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Sylt ist traumhaft. Janna verbindet mit der Insel wunderbare Erinnerungen an Meeresluft, Freiheit, ihren Jugendschwarm Achim und glückliche Sommer in der Pension ihrer Großmutter. Genau dort verkriecht sie sich, als ihre Mutter überraschend stirbt und ihr Freund sie sitzen lässt. Doch Verkriechen ist keine Lösung, finden ihre Oma und ihr Kumpel Mo. Sie ermutigen Janna, ihre Träume von früher endlich zu verwirklichen. Nur dass sie noch immer von Achim träumt, gefällt Mo gar nicht ...
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Seitenzahl: 336
Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Jannas Sternschnuppenwünsche
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Epilog
Jannas Sternschnuppenwünsche
Marlies Folkens wurde 1961 in Stollhamm-Ahndeich geboren, einem kleinen Dorf direkt an der Nordseeküste. Als jüngstes von vier Geschwistern wuchs sie auf einem Bauernhof auf. Nach dem Abitur zog sie zum Studium der Geschichte und Politik nach Oldenburg, wo sie bis heute mit ihrer Familie lebt. Schon früh entdeckte sie das Schreiben für sich.
Marlies Folkens
STERN-SCHNUPPEN-TAGE
Ein Sylt-Roman
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, KölnLektorat: Lena SchäferUmschlaggestaltung: Kirstin OsenauUnter Verwendung von Motiven von © shutterstock: Annareichel | Jag_cz | Nicole Kwiatkowski | Hulinska Yevheniia und © Heinz Wohner / LOOK-foto /gettyimages
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-6085-1
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Claireund alle anderen, die ein ebenso großes Herz
JannasSternschnuppenwünsche
1. Ein eigenes Surfbrett
2. Ein Pferd
3. Eine Katze oder ein Hund
4. Berühmt sein
5. Hübsch sein
6. Größer als einen Meter siebzig sein
7. Viggo Mortensen kennenlernen
8. Eine Ausstellung in einer Galerie
9. Mein erstes Bild verkaufen
10. Eine Spiegelreflexkamera
11. Mit Delfinen schwimmen
12. Auf einem Drachen fliegen
13. Von Achim geküsst werden
14. Für immer auf Sylt bleiben
15. Malen, malen, malen …
Badumm, badumm, badumm …
Das Geräusch der Reifen auf den Metallplatten des Autozugs erinnerte an einen schnellen Herzschlag. Früher hatte es Janna immer mit Euphorie erfüllt. Es war das Zeichen gewesen, dass jetzt der Urlaub wirklich begann. Dann hatte sie zu ihrer Mutter hinübergesehen und auf ihr Zwinkern gewartet.
»Na, Janna?«, hatte Mama jedes Mal gefragt. »Bereit für die Insel?«
Und Janna hatte gelacht und genickt. Mama hatte die Tasche mit dem Proviant aus dem Fußraum des Rücksitzes geangelt, Tee aus der Thermoskanne in die Becher gegossen und die letzten Brote verteilt. Und während der Zug über den Hindenburgdamm rumpelte, hatten die beiden gefrühstückt, aus dem Fenster gesehen und versucht zu erkennen, welche Vögel durch das Watt neben dem Damm tippelten. Wer zuerst einen Austernfischer entdeckte, hatte gewonnen.
Früher…
Janna fühlte, wie sich vor Trauer ihre Brust zusammenzog. Wie lange war es her, dass sie zuletzt mit Mama auf die Insel gefahren war? Sie rechnete nach und kam auf neun Jahre.
Es war in den Osterferien gewesen, direkt vor ihren Abiturprüfungen. Mama hatte gemeint, bevor der Stress mit den Klausuren und mündlichen Prüfungen beginne, könnten sie doch eine Woche nach Sylt fahren, um Kraft zu tanken. Papa hatte nur gebrummt und den Kopf geschüttelt. Er würde auf keinen Fall eine ganze Woche wegfahren, hatte er gesagt. So lange könne er die Apotheke nicht allein lassen. Man wisse ja nie, was die Angestellten in der Zeit alles für einen Mist anstellen würden. Dann hatte er sich wieder hinter seiner Sonntagszeitung vergraben.
Mama hatte nur gelächelt und Janna zugezwinkert. Sie hatte es schon lange aufgegeben, ihm vorzuhalten, dass er mehr mit seiner Apotheke verheiratet wäre als mit ihr. Schließlich war Papa noch für zwei Tage nachgekommen – wie immer mit dem Laptop und einer Menge Listen im Gepäck, die er durchgehen wollte, während Frau und Tochter am Strand spazieren gingen. Und wie in jedem Urlaub hatte er sich beschwert, dass es in der vermaledeiten Pension seiner Schwiegereltern zu laut sei, um sich auf die Arbeit zu konzentrieren.
Es war sein letzter Besuch auf Sylt gewesen. Janna hatte gerade ihre Ausbildung begonnen, als er ganz plötzlich an einem Herzinfarkt starb. Die Arbeit habe ihn aufgefressen, hatte Mama damals gesagt und hinzugefügt, dass es ihr selbst ganz gewiss nicht so gehen werde.
Badumm, badumm, badumm machten die Räder auf den Metallplatten, als Janna den Passat ihrer Mutter vorwärtsrollen ließ. Ein Mann in orangefarbener Warnweste winkte sie ans Ende der Fahrzeugschlange heran und bedeutete ihr mit einem Handzeichen, wo sie stehen bleiben sollte. Er nickte ihr zu und ging dann weiter, um den nächsten Wagen einzuweisen.
Janna schaltete den Motor aus und zog die Handbremse an. »Was für ein Glück, dass wir einen Platz oben bekommen haben«, sagte sie leise und sah zu der alten Frau hinüber, die auf dem Beifahrersitz saß.
Ihre Großmutter drehte kurz den Kopf in ihre Richtung und zwang sich ein Lächeln ab. »Ja, das ist schön, Deern!«
Das war alles, was sie sagte, ehe sie wieder aus dem Fenster starrte. Janna seufzte. Wie schlimm musste das Ganze erst für ihre Großmutter Johanne sein?
Wenn man seinen Ehepartner verlor, wurde man zur Witwe, wenn die Eltern starben, war man Waise. Aber für Eltern, die ihre Kinder zu Grabe tragen mussten, gab es kein Wort. »Man hört nie auf, Mutter zu sein, egal, wie alt die Kinder auch sind«, hatte Mama einmal gesagt. Janna hatte ihre Stimme noch genau im Ohr. Es war so unwirklich, dass sie sie nie wieder hören sollte.
Acht Tage war es jetzt her. Martin war zu ihr ins Besprechungszimmer gekommen, wo sie gerade mit der Bilanzbuchhalterin zusammengesessen hatte, um die Zahlen des Vorjahres durchzugehen. Sie sah seinen Blick noch vor sich, als er sie aus dem Raum gewinkt und ihr zugeflüstert hatte, dass ein Anruf aus Flörsheim für sie gekommen sei und sie dringend zurückrufen solle. Er war zusammen mit ihr in sein Büro gegangen und hatte neben ihr gestanden, als der Nachbar ihrer Mutter ihr am Telefon mitgeteilt hatte, dass Mama am Morgen ganz überraschend an einem Hirnschlag verstorben sei. An alles, was er sonst noch gesagt hatte, konnte Janna sich nur vage erinnern. Während er von »Formalitäten«, »Totenschein« und »Beerdigung« gesprochen hatte, war ihr immer nur ein Gedanke durch den Kopf geschossen: Das kann unmöglich sein. Nicht Mama. Ich habe doch erst vor ein paar Tagen mit ihr telefoniert. Sie kann nicht tot sein! Das ist völlig ausgeschlossen!
Sie hatte den Hörer auf die Gabel gelegt und Martin wie betäubt angesehen. »Ich muss sofort nach Hause. Meine Mutter ist tot« war alles, was sie hervorgebracht hatte. Dann hatten ihre Knie nachgegeben, und sie hatte an seiner Schulter hemmungslos geweint.
Martin hatte sich um alles gekümmert, wie das nun einmal seine Art war. Er hatte Jannas Koffer gepackt, ein Flugticket von Dubai nach Frankfurt besorgt und ihr ein Hotelzimmer gebucht. Die ganze Nacht über hatte er sie in seinen Armen gehalten und sie am nächsten Morgen selbst mit dem Wagen zum Flughafen gebracht. Wie gern hätte sie ihn auf dieser Reise an ihrer Seite gehabt, aber das war vollkommen unmöglich. Sie hatte erst gar nicht gefragt, ob er mitkommen wolle. Er konnte die Firma nicht so einfach im Stich lassen, schon gar nicht, wenn seine Stellvertreterin für mehrere Tage ausfallen würde. Auch wenn sie jetzt schon seit drei Jahren ein Paar waren, die Pflicht ging nun mal vor.
»Nimm dir Zeit, solange du brauchst. Selbst wenn es ein paar Wochen sind, kein Problem!«, hatte Martin ihr ins Ohr geflüstert, als er sie am Terminal in den Arm genommen hatte. »Ich regle das schon alles mit der Zentrale.«
Dann hatte er sie lange geküsst und ihr mit dem Daumen die Tränen von der Wange gewischt. »Ruf mich an, sobald du da bist. Hörst du, Kleines?« Nur widerwillig hatte er sich von ihr losgemacht und ihre kalten Hände noch einen Moment in seinen gehalten, während sein Blick den ihren suchte.
Janna hatte genickt und zu lächeln versucht. »Ich komm schon klar«, hatte sie gesagt und so viel Zuversicht in ihre Stimme gelegt, wie sie nur aufbringen konnte.
»Das ist mein tapferes Mädchen!«, hatte er lächelnd geantwortet, und seine Augen hatten so viel Wärme und Liebe ausgestrahlt, dass ihr für einen Moment ganz leicht ums Herz geworden war.
Martin hatte ihr zum Abschied einen Kuss auf die Wange gegeben, dann hatte sie sich umgedreht und war eilig durch das Terminal verschwunden, ohne sich noch einmal umzuschauen. Er sollte nicht sehen, dass sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte.
Mit einem Ruckeln setzte sich der Zug in Bewegung. Über den Salzwiesen hinter Niebüll türmten sich hohe Wolken auf, dazwischen blinzelte die Märzsonne hindurch. Dort, wo die Sonnenstrahlen die Erde trafen, brachten sie das junge Gras zum Leuchten. Am Deich drehten sich die Windkrafträder im frischen Wind, der von der See her blies und das glitzernde Wasser kräuselte, das in großen Pfützen auf dem trockengefallenen Watt stand.
Durch den Schlick neben dem Damm tippelten Seevögel auf der Suche nach Essbarem. Janna erkannte Möwen, Strandläufer und Säbelschnäbler und schließlich auch ein paar Austernfischer mit leuchtend roten Schnäbeln. »Gewonnen«, murmelte sie traurig.
»Gewonnen?« Die Stimme ihrer Großmutter war kaum mehr als ein Flüstern. Sie hatte den Blick vom Fenster abgewandt und sah Janna an.
Die letzten Tage hatten Spuren im Gesicht der alten Frau hinterlassen, und jetzt sah sie tatsächlich nach den vierundsiebzig Jahren aus, die in ihrem Pass standen. Tiefe Schatten lagen unter ihren strahlend blauen Augen, die vom Weinen rot gerändert waren. Doch ihr Blick war so scharf und aufmerksam wie eh und je.
»Das war ein Spiel, das Mama und ich immer auf dem Autozug gespielt haben«, erklärte Janna. »Wer zuerst einen Austernfischer sieht, hat gewonnen.«
Ein wehmütiges Lächeln umspielte Johannes Mund. »Das kenne ich gut. Dieses Spiel hat dein Opa auch immer mit deiner Mutter gespielt, wenn wir vom Festland zurückgefahren sind, damals, als sie noch ein Kind war. Die beiden klebten mit der Nase an den Scheiben und hielten Ausschau nach Austernfischern. Und meistens hat dein Opa Anneke gewinnen lassen.«
Janna lachte. »Ja, Mama hat mich auch immer gewinnen lassen.«
Johanne ließ die Seitenscheibe ein kleines Stückchen herunter und atmete tief die salzige Luft ein. »Ahhh, tut das gut! Das riecht schon ganz anders als in …«
Sie vollendete den Satz nicht, schloss die Augen und hielt das Gesicht einen Moment in die Sonne. Als sie sich wieder Janna zuwandte, lächelte sie. »Ich habe mir in den letzten eineinhalb Jahren so oft gewünscht, wieder nach Hause zu fahren. In jeder Einzelheit habe ich mir ausgemalt, wie es wohl sein würde, die Insel und das Haus wiederzusehen.« Das Lächeln verschwand. »Aber ich habe immer gedacht, dass ich zusammen mit Anneke fahren würde, so wie früher.«
Janna griff nach der Hand ihrer Großmutter und drückte sie. Sie sah Johannes Augen schimmern und spürte selbst einen dicken Kloß im Hals.
Johanne schüttelte langsam den Kopf. »Das will mir alles immer noch nicht in den Kopf. Es ist einfach nicht richtig! Eltern sollten ihre Kinder nicht beerdigen müssen.« Sie seufzte und blickte eine Weile schweigend aus dem Fenster. »Vielleicht hätten wir sie doch auf Sylt beerdigen sollen. Im Herzen ist deine Mama immer Sylterin geblieben, und ich weiß, wie sehr sie die Insel vermisst hat. Sicher wäre es besser gewesen, sie in Morsum zu begraben, neben deinem Opa.« Sie holte ein Taschentuch aus der Handtasche, die sie auf dem Schoß hielt, und putzte sich die Nase.
Janna starrte blind auf das Watt, das vor ihr im Sonnenlicht glitzerte, und sah doch nichts als die kleine Trauergemeinde, die sich gestern auf dem Friedhof am Stadtrand von Flörsheim versammelt hatte, um von ihrer Mutter Abschied zu nehmen. Nur ein paar entfernte Verwandte, der Apotheker, der das Geschäft ihres Vaters übernommen hatte, und zwei Freundinnen ihrer Mutter waren gekommen. Im schneidend kalten Wind, der die kahlen Äste der Bäume schüttelte, hatte Janna so gefroren, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen und es ihr trotz aller Mühe schwergefallen war, den Worten des Pfarrers zu folgen. Vom »Himmelreich« hatte er gesprochen und von »Gottes Hand, in der Anneke jetzt ruht«, so viel hatte sie verstanden. Nichts als leere Worthülsen. Nichts, was in der Lage gewesen wäre, die schmerzhafte Leere zu füllen. Sie hatte nach der Hand ihrer Großmutter gegriffen, und die beiden hatten sich aneinander festgehalten, bis die Beisetzung vorüber war.
Während der ganzen Fahrt vom Bahnhof Westerland nach Morsum wechselten die beiden Frauen kaum ein Wort miteinander. Janna sah, dass ihre Großmutter aufmerksam aus dem Fenster schaute und alle Eindrücke in sich aufzusaugen schien.
Der Wind hatte die letzten Wolken davongeblasen, und die Abendsonne spiegelte sich in den Pfützen auf der Dorfstraße zwischen Keitum und Morsum. Auch wenn es schon Mitte März war und in Flörsheim bereits die Forsythien in voller Blüte standen, lag hier erst ein zartgrüner Schleier auf den Wiesen. Noch hatten nur wenige Bauern ihr Vieh hinausgetrieben. Auf den Weiden grasten vor allem Galloways und ein paar Schafe mit jungen Lämmern. Janna musste an die vielen Stunden denken, die sie als Kind beim Lammen im Stall der Nachbarn verbracht hatte, wenn sie in den Osterferien auf Sylt gewesen war. In Omas Pension hatte sie sich oft gelangweilt, und so war sie beinahe jeden Morgen zu ihrem Freund Achim auf den Nachbarhof hinübergegangen, um mit ihm im Stall zu spielen. Janna schüttelte bei dem Gedanken lächelnd den Kopf.
Achim. Meine Güte. Seit Jahren habe ich nicht mehr an ihn gedacht. Was wohl aus dem geworden ist?
Als Janna den grauen Kombi auf die Einfahrt lenkte, lugte die tief stehende Sonne durch die untersten Äste der windgebeugten Bäume, die das Haus umstanden. Nicht mehr lange, und es würde dunkel werden. Janna stellte den Motor ab, machte die Fahrertür auf und stieg aus. Sie reckte das müde Kreuz, ehe sie um den Wagen herumging und ihrer Großmutter die Tür öffnete.
»Da wären wir, Oma«, sagte sie und streckte die Hand aus, um ihr herauszuhelfen.
Johanne bedachte sie mit einem bösen Blick unter zusammengezogenen Augenbrauen. »Untersteh dich, mich wie eine alte Frau zu behandeln!«, brummte sie, während sie steifgliedrig aus dem Wagen kletterte. »Das habe ich wahrhaftig lange genug ertragen müssen.«
»Ich dachte nur wegen deiner Hüfte …«, sagte Janna vorsichtig.
»Papperlapapp! Es ist bald zwei Jahre her, dass ich sie mir gebrochen habe. Und den Rollator habe ich seit sechs Monaten nicht mehr angefasst. Mir geht es gut. Siehst du?« Johanne zog sich an der Autotür hoch und lächelte. »Alles in schönster Ordnung. Nur wenn das Wetter umschlägt, tut es manchmal noch weh.« Sie deutete zur Haustür hinüber. »Geh schon mal vor, und schließ auf. Ich komme sofort.«
Janna nickte, wandte sich ab und ging langsam den gepflasterten Weg entlang zur Haustür. Sie kannte ihre Großmutter gut genug, um zu wissen, dass diese auf keinen Fall wollte, dass Janna sie nach der langen Fahrt humpeln sah.
Janna zog ihren Schlüsselbund aus der Tasche und griff nach dem silbernen Zylinderschlüssel mit dem roten Plastikring, den sie seit dem Abitur immer dabeihatte. Das war Omas Geschenk für sie gewesen. »Egal, was ist, egal, wie dick es kommt: Bei mir kannst du immer unterkriechen, Deern. Bei mir hast du immer ein Zuhause. Glaub mir, zu wissen, dass man irgendwo einen Platz hat, an dem man immer willkommen ist, das ist Gold wert!«
Janna strich lächelnd mit dem Daumen über den ausgeblichenen Plastikring, ehe sie den Schlüssel ins Schloss steckte und aufschloss. Die grün gestrichene Holztür mit dem Metallklopfer und dem eingelassenen quadratischen Fenster gab ein protestierendes Quietschen von sich, als sie sie aufdrückte.
Alles war so wie immer, so als wäre sie nie fort gewesen, und doch hatte sich alles verändert. Der Flur wirkte enger, die Fliesen waren matt und staubig, es roch wie in einem Kellerraum, den man lange nicht gelüftet hatte. Immerhin war es warm, wenn auch ein bisschen stickig.
»Puh!«, hörte Janna hinter sich ihre Großmutter sagen. »Enno hätte aber wirklich mal lüften können.« Sie ging an Janna vorbei in die Küche. »Aber er hat ein paar Lebensmittel besorgt. Fürs Frühstück ist alles da«, rief sie und kam mit einer gelben Schachtel in der Hand in den Flur zurück. »Und Tee! Lebenswichtig für uns Friesen.« Johanne lachte und zwinkerte Janna zu. »Wie sieht’s aus? Erst mal eine schöne Tasse Tee, ehe wir die Koffer aus dem Auto holen?«
Janna nickte lächelnd und zog ihre Jacke aus.
Als sie eine Stunde später dabei waren, ihre Teebecher abzuwaschen, klopfte es an der Haustür.
»Ich geh schon«, sagte Janna und legte das Geschirrtuch zur Seite.
Enno Büsing, der Bauer vom Nachbarhof, der während Johannes Abwesenheit im Haus nach dem Rechten gesehen hatte, stand draußen, seine unvermeidliche graue Tweedmütze auf dem Kopf, und strahlte Janna an.
»Hab ich mich doch nicht getäuscht!«, sagte er. »Ich meinte doch, dass ich das Auto auf dem Hof gesehen habe.« Er trat ein und streckte seine prankenhafte Rechte aus, in der Jannas Hand beinahe verschwand. »Mensch, Deern, was hast du dich herausgemacht in den letzten Jahren!«, sagte er und lächelte anerkennend. »Ich hätte dich bald nicht wiedererkannt. Ist ja nun auch schon lange her, dass wir uns gesehen haben, was?«
»Vor drei Jahren war ich zuletzt hier, aber nur übers Wochenende«, erwiderte Janna. »Dass ich bei euch drüben war, muss schon zehn Jahre her sein. Da lebte Tante Hannelore noch.«
Schlagartig wurde Ennos Gesicht ernst und seine Augen tieftraurig. Er seufzte schwer. »Ja, erst meine Hannelore und jetzt auch noch deine Mutter. Nicht zu begreifen! Ich sehe die beiden noch bei uns im Garten sitzen und Klönschnack halten, während sie Äpfel schälten.«
Der Gartentisch auf Büsings Terrasse, die große Schüssel mit den geschälten Apfelstücken, die Waschwanne mit den grünen Boskoop auf dem Boden, die beiden Frauen, die zusammensaßen, die Schalen in langen Spiralen in die Schüsseln vor sich fallen ließen und über Gott und die Welt tratschten. Janna hatte das Bild deutlich vor Augen. Sie schluckte ein paar Mal, bis sie den Kloß in ihrem Hals wieder los war.
»Ich sag nicht herzliches Beileid, Deern«, fuhr Enno mit rauer Stimme fort. »Das kann ich nicht. Seit Hannelore nicht mehr ist, krieg ich das einfach nicht über die Lippen.« Er griff nach Jannas Händen und zog sie in seine Arme. »Aber du weißt auch so, dass ich mit dir trauere.«
Einen Moment lang ließ Janna sich festhalten und genoss das Gefühl der Wärme und Geborgenheit. »Danke, Onkel Enno!«, flüsterte sie, sah zu ihm auf und lächelte traurig. Dann machte sie sich ein wenig verlegen von ihm los.
Enno räusperte sich. »Und deine Oma?«, fragte er. »Wie hält sie sich?«
Ehe Janna antworten konnte, steckte Johanne wie aufs Stichwort den Kopf aus der Küchentür. »Ach, du bist das, Enno! Das ist aber schön, dass du vorbeiguckst!« Sie trat in den Flur und reichte ihrem Nachbarn die Hand. »Dann will ich gleich noch mal Tee aufsetzen, was?«
»Für mich nicht, danke!« Er hob abwehrend die Hände. »Ich wollte nur eben Guten Tag sagen und fragen, ob ich euch noch was mitbringen soll, wenn ich einkaufen fahre.«
»Für eine Tasse Tee ist immer Zeit!«, widersprach Johanne entschieden. »Außerdem haben die Geschäfte in Westerland doch bis acht Uhr auf.«
Widerstrebend gab Enno nach, folgte den beiden Frauen in die Küche und setzte sich auf das alte rote Friesensofa, das hinter dem Küchentisch an der Wand stand. Johanne stellte noch einmal den Kessel auf den Herd, während Janna das Teeservice mit den Rosen aus dem Wohnzimmer holte.
Enno erzählte vom Hof mit den Galloway-Rindern und Schafen und seinen »Logiergästen«, wie er die Touristen nannte, die in den drei kleinen Ferienwohnungen in seinem umgebauten Kuhstall wohnten.
»Immer was zu tun!«, sagte er. »Da wird es jedenfalls nicht langweilig. Ist ja sonst ziemlich einsam hier.«
Johanne griff nach der Teekanne und schenkte ein. »Und Achim? Kommt der dich nicht öfter mal besuchen?«, fragte sie.
Enno zuckte mit den Schultern, ehe er sich an Zucker und Sahne bediente. »Der ist mit seinem Surfzirkus immer in der Weltgeschichte unterwegs. Heute hier, morgen da, wie man so sagt. Immer dort, wo gerade Surf-Regatten stattfinden. Er war den ganzen Winter über nicht auf Sylt, aber immerhin hat er mir Karten geschickt. Zuletzt von Hawaii.«
Es sollte wohl leichthin klingen, doch Janna entging der bittere Unterton in der Stimme des alten Bauern nicht. Er runzelte die Stirn, während er nachdenklich in seiner Teetasse rührte. Janna fragte sich, wie alt er wohl war. Bestimmt schon um die sechzig, doch er hatte sich kaum verändert, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte. Vielleicht hatte er ein paar Falten mehr um die Augen und grauere Schläfen bekommen, aber sonst? Das war noch immer der Onkel Enno aus ihren Kindertagen, der sie mühelos hochgehoben und auf den Friesenwallach Tarzan gesetzt hatte, wenn sie zusammen mit Achim zum Strand reiten wollte.
»Aber ihr habt Glück. Übermorgen kommt er für ein paar Tage her, mein Achim«, fuhr Enno fort. »Hat über Ostern tatsächlich mal frei, man kann es kaum glauben!« Er stürzte seinen Tee hinunter und griff nach einem der Helgoländer Taler. »Vielleicht können wir dann ja mal zu viert was essen gehen, um der alten Zeiten willen, was meint ihr? Oder seid ihr dann schon wieder weg?«, fragte er und schob sich genüsslich das Gebäck in den Mund.
»Ich weiß noch nicht genau, wann wir zurückfahren. Ungefähr eine Woche werden wir bleiben, denke ich«, antwortete Janna. »Mein Chef hat gemeint, es sei kein Problem, wenn ich mir so lange Urlaub nehme.«
»Scheint ja ein sehr verständnisvoller Chef zu sein«, sagte Enno anerkennend und griff erneut nach einem Keks. »Arbeitest du immer noch bei dieser Werkzeugfabrik? Wie hieß sie noch gleich?«
»Sander & Sohn, ja. Aber nicht mehr in der Buchhaltung. Inzwischen arbeite ich für die Geschäftsführung«, sagte Janna ein wenig widerstrebend.
»Und sie gondelt ebenso in der Weltgeschichte herum wie Achim«, ergänzte Johanne. »Sie besucht zusammen mit dem Juniorchef die Tochterfirmen im Ausland und sieht nach dem Rechten. Zuletzt in Dubai, nicht wahr?«
Janna nickte nur.
»Klingt interessant. Der muss wohl eine Menge von dir halten, dein Juniorchef«, meinte Enno.
Johanne schnaubte durch die Nase. »So könnte man es auch ausdrücken!«, murmelte sie.
Janna fühlte, wie sie bis zu den Haarspitzen rot wurde.
Daraus, dass sie nicht gerade begeistert von Jannas Beziehung zu Martin war, hatte Johanne nie einen Hehl gemacht. Janna hatte das insgeheim befürchtet und fast zwei Jahre gezögert, bis sie ihrer Mutter und Großmutter von Martin erzählt hatte. Erst vor einem Jahr hatte sie die beiden zum ersten Mal mit ihm zusammen in Flörsheim besucht.
Johanne hatte Martin skeptisch beäugt und Janna nach dem gemeinsamen Kaffeetrinken in der Küche beiseitegenommen. »Glaubst du wirklich, dass das eine gute Idee ist, Deern? Du und dein Chef?«, hatte sie gefragt.
»Was meinst du damit?«
»Was werde ich schon meinen? Sowas geht doch in den seltensten Fällen gut aus. Chef und Sekretärin, Arzt und Krankenschwester …«
»Apotheker und PTA«, hatte Janna säuerlich ergänzt.
»Deine Eltern sind vielleicht die Ausnahme, die die Regel bestätigt.«
»Und warum soll das bei Martin und mir nicht auch gut gehen?«
Johanne hatte geseufzt. »Deine Eltern haben zusammengearbeitet. Du arbeitest für ihn. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Außerdem, wie viel älter als du ist er? Vierzehn, fünfzehn Jahre?«
»Sechzehn, wenn du es genau wissen willst. Aber im Kopf ist er …«
»Also Mitte vierzig«, unterbrach Johanne sie und verzog das Gesicht. »Gefährliches Alter! Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche. Da kriegen die meisten Männer Flausen im Kopf und meinen, sie müssten auf einmal alles nachholen, was sie in ihrer Jugend verpasst haben.«
»Glaubst du etwa, dass er mich für eine Jüngere sitzen lässt?« Janna hatte trotz ihres aufsteigenden Ärgers grinsen müssen.
»Blödsinn! Aber ich frage mich, wie ernst ihm das mit dir ist. Habt ihr schon mal übers Heiraten gesprochen?«
»Also wirklich, Oma!«
»Wieso? Ist doch naheliegend! Falls er noch Kinder mit dir möchte, wird es Zeit für ihn.«
In diesem Moment war ihre Mutter in die Küche gekommen, und Janna hatte die Antwort, die ihr schon auf der Zunge lag, wieder hinuntergeschluckt.
Nein, Martin und sie hatten nie über eine Heirat gesprochen. Wozu auch, solange seine Scheidung noch nicht durch war? Die war kompliziert und langwierig, da seine Noch-Ehefrau jede Menge Geld mit in die Firma eingebracht hatte. Und Kinder? Martin hatte schon einen Sohn, den sechzehnjährigen Lukas. Manchmal besuchte er seinen Vater, wenn dieser in Köln war, was selten genug vorkam. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn war nicht das beste, also dürfte sich Martins Sehnsucht nach weiteren Kindern wohl eher in Grenzen halten. Gefragt hatte Janna ihn nicht danach.
Zu heiraten und eine Familie zu gründen würde auch heißen, die gemeinsame Arbeit und das unstete Leben aus dem Koffer aufzugeben. Nein, korrigierte sich Janna. Sie würde es aufgeben müssen, nicht Martin. Sie würde mit einem Kind in der schicken Wohnung in der Kölner Innenstadt sitzen, während ihr Mann im Ausland herumreiste. Daran war schon seine erste Ehe zu Bruch gegangen.
Nach seinem Besuch in Flörsheim war es Janna gelungen, das Thema Martin bei den Telefonaten mit ihrer Großmutter zu umschiffen. Mit ihrer Mutter hatte sie gar nicht über ihn gesprochen, und Anneke hatte auch nicht nachgefragt. Seit Janna erwachsen war, hatte sie deren Liebesleben als ihre Privatangelegenheit betrachtet, in die sie sich – ganz im Gegensatz zu Johanne – nie eingemischt hatte.
Janna griff nach ihrer Tasse und stürzte den inzwischen kalt gewordenen Tee hinunter. »Ich will die Gutmütigkeit meines Chefs nicht ausnutzen. Es ist bestimmt jetzt schon jede Menge Arbeit liegen geblieben. In spätestens einer Woche bringe ich Oma wieder nach Flörsheim, und dann muss ich zurück nach Dubai.«
Johanne verschränkte die Arme vor der Brust und runzelte die Stirn. »Ohne mich!«, sagte sie finster.
Janna warf ihr einen entgeisterten Blick zu. »Was soll das heißen? Ohne dich?«
»Das heißt, dass keine zehn Pferde mich nach Flörsheim zurückbringen. Ich werde schön hierbleiben, wo ich hingehöre!«
»Aber du kannst doch nicht …«
»Was kann ich nicht?«, unterbrach Johanne sie. »Hier in meinem eigenen Haus bleiben? Mich um meinen eigenen Kram kümmern? Und warum nicht? Hier sind alle meine Freunde und Bekannten, in Flörsheim kenne ich bis auf die Bewohner im Altersheim keine Menschenseele. Und mir von denen den ganzen Tag lang vorjammern zu lassen, wie schlecht es ihnen geht, dazu habe ich keine Lust. Davon wird man ja trübsinnig. Ich bin damals nur dort eingezogen, weil deine Mutter es für das Beste hielt und nicht feststand, ob und wann ich nach dem Sturz wieder laufen können würde. Jetzt bin ich gesund, bis auf das bisschen Rheuma in den Knien und den hohen Blutdruck, und gegen beides habe ich Tabletten. Es geht mir prima, also gibt es keinen Grund, noch länger in dem Heim zu bleiben. Versuch bloß nicht, mich umzustimmen! Außerdem wäre das sowieso zwecklos, ich habe das Zimmer nämlich schon gekündigt. Meine Möbel kommen nächste Woche mit der Spedition.«
»Und wie willst du hier ganz allein zurechtkommen?«, fragte Janna. »Radfahren kannst du nicht, und Autofahren tust du nicht! Wie willst du denn einkaufen? Und was ist, wenn du zum Arzt musst?«
»Das ist ja nun das kleinste Problem«, sagte Enno mit einem augenzwinkernden Lächeln. »Ich bin doch auch noch da! Wenn du einen Chauffeur brauchst, musst du nur bei mir durchklingeln, Johanne. Das fällt unter Nachbarschaftshilfe.«
Johanne warf ihm einen dankbaren Blick zu, legte ihre Hand auf seine Rechte und drückte sie.
»Fall du mir noch in den Rücken, Onkel Enno!«, sagte Janna. »Im Ernst, Oma, ich halte das für keine gute Idee!« Sie holte tief Luft. »Und ich glaube nicht, dass es Mama recht gewesen wäre«, fügte sie leise hinzu.
Janna sah den Schmerz in den Augen ihrer Großmutter, als sie die Lippen zusammenpresste und schluckte. »Das mag sein, Deern«, sagte Johanne leise. »Vermutlich wäre es ihr nicht recht gewesen.« Für einen Moment schien sie durch Janna hindurchzusehen, dann wurde ihr Blick wieder fest. »Aber Anneke lebt nicht mehr. Alles, was mich mit Flörsheim verbindet, ist ihr Grab auf dem Friedhof. Die Toten müssen für sich selber sorgen, wie man so sagt. So hart es klingt, das Leben geht weiter. Und meines wird hier auf Sylt weitergehen.«
»Und dann hat Oma die Bombe platzen lassen. Stell dir vor, Martin: Sie will hier auf Sylt bleiben und auf gar keinen Fall zurück nach Flörsheim!«
Janna ließ sich rücklings auf ihr Kissen fallen und nahm das Handy in die andere Hand. Ihr Ohr war vom langen Telefonieren schon ganz heiß. Erst als Johanne schlafen gegangen war, hatte Janna Martin angerufen, um ihm zu erzählen, was seit ihrem letzten Telefonat vor zwei Tagen alles passiert war.
»Warum auch nicht? Mal ehrlich, was soll sie noch in Flörsheim?«, fragte Martin. »Es wäre doch Blödsinn, das teure Pflegeheim zu bezahlen, wo ihr Haus leer steht!« Wie immer sah er die Sache in erster Linie von der praktischen Seite.
»Kein Pflegeheim, nur eine Altenwohnung«, sagte Janna. »Aber dort ist immer jemand vor Ort, wenn mal was sein sollte. Hier ist sie ganz allein. Was ist, wenn sie wieder stürzt, oder …«
»Janna, nun mal doch nicht gleich den Teufel an die Wand! Viele alte Leute leben allein, und bei den meisten geht es gut. Wenn deine Großmutter den Entschluss gefasst hat, auf Sylt zu bleiben, warum denn nicht? Sie ist erwachsen und kann selbst über sich bestimmen.«
»Aber …«
»Nichts aber! So wie ich sie kennengelernt habe, ist sie eine sehr vernünftige und patente Frau, die genau weiß, was sie will. Und sie braucht niemanden, der sich ihren Kopf zerbricht – auch nicht ihre Enkeltochter. Warte doch einfach ab, wie sie allein zurechtkommt. Und wenn es gar nicht geht, gibt es auf Sylt bestimmt auch gute Seniorenheime.«
»Stimmt natürlich, trotzdem habe ich ein mulmiges Gefühl bei der Sache. Bald bin ich wieder weit weg, und wenn ich sie dann anrufe, wird sie mir sowieso nur sagen, dass alles bestens läuft.«
»Janna, jetzt lass gut sein!« Martin klang langsam ungehalten. »Deine Großmutter ist erwachsen und kann selbst entscheiden, was sie will.«
Das Aber, das Janna schon auf der Zunge lag, schluckte sie hinunter. Sie hasste es, sich zu streiten. Das war schon immer so gewesen. Schon in der Schule hatte sie lieber nachgegeben, als ihre Meinung durchzusetzen, selbst wenn sie sich ganz sicher war, im Recht zu sein. Die schlagfertigen Argumente fielen ihr immer erst Stunden später ein, und dann ärgerte sie sich über sich selbst, weil sie wieder einmal nachgegeben hatte.
Janna schwieg einen Moment und zupfte an den Fransen der karierten Tagesdecke. »Ich will für nächste Woche einen Termin mit dem Makler in Flörsheim machen, wegen Mamas Haus«, sagte sie schließlich.
»Habt ihr euch jetzt entschieden, es zu verkaufen?«, fragte Martin interessiert. Der Anflug von Ungeduld in seiner Stimme war wie fortgeblasen.
»Noch nicht endgültig. Es wird nicht so einfach werden, einen angemessenen Preis zu bekommen. Vielleicht ist es besser, es zu vermieten. Mal sehen, was der Makler sagt.«
»Es leer stehen zu lassen wäre jedenfalls unvernünftig. Es senkt den Wert jeder Immobilie, wenn sie ein paar Monate nicht bewohnt ist. Du wirst dir auch noch überlegen müssen, was mit den Möbeln deiner Mutter passieren soll. Viel Wertvolles ist ja nicht dabei. Am besten bestellst du den Sperrmüll oder rufst bei der Diakonie an, ob die noch was gebrauchen können.«
Da war er wieder, dieser kalte, geschäftsmäßige Ton. Sonst störte es Janna nicht, wenn Martin so redete, aber hier ging es um Mamas Möbel, die er so einfach zu Sperrmüll deklarierte. Mühsam kämpfte sie den aufwallenden Ärger hinunter und wechselte das Thema.
»Und nach dem Maklertermin komme ich zurück nach Dubai.«
Martin räusperte sich, ehe er antwortete. »Lass dir ruhig Zeit, Janna! Noch ein paar Tage, und wir sind hier durch mit der Revision. Eigentlich lohnt es sich gar nicht, dass du noch herfliegst. Das wäre nun wirklich viel zu viel Aufwand, von den Kosten mal ganz abgesehen. Gönn dir lieber noch ein bisschen Zeit mit deiner Großmutter. Und wenn du in Flörsheim mit allem durch bist, sehen wir uns in Köln.«
»Meinst du wirklich?«, fragte Janna zweifelnd. »Soll ich nicht doch lieber kommen? Es macht mir wirklich nichts aus. Wenn du möchtest, kann ich auch morgen schon zurück nach Frankfurt fahren. Dann wäre ich übermorgen Abend bei dir.«
»Nein, nein, bleib ruhig noch ein bisschen auf Sylt und erhol dich. Es muss dich doch alles ziemlich mitgenommen haben.«
»Aber wenn du mich brauchst …«
»Dann würde ich es dir sagen!«, unterbrach Martin sie. »Wirklich, Kleines, hier läuft alles wie am Schnürchen. Gar kein Problem! Noch eine Woche, maximal zehn Tage, dann bin ich zurück in Köln. Und du machst dir so lange eine schöne Zeit, versprochen?«
Janna seufzte resigniert. »Ja, gut, versprochen!«
»Das ist mein Mädchen!«, sagte Martin und lachte leise. »Sag mal, wärst du mir sehr böse, wenn ich jetzt gleich auflege? Heute war ein langer Tag, und ich muss morgen in aller Herrgottsfrühe wieder aus den Federn. Mir fallen schon die Augen zu.«
»Du Armer, natürlich nicht«, beeilte sich Janna zu sagen. »Schlaf gut, Martin!«
»Ja, du auch, Kleines. Bis morgen Abend!«, sagte er und gähnte vernehmlich. Dann war die Leitung tot. Offenbar hatte er aufgelegt.
»Und vergiss nicht, dass ich dich liebe«, flüsterte Janna, während sie das Handy ausschaltete.
Klack, klack, klack, klack …
Das Geräusch, das Janna aus dem Tiefschlaf holte, erinnerte an Kastagnetten. Sofort baute ihr Unterbewusstsein eine spanische Flamencotänzerin mit rotem Rüschenkleid in ihren Traum ein.
»Guten Morgen, du Schlafmütze!«, rief Johanne. »Aufstehen, das Frühstück steht schon auf dem Tisch. Wir haben viel vor. Heute ist Großreinemachen angesagt. Einmal durch alle Zimmer wischen und Fensterputzen. Ist ja kein Zustand so!«
Mühsam schlug Janna die Augen auf und blinzelte in die Sonne, die auf ihr Bett schien, weil Johanne gerade geräuschvoll die Vorhänge aufgezogen hatte. Sie schlug die Hände vor die Augen und vergrub das Gesicht im Kissen.
»Oh Oma, noch eine halbe Stunde, bitte!«, stöhnte sie. »Ich habe gerade so schön geträumt.«
Johanne lachte. »Nichts da, dann ist der Kaffee wieder kalt. Also raus aus dem Bett! Wenn du dich beeilst, kriegst du noch was vom Rührei ab.« Sie stupste Janna aufmunternd gegen die Schulter und verließ das Zimmer.
Als Janna zehn Minuten später im Schlafanzug in die Küche schlurfte, saß Johanne bereits angezogen am Frühstückstisch und verspeiste mit Genuss einen Teller Rührei. Sie schob ihrer Enkelin den Stuhl zurück, holte die Pfanne vom Herd und häufte eine großzügige Portion Ei auf ihren Teller.
»Ich dachte ja, es wäre ungewohnt, in mein altes Bett zu kriechen«, sagte sie gut gelaunt. »Aber ich habe geschlafen wie ein Murmeltier. Und vor allem ohne die vermaledeiten Flugzeuge morgens um sechs. Noch ein Grund, nicht wieder nach Flörsheim zurückzugehen.«
Janna musste grinsen, auch wenn ihr eigentlich nicht danach zumute war. »Da hast du allerdings recht. Die Flugzeuge sind eine Landplage!«
Seit in Frankfurt die neue Startbahn eröffnet worden war, donnerten die Flugzeuge im Minutentakt direkt über Flörsheim hinweg. Daran, wie früher im Garten zu sitzen und die Sonne zu genießen, war wegen des allgegenwärtigen Lärms kaum noch zu denken. Janna überlegte, ob sie das Thema Rückkehr nach Flörsheim noch einmal aufgreifen sollte, entschied sich aber dagegen.
Nein, nicht am frühen Morgen. Ich rede lieber später beim Putzen noch einmal mit Oma darüber. Vielleicht ist sie ja dann vernünftigen Argumenten gegenüber eher aufgeschlossen.
So recht daran glauben mochte Janna jedoch selbst nicht. Oma war, wie Opa immer gesagt hatte, ein richtiger friesischer Querschädel. Was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, das setzte sie gegen jeden Widerstand durch. Darum hatte Opa auch immer sie mit den Lieferanten der Pension verhandeln lassen. Johanne könne einer Kuh das Kalb abschwatzen, hatte er stets gesagt und dabei in sich hineingekichert.
Opa war das genaue Gegenteil von ihr gewesen: ruhig, besonnen und schweigsam. »Wie zwei Seiten einer Medaille«, pflegte Johanne zu sagen. »Aber so ist das nun mal: Gegensätze ziehen sich an.«
Opa hatte all ihre Eigenheiten und Marotten geliebt und sie klaglos mit dem Auto überallhin kutschiert, weil sie sich seit einem selbst verschuldeten Unfall vor über vierzig Jahren kategorisch weigerte, sich wieder ans Steuer zu setzen. Immer hatten die beiden alles zusammen gemacht: Sie hatten den alten Bauernhof zu einer gut gehenden Pension umgebaut, fleißig gearbeitet und sich wenig gegönnt und waren glücklich zusammen alt geworden.
Und dann, vor drei Jahren, war Opa zum ersten Mal in seinem Leben krank geworden. Lange Zeit hatte er vor Johanne verheimlicht, dass es ihm immer schlechter ging, und als er dann zum Arzt gegangen war, hatte man nichts mehr für ihn tun können. Der Krebs hatte sich bereits in seinem ganzen Körper ausgebreitet, und nur ein paar Wochen später war er gestorben.
Johanne war am Boden zerstört gewesen. Nein, korrigierte Janna sich selbst und warf ihrer Großmutter, die ihr am Tisch gegenübersaß, einen verstohlenen Blick zu. Sie war ohnmächtig vor Wut gewesen. Sie hatte sich ganz in sich zurückgezogen, nichts gegessen und tagelang mit niemandem gesprochen. Wie hatte ihr Mann sie nur einfach so allein zurücklassen können?
Er war im Januar gestorben, und wie in jedem Winter waren nur wenige Gäste im Haus Friesenrose gewesen. Nur Stammgäste, die schon seit Jahren immer wiederkamen und Verständnis dafür aufbrachten, dass sie auf Johannes Hausmannskost verzichten und sich ihr Frühstück selbst machen mussten. Janna hatte ihren Jahresurlaub genommen und war nach Sylt gefahren, aber da stand Omas Entschluss schon fest: Ohne ihren Mann wollte sie die Pension nicht weiterführen. Das mache alles keinen Spaß mehr, so ganz allein, hatte sie gesagt.
Janna hatte Johanne nie gefragt, wie schwer es ihr gefallen war, die Pension zu schließen. Nach den drei Wochen Urlaub, die sie nach Opas Beerdigung auf Sylt verbracht hatte, war sie mit einem unguten Gefühl wieder abgereist und hatte sich jeden Tag telefonisch bei ihrer Mutter erkundigt, wie es Oma gehe. Anneke machte sich große Sorgen um sie. Johanne lasse sich hängen und könne sich zu nichts aufraffen.
Als Janna ihre Großmutter im darauf folgenden Sommer für ein Wochenende besucht hatte, ging es ihr aber schon sehr viel besser. Sie verbrachte den lieben langen Tag im Garten, wo sie sich um die Rosen, Dahlien und Hortensien kümmerte, die Opa angepflanzt und wie seinen Augapfel gehegt und gepflegt hatte. Jeden Tag radelte sie nach Morsum, trank zusammen mit einer ihrer Freundinnen ihren Nachmittagskaffee in der Kleinen Teestube und hielt Klönschnack. Lauter Sachen, zu denen sie früher bei der vielen Arbeit in der Pension keine Zeit und vor allem keine Muße gehabt hatte. Es gehe ihr gut, betonte sie immer wieder. Kein Grund, sich Sorgen zu machen, sie käme gut allein zurecht.
Erst als Johanne ein Jahr später mit dem Fahrrad schwer gestürzt war und sich Hüfte und Oberschenkelhals gebrochen hatte, hatte Jannas Mutter ein Machtwort gesprochen und sie in einer Altenwohnung in Flörsheim untergebracht. Widerwillig hatte Johanne sich gefügt, aber keinen Hehl daraus gemacht, dass sie sich dort gar nicht wohlfühlte.
Janna schob den halb vollen Teller mit Rührei von sich. »Ich kann nicht mehr!«, sagte sie seufzend. »Morgens krieg ich einfach nichts runter.«
Johanne zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Seit wann das denn? Als Kind konntest du futtern wie ein Scheunendrescher. Und mein Rührei mochtest du immer besonders gern.«
»Das muss aber ewig her sein! Nein, ich frühstücke nie. Ist besser für die Figur.«
»Du bist doch so dünn! Opa hätte gesagt, du siehst aus wie eine Hundehütte, überall gucken die Knochen raus.«
Janna lachte. »Aber auch nur, weil ich mich beim Essen zurückhalte.«
Johanne verdrehte die Augen. »Den Floh hat dir bestimmt dein Martin ins Ohr gesetzt, was? Dass du zu dick wirst, wenn du nicht aufpasst! Na, der sollte mir mal unterkommen, dem würde ich ein paar warme Takte erzählen.« Sie nahm einen großen Schluck aus ihrem Kaffeebecher. »Dann wollen wir uns mal gleich frisch gestärkt an die Arbeit machen, was meinst du? Wenn wir mit allen Zimmern durch sind, gönnen wir uns zur Belohnung einen schönen Spaziergang durch Morsum und ein Stück Friesentorte in der Teestube. Die haben wir uns dann redlich verdient.«
Während sie zusammen in den Pensionszimmern »klar Schiff machten«, wie Oma es nannte, beobachtete Janna ihre Großmutter. Sie bewegte sich genau wie früher, lief ohne die Spur eines Humpelns den Flur entlang, bückte sich behände nach einem Papierschnipsel, der unter einem der Betten lag, und war noch immer fit, als Janna von der ungewohnten Arbeit bereits jeder Knochen im Leib wehtat.
»Wollen wir nicht für heute Schluss machen?«, fragte sie nach dem achten Fenster, von dem sie die dicke Salzkruste geputzt hatte, die während des letzten Jahres entstanden war. »Ich kann die Arme kaum noch heben, und außerdem ist es schon nach drei.« Sie ließ den Lappen und den Fensterwischer in den Eimer plumpsen und streckte das Kreuz durch. »Wenn wir nach dem Kaffee noch ein bisschen am Strand spazieren gehen wollen, sollten wir langsam los, gegen sieben wird es dunkel.«