Inspektor Jury und die Frau in Rot - Martha Grimes - E-Book
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Inspektor Jury und die Frau in Rot E-Book

Martha Grimes

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Beschreibung

Inspektor Jury trinkt selten Champagner. Als er in einer noblen Londoner Bar Tom Williamson gegenübersitzt, genießt er ihn dafür umso mehr. Aber Williamson hat ein ernstes Anliegen: Vor siebzehn Jahren kam seine Frau Tess durch einen Sturz von einem steilen Treppenaufgang ums Leben, an einen Unfall will er aber noch immer nicht glauben. Jury nimmt sich des Falles an. Doch bevor er den Tatort in Devon inspiziert, besucht er seinen Freund Melrose Plant. Und wie es der Zufall will, fällt ihm dort eine Leiche quasi vor die Füße. Eine schöne Frau im roten Kleid soll sich von einem alten Turm gestürzt haben. Jury kann nicht widerstehen und steht bald vor mehr als einem Rätsel ...

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Buch

Inspektor Richard Jury ist eigentlich im Urlaub, aber trotzdem kann er es nicht lassen zu ermitteln. Als Tom Williamson, ein guter Freund eines Freundes, ihn bittet, sich mit ihm zu treffen, sagt er nicht Nein. In einer noblen Champagner-Bar, dem Vertigo 42, die sich oben im 42. Stock eines Hochhauses im Bankenviertel von London befindet, hört er sich die Geschichte von Toms verstorbener Frau an. Tess Williamson ist vor siebzehn Jahren durch einen tragischen Unfall gestorben, so wurde der Fall zumindest von der Polizei abgeschlossen. Auf ihrem Anwesen auf dem Land ist sie von einem steilen Treppenaufgang gestürzt. Die Polizei vermutete, dass sie sich entweder willentlich hinunterstürzte oder durch ihre starke Höhenangst verursacht den Halt verlor. Tom hat sich allerdings nie mit der Auflösung zufriedengegeben. Sie kannte die Treppe, und er kann sich nicht vorstellen, dass sie dort gestürzt sein konnte. Und an Selbstmord kann er schon gar nicht glauben. Inspektor Jury verspricht, den Fall noch einmal aufzurollen. Doch bevor er den Tatort in Devon inspiziert, besucht er seinen Freund Melrose Plant. Und wie es der Zufall will, fällt ihm dort eine Leiche quasi vor die Füße. Eine schöne Frau im roten Kleid soll sich von einem alten Turm gestürzt haben. Jury kann nicht widerstehen und steht bald vor mehr als einem Rätsel …

Weitere Informationen zu Martha Grimes sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

MARTHA GRIMES

INSPEKTOR JURY UND DIE FRAU IN ROT

Ein Inspektor-Jury-RomanBand 23Roman

Ins Deutsche übertragen von Cornelia C. Walter

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Copyright © 2014 by Martha Grimes

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Getty Images/Ian Murray;

FinePic®, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-18803-0V001

www.goldmann-verlag.de

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Dem unvergleichlichenAnwaltspaarAlice und Andrew Vachss

»Frauen und Kinder zuerst!«

HAFENLICHTER

»They only told me we were parting …«

Jimmy Kennedy & Hugh Williams

Vertigo 42, im FinanzdistriktMontag, 18.00 Uhr

1. Kapitel

Es war viel zu hoch oben. Die Old Broad Street unter ihm war nicht mehr zu erkennen, dafür boten die Fenster, die rings um den gesamten rautenförmigen Raum verliefen, einen der großartigsten Ausblicke auf London, die er je gehabt hatte. Die Themse, Westminster, die St.-Pauls-Kathedrale, Southwark, alles im Miniaturformat. So hoch oben war er, dass ihm in dem schnellen Aufzug, der nur einmal angehalten hatte, und zwar ganz oben auf dem Tower 42, fast ein wenig schwindelig geworden war.

Jury schaute hinunter auf die Themse. Flussabwärts lagen Gravesend und Gallions Reach, die von hier aus natürlich noch nicht zu sehen waren; in der anderen Richtung gelangte man zur Isle of Dogs und weiter nach Richmond und Hampton Court. Er malte sich all die Schiffe aus, die vor nicht allzu langer Zeit noch in Richtung Londoner Docks getuckert waren, auf Rotherhithe und das Blackwall Basin zu, im gleichen Licht wie dem, das Jury nun vor sich hatte: die untergehende Sonne über der St.-Pauls-Kathedrale. Im leuchtenden Sonnenuntergang, der über den Gebäuden verharrte, wirkten die Umrisse verschwommen. Es hätten auch dunkle Hügel sein können.

Er schaute zu den Docklands hinüber, einer Gegend, die sich früher von den West India Docks bis nach hinten zum Blackwall Basin erstreckt hatte, das nach Schließung der Docks als Einziges noch geblieben war, gut achtzig Hektar von dem, was heute das Canary-Wharf-Gelände bildete. Hier hatten einst Hunderte von Hafenarbeitern gelebt und ihr Tagwerk vollbracht, heute bevölkerten Büroangestellte die gläsernen Bauten und umgewandelten Lagerhallen.

Vertigo 42, die Bar ganz hoch oben auf einem der Finanztürme in der »Quadratmeile«, aus der Londons Finanzdistrikt bestand, mochte mit dem Ziel entworfen worden sein, dort unten die Illusion einer Stadt zu erschaffen. Vielleicht rührte dieser Gedanke aber bloß von dem Champagner her, den Jury gerade trank. Champagner trank er sonst eigentlich nie, war ihn nicht gewohnt, aber den gab es nun mal hier oben, deshalb kamen die Leute her: um Champagner zu trinken.

Ein Kellner hatte zwei Gläser vor ihn hingestellt und eines eingeschenkt, »im Auftrag von Mr Williamson, Sir«. Jury trank einen Schluck. Er hatte vergessen, wie Champagner schmeckte, großartiger Champagner jedenfalls, wenn er es denn überhaupt je gewusst hatte. Dieser edle Tropfen (er hatte auf der Karte nachgesehen) kostete Mr Williamson annähernd 385 Pfund. Die Flasche wohlverstanden. Marke Krug. Darf man ein derart teures Getränk eigentlich einfach so hinunterschlucken? Oder sollte man es lediglich im Mund behalten, während sich der Blick an den vom orangefarbenen Licht überzogenen Frachtkähnen dort auf dem Fluss festmachte.

Der Kellner kehrte mit einem Schälchen großer, hell glänzender grüner Oliven zurück. Er stellte sie auf die gläserne Ablagefläche, die direkt am Fenster vor den ziemlich trendig aussehenden, aber sehr bequemen Sesseln angebracht war.

Jury war nicht hier, um sich mit einem alten Freund zu treffen, sondern mit dem Freund eines alten Freundes, Sir Oswald Maples. Bei dem Freund eines Freundes handelte es sich um Mr Williamson, der den Champagner bestellt hatte. Oswald Maples hatte Jury gefragt, ob er Zeit für ein Gespräch erübrigen könnte, und Jury hatte gemeint: »Natürlich. Worum geht es?« Worauf Oswald nur erwidert hatte: »Sie werden schon sehen.« Jury schenkte sich noch einmal ein und trat an ein anderes Fenster zu einer anderen Aussicht auf die Themse.

»Meine Lieblingsaussicht«, sagte eine Stimme hinter ihm. Jury wandte sich um.

»Superintendent Jury? Tom Williamson. Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe.«

»Mir nicht«, erwiderte Jury und hob den Krug aus seinem Eisbett. »Sie werden feststellen, dass der hier schon ziemlich weit unter der Wasserlinie liegt.«

Tom Williamson lachte und schenkte sich selbst eine bescheidene Menge ein. Ein hochgewachsener Mann, ein ganzes Stück größer als Jury. »Zum Glück ist da ja noch jede Menge Meer.« Er erhob sein Glas, um Jury zuzuprosten. »Mögen Sie Schiffe, Superintendent?«

»Ich kenne mich nicht aus damit, weiß bloß, dass am Schiffsrumpf entlang eine Wasserlinie verläuft.«

Tom lächelte. »Ich liebe Schiffe. Mein Großvater war im Reedereigeschäft tätig. Früher lagen dort unten Dampfschiffe von der East India Company, beladen mit Gütern – Tee, Gewürzen –, bis zu tausend Schiffe fuhren zu den Docks. Und dazu die Frachtkähne. Heute haben wir Touristenschiffe und Rennboote. Immer noch viel Verkehr auf dem Fluss, aber eben nicht derselbe. Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.«

Der Dank schloss sich den Gedanken zum Flussverkehr ohne Pause an. Seine Art zu sprechen, die Direktheit, als wollte er keinerlei Zeit verschwenden, brachte Jury zum Schmunzeln. Williamson hatte noch nicht einmal seinen Mantel abgelegt, was er nun nachholte und ihn über einen der eisblauen amöbenförmigen Sessel warf.

»Interessante Bar, die Sie da ausgesucht haben«, sagte Jury. »Und denen, die ich dort unten frequentiere, um Lichtjahre voraus.« Er deutete zum Fenster, in die herannahende Dunkelheit. »Arbeiten Sie im Finanzdistrikt?«

»Nein. Von Finanzgeschäften habe ich keine Ahnung. Sie fragen sich, warum ich die hier ausgesucht habe?«

Jury lachte. »Ich will mich nicht beklagen, glauben Sie mir. In ganz London hat man von hier bestimmt die beste Aussicht.«

»Stimmt. Ich komme nicht oft hierher.« Er lehnte sich zurück. »Vielleicht habe ich sie deshalb gewählt, weil man hier oben buchstäblich über allem steht.« Er nahm einen kleinen Schluck Champagner.

Jury lächelte »Und was ist dieses ›alles‹?«

Williamson musterte ihn verblüfft.

»Über dem Sie stehen wollen?«

Williamson nahm eine Olive, die er aber nicht verspeiste, sondern auf eine der kleinen Papierservietten legte, die der Kellner gebracht hatte. »Sie kennen doch jemanden bei der Polizei von Devon und Cornwall. Einen Commander Macalvie?«

Jury war so überrascht über diesen plötzlichen Gedankensprung, dass er seinen Champagner verschüttete, zum Glück aber bloß über sich selber. »Verzeihung.« Er wischte es mit einem Serviettchen auf. »Brian Macalvie? Aber sicher. Es war aber Sir Oswald Maples, der mir von Ihnen erzählt hat …«

»Natürlich. Entschuldigung. Ich jongliere hier mit zu vielen Bällen.« Er griff nach der Flasche im Eiskühler und schenkte ihnen beiden nach. »Ich weiß nicht, wie viel Oswald Ihnen erzählt hat …«

»Nichts, außer dass Sie für die Codierungs- und Entschlüsselungsabteilung der Regierung gearbeitet haben, die GC & CS. Nicht, als er dort war, sondern später, nachdem es in Government Communications Headquarters umbenannt und nach Cheltenham verlegt worden war.«

Tom Williamson nickte.

Jury fuhr fort. »Sir Oswald weiß, dass ich eine Schwäche für dieses Zeug habe. Ich war mal in Bletchley Park, um mir die Enigma-Maschine anzusehen. Die haben Unglaubliches geleistet, Alan Turing und die anderen.«

Williamson sagte: »Oswald war während des Krieges in Bletchley Park. Und zwar richtig mittendrin, sehr hoch oben. Ich nicht ganz so hoch, meine Arbeit war im Vergleich dazu Kleinkram. Ihr Name fiel – das heißt, Sie kamen ihm in den Sinn, als ich ihn eines Abends in Chelsea besuchte. Es geht um meine Frau, Tess.«

»Ihre Frau?« Jury schaute über die Schulter, eine ziemlich dumme Geste, als rechnete er damit, hinter ihren Sesseln Tess vorzufinden.

»Sie ist tot.«

Irgendwie hatte Jury es schon geahnt, als er sich gerade suchend nach ihr umgesehen hatte.

»Vor siebzehn Jahren.« Er machte eine lange Pause, als würde er jedes einzelne abzählen. »Wir hatten – wir haben es immer noch – ein Haus in Devon, sehr groß, eigentlich zu groß für uns. Mit Wald, weitläufiger Gartenanlage, so in Stufen angelegt und im Stil ziemlich italienisch. Zu viel Arbeit, obwohl wir schon seit vielen Jahren einen Gärtner haben. Tess interessierte es eigentlich gar nicht, den Garten, wie man so schön sagt, wieder in seine alte Pracht zurückzuversetzen. Sie mochte seine ungestüme Wildheit. Tess hatte etwas Romantisches an sich.«

Inzwischen war es dunkel geworden, und entlang des Embankment und in Southwark auf der anderen Flussseite waren die Lichter angegangen. »Tess und ich haben uns in Norfolk kennengelernt, an der Küste. Wir haben uns immer gern die Hafenlichter angeschaut. Das ist noch ein Grund, warum ich diese Bar mag. Dort unten. Wie die Lichter angehen.« Er verstummte.

Jury wartete ab.

Tom räusperte sich und fuhr fort. »Ich sprach gerade von unserem Haus in Devon. Für mich war es bloß ein Riesengrundstück mit einem ungepflegten Rasen, wirren Kletterpflanzen, wild wucherndem Unkraut und verwitternden Bäumen.« Sein flüchtiges Lachen klang nicht glücklich. »Im Garten hinter dem Haus gab es – gibt es immer noch – zwei ausbetonierte Becken, früher waren es wohl mal Zierbecken, inzwischen sind sie leer. Und einen breiten Innenhof mit ausladender Steintreppe. Rings um den Hof und am Fuß der Treppe sind Pflanzvasen platziert.« Er wandte den Blick von der dunklen Themse, die sich dort unten in der Ferne wand. »Verzeihen Sie die detaillierte Schilderung, aber dort ist sie gestorben. Am Fuß dieser Treppe. Tess hatte gelegentlich Schwindelanfälle.«

Jury fand das Gesagte beunruhigend, weil er wusste, dass sich dahinter Ungesagtes verbarg.

»Sie ist offenbar …«

Jury sah, dass der andere Mühe hatte, nach dem »offenbar« etwas herauszubringen, und sagte es an seiner Stelle. »Gestürzt.«

Williamson nickte. »Und mit dem Kopf unten auf einem Steinsockel aufgeschlagen. Dem Podest für eine Steinvase. So eine Art griechische Urne.« Er holte eine Schachtel Silk Cuts aus der Tasche, steckte sich eine in den Mund, bevor ihm einfiel, Jury die Schachtel ebenfalls anzubieten, der, nachdem er die Zigarette eine halbe Ewigkeit angestarrt hatte, schließlich dankend ablehnte. Tom zündete sich seine mit einem billigen, schlichten Feuerzeug an, das er neben die Zigaretten auf den Tisch legte. Der Mann war offensichtlich wohlhabend, drückte dies jedoch nicht in silbernen Zigarettenetuis und Feuerzeugen aus.

Aus einer anderen Tasche nahm er ein Stück Papier, das vom vielen Zusammenfalten schon ganz abgegriffen war. »Hier ist ein Gedicht von T. S. Eliot, das sie so gern hatte. Das Buch hat ihr ein befreundeter Fotograf geschenkt. Es hört sich fast nach der Anleitung für eine Pose an, nicht wahr?« Tom lächelte zaghaft und las:

Stell an den höchsten Treppenabsatz dich –

Lehn dich an einen Gartenkrug –

Web, web dir in dein Haar das Sonnenlicht …

Er legte das Gedicht beiseite, griff in die Jackentasche und zog ein kleines Bild hervor, kaum mehr als ein Schnappschuss, aber auf Fotostudiopapier. Ein Porträt im Kleinformat. »Das ist Tess.«

Jury griff danach. »Die Pose ist wie in dem Gedicht, stimmt.«

»Ja, die Originalaufnahme habe ich zu Hause. Tess war hübsch.«

»Das ist eine Untertreibung, Mr Williamson.« Jury war plötzlich seltsam bekümmert zumute.

»Sagen Sie doch bitte ›Tom‹.«

»Wo sind Sie zu Hause? In Devon?«

»O nein, nicht in dem Haus in Devon, ich wohne in Knightsbridge. Das ist unser Londoner Domizil.«

Jury wandte sich wieder dem Problem zu oder was er jedenfalls dafür hielt. »Es gab doch bestimmt polizeiliche Ermittlungen. Was kam dabei heraus?«

Williamson zuckte achtlos die Schultern, als wäre es irrelevant. »Nichts. Offiziell hieß es: Todesursache ungeklärt. Es gab nicht genügend Beweise für die eine oder andere Festlegung.«

»Sie waren aber nicht dieser Meinung.«

Auftritt Brian Macalvie. Der war damals, vor siebzehn Jahren vermutlich Detective Inspector gewesen. »Hat Macalvie damals die Ermittlungen geleitet?«

Tom schüttelte den Kopf. »Zuständig war ein Chief Inspector Bishop, nein, Bishoff. Der war überzeugt, dass es ein Unfall war. Es gab natürlich Grund zur Annahme, dass es ein Unfall war, wegen der Schwindelattacken. Die Treppe war hoch.«

»Sie kannte aber jede Stufe.«

»Genau. Chief Inspector Bishoff meinte, Tess sei vermutlich über irgendetwas gestolpert, das auf den Stufen lag. So war es aber nicht. Nein, ich bin sicher, jemand hat es wie einen Unfall aussehen lassen.«

»Aber warum? Sie glauben also nicht, dass es etwas mit ihrer Neigung zu Schwindelanfällen zu tun hatte?«

»Nein.« Unruhig drehte er den Stiel seines Champagnerglases zwischen den Fingern hin und her. »Nein. Es war die Art, wie Tess dalag.« Er schaute zum Fenster hinüber.

Jury war sich sicher, dass es nicht London war, was er da hinter den Scheiben sah.

»Sie lag mit ausgebreiteten Armen da, die Blumen, die sie getragen hatte, verstreut.«

»Glauben Sie, es war eine Art Inszenierung? So wie die junge Frau in dem Gedicht?«

Tom las wieder ein paar Zeilen aus dem Gedicht, das immer noch auf dem Tisch lag:

Drück deine Blumen fest an dich mit schmerzlichem Erstaunen –

Wirf sie zu Boden, kehr dich ab von diesem Spuk,

Mit einem Anflug von Entrüstung in den Augen.

»Ein wenig sah es schon so aus.«

»Was ist mit diesem Fotografen?«

»Andrew Cleary. Sie nannte ihn Angel Clare, nach der Figur in Tess von den d’Urbervilles. Sie mochte Thomas Hardy sehr. Clare hatte mit ihrem Tod aber nichts zu tun, der war in Paris.«

Nach kurzem Schweigen sagte Jury: »Hätte Ihrer Meinung nach denn jemand einen Grund gehabt haben können, Ihre Frau umzubringen?«

Statt einer Antwort stand der andere auf und machte ein paar Schritte auf das Fenster zu.

Jury beschlich das seltsame Gefühl, dass Tom irgendwie wieder die Szene beim Tod seiner Frau betrat: wie er dort stand, als führte eine steinerne Treppe zur Old Broad Street hinunter. Dann drehte er sich um, nahm wieder Platz. »Es gab da einen Vorfall, fünf Jahre vor ihrem Tod ereignete sich etwas ziemlich Furchtbares. Sagte ich gerade ›Vorfall‹? Lächerlich! Es war mehr als das, es war auch ein Unglück, im selben Garten hinter demselben Haus …« Er rieb sich mit der Handwurzel an der Schläfe, wie um sich dadurch etwas ins Gedächtnis zu rufen.

»Tess hatte für ein paar Kinder ein kleines Fest gegeben in Laburnum. So heißt unser Haus in Devon. Sechs Kinder waren es. Tess mochte Kinder sehr, und wir hatten ja leider keine eigenen. Sie hat immer Kinderfeste veranstaltet, zu deren Geburtstagen, zu Feiertagen, sogar anlässlich von irgendwelchen obskuren walisischen oder schottischen Feiertagen, von denen die meisten Leute noch nie gehört haben …« Er bewegte die Schultern ganz unmerklich, als wollte er einen Mantel zurechtrücken. Als ob ihm kalt wäre.

»Jedenfalls« – fuhr er mit der Geschichte fort – »fiel während so eines Festes in Laburnum ein Kind namens Hilda Palmer in eins der ausgelassenen Becken. Betonbecken waren das, ziemlich tief. Die hätte man auffüllen oder einzäunen sollen, und Tess war ja auch dabei, das in die Wege zu leiten, hatte schon eine Firma in Exeter an der Hand. Es war nur leider noch nicht gemacht. Die Kinder hatte man natürlich angewiesen, dort hinten im Garten nicht zu spielen. Offenbar geriet Hilda aber beim Verstecken in die Nähe des Beckens, passte nicht richtig auf und fiel hinein.

Tess war im Haus, um den Kuchen und andere Sachen für die Party herzurichten. Irgendeines hatte Geburtstag. Sie hörte einen Schrei, Geräusche. Die Kinder hätten eigentlich vorne bleiben sollen – wie gesagt, es ist ein großes Haus, mit weitläufigem Garten und einem Wäldchen.

Sie lief nach draußen, um nachzusehen, bemerkte aber nichts. Sie ging die Treppe hinunter und schaute sich um, sah nichts, hörte nichts, bis sie an die ausgelassenen Becken kam. Dort lag Hilda, ein Häufchen auf dem Beckengrund, und rührte sich nicht. Tess sagte, sie habe sie für bewusstlos gehalten. Sie sprang ins Becken hinunter. Doch Hilda atmete nicht mehr. Sie war tot. Einfach so.«

»Wie schrecklich!«

Tom schloss kurz die Augen, schüttelte den Kopf. »Die Kinder sagten, sie hätten Verstecken gespielt und deshalb nicht gesehen, in welche Richtung die anderen gegangen seien. Hinter einen Baum, ins Labyrinth, zwischen die Büsche … sie waren überall verstreut.« Nervös griff er nach seiner Zigarettenschachtel und steckte sich wieder eine an.

Es war über zwanzig Jahre her, doch dem Mann zitterten immer noch die Hände. »Dass diese Hilda Palmer nicht aufgepasst hatte, war das die Schlussfolgerung der Polizei?«

Tom schüttelte den Kopf. »Das war die Erklärung von Tess. Keiner hatte etwas gesehen. Als sie feststellte, dass das Mädchen tot war, schrie sie um Hilfe. Elaine Davies, eine Freundin von Tess, und die Kinder kamen alle angerannt. Tess verständigte die Polizei, der Krankenwagen kam, die Ermittler mit ihren Teams trafen ein.

Um Ihre Frage zu beantworten: Die Polizei zog die Schlussfolgerung, dass Hilda Palmer umgebracht worden war, dass ihr jemand einen Schlag versetzt hatte, was zu dem Sturz führte. Überall war Blut. Tess hatte es an den Händen, auf dem Kleid. Der Gerichtsmediziner meinte, für den Sturz habe es keinen Grund gegeben, außer, das Kind hätte zu Schwindelanfällen geneigt. Laut Polizei war um die Becken herum nichts, worüber man hätte stolpern können …«

Jury schnaubte verächtlich. »Sie hätte über ihre eigenen Füße stolpern können, ins Leere.«

»Ich weiß. Aber so wurde argumentiert.«

»Wieso hätte jemand versuchen sollen, das Mädchen umzubringen?«

Tom schüttelte den Kopf. »Hilda war noch ein Kind, neun Jahre alt, aber sehr unbeliebt. Sie hat die anderen ganz schön drangsaliert. Schlimmer noch, sie hatte sogar die Erwachsenen gegen sich aufgebracht, weil sie anscheinend so eine Art hatte, Leute weiß Gott wie auszuquetschen, um es dann gegen sie zu verwenden.«

»Also Erpressung.«

Tom zuckte die Achseln. »So was in der Art.« Er zog die Champagnerflasche aus dem Eiskühler, sah, dass sie leer war, und schob sie wieder zurück. »Ich für meinen Teil hätte nichts gegen einen Whisky, und Sie? Oder noch Champagner?«

»Ein Whisky wäre nicht schlecht.«

»Welche Marke?«

»Suchen Sie einen aus.«

Tom winkte dem Kellner und bestellte einen Laphroaig 18.

Nicht das, was Jury ausgesucht hätte, aber das lag daran, dass er sich den nicht leisten konnte.

Kaum war der Kellner gegangen, fuhr Tom fort: »Bei der Feststellung der Todesursache gingen die Meinungen weit auseinander. Nicht alle glaubten, dass Hilda einen Schlag abbekommen hatte und dann ins leere Becken gestoßen worden war. Manche hielten es, so wie Tess es berichtet hatte, für einen Unfall. Dass die Kopfverletzung entstand, als sie auf dem harten Boden aufschlug. Dort unten liegen große Zementbrocken und auch große Steine herum.«

»Dann hätte es sich aber doch ganz anders abgespielt.«

»Laut Gerichtsmedizin nicht. Deren Standpunkt war in der Tat ein wenig verwunderlich. Beide Seiten hatten allerdings sehr gute Beweise dafür, wie sie zu ihren Schlussfolgerungen gekommen waren. Am Ende blieb die Todesursache ungeklärt. Das Beweismaterial war nicht schlüssig genug.«

»Tess hat das alles heftig zugesetzt.« Er wandte sich zu Jury hinüber. »Schließlich war sie diejenige, die als Täterin in Frage gekommen wäre – und angeklagt wurde sie auch so, von der Mutter des Mädchens. Sie machte Tess für den Tod ihrer Tochter verantwortlich. Schließlich hatten sich die Kinder auf ihrem Grundstück aufgehalten, waren in ihrer Obhut gewesen. Sie hätte sie nie in die Nähe dieser uneingezäunten Becken lassen dürfen. Gott, wie hat Hildas Mutter sie angefahren. Die war völlig außer sich, musste mit Gewalt zurückgehalten werden. Es lässt sich natürlich mit ihrem Kummer erklären. Aber ihr Hass auf Tess hörte nie auf.«

Der Kellner erschien und stellte ihnen die beiden Drinks hin, bot Snacks an, die sie aber ablehnten.

Jury nahm einen Schluck von dem teuren Whisky. »Könnte es vielleicht sein, dass diese Mutter Ihre Frau umgebracht hat?«

»Es war fünf Jahre später, ich weiß. Ein bisschen lang für Rache.«

»Hamlet hat es auch geschafft. Hatte die Frau während dieser fünf Jahre mal versucht, Kontakt zu Tess aufzunehmen?«

»O ja, mehrmals.«

»Dann hat die Polizei in Devon die Palmer als mögliche Verdächtige eingestuft?«

Tom schüttelte den Kopf. »Der Chief Inspector war überzeugt, dass Tess’ Tod ein Unfall war. Wegen ihrer Schwindelanfälle. Tess fiel ständig hin, blieb mit dem Absatz am Randstein hängen oder auf unebenem Pflaster, verschätzte sich in den Stufen, wenn sie die Treppe hinunterging – solche Sachen. So wie sie diese Treppe hinuntergefallen ist, wie sie mit dem Kopf am Sockel der Pflanzvase aufschlug – das alles schien auf einen Unfall hinzudeuten.«

Sie schwiegen einen Augenblick. Dann sagte Jury: »Hatten Sie sich gedacht, dass ich etwas für Sie tun könnte, Tom?«

»Ja. Als ich mit Oswald redete, sagte er, ein guter Freund von ihm sei Superintendent bei New Scotland Yard. Das brachte mich auf eine Idee … Nun, ich verstehe aber natürlich, falls Sie es nicht …« Tom Williamson rieb sein Handgelenk an der Stelle, wo die Armbanduhr hätte sein sollen.

Jury fragte sich, was aus ihr geworden war. »Falls ich was nicht …?«

»Es bei Commander Macalvie ansprechen wollen.«

»Sie meinen, ihn dazu bringen, den Fall wieder aufzurollen? Das wäre etwas – unorthodox, meinen Sie nicht? Dass jemand in meiner Position sich bei jemandem in seiner Position einmischt?« Ganz zu schweigen davon, dass es höchst unangemessen wäre, jeglichen Gepflogenheiten von polizeilichem Prozedere widerspräche, eine Ordnungswidrigkeit darstellen und vermutlich gegen die Krone verstoßen würde. Jury konnte es kaum erwarten, ihn anzurufen.

»Richtig. Verzeihen Sie. Ich weiß, es ist eine Schnapsidee.« Tom Williamson kippte den Rest seines Whiskys hinunter.

»Ganz und gar nicht. Ich kann mir gut vorstellen, wie schwer diese Ungewissheit für Sie sein muss.« Wie viele Gemeinplätze hatte Jury eigentlich noch auf Lager? »Aber nein, ich habe nichts dagegen, Mr Macalvie die eine oder andere Frage zu stellen. Er ist ein Freund von mir.«

Tom sah aus, als hätte man ihm soeben den Finanzdistrikt da unten zu Füßen gelegt. »Das wäre wirklich sehr freundlich von Ihnen.«

»Aber hören Sie: Wenn die Polizei die Ermittlungen zum Tod Ihrer Frau doch wieder aufnimmt und sich herausstellt, dass es Mord war, was dann? Was würden Sie dann tun?«

Tom überlegte einen Augenblick. »Na, dann sollte ich mir wohl einen Anwalt besorgen.«

Jury musterte ihn verblüfft.

Tom lächelte ironisch. »Weil ich dann der Hauptverdächtige wäre. Meine Frau war sehr wohlhabend.« Er zog die leere Flasche Krug aus dem Eisbett. »Die Sorte von wohlhabend.«

Mit einem Anflug von Lächeln versetzte Jury: »Als Hauptverdächtiger hätten Sie doch wohl ein Alibi, oder?«

»Ich war in London. Genauer gesagt, auf Besuch bei Oswald.«

»Das müsste reichen.« Jury stellte sein Glas hin.

»Wohin gehen Sie von hier aus, Superintendent?«, wollte Tom unvermittelt wissen.

»Ich? Nirgendwohin. Nach Hause in meine Wohnung. Ich wohne in Islington.«

Tom hatte bereits sein Handy hervorgezogen und sagte: »Würden Sie mich einen Moment entschuldigen, während ich kurz telefoniere?«

»Selbstverständlich.« Jury freute sich, hier oben auf dem Tower 42 allein zu sein und über ein London zu blicken, das für ihn momentan unzugänglich war. Er stand auf, um näher ans Fenster zu treten. Tess Williamson, vermutete er, hätte nur unter großen Ängsten so auf London hinunterblicken können.

Tom Williamson war wieder da, setzte sich hin, griff nach seinem Drink. Jury gesellte sich zu ihm.

»Ich habe meine Verabredung zum Abendessen abgesagt. Würden Sie gern mit mir essen gehen? Ich dachte ans Zetter in Clerkenwell. Das ist in der Nähe von Islington, also nicht zu umständlich für Sie, nach Hause zu kommen. Kennen Sie es?«

Im Zetter war er Lu Aguilar begegnet. Sie war damals Detective Inspector bei der Polizei von Islington gewesen. Und jetzt war sie, nach einem schrecklichen Autounfall und dessen Nachwirkungen in Gestalt eines wochenlangen Komas, wieder zu Hause in Brasilien. Das Bewusstsein hatte sie zwar wiedererlangt, aber dieses Bewusstsein verriet ihr nicht viel. Jury war für sie ein Fremder.

»O ja, das kenne ich.«

Jurys Wohnung, IslingtonMontag, 22.00 Uhr

2. Kapitel

»Nach Devon?«, fragte Carol-Anne Palutski, Jurys Nachbarin von oben, die gegenwärtig unten auf seinem Sofa saß und ein Hochglanzmagazin mit dem Titel Hair Today durchblätterte. Sie schleuderte es beiseite, augenscheinlich weil ihr darin nichts besser gefiel als das, was sie selber schon hatte.

»Der Plan war doch, dass Sie nach Northants fahren und Ihren Kumpel besuchen.« Als ob sie den Plan gemacht hätte!

Jury war dabei, diverse Kleidungsstücke in eine Reisetasche zu stopfen, und begutachtete gerade eine Krawatte oder vielmehr eine Auswahl an Krawatten, die er über seinen Polstersessel ausgebreitet hatte. Alle sahen gleich aus, so wie für Carol-Anne alle Frisuren gleich ausgesehen haben mussten. Die Krawatten begutachtete er bloß deshalb, weil Carol-Anne hartnäckig behauptet hatte, »draußen auf dem Lande« würde er so ein Kleidungsstück doch gar nicht brauchen.

»Northampton ist eigentlich nicht da draußen auf dem Lande.«

Dies war der Frage »Nach Devon?« vorausgegangen.

»Ich fahre bloß für ein bis zwei Tage nach Northants und dann nach Devon. Nach Exeter.«

Carol-Anne betrachtete Jury nun weitaus aufmerksamer als vorhin ihr Hair Today. »Ihnen ist aber schon klar, dass Devon auf der andern Seite von England liegt, oder? Das sind Meilen.«

»Meilen«! Das sprengte ihre Vorstellungskraft in Bezug auf Entfernungen gewaltig. Trotzdem freute er sich über ihre rudimentären Erdkundekenntnisse. Bisher hatte er eigentlich geglaubt, sie käme mit dem Finger auf der Landkarte nicht über Clapham Common hinaus. »Von London nach Exeter sind es hundertsiebzig Meilen«, bemerkte Jury.

»Sag ich ja.« Die Zeitschrift war plötzlich wieder auf ihrem Schoß und ihr Kopf darüber gebeugt, wobei sich im Schein der Lampe ihr Haar in all seiner flammenwerfenden Pracht offenbarte.

»Vielleicht nehme ich meinen Kumpel ja mit.«

»Den? Den gewesenen Lord Ardry?«

Gütiger Gott, wo hatte sie eigentlich diese obskure ihr-da-oben-wir-da-unten Ausdrucksweise aufgeschnappt?

»Glauben Sie etwa, der gewesene Lord Ardry fährt nicht im Auto?« Jury widmete sich einen Augenblick der Vorstellung, die hundertsiebzig Meilen mit Melrose Plant zuzubringen. Bestimmt würden sie unterwegs an jedem Little-Chef-Schnellrestaurant Halt machen. Plant war genauso schlimm wie Wiggins – nein, schlimmer. »Mr Plant ist ein Kumpel von Commander Macalvie, meinem Kumpel in Exeter.«

»Dann sind Sie ja alle miteinander verkumpelt. Sie und der und die Polizei von Devon.«

»Korrekt. Die vereinigte Polizei von Devonshire und Cornwall.«

»Klingt nach einer heißen Truppe.«

Der Ausdruck gefiel Jury. Den würde er Macalvie nicht vorenthalten. »Ja, nicht?«

»Ich vermute mal, der will Sie dazu kriegen, dass Sie bei denen einsteigen.«

Jury, der gerade einen Pullover in die Tasche stopfte, hielt inne, verblüfft über ihre Vorahnung. Eben dieses führte Macalvie nämlich seit einigen Jahren immer wieder im Schilde.

Carol-Anne beschloss, sich aufs Sofa zu legen, und streifte dazu ihre Riemchensandalen ab. »Hm, Sie wollen London aber doch nicht etwa verlassen.« Und mich dazu.

»Doch. Sieht ganz danach aus, als wollte ich London verlassen.« Und dich dazu.

Auf dem Beistelltischchen klingelte das Telefon.

Sie sagte: »Das ist wahrscheinlich diese Dr. Nancy.«

Er hatte schon nach dem Hörer greifen wollen und hielt inne. »Wie kommen Sie darauf?«

»Weil die schon mal angerufen hat, kurz bevor Sie reinkamen. Haben Sie denn Ihre Nachrichten nicht gelesen?«

Das Telefon surrte immer noch.

Jury beugte sich über sie. »Carol-Anne, ich bin jetzt seit einer Stunde hier. Warum haben Sie mir das denn nicht gleich gesagt?«

»Ich soll doch alles aufschreiben …«

Brrr, brrr!

»Was hatten Sie überhaupt in meiner Wohnung zu schaffen?«

Sie schmiss die Zeitschrift auf den Boden. »Na toll! Ich hab Ihnen heute früh doch gesagt, ich würde kommen und Ihnen was Schönes zusammenbrutzeln …«

»Ist denn schon was zusammengebrutzelt?« Jury schnüffelte theatralisch.

Brrr!

Er schnappte sich den Telefonhörer.

Aufgelegt. Verdammt! Wieso leistete er sich bloß diese dämlichen Streitereien mit Carol-Anne?

»Sehen Sie, jetzt ist Ihnen auch noch Ihr Anruf durch die Lappen gegangen.« Hocherfreut über die tote Leitung griff sie wieder nach Hair Today.

Jury ließ sich in den Sessel plumpsen. Heute Hair – morgen fort.

Heiße Truppe.

Ardry EndDienstag, 12.00 Uhr mittags

3. Kapitel

Der erste Mensch, den Richard Jury am folgenden Morgen beim Aussteigen aus dem Auto erblickte, war Mr Blodgett, Melrose Plants hauseigener Eremit. In der hintersten Ecke des weitläufigen Anwesens von Ardry End stand das, was Melrose Plant hartnäckig als Eremitage zu bezeichnen pflegte. Ein ähnliches Konstrukt aus Stein und Flechtwerk hatte Melrose auf den Seiten von Country Life gesehen: Bei einer Anzeige für eine protzige, überteuerte Immobilie, ein großes Anwesen im Stil des 18. Jahrhunderts, war auch so ein kleiner Steinbau auf dem Grundstück abgebildet gewesen.

Im stilechten Stein-und-Flechtwerk der damaligen Zeit hielten sich alle feinen Leute ihren Eremiten, hatte Melrose irgendwo gelesen, ohne sich über die Feinheiten jedoch weiter auszulassen. Er wollte einen aber ausdrücklich zum Behufe eremitenhaften Herumstreunens. Der sollte mit wildem Blick und ein bisschen gefährlich aussehend unvermittelt an Fenstern auftauchen, wenn seine Tante Agatha drinnen gerade Scones mit Erdbeerkonfitüre und Sahne futterte und Sherry becherte. Damit wollte Melrose sie erschrecken.

Die Stellung war gut dotiert. Melrose Plant dotierte immer gut.

Wenn Sie eines nicht sind, hatte Jury einmal zu ihm gesagt, dann ein Geizkragen. Das Kompliment war bei Melrose nicht gut angekommen, der wissen wollte, was denn seine anderen Eigenschaften waren, die Jury verschwieg.

In der Ferne stand Mr Blodgett und winkte ihn zu sich herüber.

Jury winkte zurück und machte sich auf den langen Marsch zu der Stelle, wo Mr Blodgett neben seiner Eremitage stand.

Ursprünglich hatte Mr Blodgett Bart und langes Haar getragen sowie das einem Eremiten geziemende ungepflegte Äußere. Letzthin hatte er Haare und Bart abgeschnitten und sich ganz allgemein etwas aufgehübscht. Jury sah, dass die Eremitage ebenfalls aufgehübscht worden war, denn offenbar gab es nun einen Anbau. Beim Näherkommen konnte er erkennen, dass es sich um einen von fliegengitterbespannten Stellwänden umgebenen Raum handelte, eine Art Sonnenveranda.

»Mein Florida-Raum, Mr Jury«, verkündete Mr Blodgett. »Hab ich mir selber eingerichtet. Komm’ Sie nur rein, schaun sich um.« Mr Blodgett hielt ihm die Fliegengittertür auf.

Für Jury war die Decke etwas niedrig, für den kleinwüchsigen Mr Blodgett aber gerade recht. Jury überlegte, wo um alles in der Welt er die Verandamöblierung aufgetrieben hatte: zwei Sessel und ein Sofa, die um einen Tisch mit Glasplatte gruppiert standen. Die Kissen trugen ein Kokospalmenmuster.

»Mr Blodgett, das ist ja sehr, sehr ansehnlich. Und das haben Sie alles selber gemacht?«

»Alles selber. Wär ja ganz nett, wenn ich ’ne Glotze hätte, aber hier draußen is natürlich kein Stromanschluss gelegt.«

»Dann kommen Sie also mit Ihren Öllämpchen aus?« In der Tischmitte stand eines. »Und mit Kerzen.« Eine ganz dicke stand auf einem Metalltischchen, das vermutlich nicht zum Veranda-Ensemble gehörte. »Und drinnen haben Sie ja einen Holzofen, stimmt’s?« Jury deutete mit dem Kopf zur eigentlichen Eremitage hinüber.

Mr Blodgett nickte, nahm dabei die Schirmmütze ab, kratzte sich sinnierend am Kopf und setzte die Mütze wieder auf. Jury war sich nicht sicher, meinte aber, die stark ausgebleichten, ineinander verschlungenen Buchstaben MU erkennen zu können.

»Wenn Sie Fan von Manchester United sind«, meinte er lächelnd, »dann brauchen Sie ja unbedingt eine Glotze.«

Daraufhin nahm Mr Blodgett seine Mütze ab und drehte sie zwischen den Händen, als spräche er zu seinem Lehnsherrn. »Äh, ich glaub nich’, dass Lord Ardry das gern säh, Strom in der Eremitage. Na ja, kamma ja verstehn …«

Jury lächelte bloß und dachte bei sich, nein, kann ich nicht verstehen. Wenn man sich schon einen Eremiten zulegte, dann würde man doch auch jede noch so bescheuerte Idee unterstützen. Jury wollte sich gerade in diesem Sinne äußern, als er plötzlich ein kurzes Bellen vernahm. Er drehte sich um und sah den Hund Joey auf sich zubrettern, dazu Melrose Plant (alias Lord Ardry), der sich in weitaus gemächlicherem Tempo näherte.

»Joey!«, rief Jury.

Der Hund sprang mehrmals an ihm hoch, umkreiste ihn und rannte dann davon, aber nicht auf Melrose zu, um den er sich offenbar nicht die Bohne scherte, sondern in Richtung Scheune, wo Aggrieved und Aghast wohnten, Melrose’ Pferd und Ziegenbock.

Jury hatte Joey damals fast verhungert in einem Türeingang in Clerkenwell gefunden, ihn zum Tierarzt gebracht und später in ein Tierheim, wo er ihn, noch später, wieder abgeholt und mit nach Northamptonshire genommen hatte. Das Mädchen bei True Friends, Joely hieß sie, hatte ein altes Halsband aufgetrieben, mit einem Metallschildchen, auf dem der Name JOE eingraviert war. Jury war von der jungen Frau so beeindruckt, dass er fand, der Hund sollte nach ihr benannt werden. Also einigten sie sich darauf, dem Joe ein y anzufügen, so dass es »Joey« hieß.

Der Hund, hatte sie gesagt, sei ein Appenzeller Sennenhund und brauche viel Auslauf und Luft. Es sei ein Arbeitshund, der Herden zusammentrieb – Schafe und Ziegen.

Weil es in Jurys Zweizimmerwohnung wohl kaum Auslauf und frische Luft und außer Carol-Anne auch nichts zusammenzutreiben gab, war ihm die Idee gekommen, Joey nach Ardry End mitzunehmen und so zu tun, als wäre der Hund just von selber dort aufgetaucht. Ein »entlaufener«, herrenloser Hund, was auch immer. Joey war schnurstracks auf die Scheune und den Ziegenbock zugesteuert. Ein Ziegenbock (so vermutete Jury) war besser als keiner.

Dergestalt musste der »entlaufene« Hund nun mit einem Namen versehen werden. Im Jack and Hammer beachtete keiner auch nur im Geringsten Jurys Einwände, dass »der Name des Hundes doch da auf dem Halsband steht: Joey«.

»Aggro!«, rief Melrose das Tier. Der Hund tat, als würde es ihn nichts angehen.

»Er heißt Joey«, versetzte Jury zum x-ten Male, während sie eine Runde durch den »Florida«-Raum drehten, bevor sie ins Haupthaus zurückkehrten.

Melrose ignorierte den Einwurf wie üblich. »Freut mich ja, dass Sie rechtzeitig zum Mittagessen da sind. Heute ist Soufflé-Tag. Kommen Sie.« Er wandte sich an Mr Blodgett. »Ruthven wird Ihnen Ihres dann auch gleich bringen, Mr Blodgett.«

»Blodgett kriegt Soufflés?«

»Natürlich. Sagte ich doch: Heute ist Soufflé-Tag. Zum Frühstück hatte ich Rühreisoufflé. Köstlich!«

»Was gibt’s zum Mittagessen?«

»Tomatensuppensoufflé, Käsesoufflé und zum Nachtisch Schokoladensoufflé. Mögen Sie kein Soufflé?«

Sie hatten nun die Auffahrt erreicht, wo Jury seinen Wagen abgestellt hatte.

»Selbstverständlich, aber wie zum Teufel macht man damit eine Suppe?«

»Keinen Dunst. Brauchen Sie Hilfe mit Ihrem Gepäck?«

»Nein.« Jury sah ihn schief an und zerrte seine Reisetasche aus dem Kofferraum.

»Gehen wir etwa zelten? Soll ich meinen Schlafsack holen?«

»Diesen todschicken von Beamo? Wieso nicht?«

Sie schritten die breite Treppe hinauf und in den Soufflé-Tag hinein.

Das Tomatensuppensoufflé hatte sich als cremige Tomaten-Basilikum-Suppe entpuppt, auf der ein rosafarbenes gebackenes Eiweißbällchen schwebte. Danach gab es Soufflé von Käse, dann von Schokolade. Dann Kaffee und Brandy.

Während sie alsdann die Auffahrt hinuntergingen, meinte Jury: »Ich könnte gleich noch mal von vorne anfangen. Was gibt’s zum Abendessen?«

»Nun, in diesem Stadium verliert Martha immer die Puste, daher wird es zum Abendessen gewöhnliches Roastbeef oder so was Ähnliches geben, zum Nachtisch aber ein Grand-Marnier-Soufflé.«

»Hab ich nichts dagegen.« Unten an der Auffahrt blieben Jury und auch Melrose stehen, um zuzuschauen, wie Ruthven, Mr Blodgetts Soufflé in der Hand, gravitätisch über die Rasenfläche schwebte.

»Wie kommt Ruthven sich eigentlich dabei vor, einen Eremiten zu bedienen?«

»Ach, Sie kennen ja Ruthven, den schmeißt so schnell nichts um. Der würde, wenn er darum gebeten wird, auch den verrückten Hutmacher mit seiner Teegesellschaft bedienen. Den aus Alice im Wunderland.«

Sie setzten ihren Spaziergang fort, hielten an, als sie die Northampton Road erreichten, die, wenngleich nicht berühmt für Raser, gelegentlich immer noch als Teststrecke für Motorradbanden fungierte, die offenbar versessen darauf waren, sie in die Rennstrecke von Le Mans zu verwandeln.

»Sie sollten da hinten einen Stromanschluss legen lassen.« Jury neigte den Kopf in Richtung weite Rasenfläche und Eremitage.

»Was? Blodgett soll gefälligst ein Eremitendasein führen. Eremiten schreiben im Kerzenschein religiöse Traktate. Nächstens behaupten Sie noch, der braucht einen Fernseher.«

»Tut er auch.«

Das ignorierte Melrose und ging weiter. »Dann fahren Sie morgen also nach Exeter? Grüßen Sie Brian Macalvie von mir.«

»Mach ich.« Beim Mittagessen hatte Jury ihm vom Tod von Tess Williamson berichtet. »Ihr Ehemann will, dass ich mir das Haus ansehe, Laburnum.«

»Lateinisch für Goldregen. Ein Name also, der auf Gift hindeutet. Wenn es mir gehören würde, ich würde ihn ändern.«

»Da bin ich mir sicher. Sie ändern ja ständig Ihren Namen.«

»Sehr witzig.«

Jack and HammerDienstag, 14.00 Uhr

4. Kapitel

»Ich hab’s«, sagte Trueblood. »Agape.«

»Sie meinen«, sagte Joanna Lewes, »a-ga-pe, drei Silben, das ist Griechisch und bedeutet ›Frieden und Liebe‹! Oder so ähnlich!« Sie runzelte die Stirn.

»Nein, ich meine a-gape – wenn einem das Maul offen steht.« Als er allseits kritische Blicke erntete, sagte Trueblood: »Meine Güte, schauen Sie ihn sich doch an. Der sitzt doch die ganze Zeit schon mit offenem Maul da.«

Nun wandten sich die Blicke dem leise hechelnden Hund zu, den Diane Demorney unerklärlicherweise vor ihrer Haustür gefunden hatte. Er saß tatsächlich schon die ganze Zeit mit offenem Maul da, die Zunge leicht nach links hängend.

Vivian Rivington sagte: »Der Hund gehört aber doch gar nicht zum Hausstand von Melrose. Also müssen wir auch die Ag-Regel nicht befolgen, wo jeder Name mit Ag anfängt.«

»Ich habe sogar noch eine bessere Idee«, ging Richard Jury dazwischen und stellte sein Adnams auf den Tisch. »Wir könnten ihn Stanley nennen. Der Name Stanley steht nämlich auf seinem Halsband.« Da stand er tatsächlich, eingraviert in ein Namensschildchen aus Messing, auf einem braunen Lederhalsband. Eine lederne Leine gab es auch, die nun vom Halsband abgeschnallt über Dianes Stuhl drapiert hing.

»Stanley! Das ist doch ein absurder Name für diesen Hund«, meinte Trueblood. »Das ist ein Staffordshire Bullterrier.«

»Marshall hat recht«, sagte Diane. »Das passt überhaupt nicht zu ihm. Er ist eher ein … Tony. Was ist mit Tony?«

»Und der Name auf seinem Halsband?«, versetzte Jury.

»Hm. An-ton-i-o!«, sagte Trueblood mit gekünsteltem italienischem Akzent. »Nicht schlecht.«

Stanley würdigte ihn keines Blickes, sondern hechelte leise weiter.

Jury sagte: »Soll ich Ihnen mal verraten, was ich am interessantesten finde an diesem irrwitzigen Wahn, entlaufenen Hunden einen Namen zu verpassen? Wir sind uns doch einig, dass der Hund irgendwo weggelaufen ist?«

Melrose seufzte. »Wird das jetzt eine von Ihren sokratischen Erörterungen, wo Sie eine Reihe von Fragen stellen, auf die es von Haus aus bloß eine Antwort gibt?«

Jury ignorierte ihn und fuhr fort: »Interessant ist, dass keiner, nicht einer von Ihnen den Versuch unternommen hat, seinen Besitzer ausfindig zu machen.«

Diane Demorney, die ihren Nach-Mittagessen-Martini trank, ohne Eis und mit Zitronenschalenkringel, ließ ihn auf dem Weg zum Mund in der Luft verharren. »Wie bitte? Natürlich habe ich nach dem Besitzer gesucht – um meine Vordertreppe herum und den Gehweg entlang. Ich bin von meiner Tür direkt auf die Straße hinunter, habe mich umgeschaut und keine Menschenseele gesehen. Und während Tony und ich spazieren waren, habe ich die Straße abgesucht, beide Seiten …«

»Er heißt Stanley.«

»… auf unserem Weg hierher.« Diane deutete auf den Fußboden im Jack and Hammer.

Inzwischen war Mrs Withersby, die Putzfrau im Pub, in ihren Filzpantoffeln angeschlurft gekommen, stand mit ihrem Wischmopp da und hörte zu. Sie hatte sich eine bei Marshall Trueblood geschnorrte Zigarette hinters Ohr geklemmt.

»Tony«, sagte Trueblood. »Wissen Sie, das ist gar nicht schlecht. Ja, ich würde sagen, das passt sogar ziemlich gut zu ihm, aber, mein Gott, wenn wir bei Namen carte blanche haben, dauert das ewig. Wenn keine Beschränkungen gelten. Nein, ich finde, wir sollten uns an die Regeln halten. Es sollte mit Ag beginnen.«

Woraufhin Mrs Withersby sich vernehmen ließ: »Agony. Wie wär’s mit Agony. Die überkommt mich immer, wenn ich Sie alle seh.«

Lachend rief Jury zu Dick Scroggs in den Schankraum hinüber: »Dick, schenken Sie Mrs Withersby ein, was sie gern hätte.«

»Withers, Sie haben ja einen erstaunlichen Wortschatz!«, staunte Trueblood.

Dick rief zurück, die sei »im Dienst«, was aber niemand beachtete, vor allem nicht Mrs Withersby selbst. Wischmopp und Eimer hinter sich herziehend bedankte sie sich bei Jury und machte sich in Richtung Schankraum auf der anderen Seite des Türbogens davon.

Melrose deklamierte:

Die Alte kam, das Hexenweib,

Dass es sein Scheuerwesen treib’.

Sie war einst jung und schön von Leib.

Diane musterte ihn bewundernd. »Das ist ja recht gut, Melrose. Haben Sie sich das hier einfach mal eben so ausgedacht?«

»Nein, das hat sich Robert Frost in New Hampshire einfach mal eben so ausgedacht.« An Jury gewandt, der sich gerade von seinem Stuhl erhob, sagte er: »Liebe Zeit, Sie wollen doch nicht etwa gehen?«

»Will mal sehen, ob ich irgendwelche Informationen auftreiben kann.«

»Informationen? Worüber denn?«

»Über Stanley natürlich.« Er schaute auf den Hund hinunter. Der schaute zu ihm hoch, als wollte er sagen: Wer sind diese Leute?, gefolgt von: Und wieso holen Sie mich nicht hier raus? Was keine Veränderung seines Gesichtsausdrucks zeitigte, sondern eine Intensivierung.

»Wo sitzt hier Ihre Tierschutzbehörde?«, erkundigte sich Jury.

»Hier nicht«, sagte Joanna. »Ich glaube, in Northampton ist was, ein Tierasyl. Oder Tierheim.«

Weder das eine noch das andere hatten sie sich die Mühe gemacht zu kontaktieren. Jury trat durch den Türbogen in den Schankraum hinüber, wo Mrs Withersby ihren doppelten Whisky erhob, mit (wie bei dem Hund vorhin) schwer zu interpretierender Miene: Dankte sie ihm nun für den Drink, oder wollte sie nachgeschenkt haben?

Er hielt sein Handy in die Höhe, sah, dass es keinen Saft mehr hatte. »Batterie ist leer. Dick, kann ich mal Ihres benutzen?«

Dick Scroggs schob ihm das Haustelefon hin. »Ich hasse die Dinger. Immer is der Wurm drin, in meinem jedenfalls.«

Jury deutete auf das Telefonbuch neben den aufgereihten Flaschen, das Dick ihm daraufhin reichte. Dann deutete Jury auf Mrs Withersbys Glas. »Noch einen, Dick.«

Dick trat ans andere Ende der Theke, um ihr Glas einzusammeln. Jury fand es toll, dass Dick seine Putzfrau wie einen Gast behandelte.

Er hatte die Nummer gewählt und landete beim Tierasyl Crawley irgendwo in Northampton. Der Frau, die sich gemeldet hatte, gab er Auskunft über den Staffordshire: wo er aufgetaucht war, den Namen auf dem Halsband und die ungefähre Uhrzeit, zu der Diane den Hund gefunden hatte.

»Trägt der Hund einen Chip?«

Was für eine idiotische Frage! Wenn es so leicht wäre, würde er dann fragen? »Sie meinen, etwas unter die Haut Eingepflanztes zur Identifizierung?«

»Ja.«

»Weiß ich doch nicht! Ich hatte noch keine Zeit, eine kleine Operation durchzuführen, um zu sehen, ob er da was hat oder nicht.«

Dick Scroggs kicherte und rieb weiter seine Gläser blank.

»Kommen Sie mir bitte nicht so.«

»Na, anscheinend aber doch, Madam. Sie haben nämlich als Erstes weder nachgeschaut, ob kürzlich jemand wegen eines vermissten Staffordshire-Terriers angerufen hat, noch im Computer nachgeforscht oder jemanden gefragt, sondern sich stattdessen bei mir nach Informationen erkundigt, die ich unmöglich haben konnte, da ich ja schließlich nicht der Besitzer des Hundes bin. Der Hund ist uns zugelaufen. Ich habe Ihnen sämtliche Informationen gegeben, die ich habe: die offensichtliche Rasse des Hundes, Farbe und Größe, eine Beschreibung des Halsbands und den Namen darauf. Ich bin Superintendent bei Scotland Yard. Ich habe nicht alle Zeit der Welt, und die wenige, die ich habe, die verplempern Sie hier. Also, wenn Sie nicht in der Lage sind, mir eine Antwort zu geben, die mir außerordentlich simpel erscheint, dann komme ich mit meinem Dienstausweis und zwei Kollegen vorbei und schau mir mal an, wie Ihr Laden geführt wird.«

Noch wurde dem Ausdruck »Totenstille« bislang nicht genügend Aufmerksamkeit gezollt. Am anderen Ende der Leitung öffnete sich ein schwarzes Loch und saugte sie allem Anschein nach auf.

Mrs Withersby patschte laut keckernd auf die Theke.

ENDE DER LESEPROBE