung von Fischer Freerk. Ihre wahren Gefühle ihm gegenüber kann sie jedoch nicht zulassen, solange die Hoffnung besteht, dass ihr Mann doch noch aus Russland zurückkehrt ...

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

Danksagung

ÜBER DAS BUCH

»Sie sind fremd hier, und das werden Sie auch bleiben. Niemand will Sie hier haben. Und ich würde mir eher noch das andere Bein abhacken lassen, als von Ihnen Hilfe anzunehmen.«

Nordseeküste, 1946: Aus ihrer Abneigung gegenüber den Flüchtlingen von der Insel Helgoland machen die Einheimischen keinen Hehl. Dennoch können Wiebke Hansen und ihre Familie sich glücklich schätzen, im Fischerdorf Fedderwardersiel eine neue Bleibe gefunden zu haben. Denn Helgoland liegt nach einem britischen Bombenangriff in Schutt und Asche. Wiebke tut alles, um ihre Familie irgendwie durchzubringen. Doch besonders der mürrische Fischer Freerk Cordes, der im Krieg ein Bein verloren hat, macht ihr das Leben schwer …

Ein kleines Fischerdorf, eine heimatlose Familie und ein mutiger Neuanfang – eine mitreißende Familiengeschichte in stürmischen Zeiten

ÜBER DIE AUTORIN

Marlies Folkens wurde 1961 in Stollhamm-Ahndeich, einem kleinen Dorf direkt an der Nordseeküste, geboren. Als jüngstes von vier Geschwistern wuchs sie auf einem Bauernhof auf. Nach dem Abitur zog sie zum Studium der Geschichte und Politik nach Oldenburg, wo sie bis heute mit ihrer Familie lebt. Schon früh entdeckte Marlies Folkens das Schreiben für sich. Inseltochter ist ihr zweiter Roman.

MARLIES FOLKENS

Inseltochter

NORDSEE-SAGA

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnLektorat: Lena SchäferUmschlaggestaltung: www.buerosued.deunter Verwendung von Motiven von © www.buerosued.de; © Arcangel Images/Rekha ArcangelE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-4023-5

www.luebbe.dewww.lesejury.de

Für Dagmar

Prolog

HELGOLAND, 1930

»Nein, ich geh da nicht rein!« Wiebke blieb stehen, legte den Kopf ein wenig schräg und musterte ihren Freund mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Hier draußen können wir genauso gut sehen, und außerdem stehen wir dann gleich in der ersten Reihe, wenn das Brautpaar rauskommt und Bointjes wirft.«

Sie versuchte, ihre Hand aus seinem Griff zu ziehen, aber Jan hielt sie ganz fest.

»Bangbüx!«, sagte er lachend und zwinkerte ihr mit seinen strahlend blauen Augen zu. »Du hast doch nur Angst, weil die ganze Kirche voller Hansens ist.«

»Von wegen Bangbüx«, murmelte Wiebke, spürte aber gleichzeitig, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. So ganz unrecht hatte Jan nicht.

Die Hansens von Helgoland, das war ein Schlag für sich. Schon immer hatte es Hansens auf der Insel gegeben, jedenfalls behaupteten sie selber das. Angeblich schon zu der Zeit, als Klaus Störtebeker, Gödeke Michels und die anderen Liekedeeler auf Helgoland ihr Piratenversteck gehabt und von hier aus die Schiffe der Engländer und der Hanse gekapert hatten. Früher waren die Männer der Familie Hansen alle Fischer gewesen, aber jetzt fuhr nur noch Jans Vater zu den Hummergründen hinaus. Sein älterer Bruder Johann, derHansen, wie das Oberhaupt der Familie von allen genannt wurde, besaß zwei Hotels auf dem Oberland und hatte sein Haus im Unterland gerade erst umbauen lassen, um auch dort Feriengäste aufnehmen zu können.

»Was willst du denn bloß immer bei denen?«, brummte Wiebkes Papa immer. »Die Hansens halten sich für was Besseres.«

Er war alles andere als glücklich darüber, dass Wiebke und Jan schon seit ihrem ersten Schultag die besten Freunde waren und alles zusammen machten. Aber Papa mischte sich nicht ein, dafür war er einfach zu selten zu Hause. Im Sommer fuhr er jeden Tag zu seinen Hummerkörben hinaus, und im Winter heuerte er oft in Cuxhaven oder Hamburg auf einem der großen Fangschiffe an und war für Wochen weg. Wiebkes Erziehung überließ er ganz seiner Frau, und die hatte mit den Pensionsgästen, an die die zwei besten Zimmer im Haus vermietet wurden, mehr als genug zu tun. Solange Wiebke mit heilen Kleidern pünktlich zum Abendessen wieder nach Hause kam, war für Mama die Welt in Ordnung. Dann gab sie Wiebke einen Kuss auf den roten Haarschopf und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch, schmierte Brote und ließ sich erzählen, was Wiebke am Nachmittag zusammen mit Jan erlebt hatte, ohne wirklich zuzuhören.

Dass sie auf der Düne gewesen waren und Möweneier gesammelt hatten, erzählte Wiebke, oder dass sie am Hafen gesessen und den Booten zugeschaut hatten, die die Gäste von den Schiffen bis zum Kai brachten. Dass sie sich von den zehn Pfennig, die Jan fürs Koffertragen von einem dicken Rheinländer bekommen hatte, ein Eis gekauft hatten oder dass sie mit ein paar anderen Kindern aus ihrer Schulklasse Kriegen gespielt hatten. All das schilderte Wiebke ihrer Mutter in lebhaften Farben. Nur dass Jan und sie ihren Großvater John besucht hatten, erwähnte sie nie. Papa und Opa John waren sich nicht grün und sprachen schon seit Jahren kein Wort mehr miteinander. Was der Grund für ihren Streit war, wusste Wiebke nicht, und sie hätte es nie gewagt, danach zu fragen. Die Angelegenheiten der Erwachsenen gingen Kinder nun mal nichts an.

Jeden Nachmittag liefen Jan und Wiebke zu Opa Johns winzigem Häuschen hinüber, nahmen nebeneinander auf seinem alten Küchensofa Platz und ließen sich bei Tee und Zuckerzwieback Geschichten erzählen. Der verrückte Engländer, wie Papa ihn nannte, hatte viel erlebt und noch mehr gesehen, war mit Handelsschiffen um die ganze Welt gefahren, ehe er sich auf Helgoland niedergelassen und geheiratet hatte. Damals hatte die Insel noch zu England gehört, und als sie vor dreißig Jahren deutsch geworden war, hatte er darauf beharrt, Engländer zu bleiben. Noch heute hörte man seinen Akzent deutlich heraus, und immer, wenn ihn seine Erzählungen selber mitrissen, wechselte er, ohne es zu merken, in seine Muttersprache. Wiebke machte das nichts aus, sie hatte sich längst daran gewöhnt, aber Jan hatte zu Anfang gar nichts verstanden und musste sich die Geschichten auf dem Nachhauseweg von Wiebke übersetzen lassen. Inzwischen hatte aber auch er so viel Englisch gelernt, dass er dem alten Mann folgen konnte.

Nur heute, an diesem strahlenden Sommertag, waren die beiden Kinder nicht zu Opa John gelaufen. Jan hatte schon an ihrem üblichen Treffpunkt gewartet, als Wiebke um die Ecke gekommen war, und sie ungeduldig mit sich gezogen. Hand in Hand waren sie die Treppen zum Oberland hinaufgelaufen, und erst oben hatte Jan verraten, was los war: Heute heiratete seine Cousine Anneliese, die einzige Tochter seines Onkels Johann.

Bei großen Hochzeiten gab es immer eine Menge Bointjes – in Zellophan gewickelte Fruchtbonbons und die rot und weiß gestreiften Pfefferminzdrops, die Wiebke so gern mochte – für alle Kinder, die sich nach der Trauung vor der Kirche einfanden. Bei den Inselkindern hatte sich das Ereignis offenbar schon herumgesprochen, denn als Wiebke und Jan an der gedrungenen Backsteinkirche eintrafen, hatte sich am Tor zum Friedhof bereits eine große Traube gebildet. Doch als Jan sie an den Wartenden vorbei in die Kirche ziehen wollte, zögerte Wiebke und blieb stehen.

»Ich hab doch da drin nichts verloren«, sagte sie.

»So ein Blödsinn! Die Braut ist meine Cousine. Da drin ist meine Verwandtschaft. Ich gehöre dazu, und wen ich mitbringe, ist meine Sache. Nun komm schon, Wiebke.«

Ohne auf ihre Proteste zu achten, zog er sie hinter sich her durch die große Kirchentür und in die letzte Bank. Nur wenige Köpfe wandten sich zu den beiden Kindern um. Als Wiebke das missbilligende Kopfschütteln von Jans Mutter bemerkte, senkte sie rasch den Kopf und setzte sich ganz vorn auf die Kante der Kirchenbank.

Im Gegensatz zur Sommerhitze draußen war es hinter den dicken Kirchenmauern angenehm kühl. Trotzdem hatte Wiebke das Gefühl, ihr Gesicht würde glühen. Jans Mutter Almuth war mit der Freundschaft zwischen ihr und Jan genauso wenig einverstanden wie Papa und hielt mit ihrer Meinung über Wiebke und ihre Familie nicht gerade hinter dem Berg. Einmal hatte sie Wiebke sogar wieder weggeschickt, als sie Jan zu Hause besuchen wollte. Mit so einer rothaarigen Göre solle sich ihr Sohn nicht abgeben, hatte sie gesagt. Immerhin sei er der nächste Hansen. Damit hatte sie dem Mädchen die Tür vor der Nase zugeschlagen.

Der nächste Hansen …

Jans Onkel Johann hatte nur diese eine Tochter, die heute heiratete und dann mit ihrem Mann die Insel verlassen würde. Es war kein Geheimnis, dass Jan einmal das Oberhaupt der Familie werden würde – eine Tatsache, die seine Mutter Almuth die Nase ziemlich hoch in der Luft tragen ließ.

Orgelmusik brandete auf, die Kirchentür wurde geöffnet, und am Arm ihres Bräutigams betrat Anneliese Hansen die Kirche. Eigentlich fand Wiebke sie nicht besonders hübsch, sie war ein bisschen pummelig und hatte ein breites, nichtssagendes Gesicht, aber heute strahlte sie vor Schönheit. Das Brautkleid war nach der neuesten Mode, dazu trug sie einen langen Schleier unter dem Myrtenkranz und einen Strauß roter Rosen im Arm. Nur das goldbestickte Seidentuch um ihre Schultern, das von einer schweren, alten Fibel zusammengehalten wurde, wollte nicht recht dazu passen.

Die ganze Gemeinde erhob sich, um der Braut die Ehre zu erweisen.

Wiebke fühlte, wie Jan an ihrem Ärmel zupfte.

»Siehst du das Hartjen an ihrem Tuch?«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Alle Frauen in unserer Familie tragen dieses Herz, wenn sie heiraten. Die Töchter der Hansens genauso wie diejenigen, die in die Familie einheiraten. Das soll Glück und langes Leben bringen. Und viele Kinder.«

Wiebke sah ihn lächeln, warf ihm einen warnenden Blick zu und legte den Zeigefinger an ihre Lippen, dann drehte sie sich um und schaute zu, wie die Braut langsam auf den Altar zuschritt.

»Wir nennen diese Fibel das Liekedeeler Gold. Die Münzen daran sollen aus dem Schatz von Klaus Störtebecker stammen und aus purem Gold sein«, fuhr Jan unbeirrt fort. »Aber die Braut bekommt die Fibel nur für diesen einen Tag geliehen. Vor der Kirche steckt die Frau des ältesten Hansen sie ihr an. Denn sie ist das Herz der Familie.«

Das Brautpaar hatte den Altar erreicht, die Orgelmusik endete, und die Gemeinde setzte sich wieder, um dem Pastor zu lauschen, der mit der Trauzeremonie begann. »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes …«

Wieder zupfte Jan an Wiebkes Ärmel und beugte sich zu ihr herüber. »Du wirst die Fibel auch tragen, Wiebke. Dann, wenn wir beide heiraten!«, flüsterte er. »Und eines Tages wirst du das Herz der Familie Hansen sein.«

Kapitel 1

FEDDERWARDERSIEL, 1946

Eine Steckrübe, fünf Pfund Kartoffeln und ein Streifen fetter Speck. Ein richtiges Festessen!

Das Einkaufsnetz mit ihren Schätzen fest in der Hand, lief Wiebke schnellen Schrittes den schmalen Feldweg entlang, der an den Weiden von Bauer Wenke vorbeiführte. Am Vortag hatte es geregnet. In den tiefen Wagenspuren im weichen Kleiboden standen noch Pfützen, in denen sich der blaue Frühlingshimmel und die träge dahintreibenden Schäfchenwolken spiegelten. Der erste richtige Frühlingstag. Tief sog Wiebke die Luft ein, die nach Salz und Schlick roch, und lächelte.

»Das würde dir gefallen, Jan!«, murmelte sie und begann vor sich hin zu summen.

In aller Herrgottsfrühe war Wiebke aufgebrochen, um auf dem Wenkehof beim Schlachten und Wurstmachen zu helfen. Den ganzen Tag über hatte sie Borsten von der Schweinehaut geschabt, Blut gerührt und Därme gewaschen. Sie hatte so lange Fleisch durch den Wolf gedreht, bis ihr Arm vom vielen Kurbeln ganz taub war. Den Schinken und den Speck hatte sie eingesalzen und in die Räucherkammer gehängt, und zu guter Letzt hatte sie am Kohleherd gestanden und Leberwurst gekocht.

Zu Mittag hatte es frische Blutballen und Frikadellen, dazu Kartoffeln und sauer eingelegtes Gemüse gegeben. Wiebke hatte mit allen anderen am langen Tisch gesessen und gehofft, dass niemandem auffiel, dass sie sich noch einmal nachnahm. Sie wollte ja nicht gierig erscheinen.

Als der Bauer mit den Knechten am späten Nachmittag zum Melken auf die Weide gegangen war, hatte seine Tochter Anni Wiebke beiseitegenommen, sich leise für die Hilfe bedankt und ihr die Kartoffeln, den Speck und die Steckrübe geschenkt. Der Vater dürfe das nicht wissen. Seit die Mutter im Winter gestorben wäre, sei er noch wunderlicher und grantiger geworden als zuvor. Nichts könne man ihm recht machen.

In den Augen der sechzehn Jahre alten Anni hatten Tränen gestanden, als sie nach Wiebkes Hand griff und sagte, sie wisse nicht, wie sie das Schlachten ohne ihre Hilfe geschafft hätten.

»Gelernt ist gelernt!«, hatte Wiebke achselzuckend erwidert. »Immerhin bin ich ein paar Jahre in einer Hotelküche in Stellung gewesen, damals, vor dem Krieg, als noch Gäste nach Helgoland kamen.« Die Bilder, die sie sofort wieder vor sich sah, kämpfte sie nieder und bemühte sich um ein Lächeln. »Wenn du wieder mal Hilfe brauchst, dann sag Bescheid. Ich kann die Arbeit gut gebrauchen.«

Nicht nur das hatte Anni zugesagt, sondern auch versprochen, sich in der Nachbarschaft umzuhören, ob vielleicht jemand eine Köchin bräuchte. Immerhin stünden ja die Konfirmationen vor der Tür.

Bei diesen Worten hatte Wiebke einen Funken Hoffnung geschöpft, auch wenn sie nicht ernsthaft damit rechnete, dass die anstehenden Konfirmationen in diesem Jahr so groß gefeiert werden würden, dass man eine Köchin benötigte. Die Zeiten waren für alle hart.

Aber alles war schon schlimmer gewesen – viel schlimmer sogar. Ohne es zu wollen, dachte Wiebke an das vergangene Jahr zurück. An den Tag nach der Bombardierung, als sie Helgoland verlassen mussten, jeder nur mit einem einzigen Koffer in der Hand. An die drangvolle Enge auf dem überfüllten Schiff und die Furcht vor einem erneuten Fliegerangriff. An die ersten Nächte in der mit Stroh ausgestreuten Scheune, in der alle Evakuierten untergebracht worden waren. Den ganzen Sommer über waren sie von Ort zu Ort weitergeschickt worden, weil es nirgends Platz genug für ihre Familie gab. Den Winter hatten sie zu siebt in einer winzigen Wellblechhütte verbracht, durch deren Tür der schneidende Ostwind pfiff. Furchtbar war das gewesen, immer nur Zank und Streit und Sticheleien. Ihre Schwiegermutter trauerte den alten Zeiten hinterher, wusste alles besser und stritt sich dauernd mit ihrer Schwester Fenna. Wiebkes jüngere Brüder Gerd und Enno trieben sich den ganzen Tag sonst wo herum und stellten Gott weiß was an. Piet, ihr sechsjähriger Sohn, schreckte jede Nacht aus dem Schlaf und schrie wie am Spieß, weil er wieder von den Bombennächten in den Tunneln unter der Insel geträumt hatte. Und der bellende Husten der kleinen Ike hatte sich gar nicht bessern wollen.

Gott sei Dank war das jetzt vorbei. Jetzt würde alles besser werden. Sie hatten eine neue Unterkunft gefunden, in Fedderwardersiel in der Nähe des Hafens. Das winzige Häuschen direkt hinter dem Deich gehörte einem Verwandten des Mannes von Jans Cousine Anneliese. Jener Cousine, zu deren Hochzeit Jan sie mit in die Kirche geschleppt hatte, als sie beide zehn Jahre alt gewesen waren. Jahrelang hatte Wiebke kaum Kontakt zu Anneliese gehabt, aber schließlich war sie so verzweifelt gewesen, dass sie ihr einen Brief geschrieben und sie um Hilfe gebeten hatte.

Drei ganze Zimmer hatten sie jetzt, wenn man die Küche mitrechnete. Einen Verschlag für ein Schwein und ein paar Hühner gab es auch, und einen völlig verwilderten Garten hinter dem Haus, den Gerd und Enno umgraben sollten, damit sie Kartoffeln ziehen konnten.

Eine Steckrübe, fünf Pfund Kartoffeln und ein Streifen fetter Speck.

Wiebke hob das Netz hoch und betrachtete ihren Schatz.

»Zwei Pfund für den Eintopf und drei Pfund zum Einpflanzen«, sagte sie zu sich selbst. »So werden wir das machen, Jan!«

Jan. Ihr Jan.

Mit ihm zu reden vermisste sie am meisten. Neben ihm auf dem Sofa zu sitzen, ihm Tee einzuschenken und ihm alles zu erzählen, was passiert war, seit er mit dem Boot zu den Hummerkörben hinausgefahren war. Zu spüren, wie er den Arm um ihre Schultern legte und sie an sich zog oder ihre Hand in seine nahm und festhielt. Im Sommer 1941 war er eingezogen worden, um für Führer, Volk und Vaterland zu kämpfen.

Zuerst hatten sie sich geschrieben. Auf jeden ihrer langen Briefe war eine kurze Antwort von ihm gekommen, nur ein paar Zeilen in seiner krakeligen Handschrift. Doch dann waren die Antworten ausgeblieben. Vermisst in Russland, hieß es, vermutlich in Gefangenschaft. Die überlebte kaum ein Soldat.

Drei Jahre waren seit seinem letzten Brief vergangen, aber Wiebke weigerte sich, die Hoffnung aufzugeben. Statt ihre Briefe an ihn abzuschicken, schrieb sie sie in eine Kladde, die sie in der Schublade ihres Nachtschrankes aufbewahrte. Und immer häufiger ertappte sie sich dabei, mit ihm zu sprechen, wenn sie allein war.

Ihn zu vermissen tat so weh, als habe ihr jemand ein Stück aus dem Herzen gerissen und eine klaffende Wunde hinterlassen, die bei jedem Atemzug schmerzte. Inzwischen hatte sie gelernt, irgendwie damit zu leben. Nur manchmal, ganz unvermittelt, wenn Piet sie genau so anlachte, wie sein Vater es immer getan hatte, oder wenn Ike durch die Stube tanzte, dass ihre roten Zöpfe flogen, und Wiebke daran denken musste, wie stolz Jan auf diese Tochter wäre, die er nie gesehen hatte, dann wurde das Stechen in der Brust unerträglich und die Sehnsucht machte sie für einen Moment lang blind.

Wiebke biss sich auf die Lippen und wischte sich mit einer schnellen Bewegung über die Augen. Nur noch einmal abbiegen, und sie würde die Straße am Deich erreichen, an der ihre Unterkunft lag. Gut möglich, dass Piet und Ike auf der Straße spielten, und die Kinder sollten ihre Mama auf keinen Fall weinen sehen.

Wiebke warf einen Blick auf die alte Herrenarmbanduhr, die sie am Handgelenk trug. Schon sechs Uhr vorbei! Jetzt musste sie zusehen, dass sie nach Hause kam, damit das Abendbrot um sieben Uhr auf dem Tisch stand. Unpünktlichkeit konnte ihre Schwiegermutter auf den Tod nicht ausstehen. Sie würde sicher ein paar spitze Bemerkungen fallen lassen, Tante Fenna würde dagegenhalten, und schon würden die beiden alten Frauen sich wieder zanken und für den Rest des Abends kein Wort mehr miteinander wechseln.

Alles, nur das nicht!

Wiebke klemmte sich den Beutel mit ihren Schätzen fest unter den Arm, rannte das letzte Stück des Feldwegs entlang und dachte sehnsüchtig daran, wie viel sie jetzt gerade für ein Fahrrad geben würde.

Kapitel 2

Die alte Margarethe hatte wirklich schon bessere Tage gesehen. Der Motor stotterte und röchelte immer wieder bedenklich und stieß dabei schwarze Rußwolken aus, die träge davonsegelten. Einige der Winden, mit denen die Schleppnetze hochgezogen wurden, protestierten quietschend, sobald man an ihnen drehte, und die blaue Farbe am Rumpf blätterte an so vielen Stellen ab, dass der alte Kutter regelrecht pockennarbig aussah. Ein richtiger Seelenverkäufer.

Freerk Cordes lehnte sich an die Reling, ließ den Blick über die gekräuselte Wasseroberfläche der Flussmündung schweifen, die der Kutter auf dem Weg nach Hause durchpflügte, und hing seinen Gedanken nach.

Eigentlich müsste die Margarethe dringend überholt werden. Früher wäre das keine große Sache gewesen, da wären sie nach Bremerhaven oder Elsfleth gefahren und hätten sie für zwei Wochen in die Werft gebracht. Dort hätte man den Motor ausgebaut und gereinigt, das Schiff im Dock neu gestrichen und die Netze ausgetauscht. Aber die Werften gab es nicht mehr. Zerbombt und dem Erdboden gleichgemacht. Verfluchte Tommys!

Freerk holte seinen Tabaksbeutel aus der Hosentasche, sah hinein und entschied sich dagegen, sich eine Zigarette zu drehen. Die paar Krümel würden nur noch für eine einzige reichen. Wenn nicht am Pier jemand stand, der etwas Tabak gegen den Beifang eintauschen wollte, wäre das die letzte Zigarette für lange Zeit. Lieber bis heute Abend warten.

Natürlich könnte er zu Onkel Emil in die Kajüte gehen und ihn fragen, ob er noch etwas Tabak für ihn hätte, aber der würde nur versuchen, ihn »ein bisschen aufzuheitern«, wie er das nannte.

»Na, min Jung? Was ziehst du für ein langes Gesicht? Ist dir mal wieder ’ne Laus über die Leber gelaufen?«, war Onkel Emils übliche Begrüßung, wenn Freerk sich im Morgengrauen beim Kutter einfand, um mit ihm zusammen zum Fischen hinauszufahren. Dann lachte der alte Mann schallend über seinen eigenen Witz und schlug Freerk mit der Hand auf die Schulter, ehe er sich an den Tauen zu schaffen machte, mit denen die Margarethe festgemacht war.

Einmal, ganz zu Anfang, als Freerk zum dritten oder vierten Mal mit Onkel Emil hinausgefahren war, hatte der alte Mann ihn beiseitegenommen, um ihm ins Gewissen zu reden.

»Nimm das doch alles nicht so schwer, Jung!«, hatte er gesagt. »Anderen geht’s genauso. Was meinst du, wie viele mit kaputten Knochen zurückgekommen sind? Dem Sohn von Meyerdierks fehlt der linke Arm, und die rechte Hand haben sie ihm zerschossen. Der kann kein Tau mehr anpacken. Nie wieder.« Dann hatte er Freerk mit traurigen Augen angeschaut und ihm zugenickt. »Das kommt schon alles wieder auf die Reihe bei dir, Jung. Wenn du dich erst mal daran gewöhnt hast und die Krücke nicht mehr brauchst.« Er hatte auf Freerks Bein gezeigt. »Sollst sehen, das geht schneller, als du denkst. Wenigstens bist du wieder nach Hause gekommen. Nicht so wie …«

An dieser Stelle hatte Onkel Emils Stimme versagt, und Freerk hatte trocken den Satz für ihn vollendet: »Nicht so wie Cord.«

Cord war sein Bruder gewesen. Sein Zwillingsbruder. Sein Gegenstück.

Obwohl sie einander wie ein Ei dem anderen geglichen hatten, waren sie vom Wesen her ganz verschieden gewesen. Während Freerk bedächtig und vorsichtig war, war Cord fix und patent gewesen. Einer, dessen Mundwerk nie stillstand, der mit den Leuten umgehen konnte, immer einen Witz parat hatte und bei allen beliebt gewesen war. Einer, der in die Welt passte.

Sie hatten immer alles zusammen gemacht, von Kindesbeinen an. Und es war für beide selbstverständlich gewesen, dass sie auch gemeinsam an die Front gingen. Cord hatte für beide geredet und Freerk für beide aufgepasst. Alles war gut gegangen, bis zu jenem Tag vor drei Jahren. Da hatte Freerk nicht gut genug aufgepasst. Die Granate, die ihm den Fuß abgerissen hatte, hatte seinen Bruder zerfetzt.

Freerk sah die Rauchschwaden, die um die zerschossenen Häuser zogen, noch vor sich. Er fühlte den kalten Wind im Gesicht, hatte den Gestank des Pulvers in der Nase und hörte den ohrenbetäubenden Lärm um sich herum. Und zum tausendsten Mal stellte er sich die Frage, was er hätte anders machen können, um Cords Tod zu verhindern.

Onkel Emils Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Kannst du mal die Kisten aufeinanderstapeln, Jung?«

Freerk wandte sich zu ihm um. »Was?«

»Die Kisten! Wir sind gleich im Hafen«, sagte der alte Mann, der den Kopf aus dem Kajütenfenster streckte. »Träumst du, oder was?«

Statt einer Antwort nickte Freerk nur. Mühsam humpelte er zu den Metallwannen mit dem Fang hinüber, darauf bedacht, mit dem Holzbein nicht auf den feuchten Planken auszurutschen. Inzwischen hatte er den Bogen ganz gut raus, sich an Deck zu bewegen, besonders, seit er ein Stück alten Gummireifen unten an sein Holzbein genagelt hatte.

Missmutig betrachtete er die magere Ausbeute eines ganzen Tags auf See. Zwei Kisten Schollen, eine halbe Kiste Seezungen und drei kleine schwarze Heilbutts hatten sie gefangen. Das war alles. Freerk beschloss, morgen die Angeln mitzunehmen, um auf Makrelen zu gehen.

Vorsichtig lenkte Onkel Emil die Margarethe durch das kleine Hafenbecken auf die Kaimauer zu und kletterte von Bord, um sie festzumachen. Am Kai wartete wie immer bereits der alte Onno de Buhr auf sie, die Hände in den Hosentaschen vergraben und die Schiffermütze schräg auf dem kahlen Schädel.

»Na, ihr beiden?«, rief er, ohne die kurze Tabakspfeife, die zwischen seinen Zähnen klemmte, aus dem Mund zu nehmen. »Heute mal mehr Glück gehabt?«

»Nee, nicht so richtig«, erwiderte Onkel Emil und deutete auf die Kisten. »Mag sein, dass vor uns schon jemand da gewesen ist, wo wir gefischt haben.«

De Buhr nickte zwar, aber an seinem Blick war deutlich zu erkennen, dass er Onkel Emil kein Wort glaubte. »Und Beifang?«, fragte er.

»Zwei Eimer voll. Nur kleine Schollen. Den Rest haben wir wieder über Bord gekippt.«

Geräuschvoll zog de Buhr die Nase hoch und hustete. »Ist ja nicht berühmt! Dann bringt den Fisch mal fix in die Halle und kommt in mein Büro, damit ich den Fang in dein Buch eintragen kann, Emil. Mal gucken, ob das genug ist für einen Dieselschein.«

»Was soll das denn heißen?«, stieß Freerk entrüstet hervor. »Willst du etwa sagen …«

Als er Onkel Emils Hand auf seinem Arm spürte, verstummte er.

»Ja, ist gut, Onno. Wir beeilen uns. Ist ja auch gleich Abendbrotzeit, und wir wollen alle nach Hause.«

De Buhr brummte etwas Unverständliches, tippte sich an die Mütze und stiefelte auf das Gebäude der Fischereigenossenschaft zu.

Freerk sah ihm mit gerunzelter Stirn hinterher. »Was glaubt der eigentlich, wer er ist?«, knurrte er. »Das klang ja fast so, als ob er uns unterstellt, was zu unterschlagen.«

»Na ja, ist nun mal seine Aufgabe, aufzupassen, dass keiner von den Fischern in die eigene Tasche wirtschaftet.« Onkel Emil grinste. »Und, glaub mir, das haben schon etliche versucht. Ist wirklich besser, sich nicht mit Onno anzulegen, Jung. Der sitzt einfach am längeren Hebel. Wenn der uns keinen Diesel mehr aufschreibt, dann ist Schluss mit lustig.«

Freerk schnaubte verächtlich, während er zusah, wie de Buhr durch die Tür verschwand, über der ein Schild mit der Aufschrift Fischereigenossenschaft Fedderwardersiel hing. »Was glaubt der denn, wie viel Fisch wir beide aus dem Wasser holen können? Ein alter Mann von über siebzig und ein Krüppel mit einem Holzbein …«

Onkel Emil lachte und schlug ihm auf den Rücken. »Wer ist hier alt? Und nun lass uns zusehen, dass wir die Kisten in die Halle bringen.«

Eine halbe Stunde später hatten die beiden ihren Fang abgeliefert und verließen das Büro der Genossenschaft. Onkel Emil steckte zufrieden den sorgfältig zusammengefalteten Bezugsschein für Diesel in seine Brieftasche.

»Ärger dich nicht wegen der Schollen, Jung!«, sagte der alte Mann und zeigte auf das kleine, in Zeitungspapier eingewickelte Päckchen, das Freerk in der Hand hielt. »Fürs Abendbrot wird’s schon reichen. Und die kleinen schmecken sowieso am besten.«

De Buhr hatte darauf bestanden, dass sie den Beifang noch mal aussortierten und die Fische bis auf die ganz kleinen Mickerlinge in die Kisten warfen, die sie abliefern mussten. Von dem, was übrig war, würde kaum eine Person satt werden. Emil hatte darauf bestanden, dass Freerk die mickrigen Schollen nahm. Er selber habe noch Schwarzbrot im Haus, das reiche ihm, Schollen äße er sowieso nicht so gern. Zu viel Geprökel. Da sei man ja nach dem Essen noch hungriger als vorher.

»Hochwasser ist morgen um Viertel nach sechs«, sagte Onkel Emil. »Dann sollten wir so um halb sieben auslaufen, oder was meinst du?«

Freerk nickte nur, klemmte das Paket auf den Gepäckträger seines alten Fahrrads, das an der Mauer der Fischereigenossenschaft lehnte, und griff nach dem Lenker.

»Dann sehen wir uns morgen früh um sechs in alter Frische! Lass dir deine Schollen schmecken. Und lies nicht wieder bis in die Puppen, sonst hast du morgen dicke Augen.« Onkel Emil lachte. »Hatten wir ja schon öfters. Bis morgen dann!« Er tippte sich an die Mütze und stapfte in Richtung seines Hauses auf der anderen Seite des Hafenbeckens davon.

Freerk schluckte seinen Ärger hinunter. Dass Onkel Emil diese kleinen spitzen Bemerkungen über seine Leidenschaft fürs Lesen einfach nicht lassen konnte! Natürlich war Freerk seinem Onkel dankbar, dass er ihn auf dem Kutter beschäftigte, obwohl er zu nicht viel nütze war. Onkel Emil gab sich zwar Mühe, es nicht zu zeigen, aber Freerk war klar, dass ihn reines Mitleid zu diesem Schritt bewogen hatte. Freerk war sein Neffe, und unter Verwandten half man sich eben. Immerhin war Freerk so nicht von den mageren Rationen abhängig, die man mit den Lebensmittelkarten bekam, und er saß nicht ständig zu Hause herum und starrte die Wände an. Dass er je wieder als Zimmermann Arbeit finden würde, war ausgeschlossen. Mit dem Holzbein würde er nie wieder auf einen Dachstuhl steigen können.

Der Fischer in der Familie war Cord gewesen. Er hätte den Kutter des Vaters übernehmen sollen, und weil die Fischerei nicht genug für zwei abwarf, hatte Freerk eine Zimmermannslehre in Burhave gemacht. Gerade als er seinen Gesellenbrief in der Tasche hatte, war der Frontbefehl für beide Brüder gekommen und sie waren eingerückt.

Im Frühjahr darauf war ihr Vater auf See geblieben. Niemand wusste, ob er im Sturm gekentert oder auf eine Mine gelaufen war. So kehrte Freerk, als er das Lazarett nach Monaten endlich verlassen konnte, in ein kaltes, leeres Haus zurück.

An seine Mutter hatte er nicht viele Erinnerungen. Sie war an Schwindsucht gestorben, als die Jungen noch klein waren. Manchmal sah er sich die Fotografie an, die bei der Hochzeit seiner Eltern aufgenommen worden war. Wie jung sie darauf aussahen, wie sie da nebeneinanderstanden und mit ernstem Gesicht in die Kamera schauten, Mama im guten schwarzen Kleid, die Haare zu einem Zopf geflochten, der wie ein Kranz um den Kopf geschlungen war. Hellblonde Haare hatte sie gehabt, daran erinnerte Freerk sich noch, aber sonst an gar nichts mehr, weder an die Farbe ihrer Augen noch an den Klang ihrer Stimme. Daneben Papa in seinem Sonntagsstaat mit einem Vatermörder, der ihm die Luft abzuschnüren schien, die widerspenstigen Haare mit Pomade geglättet und den Schnauzbart nach oben gezwirbelt wie Kaiser Wilhelm. In seinen Augen blitzte derselbe Schalk wie später in Cords. Die beiden waren vom gleichen Schlag gewesen. Auch wenn er mit dem Glauben, den der Pastor von der Kanzel predigte, nichts im Sinn hatte, war es Freerk doch ein Trost, sich vorzustellen, die beiden wären jetzt irgendwo, wo das Meer ruhig und der Himmel unendlich war.

Langsam schob er sein Rad die geklinkerte Straße zur Deichkrone hinauf, blieb oben einen Augenblick stehen und sah sich um. Im Siel, dem breiten Kanal, der den Marschboden entwässerte und im Hafenbecken endete, spiegelten sich der blaue Himmel und die Wolken, die sich im Licht der tief stehenden Sonne golden färbten. Einen Moment lang war Freerk versucht, auf das Fahrrad zu steigen und vom Deich hinunterzurollen, doch seine Vernunft siegte. Mit dem Holzbein war die Gefahr zu groß, vom Pedal zu rutschen und zu stürzen, trotz des Metallbügels, den er als Halterung angebracht hatte. Wenn er erst einmal eine richtige Beinprothese hätte, eine mit einem Fuß unten und einem Schuh, dann vielleicht. Aber es würde wahrscheinlich noch Monate dauern, bis er die bekommen würde. So lange musste es das Holzbein tun, das ihm der alte Petersen, der in Tossens Holzschuhe schnitzte, angefertigt hatte.

Langsam und vorsichtig humpelte Freerk die Klinkerstraße hinunter und bog in die schmale Straße ab, die unten am Deich entlangführte. Erst als diese eben wurde, stieg er vorsichtig aufs Rad und fuhr langsam los. Die Häuser hier, in denen die meisten der Fedderwardersieler Fischer wohnten, waren winzig, jedenfalls verglichen mit den Höfen der reichen Marschbauern weiter im Landesinneren. Trotzdem hatte jedes von ihnen einen kleinen Stall für eine Kuh oder ein paar Schweine. Die Fischerei warf nicht genug ab, als dass man das ganze Jahr über davon hätte leben können.

Freerks Haus war das letzte an der Straße und lag hinter einer scharfen Kurve. Ein Stück vor ihm schlenderten ein paar Leute nebeneinander die Straße entlang, zwei junge Burschen in kurzen Hosen und eine Frau mit einem Kopftuch. Die drei nahmen fast die ganze Fahrbahn ein. Flüchtlinge vielleicht, jedenfalls niemand, den er auf Anhieb erkannte. Als er klingelte, drehten sich alle drei um und machten ihm Platz. Die Frau, sehr schmal und hochgewachsen, mochte Mitte zwanzig sein, die Jungen nicht älter als vierzehn oder fünfzehn.

Während die beiden Burschen ihn mit offenem Mund anstarrten, nickte ihm die junge Frau freundlich zu. »Moin!«, rief sie und lächelte, als er an den dreien vorbeifuhr.

Freerk erwiderte den Gruß nicht. Womöglich kämen sie sonst noch bei ihm an die Tür, um zu betteln. Entschlossen trat er mit dem gesunden Bein in die Pedale und achtete darauf, dass das Holzbein nicht aus der Halterung rutschte.

Er hatte die Kurve noch nicht ganz erreicht, als er vor sich einen Motor aufheulen hörte. Sekunden später brauste ein Jeep auf ihn zu, schlingerte kurz hin und her, ehe er dicht an ihm vorbeischoss. In großen weißen Buchstaben stand MP auf der Seite des Fahrzeugs. Nur mit Mühe schaffte es Freerk, das Fahrrad unter Kontrolle zu halten. Er bremste und stieg ab.

»Verdammte Tommys!«, keuchte er.

Schwer atmend sah er dem Jeep einen Augenblick hinterher, ehe er sich ungelenk wieder aufs Fahrrad schwang und nach Hause fuhr.

Kapitel 3

»Was war das denn für ein Stinkstiebel?«, fragte Gerd mit finsterer Miene. »Wenigstens zurückgrüßen könnte er, das wär doch wohl das Mindeste.«

Wiebke warf ihrem Bruder einen strafenden Blick zu. »Das muss einer der Fischer sein. Der kennt uns doch noch gar nicht.«

Gerade als Wiebke die Deichstraße erreicht hatte, waren ihre beiden jüngeren Brüder vom Hafen herübergekommen, und die drei hatten den Heimweg zusammen fortgesetzt.

»Sagst du nicht immer, wir sollen jeden grüßen, weil man das so macht, wenn man nicht unhöflich sein will?«

»Schon, aber …«

»Das muss der verrückte Cordes sein«, unterbrach sie der dreizehnjährige Enno. »Von dem haben die Jungs unten am Hafen erzählt. Seit sie dem das Bein weggeschossen haben, tickt der nicht mehr richtig.«

»Enno!«, rief Wiebke entrüstet. »So was sagt man nicht.«

»Stimmt doch! Habt ihr das Holzbein gesehen?«, fuhr Enno unbeirrt fort. »Die Jungs haben gesagt, der redet mit niemandem mehr, höchstens mit sich selbst. Und wenn die Jungs ihn ärgern …«

»Sag mal, sind das da unsere Hühner?«, unterbrach Gerd ihn. »Hat Piet etwa vergessen, die in den Stall zu bringen?« Er deutete nach vorn, neben die Einfahrt zu ihrem Haus, wo zwei braune Hühner im jungen Gras der Berme scharrten und pickten.

»Dieser kleine Dussel! Die Hühner einfach so laufen zu lassen«, rief Gerd. »Was, wenn die geklaut werden? Na, warte!« Er lief ein paar Schritte voraus und begann zu rufen: »Piet? Piet! Die Hühner sind noch draußen!«

Aus dem Graben neben der Auffahrt kletterte ein schmächtiger, kleiner Junge mit blonden Locken hervor und winkte. »Ihr kommt aber spät. Ich warte schon ewig auf euch«, rief er vorwurfsvoll, drehte sich zum Haus um und legte die Hände trichterförmig an den Mund. »Ike! Mama ist wieder da!«

Hinter der niedrigen Gartenhecke wurde ein feuerroter, zerzauster Haarschopf sichtbar, und einen Augenblick später tauchte Ike auf. Vermutlich hatten weder Tante Fenna noch Wiebkes Schwiegermutter bemerkt, dass sie sich nach draußen geschlichen hatte, denn sie trug weder Jacke noch Mütze und hatte statt ihrer Schuhe nur dicke Wollsocken an. Wiebke seufzte. Ike hatte beim Spielen im Garten offenbar viel Spaß gehabt, denn sie starrte geradezu vor Dreck. Die Strümpfe waren über und über mit Kleierde beschmiert, und die Spielschürze, die Wiebke ihrer Tochter morgens erst frisch angezogen hatte, war voller Grasflecken. Dafür strahlte sie über ihr ganzes rundes Gesicht.

»Mama?«, rief Ike begeistert und rannte, so schnell ihre kurzen Beine sie tragen konnten, die Auffahrt hinunter.

Piet hatte auf seine Schwester gewartet, griff nach ihrer ausgestreckten Hand, und zusammen liefen die beiden auf Wiebke, Gerd und Enno zu.

Wiebke ging lächelnd in die Knie und breitete die Arme aus. »Wer kommt in meine Arme, der kriegt auch Schokolade!«, rief sie, wie sie es immer tat, wenn sie nach Hause kam.

In diesem Moment schoss ein Jeep um die Kurve der Deichstraße, wich um Haaresbreite dem Radfahrer aus, der Wiebke und ihre Brüder eben überholt hatte, dann heulte der Motor wieder auf, und der Jeep raste auf sie zu.

»Was zur…«, keuchte Wiebke und sprang auf die Füße. »Da kommt ein Auto! Runter von der Straße!«, schrie sie panisch.

Noch ehe die Kinder reagieren konnten, gab es einen dumpfen Schlag, gefolgt vom protestierenden Quietschen der Bremsen. Der Wagen schlingerte ein Stück und kam kurz vor Piet und Ike zum Stehen. Braune Federn segelten durch die Luft, als wäre ein Kissen geplatzt.

Wiebke rannte zu ihren Kindern, riss Ike hoch und presste sie an sich. Ihr Herz klopfte vor Schreck bis zum Hals. Piet klammerte sich mit beiden Armen an ihre Taille. Er sagte kein Wort, aber Ike schrie wie am Spieß.

»Ist ja gut«, sagte Wiebke, so ruhig sie konnte, und streichelte Ike über den Kopf, den die Kleine gegen ihre Schulter presste. Das Kind zitterte am ganzen Körper. »Es ist ja nichts passiert«, wiederholte Wiebke wieder und wieder.

Zaghaft löste sich Ike ein wenig von ihr und sah zu dem Auto und den Federn, die noch immer zu Boden rieselten.

»Berta!«, jammerte sie und deutete auf die Straße. »Meine dicke Berta!« Sie legte ihre Arme um Wiebkes Hals, verbarg ihr Gesicht erneut an ihrer Schulter und schluchzte verzweifelt.

Jetzt sah auch Wiebke den leblosen, blutverschmierten Körper des Huhns. Offenbar war eine der beiden Hennen über die Straße gelaufen und von dem Jeep erfasst worden. Eine ungeheure Wut schoss in Wiebke hoch. Ausgerechnet die dicke Berta!

Sie musste daran denken, wie viel Mühe es sie gekostet hatte, die beiden Hühner zu beschaffen, und wie schwierig es war, sie zu versorgen. Und natürlich hatte es nicht die magere Agathe getroffen, die nur alle paar Tage ein Ei im Nest hatte, sondern Berta, die pünktlich jeden Morgen ein Ei legte. Hinzu kam, dass Ike an dem Tier geradezu einen Narren gefressen hatte, denn während Agathe schon mal nach den Kindern pickte, hockte Berta sich immer hin und spreizte ein wenig die Flügel, um sich von Ike über den Rücken streicheln zu lassen.

Wiebke griff nach Piets Hand, nahm sie fest in ihre und marschierte entschlossen auf den Jeep zu, die immer noch jammernde Ike auf dem Arm. Sie sah den jungen Mann in Uniform hinter dem Steuer sitzen, nahm auch den weißen Stern und die Buchstaben MP für Military Police auf der Motorhaube wahr, aber das war ihr in ihrem Zorn völlig egal.

»Sind Sie verrückt geworden, so zu rasen?«, rief sie aufgebracht. »Hier wohnen Leute! Hier spielen Kinder! Stellen Sie sich mal vor, das wäre meine Tochter gewesen, die auf der Straße stand, dann wäre sie jetzt tot! Aber ein Menschenleben zählt für euch Tommys doch sowieso nichts!« Sie fühlte, dass sie vor lauter Wut zu zittern begann.

Der Soldat hinter dem Steuer starrte sie einen Moment lang durch die Windschutzscheibe an, dann neigte er den Kopf ein wenig, um nicht gegen den Rand des Stoffverdecks zu stoßen, und stieg aus dem Jeep.

Er war groß, bestimmt einen halben Kopf größer als Wiebke, dabei sehr schlank. Unter dem offenen Mantel trug er eine braune Offiziersuniform. Seine hellen Augen musterten sie durchdringend, und er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber Wiebke ließ ihm keine Gelegenheit dazu.

»Meine beste Legehenne haben Sie überfahren«, rief sie. »Haben Sie eigentlich eine Ahnung, was das für uns bedeutet?« Sie stieß ein bitteres Lachen aus. »Sie? Ganz sicher nicht! Sie bekommen ja immer genug zu essen. Aber wir kriegen nur das bisschen, das es für Lebensmittelmarken gibt, und das reicht vorn und hinten nicht. Wissen Sie, wie das ist, wenn man seine Kinder jeden Abend hungrig ins Bett schicken muss? Was glauben Sie wohl? Das bricht einem das Herz! Und gerade, wenn man glaubt, dass es endlich bergauf geht, dann kommt so ein … so ein Tommy …«

Das Schimpfwort für die englischen Soldaten spuckte Wiebke förmlich aus. Ihre Stimme überschlug sich und gehorchte ihr nicht mehr, ihre Augen brannten wie Feuer, und sie musste blinzeln, um wieder klar sehen zu können.

Der Soldat zog die Augenbrauen zusammen. »Entschuldigen Sie, Madam!«, sagte er langsam und überdeutlich mit schwerem englischen Akzent. »Ich habe nicht alles verstanden. Mein Deutsch ist nicht so gut, alles zu verstehen. Bitte sprechen Sie langsam. Ich meine, mehr langsam.«

Wiebke schnaubte verächtlich.

»Und …« Der Offizier schien einen Moment nach dem richtigen Ausdruck zu suchen. »Wie sagt man? … Calm down, please.«

»Ich soll mich beruhigen?«, entfuhr es ihr. »Hören Sie mal, Sie hätten um ein Haar meine Kinder überfahren!«

Der Soldat warf ihr einen überraschten Blick zu. »Sie sprechen Englisch?«, fragte er verblüfft.

»Ja. Sieh mal einer an, ich spreche Englisch«, gab sie immer noch aufgebracht zurück. »Es ist zwar eine Ewigkeit her, dass ich es gelernt habe, aber ich verstehe noch immer jedes Wort.«

Der Anflug eines Lächelns umspielte die schmalen Lippen des Engländers, und seine blaugrauen Augen blitzten amüsiert. »Dafür war es aber gar nicht schlecht«, erwiderte er auf Englisch. Wiebke war überhaupt nicht bewusst gewesen, dass sie ihm in seiner Sprache geantwortet hatte.

»Das mit Ihrem Huhn tut mir wirklich leid«, fuhr er fort. »Ich war sehr in Eile und habe wohl die Kurve unterschätzt. Und ich hatte wirklich keine Ahnung, wie dicht die Häuser hier an der Straße stehen.« Sein Lächeln vertiefte sich. »Selbstverständlich werde ich Ihnen das Huhn ersetzen. Kommen Sie morgen in die Gemeindeverwaltung von Burhave, dann werden wir alles Weitere regeln, Mrs …«

»Hansen. Wiebke Hansen.«

»Also gut, Mrs Hansen. Ich muss jetzt weiter. Wie gesagt, ich habe es sehr eilig.« Er griff in die Innentasche seines Mantels und zog eine Visitenkarte hervor.

Wiebke löste Ikes Arme von ihrem Hals und setzte das immer noch weinende Kind auf dem Boden ab. Dann nahm sie die Karte entgegen.

»Wir sehen uns dann morgen«, sagte der Soldat und streckte ihr seine Rechte entgegen. Zögernd ergriff sie sie und nickte.

Er stieg wieder in den Jeep und kramte kurz auf dem Beifahrersitz herum. »Für ihre Kinder«, sagte er und drückte ihr ein kleines Päckchen in silbernem Stanniolpapier in die Hand, ehe er den Motor startete und davonbrauste.

Wie vom Donner gerührt starrte Wiebke auf die Tafel amerikanische Schokolade, die sie in der Hand hielt. Dann fiel ihr Blick auf die Visitenkarte. Cpt. James Watson stand darauf.

Also gut, Captain Watson, dachte sie. Dieses Huhn werden Sie mir teuer bezahlen.

Kapitel 4

»Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein, Wiebke!« Geräuschvoll legte Almuth das Schälmesser auf den Küchentisch und starrte ihre Schwiegertochter entgeistert an. »Du kannst doch unmöglich zu den Tommys gehen!«

»Wieso nicht?«, fragte Tante Fenna ruhig, griff nach einer weiteren Kartoffel und begann in aller Seelenruhe, sie hauchdünn zu schälen. »Der Engländer hat das Huhn auf dem Gewissen und will es bezahlen. Wiebke wäre ja schön dumm, wenn sie nicht hingehen würde.«

Wiebke sagte nichts. Sie wusste, was jetzt kommen würde, und war heilfroh, dass die drei Jungen noch in der Schule waren und Ike draußen in der Sandkiste spielte. Mit gesenktem Kopf, bemüht, keine der Schwestern anzusehen, konzentrierte sie sich darauf, das Huhn zu rupfen, das auf ihrem Schoß lag. Als der britische Offizier mit seinem Wagen davongefahren war, hatte sie ihren Brüdern befohlen, die beiden Kleinen sofort ins Haus zu bringen. Dann hatte sie die dicke Berta von der Straße aufgehoben, war in den Schuppen gelaufen, hatte ihr mit der Axt den Kopf abgeschlagen und sie kopfüber aufgehängt. Zum Glück hatte das Auto das Tier nur gestreift und es nicht überrollt, sonst wäre es sicher nicht mehr essbar gewesen. So aber würde es Hühnersuppe geben. Während sie zusah, wie das Blut langsam aus dem Hals der Henne tropfte, dachte Wiebke daran, wie sie auf Helgoland in der Küche des Hotels Inselkönig gestanden und in drei großen Töpfen Hühnerbrühe für eine Hochzeitsgesellschaft gekocht hatte. Das schien so lange her und war so unwirklich, als wäre es in einem anderen Leben geschehen.

»Das war ja mal wieder klar, dass du auf ihrer Seite bist«, rief Almuth aufgebracht und funkelte ihre Schwester wütend an. »Sie kann doch nicht wirklich zum Feind …«

»Sicher kann sie.« Fenna war nicht aus der Ruhe zu bringen. Gelassen saß sie auf ihrem Stuhl, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, und betrachtete die Kartoffel, die sie gerade schälte, über den Rand ihrer dicken Brille hinweg. Der schmale Streifen Schale, der von der Kartoffel herunterhing, wurde immer länger und legte sich vor ihr auf dem Tisch zu einer Spirale zusammen. »Was ist denn schon dabei? Sie muss doch nur nach Burhave, so weit ist das nicht. Das schafft sie in einer halben Stunde zu Fuß. Wenn sie jetzt bis nach London laufen müsste, sähe die Sache natürlich anders aus.«

Aus den Augenwinkeln sah Wiebke zu Tante Fenna hinüber. Unbeirrt schälte sie weiter ihre Kartoffel, schnitt ein paar unschöne Stellen und ein Auge heraus, viertelte die Knolle schließlich und warf sie in den Kochtopf vor sich. Nur ein winziges Zucken ihrer Mundwinkel verriet, wie viel Spaß es ihr machte, ihre Schwester zur Weißglut zu bringen.

»Du weißt genau, was ich meine, Fenna! Sich einbestellen zu lassen wie ein gewöhnliches Dienstmädchen … Das ist ja beinahe so, als würde man vor dem Feind zu Kreuze kriechen. Und das nach allem, was sie uns angetan haben. Es waren schließlich die Briten, die unsere Insel zerbombt haben. Ihretwegen mussten wir weg von Zuhause und haben alles verloren. Ein bisschen Stolz sollte man sich doch wohl noch bewahren dürfen.«

»Stolz?« Fenna zog die Augenbrauen hoch. »Stolz hat noch niemanden satt gemacht.«

»Lieber würde ich hungern, als von den Briten irgendwelche Almosen anzunehmen. Immerhin bin ich eine Hansen und Wiebke ebenso. Sie sollte sich entsprechend benehmen!«

»Jetzt fang bloß nicht wieder von den alten Zeiten an, in denen alles besser war, Almuth. Helgoland ist Vergangenheit. Aus und vorbei! Jetzt sind wir in Fedderwardersiel und müssen sehen, dass wir hier zurechtkommen. Hansens hin oder her, wir sind nichts Besseres als all die anderen Flüchtlinge auch.«

Almuth sprang auf die Füße. Ihre Lippen waren zusammengepresst, und sie bebte vor Wut. »Helgoland ist Vergangenheit? So was muss ich mir nicht anhören. Nicht einmal von dir!« Sie lief aus der Küche und schlug die Tür zu.

»Peng! Die ist zu!«, sagte Fenna trocken. »Das war bei Almuth schon immer so. Schon als Kind. Wenn sie nicht mehr weiß, was sie sagen soll, dann rennt sie aus dem Zimmer und knallt mit den Türen.«

»Müsst ihr euch denn immer streiten?«, fragte Wiebke unglücklich. Ihr war das ständige Gezänk der beiden alten Frauen zutiefst zuwider.

»Müssten wir nicht, wenn Almuth endlich damit aufhören würde, der Vergangenheit nachzutrauern.« Fenna stemmte sich mühsam vom Tisch hoch und griff nach ihrem Gehstock. Ihre Hüften wollten schon seit Jahren nicht mehr, und seit dem letzten Winter war es so schlimm geworden, dass sie kaum noch gehen konnte. »Wenn du mir die Henne in den Spülstein legst, rupf ich zu Ende und nehm sie aus, Deern«, sagte sie. »Du solltest dich noch umziehen und dich ein bisschen hübsch machen, bevor du nach Burhave gehst.« Fenna tätschelte Wiebke die Schulter und lächelte. »Wenn du mich fragst, ich finde es goldrichtig, dass du zu den Briten gehst.«

Eine Stunde später stand Wiebke vor dem schmucklosen Klinkerbau in Burhave, in dem die Gemeindeverwaltung untergebracht war, aber sie zögerte, hineinzugehen. Nachdenklich betrachtete sie den dunkelgrünen Jeep mit dem großen weißen Stern auf der Motorhaube, der an der Straße parkte.

Den ganzen Weg über hatte sie überlegt, was sie zu Captain Watson sagen sollte. In Gedanken war sie alles noch einmal durchgegangen, was sie ihm am Vortag an den Kopf geworfen hatte. Sicher, sie war sehr aufgebracht gewesen, aber sie wusste, dass sie zu weit gegangen war. Auch wenn der Offizier nicht beleidigt gewirkt hatte, war es sicher angebracht, sich für ihre Worte zu entschuldigen. Totes Huhn hin oder her, Watson gehörte zur Besatzungsmacht, und es wäre unklug, es sich mit der Obrigkeit zu verderben. Nur gut, dass ihre Schwiegermutter nicht hören würde, wie sie »zu Kreuze kroch«.

»Ich wollte, du wärst hier, Jan!«, murmelte sie. »Du kannst so viel besser mit Leuten umgehen als ich.«

Du schaffst das schon, min Lütten! Du schaffst alles, was du willst! Das hatte Jan immer zu ihr gesagt, und auch jetzt hatte sie seine Stimme im Ohr.

Wiebke seufzte, stieg die drei Stufen zum Eingang hinauf und legte die Hand auf den Knauf. In der Glasscheibe der Tür spiegelte sich ihr blasses, schmales Gesicht mit den vielen Sommersprossen. Sie hatte nicht gut geschlafen, weil Piet, der bei ihr im Bett schlief, immer wieder aufgewacht war und geweint hatte. Wie immer, wenn Wiebke müde war, lagen dunkle Schatten unter ihren hellgrünen Augen und ließen sie groß und besorgt wirken.

»Nun reiß dich mal zusammen! Es wird dir schon niemand den Kopf abreißen«, murmelte sie und strich sich eine vorwitzige hellrote Strähne, die sich aus dem Haarkranz gelöst hatte, hinters Ohr, ehe sie die Tür öffnete und den dunklen Flur betrat.

Durch die erste Tür auf der linken Seite, über der ein Schild mit der Aufschrift Amtsstube hing, drang gedämpftes Männerlachen. Wiebke hob die Hand und klopfte.

»Come in!«, rief eine dunkle Stimme.

Sie holte tief Luft, setzte ein Lächeln auf und trat ein.

Im ersten Moment glaubte sie, falsch zu sein, denn niemand war zu sehen. Doch dann tauchten hinter dem großen Holztresen, der den Raum in zwei Hälften teilte, Captain Watson und ein zweiter, ihr unbekannter britischer Soldat auf. Sie schienen sich über etwas gebeugt zu haben, das sich hinter dem Tresen auf dem Boden befand.

»Ah, Mrs Hansen. Ich habe Sie gar nicht so früh erwartet«, sagte Captain Watson auf Englisch, streckte ihr seine Rechte entgegen und lächelte, als sie sie ergriff. »Schön, dass Sie es einrichten konnten.« Er drehte sich zu dem zweiten Soldaten um, einem blonden, sehr jungen Mann in Mannschaftsuniform. »Anderson, kochen Sie doch noch einmal Tee für mich und unseren Gast.«

Der Angesprochene nickte und verschwand durch eine zweite Tür im hinteren Bereich der Amtsstube.

Captain Watson öffnete die hölzerne Schwingtür im Tresen. »Kommen Sie und nehmen Sie Platz, Mrs Hansen!«, sagte er, deutete auf einen der Schreibtischstühle und zog sich selbst einen zweiten Stuhl heran.

Zögernd kam Wiebke seiner Aufforderung nach und setzte sich nervös vorn auf die Stuhlkante. Noch immer hatte sie kein Wort gesagt. Sie wusste nicht, wie sie mit ihrer Entschuldigung beginnen sollte. Gestern in ihrer Wut war es ihr leichtgefallen, Englisch zu reden, aber heute wollten ihr einfach nicht die passenden Worte einfallen. Verlegen räusperte sie sich.

»Ich möchte … ich wollte mich entschuldigen … wegen gestern«, begann sie stockend. »Ich habe ein paar Dinge gesagt …«

Watson winkte ab. »Ist schon in Ordnung. Sie waren sehr aufgebracht und hatten allen Grund dazu. Immerhin habe ich Ihre Henne überfahren.« Er lehnte sich zurück und betrachtete Wiebke mit einem schmalen Lächeln.

Sie wich dem durchdringenden Blick seiner blaugrauen Augen aus und schaute sich verstohlen in der Amtsstube um. Auf dem Boden stand eine Holzkiste, über die eine Decke gelegt war. Das musste es gewesen sein, was die beiden Soldaten bei ihrem Eintreten untersucht hatten.

»Ich habe versucht, beim Bürgermeister Erkundigungen über Sie einzuziehen«, sagte Watson nach kurzem Schweigen. »Aber der wusste auch nicht viel mehr, als dass Sie von Helgoland stammen und vor ein paar Wochen hergezogen sind. Nur Sie, zwei alte Frauen und mehrere Kinder. Ihr Mann ist gefallen?«

»Verschollen. In Russland.«

»Oh«, sagte er leise. »Das muss schwer sein.«

Sie sah auf, und ihre Augen trafen sich. Es lag kein Hohn in seinem Blick und auch kein Mitleid. Nur freundliches Interesse. Die Wut, die sofort in Wiebke hochgekocht war, verrauchte wieder.

»Es ist schwer, immer genug zu essen für alle auf den Tisch zu bringen«, sagte sie leise.

»Das glaube ich gern«, erwiderte er, griff nach einer Schachtel Zigaretten, die auf dem Schreibtisch lag, und zündete sich eine an. »Haben Sie denn Arbeit?«

Wiebke lachte bitter. »Arbeit? Nein. Wer braucht in diesen Zeiten schon eine Köchin? Und etwas anderes kann ich nicht.«

»Oh, das würde ich nicht sagen. Immerhin sprechen Sie Englisch. Und zwar recht gut, wenn ich das so sagen darf.« Er schnippte die Asche in den Aschenbecher auf dem Tisch und fuhr sich mit der Hand durch seine kurzen dunklen Haare. »Wo haben Sie das gelernt?«

»Mein Großvater war Engländer. Als Kind habe ich viel Zeit bei ihm verbracht. Er hat es mir beigebracht.«

»Ich verstehe.«

Captain Watson wollte weitersprechen, aber in diesem Moment kam Anderson zurück, in der Hand ein Tablett mit einer Teekanne und zwei Tassen, das er vor ihnen auf den Tisch stellte.

»Ah, der Tee. Danke, Anderson!« Watson griff nach der Kanne und schenkte Tee in beide Tassen. »Das wäre dann alles.« Anderson nickte und ging wieder hinaus.

»Sahne? Zucker?«, fragte Watson.

»Gern beides«, antwortete Wiebke, der etwas unbehaglich zumute war, weil sie es nicht gewohnt war, bedient zu werden.

»Ein guter Kerl, dieser Anderson«, sagte Watson mit einem Seufzen und rührte in seinem Tee. »Aber er ist leider ein lausiger Koch. Ihm brennt sogar das Wasser an.« Vorsichtig trank er einen Schluck aus seiner Tasse und verzog das Gesicht. »Nicht mal Tee bekommt er hin.«

Auch Wiebke probierte und zog eine Grimasse. Der Tee hatte viel zu lange gezogen und war trotz des vielen Zuckers gallebitter.

Watson zwinkerte ihr zu und lächelte breit. Obwohl er bestimmt schon über dreißig war, wirkte er jetzt wie ein kleiner Junge. »Wie Sie sehen, könnte ich eine Köchin gut gebrauchen.«

Wiebke war wie vom Donner gerührt. »Soll das heißen, Sie bieten mir Arbeit an?«

»Ja, warum nicht? Damit wäre uns doch beiden geholfen.« Er stellte die halb leere Tasse auf den Tisch zurück. »Natürlich nur, wenn Sie kein Problem damit haben, für einen Tommy zu arbeiten!«

»Ich? Nein, natürlich nicht!«, beeilte sie sich, zu versichern, während sie fühlte, dass ihr das Blut in die Wangen schoss. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Arbeit! Richtige bezahlte Arbeit!

»Sehr schön! Ich wurde für ein paar Monate zur Militärverwaltung in Nordenham beordert, aber ich habe hier in Burhave Quartier genommen. Das Haus liegt ein bisschen außerhalb an der Straße nach … wie heißt das Dorf gleich? Woddens?«

»Waddens.«

»Richtig, Waddens. Merkwürdiger Name! Das ist natürlich ein ganzes Stück von Fedd…« Er stutzte und murmelte einen unverständlichen Fluch. »Mit den Ortsnamen habe ich höllische Schwierigkeiten. Von Fedd…siel entfernt.«

Wiebke unterdrückte ein Lächeln.

»Also, wenn Ihnen das nicht zu weit ist?«, fuhr er fort.

»Nein, ganz und gar nicht.«

Wieder zeigte sich auf seinem Gesicht dieses jungenhafte Lächeln. »Sonst kann Anderson Sie mit dem Jeep abholen.«

»Nein, nein, das wird nicht nötig sein«, sagte Wiebke hastig. Den Gedanken daran, was Almuth wohl dazu sagen würde, dass sie im Begriff war, für den Feind zu arbeiten, schob sie beiseite. »Das schaffe ich schon.«

»Abgemacht. Dann hätten wir, wie sagt man? Zwei Bienen mit ein Klaps …« Den letzten Satz versuchte er auf Deutsch.

»Zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen«, korrigierte Wiebke lächelnd.

Watson lachte. »Vielleicht bringen Sie mir sogar noch etwas Deutsch bei. Nötig hätte ich es wahrhaftig.« Er erhob sich. »Dann hat sich das Missgeschick mit Ihrer Henne für uns beide wohl als Glücksfall erwiesen. Oh, die Henne, das hätte ich ja beinahe vergessen!«

Er ging zu der Kiste hinüber und hob vorsichtig die Decke an, die darübergebreitet war. Sofort begann es im Inneren zu piepsen und zu glucksen.

»Ich habe Anderson losgeschickt, damit er für Sie auf einem der Bauernhöfe einen angemessenen Ersatz besorgt. Leider war er nicht sehr erfolgreich.« Er winkte Wiebke heran.

Sie stand auf und ging zu der Kiste hinüber. Ganz in eine Ecke gedrängt saß eine offenbar ziemlich alte, zerzauste Glucke mit drei kleinen Küken.

»Das war alles, was er auf die Schnelle beschaffen konnte.«

»Aber das ist doch nicht …«, begann Wiebke. »Wenn Sie mir Arbeit geben, dann kann ich doch unmöglich …«

»Bitte, Mrs Hansen, ich bestehe darauf. Ich habe Ihnen versprochen, das tote Huhn zu ersetzen.« Watson streckte ihr seine Rechte hin. »Und die Küken nehmen Sie bitte als meine Entschuldigung an. Hoffentlich sind es nicht nur Hähne!«

Wiebke musste lachen und ergriff seine Hand.

Kapitel 5

»Das ist doch wirklich mal was anderes als die ewige Graupensuppe!« Gerd kratzte mit dem Löffel sorgfältig auch noch den letzten Rest Eintopf aus seinem Teller.

Wiebke hatte den restlichen Gulasch, den sie gestern für Captain Watson und Anderson zubereitet hatte, mitnehmen dürfen. Die Soße hatte sie mit Wasser verlängert und Kartoffeln darin gar gekocht. Braune Kartoffeln, wie ihre Mutter dieses Gericht genannt hatte, waren früher schon Gerds Lieblingsessen gewesen.

»Untersteh dich, den Teller abzulecken«, sagte Wiebke lachend.

»Warum nicht? Wäre doch schade drum!«

Almuth legte geräuschvoll ihren Löffel auf den Tisch. »Also wirklich!«, rief sie entrüstet.

»Weil Ike und Piet sich das sonst abgucken«, sagte Wiebke eilig. »Und weil es sich einfach nicht gehört.«

Es war ein strahlender Maitag, die Mittagssonne schien durch die Scheiben des frisch geputzten Küchenfensters herein und warf helle Flecken auf den alten wackeligen Holztisch, um den sich Wiebkes Familie drängte.