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Sommerliche Urlaubslektüre vom Feinsten
Judith und Tanja - zwei Frauen, die kaum unterschiedlicher seien könnten - erben gemeinsam einen Bauernhof an der Nordseeküste. Der Hof entpuppt sich als abgewirtschaftet und wurde zuletzt nur noch als Gnadenhof für Tiere genutzt. Aber wie flickt man ein Reetdach? Und wie päppelt man eine Horde verwaister Katzenbabys auf? Wer hätte gedacht, dass die Städterinnen sich einmal mit solchen Fragen beschäftigen müssen. Doch nun gehört das zu ihrem Alltag. Es braucht seine Zeit, bis die beiden Frauen erkennen, dass das Landleben - und so mancher Landwirt - durchaus seinen Reiz hat ...
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Seitenzahl: 386
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Judith und Tanja – zwei Frauen, die kaum unterschiedlicher seien könnten – erben gemeinsam einen Bauernhof an der Nordseeküste. Der Hof entpuppt sich als abgewirtschaftet und wurde zuletzt nur noch als Gnadenhof für Tiere genutzt. Aber wie flickt man ein Reetdach? Und wie päppelt man eine Horde verwaister Katzenbabys auf? Wer hätte gedacht, dass die Städterinnen sich einmal mit solchen Fragen beschäftigen müssen. Doch nun gehört das zu ihrem Alltag. Es braucht seine Zeit, bis die beiden Frauen erkennen, dass das Landleben – und so mancher Landwirt – durchaus seinen Reiz hat …
Marlies Folkens wurde 1961 in Stollhamm-Ahndeich, einem kleinen Dorf an der Nordseeküste, geboren und wuchs als jüngstes von vier Geschwistern auf einem Bauernhof auf. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Oldenburg. Schon früh entdeckte sie das Schreiben für sich.
Marlies Folkens
Ein Nordsee-Roman
beHEARTBEAT
Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anke Pregler
Lektorat/Projektmanagement: Anna-Lena Meyhöfer
Covergestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von Motiven von © shutterstock: Annareichel | Flas100 | Pawel Kazmierczak | nuruddean | © Gerhard Wiessner
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 9-783-7325-3938-3
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Für Anke, die Annegret ihr großes Herz gab.
»Blödmann!«, murmelte Judith beim Hinausgehen und ließ die Bürotür mit Schwung ins Schloss fallen. Am liebsten hätte sie ihrem Chef noch ganz andere Schimpfwörter in sein mitleidiges Lächeln geschleudert.
Das Knallen gab ihr ein kurzes Gefühl von Befriedigung, das aber schon wieder verflog, als sie den Gang zum Personalausgang entlangstürmte. An der Tür lief sie ihrer Kollegin Nadine in die Arme, die neben den Mülltonnen des Biomarktes verbotenerweise eine Zigarette geraucht hatte.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte Nadine erschrocken.
»Gekündigt hat er mir, der Drecksack!«, rief Judith aufgebracht.
»Gekündigt? Aber warum das denn?«
»›Jetzt, wo meine Tochter hier im Geschäft ihre Ausbildung anfängt, kann ich dich leider nicht weiter beschäftigen, Judith. Dafür musst du schon Verständnis haben.‹« Judith äffte den weinerlichen Ton ihres Vorgesetzten nach und übertrieb dabei maßlos in ihrer Wut über die ungerechte Behandlung.
»Aber ich dachte …«
»Ja, hab ich auch gedacht, aber das war wohl ein Fehler. Ich konnte ja nicht ahnen, dass Heiners ach so schlaue Tochter hochkant von der Schule fliegen würde und jetzt hier eine Ausbildung macht. Wird wohl nichts mit ihrem Medizinstudium, mit dem Heiner so geprahlt hat. Jetzt darf die liebe Rebecca Einzelhandelskauffrau lernen. Na, die wird sich schön bedanken.« Judith schnaubte. »Und Heiner erst! Rebecca hat doch außer Jungs und Klamotten nur Stroh im Kopf. Weißt du noch, wie das war, als sie hier bei der Inventur geholfen hat?«
Nadine nickte. »Sie sollte die Vollkornriegel zählen und hat sich gedrückt, wo sie nur konnte. Das Ende vom Lied war, dass wir beide die Schütte mit den zweihundert Riegeln durchzählen durften. Aber ihr Geld hat sie natürlich trotzdem bekommen.«
»Darauf kannst du wetten«, sagte Judith wütend. Als sie sah, dass Nadine sich umschaute, ob auch niemand ihr Gespräch belauschte, zog sie sie mit sich hinaus auf den Hinterhof und schloss die Tür. »Ich hab ja schon geahnt, dass so was passiert, als Heiner erzählt hat, dass Rebecca jetzt doch nicht in die Oberstufe geht, weil ihr das Praktikum in Papas Firma so gut gefallen hat. Pah! Dass ich nicht lache!« Sie ballte die Fäuste. »Die schafft den Abschluss nicht, wollen wir wetten? Und weil sie ab August hier arbeitet, kriege ich die Stelle nicht. Heiner hatte sie mir fest versprochen, aber davon war jetzt nicht mehr die Rede. Jetzt sagt der Holzkopf mir, dass Ende Juli für mich Schluss ist. Vielleicht könne ich danach auf 400-Euro-Basis arbeiten. Aber das könne er natürlich nicht garantieren. Das hinge davon ab, ob der Laden läuft oder nicht. Im Moment sähe es ja nicht so gut aus.«
»Wenn Heiner nicht immer Mondpreise nehmen würde, würde der Laden auch laufen! Seit die großen Discounter auch bio führen, kannst du eben nicht mehr jeden Preis auf die Bananen tackern«, sagte Nadine und zog ihre Zigaretten aus der Tasche. »Willst du auch eine?«, fragte sie und hielt Judith die Schachtel hin. »Ich weiß ja, eigentlich rauchst du nicht mehr, aber es beruhigt die Nerven.«
Judith betrachtete stirnrunzelnd die Packung. »Ach, was soll’s!«, sagte sie mit einem Seufzen und griff zu. Nadine gab ihr Feuer, und Judith sog zum ersten Mal seit acht Jahren Rauch tief in ihre Lunge. Ein heftiger Hustenanfall war die Folge. Außerdem schmeckte es scheußlich. Trotzdem zog sie noch einmal an der Zigarette.
»Ist nun auch egal«, krächzte sie. »Jedenfalls hab ich Heiner gesagt, dass das natürlich nicht geht. Zum einen kann er nicht so einfach meine Stunden kürzen, und zum anderen hätten wir doch die Abmachung gehabt, dass ich die Vollzeitstelle kriege. Und dann fragt mich dieses Arschloch, wo ich denn die schriftliche Vereinbarung darüber hätte, und fängt an, schmierig zu grinsen.« Judith schnipste die Asche auf den Boden. »Da hab ich ihm gesagt, wohin er sich seinen blöden Aushilfsjob stecken kann und dass ich sofort gehe und bestimmt nicht wiederkomme.«
Nadines Augen weiteten sich. »Judith! Das war aber wirklich blöd von dir.«
»Ist doch wahr. Der glaubt doch, er kann mit jedem machen, was er will.«
»Stimmt schon, aber ausgerechnet jetzt kündigen? Hast du denn inzwischen eine neue Wohnung in Aussicht?«
Judith kaute auf ihrer Unterlippe herum, zog die Nase hoch und schüttelte dann den Kopf. »Du weißt doch selbst, wie das ist. Kleine Wohnungen gibt es kaum, und wenn du eine findest, kannst du sie nicht bezahlen. Dass ich ein Kind habe, macht es nicht gerade einfacher. Dann hörst du nur: ›Wir melden uns bei Ihnen.‹ Zum Kotzen ist das.«
Nadine nickte und machte ein mitfühlendes Gesicht, ehe sie verstohlen auf ihre Armbanduhr sah.
Judith warf die halb gerauchte Zigarette auf den Boden und trat sie aus. »Geh mal lieber wieder rein, Nadine«, sagte sie. »Wenn Heiner mitkriegt, dass du deine Pause überziehst, schmeißt er dich sonst auch noch raus. Ich muss jetzt sowieso los. Anna kommt gleich aus der Schule.« Sie streckte ihrer Kollegin die Hand hin. »Mach’s gut, Nadine. Und halt die Ohren steif in dem Saftladen.«
Statt nach der Hand zu greifen, zog die Kollegin sie kurz in ihre Arme. »Ist echt schade, dass du gehst, Judith. Du warst die Einzige, mit der man hier gut zusammenarbeiten konnte. Wir bleiben aber weiter in Kontakt, versprichst du mir das? Mit wem soll ich sonst über Heiner ablästern?«
Jetzt, da ihre Wut allmählich verrauchte, breitete sich ein flaues Angstgefühl in Judiths Magen aus. Vielleicht war das aber auch nur die Folge der ungewohnten Zigarette. Sie drückte Nadine an sich und spürte plötzlich einen dicken Kloß im Hals.
»Ja, sicher melde ich mich bei dir. Spätestens, wenn ich was Neues habe«, sagte sie wider besseren Wissens. Es war immer so: Egal, wie sehr man sich auch vornahm, mit ehemaligen Kollegen oder alten Schulfreunden in Kontakt zu bleiben, es klappte nie. Spätestens, wenn man zum dritten Mal miteinander telefonierte, wusste man nicht mehr, was man dem anderen erzählen sollte. Die Erinnerungen verblassten im Laufe der Zeit, und neue gemeinsame Erlebnisse gab es nicht. Judith hatte das peinliche Schweigen, das dann entstand, oft genug erlebt.
Nadine winkte ihr an der Tür noch einmal zu und verschwand im Personaleingang des Biomarktes, in dem sie zwei Jahre lang zusammengearbeitet hatten. Nachdenklich sah Judith ihr einen Moment lang nach, ehe sie sich losriss, um sich auf den Heimweg zu machen. Ihre Wut auf Heiner war inzwischen fast verraucht und einer bleiernen Müdigkeit gewichen, die es ihr schwer machte, die Füße voreinander zu setzen. Außerdem war ihr Rucksack so schwer, als würde sie Betonklötze transportieren. Kein Wunder. Sie hatte all ihre Sachen aus dem Spind wahllos hineingestopft, damit sie nicht gezwungen war, diesen Drecksladen noch einmal zu betreten.
Die U-Bahn, die hier oberirdisch verlief, fuhr direkt vor ihrer Nase davon. Auch das noch. Niedergeschlagen ließ sie sich auf eine der Bänke fallen. »Verdammt«, murmelte sie. Die ältere Dame neben ihr betrachtete sie abschätzig von oben bis unten und rückte ein Stückchen von ihr weg. Nach zehn Minuten kam die nächste Bahn, und Judith quetschte sich in den völlig überfüllten Wagen.
Eine halbe Stunde Fahrt in dieser miefigen Luft, dann noch der Fußweg bis nach Hause. Vermutlich würde Anna schon auf der Treppe zur Wohnung sitzen und zetern, weil ihre Mutter sich verspätete. Das konnte sie prima. Sie war zwar erst acht Jahre alt, wusste aber ganz genau, was sie sagen musste, um ihrer Mutter ein möglichst schlechtes Gewissen zu machen. Was Anna wohl erst sagen würde, wenn Judith ihr erklären musste, dass aus den Ferien auf Wangerooge nun nichts werden würde, weil das Geld dafür nicht da war. Judith hätte sich ohrfeigen können, dass sie überhaupt erzählt hatte, sie würden in diesem Jahr endlich verreisen, so wie die anderen Kinder aus der Schule auch. Sie mochte sich das enttäuschte Gesicht ihrer Tochter gar nicht vorstellen.
Du weißt doch, wie es endet, wenn du so hochfliegende Pläne machst, Judith, sagte eine vorwurfsvolle Stimme in ihrem Kopf, die mit der näselnden Stimme ihrer Mutter sprach. Irgendwas kommt immer dazwischen. Besonders, wenn du dich sehr darauf freust.
Sie lehnte den Kopf an die Haltestange neben sich und schloss für einen Moment die Augen. Zurzeit kam aber auch alles zusammen. Zuerst war die alte Frau Münstermann gestorben, die nette Vermieterin, die ihr die winzige Zweizimmerwohnung in ihrem Obergeschoss für einen Appel und ein Ei überlassen und ihr zudem immer wieder mal ein paar Lebensmittel oder eine Tüte Gummibärchen für Anna zugesteckt hatte. Als sie noch lebte, war es kein Problem gewesen, wenn Judith zu spät von der Arbeit gekommen war. Dann hatte Anna einfach bei Oma Münstermann in der Küche gewartet und sich dort mit Keksen vollgestopft. Aber nun war die alte Dame tot, und ihre Wohnung stand leer. Das Haus hatte ihr Neffe geerbt, und der hatte auf der Stelle Eigenbedarf für sich und seine Familie angemeldet und Judith eine Kündigung zugeschickt.
Das ist nun mal sein gutes Recht!, sagte die Stimme der Vernunft in Judiths Kopf näselnd.
Sicher ist es das, dachte Judith. Aber finde erst mal in Hannover eine bezahlbare Wohnung, die so liegt, dass Anna nicht die Schule wechseln muss. Es hat lange genug gedauert, bis sie ein paar Freundinnen gefunden hat.
Das liegt nur daran, dass du sie so maßlos verwöhnst, Kind, meldete sich die Stimme wieder.
Ach, halt die Klappe, Mama!
Judith seufzte. Wenn sie doch im wahren Leben nur ein Mal den Mut hätte, ihrer Mutter oder gar ihrem Vater so etwas an den Kopf zu werfen. Aber bei ihren Eltern zu Hause war sie sofort wieder das kleine Mädchen, sobald sie durch die Eingangstür kam, und kuschte, wenn ihr Vater auch nur leicht die Stimme erhob.
Bei der Vorstellung, jetzt, da sie Wohnung und Job verloren hatte, bei ihren Eltern zu Kreuze kriechen zu müssen, um über die Runden zu kommen, drehte sich Judith der Magen um.
»Schwarzer Bär«, säuselte die Stimme aus dem Lautsprecher über ihr. »Danach Markthalle, Kröpcke und Hauptbahnhof …« Judith blinzelte, aber das Brennen in ihren Augen wollte nicht nachlassen.
Der Zug, in den sie am Hauptbahnhof umstieg, war nicht besonders voll, und sie fand einen Sitzplatz neben einem älteren Herrn, der ihr mitleidig zulächelte, als sie neben ihm Platz nahm.
»Kein Kerl ist Tränen wert, Kindchen«, sagte er. »Über kurz oder lang kommt der Richtige, und dann ist alles vergessen. Sie sollen mal sehen!«
Judith öffnete den Mund, um ihm zu antworten, aber der alte Herr hatte sich schon wieder seinem Kreuzworträtsel zugewandt und bewegte stumm die Lippen, während er die Buchstaben abzählte und zu schreiben begann. Dass sich selbst ein alter Knilch in der U-Bahn weit mehr für das Kreuzworträtsel in seiner Zeitung interessierte als für sie und ihre Misere, war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Tränen, mit denen sich ihre Augen füllten, machten sie für einen Moment blind. Sie zog den Rucksack, der zwischen ihren Füßen auf dem Boden gestanden hatte, auf ihren Schoß. Irgendwo ganz unten musste ein Päckchen Taschentücher liegen. Mit Mühe zog sie den störrischen Reißverschluss ein Stück auf und begann, in den Tiefen der Tasche danach zu tasten. Ihr Schlüsselbund, eine Zeitschrift, die Brotdose, ein Apfel, jede Menge Krimskrams glitten durch ihre Finger, bis sie schließlich auf das knisternde Päckchen stieß und es hervorzog. An dem Klebestreifen hing ein Briefumschlag, den sie morgens aus dem Briefkasten gefischt und achtlos eingesteckt hatte, weil sie so spät dran gewesen war.
Judith wollte den Brief schon wieder zurück in die Tasche stopfen, als ihr Blick auf die Adresse fiel. Der Brief war offenbar ursprünglich an die Adresse ihrer Eltern gegangen, und sie runzelte die Stirn, als sie die geschwungene Handschrift ihrer Mutter erkannte, die die Hannoveraner Anschrift der Tochter neben das Fenster geschrieben hatte. Merkwürdig. Das war eigentlich nicht Mamas Art. Normalerweise hätte sie angerufen und gefragt, ob sie ihr den Brief vorlesen sollte.
Statt sich die Nase zu putzen, wie sie es vorgehabt hatte, wischte sich Judith mit einer schnellen Bewegung die Tränen von der Wange, ehe sie das Kuvert öffnete und dickes weißes Büttenpapier herauszog. In verschnörkelten Buchstaben war im Briefkopf Schnur und Meier, Rechtsanwälte und Notare, Nordenham zu lesen.
»Rechtsanwälte?«, murmelte Judith verdutzt, faltete den Briefbogen auf und begann zu lesen.
Sehr geehrte Frau Reimann,
in der Sache des verstorbenen Bauern Heinrich Reimann teile ich Ihnen mit, dass ich als Notar mit der Vollstreckung des Testamentes beauftragt wurde. Ich möchte Sie bitten, sich zur Eröffnung des letzten Willens am 24. Juni, um 14.00 Uhr, in meiner Kanzlei in der Bahnhofstraße 52 in Nordenham einzufinden. Sollten Sie andiesem Termin verhindert sein, kontaktieren Sie bitte die Kanzlei unter einer der oben angegebenen Telefonnummern bis zum …
»Mist!«, entfuhr es Judith. Der Termin, um die Testamentseröffnung zu verschieben, war bereits seit einer Woche verstrichen. Vermutlich hatte ihre Mutter den Brief ein paar Tage liegen lassen, ehe sie ihn an sie weitergeleitet hatte. Typisch Mama! Ihrer Meinung nach hatte sich Judith an jedem Wochenende zu Hause einzufinden oder aber wenigstens bei den Eltern anzurufen. Das gehörte sich so für eine gute Tochter.
Eine gute Tochter zu sein hatte Judith schon seit einer halben Ewigkeit aufgegeben. Wozu auch? Die Ansprüche, die ihre Eltern stellten, waren Lichtjahre von allem entfernt, was sie erreichen konnte: ihr Pharmaziestudium mit summa cum laude abschließen, einen erfolgreichen, vorzugsweise gut aussehenden Schwiegersohn heimbringen, in ein hübsches Einfamilienhäuschen in der Nachbarschaft ziehen, die väterliche Apotheke übernehmen und den Honoratioren des Ortes ihre Blutdruckmedikamente verkaufen. Dann ein paar wohlgeratene, bildhübsche Kinder in die Welt setzen – nicht so was wie diesen ungezogenen und eigensinnigen Bankert mit Sommersprossen auf der Nase und einer feuerroten Mähne auf dem Kopf, den sie ihre Tochter nannte.
Seit sie ihr behütetes Zuhause verlassen hatte, war Judith für ihre Eltern nichts als eine einzige Enttäuschung gewesen.
Der Einzige in der Familie, der immer auf Judiths Seite gestanden hatte, war Onkel Henry, der ältere Bruder ihres Vaters. Liebevoll strich sie mit dem Zeigefinger über seinen Namen auf dem Brief.
»Wir zwei sind eben die schwarzen Schafe der Familie«, hatte er immer lachend gesagt. »Und schwarze Schafe müssen zusammenhalten.«
Dass Onkel Henry gestorben war, hatte Judith erst zwei Wochen nach der Beerdigung erfahren, als sie wie beinahe jeden Sonntag bei ihren Eltern angerufen hatte. Ihre Mutter hatte es beiläufig erwähnt und verständnislos reagiert, als Judith sich entrüstet beschwert hatte, dass sie gern zur Beerdigung gefahren wäre.
»Wieso das denn? Du kennst doch keine Menschenseele in diesem komischen Dorf! Außerdem ist es eine halbe Weltreise bis dorthin. Erst fährst du Stunden mit der Bahn bis nach Nordenham und dann noch mal ebenso lange mit dem Bus. Und wie hättest du das mit Anna regeln wollen? Die kannst du doch nicht einfach für ein oder zwei Tage aus der Schule nehmen.«
»Vielleicht hätte Papa mich ja mit dem Auto mitnehmen können.«
»Papa ist auch nicht hingefahren. Just an dem Tag war abends Gemeinderatssitzung. Er hätte es nie pünktlich zurück nach Hause geschafft.«
Die patzige Frage, ob denn eine Gemeinderatssitzung wirklich so viel wichtiger war als die Beerdigung seines einzigen Bruders, hatte sich Judith mit Mühe verkniffen. Es wäre zwecklos gewesen. Mama hätte gar nicht verstanden, was sie eigentlich wollte.
Ihre Eltern hatten Onkel Henry beide nicht leiden können. Für sie war er immer nur Henry,der Bauer oder der idealistische Spinner gewesen, der eine blendende akademische Karriere an den Nagel gehängt hatte, um eine Bauerstochter aus Butjadingen zu heiraten und mit ihr einen Hof im Windschatten des Deiches zu bewirtschaften. Talentverschwendung nannte ihr Vater das, und für so etwas hatte er überhaupt kein Verständnis.
Die Brüder hatten sich seit Jahrzehnten nichts mehr zu sagen gehabt. Solange Tante Alma noch gelebt hatte, hatte sie zwischen den beiden zu vermitteln versucht, aber sie war vor zehn Jahren an Krebs gestorben, und seither hatte Onkel Henry sich ganz zurückgezogen.
Onkel Henry und Tante Alma … Judith musste lächeln, als sie an die beiden dachte.
Onkel Henry war ein Bär von einem Mann gewesen, groß und breitschultrig, mit tiefer, dröhnender Stimme und strahlend blauen Augen, in denen der Schalk blitzte. Tante Alma das genaue Gegenteil von ihm, klein und zierlich, mit rundem, freundlichem Gesicht und leiser Stimme, aber sie hatte, wie Onkel Henry es ausgedrückt hatte, die Hosen angehabt. Seit sie denken konnte, hatte Judith jede Sommerferien bei den beiden verbracht, war in ihren roten Gummistiefeln neben Onkel Henry hergestapft, ihre Hand in seiner Pranke, wenn sie die Kühe zum Melken in den Stall getrieben hatten, und hatte mit ihm über Gott und die Welt gesprochen. Oder sie hatte bei Tante Alma in der Küche gesessen und gewartet, dass der Apfelkuchen im Ofenrohr fertig wurde – der nach dem Familienrezept von Großtante Meti, mit viel Schlagsahne, die von der Milch der eigenen Kühe abgeschöpft wurde. Wie das geduftet hatte!
Tante Alma und Onkel Henry hatten keine eigenen Kinder gehabt.
»Wozu brauche ich eigene Kinder?«, hatte Onkel Henry einmal gesagt, als sie ihn danach gefragt hatte. »Ich hab doch dich, Judith!« Und dann hatte er schallend gelacht und ihr die dunklen Locken verstrubbelt. Zuletzt war Judith im Sommer vor ihrem Abitur bei ihnen gewesen. Im Jahr darauf war sie nach Hannover gezogen, um zu studieren, und wegen der vielen Seminare, Praktika und Klausuren, die sie völlig in Beschlag genommen hatten, war an Besuche bei Onkel und Tante nicht mehr zu denken gewesen. Stattdessen hatte sie die beiden zu den Geburtstagen angerufen und ihnen jedes Jahr eine Weihnachtskarte geschickt. Von ihnen hatte sie immer eine Karte mit einem Geldschein zurückbekommen – zuerst in der peniblen Handschrift von Tante Alma, später dann in der geschwungenen Schrift ihres Onkels. Die letzte hatte sie im März zu ihrem Geburtstag erhalten. Bei dem Gedanken, dass sie nicht einmal richtig von ihm Abschied hatte nehmen können, blutete ihr immer noch das Herz.
Onkel Henry hatte zwar mal erwähnt, dass Judith den Hof eines Tages erben sollte, aber dass er das wirklich ernst gemeint hatte, war ihr nicht in den Sinn gekommen.
Das Ganze gehört doch bestimmt längst der Bank, sagte die näselnde Stimme in Judiths Kopf. Da wird es sicher nur noch um ein paar wurmstichige Möbel und ein bisschen Gerümpel gehen. Nichts, was sich zu erben lohnt! Wer will denn so was schon haben?
»Ich!«, antwortete Judith.
Der alte Mann neben ihr sah erstaunt auf. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie laut gesprochen hatte. Judith räusperte sich und lächelte ihm verlegen zu. Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder seinem Kreuzworträtsel zu.
»Leinaustraße«, sagte die freundliche Stimme aus dem Lautsprecher über ihr, und Judith schrak zusammen. Hier musste sie aussteigen. Sie stopfte den Brief eilig zurück in den Rucksack, stand auf und schob sich an den anderen Fahrgästen vorbei zur Tür.
Die Testamentseröffnung war am nächsten Freitag, und sie würde hinfahren, komme, was da wolle – das war sie Onkel Henry und Tanta Alma schuldig. Und weil nächste Woche die Ferien begannen, würde sie Anna einfach mitnehmen.
Die Stadtbahn hielt, Judith trat in die helle Nachmittagssonne und blinzelte ins Licht hinauf, ehe sie den Fußmarsch um den Häuserblock antrat.
Das war die Idee! Statt auf eine Insel zu fahren, würden Anna und sie einfach ein paar Tage Urlaub auf dem Bauernhof machen. Sie freute sich schon darauf, ihrer Tochter zu zeigen, wo sie selbst als Kind immer ihre Ferien verbracht hatte und wie schön es dort war.
»Kurz gesagt, Olaf ist ein Riesenarschloch!«, schloss Tanja ihre Ausführungen und schlug mit Schwung die Tür ihres Cabrios zu. »Ich war nur zu doof, dir zu glauben. Du hast mir immer wieder gesagt: ›Sei vorsichtig mit dem Typen, der nutzt dich nur aus.‹ Und du hattest ja so recht damit.«
Aus dem Lautsprecher ihres Handys drang die Stimme ihrer Freundin Bärbel. »Und jetzt? Was soll jetzt werden?«, fragte diese.
»Was glaubst du wohl? Ich hab denen meinen Job vor die Füße geschmissen. Es blieb mir ja auch gar nichts anderes übrig, ohne völlig das Gesicht zu verlieren. So was wie in dem Saftladen finde ich überall. Mir kocht immer noch die Galle hoch, wenn ich an das mitleidige Grinsen meines Chefs denke. ›Es tut uns ja so leid, Frau Merker, aber wir haben uns letztlich für Herrn Krüger entschieden. Seine Qualifikation ist einfach … Sie wissen schon.‹ Qualifikation, dass ich nicht lache!« Tanja ging zum Heck des Wagens, öffnete den Kofferraum, holte ihre Badetasche heraus und hängte sie sich über die Schulter. »Es geht nur darum, dass die keine Frau in dem elitären Männerclub haben wollen, den sie Geschäftsleitung nennen. Ich sag’s dir: Als Frau musst du doppelt so gut sein wie die Kerle, wenn du da rein willst. Außerdem hat sich Olaf derartig beim Chef eingeschleimt, du machst dir keine Vorstellung. Er hat zum Beispiel …«
Tanja bemerkte plötzlich, dass einige Passanten auf dem Bürgersteig vor dem Hotel stehen geblieben waren und sie neugierig beäugten. Eine ältere Dame, die trotz des warmen Sommerwetters ihren Pelzmantel spazieren führte, schüttelte sogar missbilligend den Kopf. Tanja funkelte sie böse an. »Das erzähle ich dir, sobald ich in meinem Zimmer bin«, sagte sie etwas leiser. »Jedenfalls habe ich gekündigt und mich freistellen lassen. Bloß weg von hier, hab ich gedacht, bin zu Olaf in die Wohnung gefahren, habe meine Koffer gepackt und bin losgefahren. Seit vorgestern bin ich auf Sylt, um meine Wunden zu lecken.«
»Jetzt sag nicht, in eurem Hotel!«
Tanja seufzte. »Ich gebe zu, das war vielleicht nicht meine brillanteste Idee. Hier ist jeder Blumentopf voller Erinnerungen.«
»Oder hoffst du insgeheim, dass Olaf dir nachfährt?«, fragte Bärbel.
»Ich? Nein! Der Kerl kann mir gestohlen bleiben!«, beeilte sich Tanja zu versichern, aber das flaue Gefühl in ihrer Magengrube verriet ihr, dass Bärbel mit ihrer Vermutung vielleicht gar nicht so danebenlag. Wenn er jetzt hier wäre und sie mit zerknirschtem Gesicht und Dackelblick aus seinen blauen Augen um Verzeihung bäte, würde sie vermutlich schwach werden und mit ihm zurück nach Frankfurt fahren. Dann aber fiel ihr wieder ein, wie sehr er sie ausgenutzt und als Trittbrett in die Geschäftsführung missbraucht hatte, und sie genoss das Gefühl des gerechten Zorns, das augenblicklich in ihr hochstieg. Sie schob ihre Sonnenbrille in die Haare hoch und drückte auf die Zentralverriegelung, bevor sie auf das kleine, exklusive Hotel am Ortsrand von Kampen zuging, in dem Olaf und sie seit drei Jahren jeden Urlaub verbracht hatten.
»Nein. Olaf ist Vergangenheit, definitiv!«, behauptete sie forsch. »Nur gut, dass ich immer nur aus dem Koffer gelebt habe, solange ich mit ihm zusammen war, so musste ich jetzt nur meine Schrankhälfte leeren und nicht noch irgendwelche Möbel mitnehmen. Das heißt, ein Ende mit Schrecken und kein Schrecken ohne Ende.«
»Dann wirst du dir doch tatsächlich mal selbst eine Wohnung suchen müssen, was?« Bärbel lachte leise. »Ob ich das noch erlebe, dass du endlich sesshaft wirst?«
»Erst mal abwarten. Vielleicht suche ich mir auch wieder einen Job im Controlling bei einer großen Firma und gondle durch die Weltgeschichte, so wie früher. New York, Rio, Tokio!«
»So wie früher? Damals hast du permanent auf deinen Job geschimpft und gesagt, dass du endlich den ewigen Jetlag loswerden willst. Und seither bist du nicht jünger geworden, Tanja.« Bärbel konnte manchmal so erschreckend ehrlich sein. Aber so war das nun mal unter besten Freundinnen.
Bärbel und Tanja waren Nachbarskinder gewesen, hatten sich schon im Sandkasten gegenseitig die Schippchen auf den Kopf gehauen und jahrelang in der Schule nebeneinandergesessen. Sogar das Jurastudium hatten sie zusammen angefangen, aber dann hatte Bärbel sich verliebt, ihren Peter geheiratet und drei Jungs bekommen, bei denen Tanja Patentante war. Jetzt führte sie ein stinknormales Spießerleben im Speckgürtel von Frankfurt und vertrieb sich die Zeit damit, Haus und Garten immer wieder umzudekorieren, und stand dem Förderverein der Schule vor, auf die ihr Jüngster ging. Obwohl ihre Lebenswelten längst nichts mehr miteinander gemein hatten, war der Kontakt zwischen den beiden Freundinnen nie abgerissen.
»Was soll das heißen, ich bin nicht jünger geworden? Zweiundvierzig ist doch wohl kein Alter!«, sagte Tanja entrüstet. »Außerdem ernähre ich mich gesund und mache Sport ohne Ende. Eben erst bin ich eine Stunde lang im Meer schwimmen gewesen, obwohl das Wasser nach dem Sturm vor ein paar Tagen lausig kalt war. Da siehst du mal, was ich alles für meine Figur tue!«
Bärbel lachte. »Wenn du erst mal in mein Alter kommst, dann wird das alles schwieriger, glaub mir.«
Die Tatsache, dass sie zehn Monate älter war als Tanja, sorgte schon seit ihrer Kindheit für zahllose liebevolle Wortgefechte zwischen den Freundinnen.
»Jaja, dann werden die Haare grau und die Zähne wackelig, und schließlich geht man furchtbar aus dem Leim«, erwiderte Tanja grinsend. Sie drückte die Eingangstür zur Hotelhalle auf und ging auf die Rezeption zu. Lächelnd nickte sie der Besitzerin, Frau Mayer, zu, die heute am Empfang saß, und streckte ihre Hand aus, um ihren Schlüssel entgegenzunehmen. Doch statt ihr ebenfalls nur zuzunicken, räusperte sich Frau Mayer. »Wie gut, dass ich Sie erwische, Frau Merker«, sagte sie freundlich. »Da ist ein Eilbrief für Sie aus Frankfurt gekommen, mit dem Vermerk wichtig darauf.«
Tanja runzelte die Stirn. »Für mich?«, fragte sie erstaunt.
Frau Mayer nickte, nahm einen braunen DIN-A5-Umschlag aus der Ablageschale neben sich und reichte ihn Tanja über den Tresen.
»Bärbel, ich ruf dich später wieder an«, sagte Tanja und beendete das Gespräch, ohne eine Antwort abzuwarten, ehe sie nach dem Umschlag griff. Als sie den Absender las, wurden ihre Augen schmal vor Wut. »Das ist doch …«, murmelte sie.
Frau Mayer sah sie schuldbewusst an. »Herr Krüger rief gestern an und fragte, ob Sie schon eingecheckt haben. Natürlich habe ich ihm wahrheitsgemäß geantwortet. Ich hoffe, das war kein Fehler?«
»Wie?«, fragte Tanja abwesend und starrte noch immer auf den Umschlag. »Nein, nein, Sie können nichts dafür. Ich hätte nur nicht gedacht, dass er die Unverfrorenheit hat, sich …« Sie brach ab, bemühte sich um ein professionell freundliches Lächeln für Frau Mayer und bedankte sich. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und ging schnellen Schrittes zur Treppe, die in die Räume im ersten Stock führte.
In ihrem Zimmer warf sie die Tasche auf den Sessel und setzte sich aufs Bett. Eine Weile starrte sie unschlüssig auf den Umschlag in ihren Fingern, dann fiel ihr Blick aus dem Fenster, durch das man eine Panoramaaussicht auf die Dünen, den breiten Strand und den strahlend blauen Sommerhimmel über Sylt hatte.
»Na, komm schon, mach ihn auf«, murmelte sie. »Du bist doch sonst nicht so ein Feigling.«
Sie seufzte, öffnete die Lasche des Umschlags und zog einen handbeschriebenen Zettel und einen kleineren ungeöffneten Briefumschlag heraus.
Von einer Rechtsanwaltskanzlei in Nordenham?, dachte sie. Wo zur Hölle ist das denn?Sie legte den Brief neben sich und faltete den Zettel auf, der dicht mit Olafs schwungvoller Handschrift bedeckt war.
Hallo Tanni,
ich kann ja verstehen, dass Du sauer auf mich bist, aber Dich einfach so ohne ein Wort aus dem Staub zu machen, ist doch kindisch und passt so gar nicht zu Dir. Glaub mir, die Geschäftsführung hat sich die Entscheidung nicht leicht gemacht, und Du warst bis zum Schluss mit im Rennen. Und dass ich Dir kein Wort gesagt habe, dass ich mich ebenfalls um die Position beworben hatte, hing damit zusammen, dass der Chef mein Schweigen zur Bedingung gemacht hat. Du glaubst nicht, wie schwer es mir gefallen ist, nicht mit Dir darüber reden zu können.
Natürlich musst du jetzt über alles in Ruhe nachdenken, das verstehe ich, und Sylt ist der richtige Ort dafür. Nimm Dir so viel Zeit, wie Du brauchst, um Abstand zu bekommen und alles rational bewerten zu können, aber dann melde Dich wieder bei mir.
Tanni, wir hatten doch wirklich eine schöne Zeit miteinander. Willst Du das alles wegwerfen, bloß weil Du sauer bist, dass ich die Stelle bekommen habe, die Du unbedingt haben wolltest? Hör bitte auf zu schmollen, und lass uns darüber reden wie Erwachsene. Wenn Du die ganze Sache nüchtern betrachtest, besteht überhaupt kein Grund, nicht an unserer Freundschaft festzuhalten, auch wenn wir nicht mehr in der gleichen Firma arbeiten.
Ruf mich einfach an, oder besser noch, komm zurück nach Frankfurt.
Selbst Rosella vermisst Dich schon.
Bis hoffentlich bald!
Olaf
In die untere rechte Ecke des Briefes hatte Olaf einen kleinen Pfeil gemalt, und Tanja drehte das Papier um.
Dieser Brief ist heute hier eingetroffen. Dein Vater hat ihn weitergeschickt. Sah wichtig aus, darum habe ich ihn dazugelegt.
O.
In Tanjas Magen begann die Wut zu brodeln. Sie knüllte den Brief so fest sie konnte zusammen und warf ihn mit Schwung gegen die Fensterscheibe.
»Drecksack!«, knurrte sie. »Erst über Leichen gehen und dann so tun, als sei er der Erwachsene in der Beziehung.«
Vermutlich hatte Olaf nur Angst, was sein elitärer Freundeskreis aus Ärzten, Rechtsanwälten und Politikern sagen würde, wenn herauskäme, was er abgezogen hatte. Vor ihnen hatte er sich stets mit seiner gut aussehenden, ehrgeizigen und gebildeten Freundin gebrüstet und vermutlich noch dazu damit angegeben, was für eine Granate sie im Bett sei. Tanja war sich oft genug vorgekommen wie eine Trophäe. »Du hättest dir besser ein junges Büromäuschen gesucht. Hübsch, aber blöd«, murmelte sie.
Nur hätte ihm das Büromäuschen nicht zu dem Job in der zweiten Reihe des Versicherungskonzerns verholfen, für den sie gearbeitet hatte. Und an so einer hätte er auch nicht vorbeiziehen können, um in den Vorstand zu kommen. Tanja spürte, wie ihre Hände zu zittern begannen.
Und nach alldem faselte er noch was von trotz allem Freunde bleiben!
»Das vergiss mal schnell wieder, mein Lieber!« Für einen kurzen Moment kniff sie die Lippen fest zusammen. »Und das Mistvieh von Papagei kannst du zukünftig allein versorgen, das geschieht dir ganz recht. Von wegen Rosella vermisst dich!«
Rosella war ein Haubenkakadu, um den Olaf und seine Exfrau nach der Scheidung eine halbe Ewigkeit prozessiert hatten. Olaf hatte schließlich gewonnen, doch Rosella nahm die Trennung vom Frauchen übel und attackierte ihn, sobald er das Zimmer betrat, in dem der Vogel untergebracht war. Nicht, dass Tanja was gegen Tiere hatte – im Gegenteil –, aber Rosella war definitiv nicht ganz bei Trost und außerdem bösartig. Sie hing kopfüber von ihrem Ast herunter und ging kreischend zum Sturzflug über, um auf ihrer Schulter zu landen, sobald Tanja mit Futter hereinkam. Tanja klingelten vom Geschrei des Vogels jedes Mal die Ohren, und wenn sie nicht höllisch aufpasste, nutzte Rosella sofort die Gelegenheit, nach ihrer Ohrmuschel zu hacken, bis sie endlich das Futter auf den Boden gestellt hatte.
»Blöder Psychopathen-Vogel«, sagte Tanja, die bei dem Gedanken, dass Olaf das Mistvieh zukünftig allein versorgen musste, sofort etwas milder gestimmt war. Vielleicht sollte er sich eine schusssichere Weste samt Helm von der Bereitschaftspolizei ausleihen, dachte sie und grinste bei der Vorstellung. »Vergiss es, Olaf«, sagte sie bestimmt. »Ich komm erst wieder nach Frankfurt, wenn man in der Hölle Schlittschuh laufen kann!«
Sie holte tief Luft und genoss die Erleichterung, die sie bei diesem Entschluss fühlte. Einen Moment lang sah sie den Möwen zu, die immer wieder auf die Touristen am Strand hinunterstießen, die ihnen offenbar irgendetwas zu fressen zuwarfen. »Psycho-Möwen!«, sagte sie grinsend und griff nach dem Brief, der noch immer neben ihr auf der Bettdecke lag.
»Schnur und Meier, Rechtsanwälte und Notare«,las sie halblaut und runzelte die Stirn. »Nie gehört …« Dann öffnete sie den Umschlag und zog den Briefbogen heraus.
Sehr geehrte Frau Merker,
in der Sache des verstorbenen Bauern Heinrich Reimann teile ich Ihnen mit, dass ich als Notar mit der Vollstreckung des Testamentes …
»Heinrich Reimann?«, murmelte sie. »Wer zur Hölle ist Heinrich Reimann?«
Einen Moment lang dachte sie an einen Erbonkel, von dem sie nichts geahnt hatte, doch dann fiel ihr ein, um wen es sich bei Heinrich Reimann handeln musste.
Tanja hatte erst an ihrem achtzehnten Geburtstag erfahren, dass der Mann, den sie bis dahin für ihren leiblichen Vater gehalten hatte, gar nicht ihr Erzeuger war. Ihre Mutter, die damals schon ein paar Jahre tot war, hatte während des Studiums eine kurze Affäre mit einem Kommilitonen gehabt, aus der sie hervorgegangen war. Den Namen dieses Mannes hatte Tanja nicht wissen wollen und ihrem Vater versichert, dass er für sie immer ihr Papa bliebe. Auch wenn das Verhältnis zu ihm und ihren zwei jüngeren Brüdern nicht mehr so eng war wie früher – jeder hatte inzwischen sein eigenes Leben –, so war es doch herzlich.
Heinrich Reimann. Das also war der Name ihres Erzeugers. Und der war nun gestorben. Jetzt konnte sie niemanden mehr fragen, wie es zu ihrer Entstehung gekommen war. Sie war versucht, den Brief ebenso zusammenzuknüllen und wegzuwerfen wie den Schrieb von Olaf. Alles hinter sich abbrechen und komplett neu anfangen – ein schöner Gedanke. Aber dann siegte doch ihre Neugier.
Offenbar hatte ihr leiblicher Vater Tanja in seinem Testament erwähnt, sonst hätte sie keine Einladung zu dessen Eröffnung erhalten. Vielleicht gab es ja so etwas wie eine Nachricht an sie. Die Testamentseröffnung war in ein paar Tagen.
Ich sollte wirklich hinfahren, dachte sie. Wenn schon mit der Vergangenheit aufräumen, dann auch gründlich.
Seufzend stand Tanja auf und ging zu dem kleinen Schreibtisch hinüber, auf dem ihr Notebook stand. Nachdem sie es aufgeklappt hatte, leuchtete der Monitor auf, und sie gab die Adresse des Notars bei Google ein, um die Wegbeschreibung nach Nordenham abzurufen.
»Sie haben Ihr Ziel erreicht«, säuselte die freundliche Frauenstimme aus dem Navigationsgerät. »Das Ziel befindet sich auf der rechten Seite.«
»Wenn du mir jetzt auch noch sagen könntest, wo ich in diesem Kaff parken kann, wäre ich dir sehr verbunden«, brummte Tanja missmutig, während sie ihr heiß geliebtes Cabrio durch die Bahnhofstraße von Nordenham lenkte. Gleich nach dem Frühstück war sie von ihrem Hotel auf Sylt aufgebrochen, aus Sorge, sonst nicht pünktlich zum Termin beim Notar einzutreffen. Zwar hatte das Navi für die Strecke nur etwa vier Stunden veranschlagt, aber wochentags durch Hamburg zu fahren war immer eine heikle Sache, das wusste sie aus leidvoller Erfahrung. Vor dem Elbtunnel hatte sie schon etliche Male im Stau gestanden. Aber diesmal war sie so gut durchgekommen, dass sie schon kurz nach zwölf Uhr in Nordenham eingetroffen war. Jetzt musste sie die eineinhalb Stunden bis zur Testamentseröffnung irgendwie totschlagen.
Endlich sah sie ein blaues Schild, das auf einen Parkplatz hinwies, und bog dem Pfeil folgend nach links ab. Was hier so großspurig als Marktplatz angepriesen wurde, war in Wirklichkeit nichts weiter als ein großer Parkplatz, begrenzt durch eine Reihe von zweistöckigen Gebäuden mit kleinen Ladenlokalen im Erdgeschoss.
Tanja stellte das Cabrio ab und stieg aus. Nachdem sie ihre Handtasche vom Rücksitz geangelt hatte, schloss sie das Verdeck des Wagens. Sicher ist sicher. Für den Nachmittag war Regen angekündigt, und wer konnte schon sagen, ob sich die hiesigen Möwen nicht ebenso geschickt auf den Sitzen erleichtern würden wie die Tauben in Frankfurt.
Sie zog die Jacke ihres Hosenanzugs glatt und strich sich über die Haare, um zu prüfen, ob sich der Knoten im Nacken nicht aufgelöst hatte, dann schob sie die Sonnenbrille hoch und sah sich um.
»Na ja, idyllisch geht anders«, sagte sie halblaut. Die Bebauung am Marktplatz schien aus den Neunzigern zu stammen und gab dem Platz etwas Austauschbares. So oder so ähnlich sahen alle Kleinstädte aus, die sich damals den Anstrich urbanen Flairs hatten geben wollen. Neben dem Durchgang zu einer Parallelstraße sah Tanja ein Bistro und ein Eiscafé.
»Ene, mene, muh, Kaffee oder Baguette?«, murmelte Tanja und entschied sich wegen des engen Hosenanzuges für Kaffee. Sie nahm an einem der Tische vor dem Eingang Platz und holte ihren E-Book-Reader heraus. Nachdem sie bei der fülligen Kellnerin, die sie freundlich anstrahlte, einen Café Latte und ein halbes Käsebrötchen, aber bitte fettarm, bestellt hatte, schaltete sie den Reader an und vertiefte sich in die Historien-Schmonzette, die sie am Vorabend zu lesen begonnen hatte.
Den Reader hatte sie angeschafft, damit Olaf nicht mitbekam, was sie zur Entspannung so alles für einen Schund las. Er selbst las nur Klassiker, höchstens mal die Krimis eines skandinavischen Autors, dessen Namen sie sich nicht merken konnte und wollte.
Allein schon der Blick, mit dem er früher mit spitzen Fingern ihre Schmöker ins Schlafzimmer getragen hatte, damit seine Freunde, die sich für den Abend angekündigt hatten, sie nicht zu Gesicht bekamen. Es hatte ausgesehen, als würde er einen toten Nager hinaustragen. Was auf ihrem Reader war, interessierte Olaf nicht die Bohne.
Als der Kaffee und das dick mit Camembertscheiben belegte Brötchen gebracht wurden, schmachtete die Protagonistin ihres Romans gerade ihrem Helden nach, der edelmütig in irgendeinen Feldzug gezogen war, und Tanja war so gefangen von der Geschichte, dass sie glatt vergaß, sich bei der Bedienung über den alles andere als fettarmen Käse zu beschweren. Sie aß mit Appetit, trank ihren Kaffee und war so versunken in den Roman, dass die Zeit wie im Flug verging. Erst als ihr Handy piepste, um sie an ihren Termin zu erinnern, hob sie den Blick wieder.
Sie winkte der Bedienung, zahlte und stand auf. Einen Augenblick lang war sie versucht, mit dem Auto zur Kanzlei des Notars zu fahren, aber die Sonne war herausgekommen, und so beschloss sie, trotz ihrer hohen Absätze die kurze Strecke zu Fuß zu gehen.
Die Kanzlei befand sich in einer Backsteinvilla aus den Zwanzigerjahren mit tief gezogenem Walmdach, grünen Fensterläden und einem breiten Treppenaufgang, der zu einer schweren Eichentür mit einem Türklopfer in Form eines finster dreinschauenden Löwen mit Ring in der Schnauze hinaufführte. Tanja zog mit einem spöttischen Lächeln die Augenbrauen hoch. Ehe sie klopfen konnte, wurde die Tür geöffnet, und ein freundlich lächelndes junges Mädchen, vermutlich eine Auszubildende, begrüßte sie.
Scheint ja nicht viel los zu sein in dem Laden, dachte Tanja amüsiert. Wenn die Angestellten schon am Fenster auf der Lauer liegen und auf die Klienten warten.
»Guten Tag, mein Name ist Tanja Merker«, stellte sie sich vor. »Ich habe …«
»… einen Termin zur Testamentseröffnung um zwei Uhr«, vollendete die Auszubildende den Satz und strahlte über ihr sommersprossiges Gesicht, während sie Tanja eintreten ließ. »Wir haben Sie schon erwartet, Frau Merker.« Sie deutete auf eine offene Tür ein paar Schritte den Flur hinunter. »Wenn Sie noch einen Moment Platz nehmen würden? Herr Schnur ist sofort bei Ihnen. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee vielleicht? Oder Tee?«
»Ein Glas Wasser wäre nett«, sagte Tanja.
»Gern.« Die Auszubildende nickte ihr zu und verschwand hinter einer der vielen Türen, während Tanja ins Wartezimmer weiterging, das mit Ledersofas und -sesseln eingerichtet war wie ein protziges Wohnzimmer aus den Siebzigern.
Zu ihrer Überraschung war sie nicht allein. Eine junge Frau und ein Mädchen von vielleicht zehn Jahren saßen nebeneinander auf einem der Sofas und sahen auf, als Tanja eintrat. Beide murmelten einen Gruß als Antwort auf Tanjas »Guten Tag!«.
»Dauert es noch lange, Mama?«, fragte das Mädchen gelangweilt.
»Woher soll ich das wissen?«, gab ihre Mutter knapp zurück.
»Menno!« Das Mädchen rollte die Augen und ließ sich nach hinten gegen die Lehne des Sofas fallen. Jetzt lag sie mehr, als dass sie saß, und schlenkerte mit den Beinen, die in einer löchrigen Jeans steckten.
»Anna, bitte, setz dich wieder hin«, sagte ihre Mutter gefährlich leise. Mit einem theatralischen Seufzen kam Anna der Aufforderung nach. Dabei ließ sie Tanja, die sich ganz vorn auf der Kante eines Sessels niedergelassen hatte, nicht aus den Augen.
Und da sage noch einer, alle Kinder sind niedlich, dachte Tanja. Na, Ausnahmen bestätigen ja bekanntlich die Regel.
Anna war so dünn, dass sie geradezu mager wirkte. Sie hatte krauses kupferrotes Haar, das ihr schmales Gesicht wie eine lodernde Flamme umgab und von einem Haarband daran gehindert wurde, ihr in die Stirn zu fallen. Kluge hellgrüne Augen musterten Tanja so durchdringend, dass diese dem Blick kaum standzuhalten vermochte. Ohne die rotblonden Wimpern, die Tanja an die eines kleinen Ferkels erinnerten, wären sie vermutlich bildhübsch gewesen. Das Gesicht des Mädchens war sehr blass, jedenfalls dort, wo es nicht von Myriaden von Sommersprossen bedeckt war, die sich so dicht über Stirn, Nase und Wangenknochen zogen, dass sie beinahe eine durchgehende Fläche bildeten.
»Willst du vielleicht was malen?«, fragte die Mutter, zog ihren Rucksack näher zu sich heran und begann, darin zu kramen.
Während sie Mutter und Tochter beobachtete, sprang in Tanjas Kopf der Geschichtengenerator an, wie Olaf es immer genannt hatte. Sie bildete sich viel auf ihre Kombinationsgabe ein, die der eines Sherlock Holmes in nichts nachstand, wie sie selbst glaubte.
Annas Mutter stufte sie sofort als Typ graues Mäuschen ein. Die junge Frau mochte um die dreißig sein, vielleicht auch ein oder zwei Jahre älter. Jeans und T-Shirt stammten vermutlich vom Discounter, und das karierte Herrenhemd, das sie geöffnet darüber trug, hatte sie wohl ihrem Mann abgeschwatzt. Tanja tippte auf einen Fernfahrer. Mit ihm war die junge Frau bestimmt schon zusammen, seit sie gemeinsam die Hauptschule besucht hatten. Dann war sie schwanger geworden, die beiden hatten geheiratet und waren in eine winzige Sozialwohnung gezogen. Zuerst waren sie mit ihrem Leben ganz zufrieden gewesen, doch dann war die Frau ein wenig aus dem Leim gegangen, was ja kein Wunder war, wenn man den ganzen Tag auf dem Sofa herumlümmelte, Chips futterte und Doku-Soaps schaute. Und ihrem Fernfahrer war aufgefallen, dass es in anderen Städten hübschere Frauen gab. Oder aber er hatte sein Geld in die Spielothek getragen und damit begonnen, seine Frau anzuschreien und zu prügeln, wenn er mal nach Hause kam.
Irgendwann hatte es ihr gereicht. Sie hatte ihre Koffer gepackt, und jetzt war sie hier in der Kanzlei, um beim Rechtsanwalt die Scheidung einzureichen. Tanja war die große bunte Reisetasche nicht entgangen, die neben dem Sofa stand.
Mitleidig lächelte Tanja der jungen Frau auf dem Sofa zu, die einen Block und eine Stiftmappe aus ihrem Rucksack gezogen und vor ihre Tochter auf den Tisch gelegt hatte. Sie erwiderte das Lächeln und strich sich mit einer schnellen Bewegung eine braune Haarsträhne zurück, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte. Dann beugte sie sich ein Stückchen vor und zwinkerte Tanja zu.
»Haben Sie auch Kinder?«, fragte sie.
Tanja hob abwehrend die Hände. »Ich? Gott bewahre!«, sagte sie und schüttelte den Kopf.
In diesem Augenblick klopfte es an der geöffneten Tür, und ein jovial lächelnder Mittvierziger mit Schnauzbart und einem Wohlstandsbäuchlein trat in das Wartezimmer.
»Guten Tag, die Damen«, sagte er. »Bitte entschuldigen Sie die Verzögerung, doch manche Klienten finden am Telefon einfach kein Ende. Aber jetzt können wir starten.« Er lachte dröhnend und kam auf sie zu. »Wie schön, dass Sie es einrichten konnten. Mein Name ist Schnur … wie Bindfaden.«
Mit einer angedeuteten Verbeugung reichte er erst Tanja, dann Annas Mutter die Hand. »Kollegin Merker, Frau Reimann, freut mich sehr … Und du bist?«, fragte der Notar und beugte sich mit einem Verschwörerlächeln zu Anna hinunter.
»Anna Reimann«, sagte das Mädchen knapp und verschränkte die Arme vor der Brust. Aus ihrem Blick war deutlich abzulesen, dass Herr Schnur ihr herzlich unsympathisch war.
»Willst du vielleicht lieber hier warten, Anna?«, fragte er. »Es wird nicht lange dauern und ist für Kinder eher langweilig.«
Anna warf ihrer Mutter einen flehenden Blick zu. »Kann ich nicht mitkommen?«
Annas Mutter seufzte hörbar. »Aber nur, wenn du mucksmäuschenstill bist.«
Anna grinste nur.
Na, da sieht man doch, wer bei den beiden das Sagen hat, dachte Tanja. Sie hatte das schon oft im Bekanntenkreis beobachtet – Eltern, die so viel Angst vor Stress mit ihren Kindern hatten, dass sie einfach immer nachgaben und einknickten, wenn die lieben Kleinen etwas wollten. Und ihre Prinzen und Prinzessinnen nutzten das natürlich weidlich aus und führten sich auf wie Attila, der Hunnenkönig – vorzugsweise, wenn sie Publikum hatten.
»Ganz, wie du möchtest. Aber sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Wenn die Damen mir in mein Büro folgen würden?« Herr Schnur ging voraus und machte an der geöffneten Tür zu seinem Büro eine einladende Handbewegung. »Immer herein in die gute Stube.«
Anna, die ihren Block und die Stifte mitgenommen hatte, setzte sich wortlos auf einen Sessel im Hintergrund, zog den Tisch ein Stück zu sich heran und begann zu malen, ohne auch nur ein Wort zu verlieren.
Herr Schnur deutete auf die beiden großen lederbezogenen Sessel, die vor dem Schreibtisch standen. »Nehmen Sie Platz, meine Damen.«
Sein Chefsessel knarzte etwas, als er darin Platz nahm. Umständlich setzte er eine randlose Lesebrille auf, dann öffnete er den Aktendeckel vor sich und begann, das Testament zu verlesen. Tanja hatte erwartet, es handele sich um einen Standardtext, wie sie ihn hundertfach im Studium gesehen hatte, aber Heinrich Reimann hatte seinen letzten Willen wie einen sehr persönlichen Brief formuliert.
»Liebe Judith, liebe Tanja,
wie gern wäre ich dabei gewesen, wenn Ihr zwei Cousinen Euch endlich kennenlernt. Ich habe sogar mal überlegt, Euch beide zusammen zu mir einzuladen, aber das ging nicht. Ich habe vor langer Zeit versprochen, mich aus Tanjas Leben herauszuhalten. Warum, das werde ich an anderer Stelle erklären. Hier ist nur wichtig, dass ich mich an dieses Versprechen gebunden fühlte.
Seit meine Alma nicht mehr ist, seid Ihr beide die wichtigsten Menschen für mich gewesen, auch wenn ich einen von Euch nicht persönlich kennenlernen durfte. Darum möchte ich Euch das hinterlassen, was mir am meisten am Herzen liegt – meinen Hof, mit allem, was sich darin befindet und was dazugehört.