Inspektor Jury und die Tote am Strand - Martha Grimes - E-Book

Inspektor Jury und die Tote am Strand E-Book

Martha Grimes

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Beschreibung

Der Polizist Brian Macalvie wird an den Strand einer kleinen Insel in Cornwall gerufen. Eine französische Touristin liegt erschossen im Sand – und die einzigen Spuren in der Nähe gehören den beiden kleinen Mädchen, die sie gefunden haben. Macalvie ist ratlos und beschließt, Richard Jury um Hilfe zu bitten. Dieser macht derweil Bekanntschaft mit einer Legende: Der ehemalige Detective Tom Brownell ist berühmt dafür, jeden Fall lösen zu können. Als kurz darauf zwei weitere Morde geschehen, beginnen die drei Ermittler fieberhaft nach einer Verbindung zwischen den Opfern zu suchen ...

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Buch

Eine schöne Frau liegt tot im Sand, die Wellen umspielen ihren leblosen Körper. Zwei kleine Mädchen haben sie in einer abgelegenen Bucht entdeckt. Der zuständige Ermittler Brian Macalvie inspiziert den Tatort auf der einsamen englischen Insel Bryher. Doch Wind und Meer haben längst alle Spuren verwischt. Seit Stunden hat kein Boot die Insel verlassen, der Mörder muss sich also noch dort aufhalten. Eine französische Touristin soll sie gewesen sein, erfährt Macalvie von den Gästen des einzigen Hotels weit und breit. Doch niemand will sie gekannt haben, und es gibt keinerlei Hinweis auf ein mögliches Mordmotiv. Macalvie ist ratlos.

Nur zwanzig Meilen entfernt auf Land’s End genehmigt sich Inspektor Richard Jury unterdessen im Pub »Old Success« einen Drink mit dem ehemaligen Detective Tom Brownell, einer Legende der Londoner Kriminalpolizei. Brownell ist für seine lückenlose Aufklärungsrate berühmt – besser gesagt: fast lückenlos. Er gesteht Jury, dass es einen Fall gab, den selbst er nicht lösen konnte.

Als Macalvie beschließt, Jury hinzuzuziehen, und ihn direkt aus dem Pub an den Tatort beordert, heftet sich unversehens auch Tom Brownell an ihre Fersen. Doch noch ahnt keiner der drei etwas von der Verbindung zwischen der Toten am Strand und Brownells persönlichstem Fall …

Weitere Informationen zu Martha Grimes sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

MARTHA GRIMES

Inspektor Jury und die Tote am Strand

Ein Inspektor-Jury-Roman Band 25Aus dem Amerikanischen von Cornelia C. Walter

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Old Success« bei Atlantic Monthly Press, an imprint of Grove Atlantic, New York. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung April 2020

Copyright © der Originalausgabe 2019 by Martha Grimes

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Das vorangestellte Gedicht stammt von Emily Dickinson, Sämtliche Gedichte, herausgegeben von Gunhild Kübler, 2015, Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München, Seite 175. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München; shayes17 / E+ / Getty Images; mauritius images / nature picture library / Merryn Thomas

Redaktion: Ulla Mothes

AKS · Herstellung: Han

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-23912-1V001

www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Willkommen in Inspektor Jurys Welt – ein kurzes Who’s who

Im Mittelpunkt des Geschehens steht zweifellos RichardJury, Inspektor bei New Scotland Yard, seit einigen Jahren Superintendent, ein hochgewachsener, geheimnisumwitterter, etwas melancholischer Zeitgenosse mit umwerfendem Lächeln und charmanter Ausstrahlung, die ihre Wirkung auf die Damenwelt nicht verfehlt. Kurzen Affären durchaus nicht abgeneigt, hat Jury jedoch irgendwie kein rechtes Glück bei den Frauen, die sich ihm entweder spröde entziehen oder nach vielversprechenden Avancen wegsterben. Früh verwaist, wurde er als kleiner Junge von einem mitleidigen Onkel aufgenommen. Dessen Tochter, Jurys Cousine Sarah in Newcastle, einzige Verwandte und Bindeglied zur Vergangenheit, ist inzwischen aber auch verstorben. Den Halt, den ihm ein geordnetes Familienleben bieten könnte, findet Jury in einem recht bizarren Beziehungsgeflecht, unter anderem bei den Mitbewohnern in seinem bescheidenen Mietshaus im Nordlondoner Stadtteil Islington, der köstlichen Carol-Anne Palutski etwa, einem betörend hübschen Glamourgirl mit dem Herzen auf dem rechten Fleck, die ihn mit ihren unablässigen, irrlichternden Kommentaren geistig auf Trab hält, ihn immer wieder – und immer erfolglos – zu Ausflügen in die Londoner Gastronomie anstiftet, die aber auch ein eifersüchtig wachsames Auge auf die tatsächlichen oder eingebildeten Damenbekanntschaften des Superintendenten hat und dazu seinen angeblich nur sporadisch funktionierenden Anrufbeantworter in ihrem Sinn manipuliert.

In typisch britischer Gentleman-Manier ist Jury dem Verbrechen in all seinen Ausformungen auf der Spur und manövriert in spannenden Verhörduellen auch die ausgekochtesten Gegenspieler geschickt an die Wand. Besonders gut kann er mit Kindern umgehen, eine für seine Ermittlungen günstige Eigenschaft, die den meisten seiner Kollegen abgeht. Mit Brian Macalvie, Divisional Commander der Polizei von Devon und Cornwall, einem ernsthaften, in seiner Detailversessenheit bisweilen geradezu pingelig wirkenden Kollegen, entwickelt Jury im Lauf der gemeinsam gelösten Fälle eine wahre, auch Wortgefechten nicht abholde Freundschaft.

Ein rechter Stachel im Fleische des Superintendenten ist dagegen sein »Chef«, Chief Superintendent Racer. Dieser versucht ständig querzuschießen und Jury mit Kriminalfällen auf allen möglichen Nebenschauplätzen von der eigentlich wichtigen Arbeit abzuhalten, die Ermittlungserfolge seines Untergebenen dann allerdings für sich zu reklamieren.

Treuester Gefährte bei der Verbrechensbekämpfung, stets zur Stelle, gelegentlich mäßigend eingreifend, wenn sich der ansonsten so beherrschte Jury einem unverschämt auftretenden Mordverdächtigen gegenüber doch einmal vergisst, ist Detective Sergeant Alfred Wiggins, ein liebenswerter, ewig kränkelnder Hypochonder, rührend besorgt auch um das gesundheitliche Wohl seines Vorgesetzten. Auf ihn kann Jury nicht verzichten: Bei Zeugenbefragungen ist Wiggins großartig, nicht zuletzt durch seinen oft guten Draht zum jeweiligen Haus- und Küchenpersonal, wo er bei einer feinen Tasse Tee (oder zwei oder drei ...) eifrig alles ins gezückte Notizbuch kritzelt, was dann zum entscheidenden Hinweis führt.

Wenn Melrose Plant, der Achte Earl von Caverness und Zwölfte Viscount Ardry, im beschaulichen Northamptonshire auf seinem Herrensitz Ardry End in Long Piddleton am Kaminfeuer sitzt und sich der ausgiebigen Lektüre anspruchsvoller, wenngleich gelegentlich etwas weitschweifiger Spezialliteratur widmet, steht wieder mal eine Undercover-Mission für Jury an. Der ehemalige Adlige ist von Anfang an beim Aufklären verzwickter Mordfälle dabei. Seine zahlreichen Titel hat er schon vor Jahren über Bord geworfen und zieht nur dann noch eines der vergilbten, abgegriffenen Visitenkärtchen mit denselben hervor, wenn es mal Eindruck zu schinden gilt. Dieser intelligente, gut aussehende und obendrein sympathische Mensch, humorvoll, spontan und durch seine wenn auch etwas rätselhafte aristokratische Herkunft mit einem nicht unbeträchtlichen Vermögen gesegnet, ist ganz Ohr, wenn Jury sich meldet und es gilt, zur Tarnung wieder einmal in eine komplexe Rolle zu schlüpfen. Ob Melrose als Kunstsammler Ausflüge in die italienische Renaissancemalerei und die moderne Londoner Kunstszene unternimmt oder im ehrenwerten, etwas verstaubten Londoner Herrenclub Boring’s Whiskey schlürfend Nachforschungen anstellt – er versteht es, sich (nach dem üblichen anfänglichen Protest gegen Jurys Ansinnen) auf jedem Parkett bzw. in jedem ostafrikanischen Safaricamp stilsicher zu bewegen. Auf Ardry End wird er von seinem Butler Ruthven, der sich die Anrede »Euer Lordschaft« einfach nicht abgewöhnen kann, und dessen Frau Martha, einer begnadeten Köchin und umsichtigen Haushälterin, liebevoll versorgt.

Störfaktor für Lord Ardry ist dabei nur, dies aber mit penetranter Regelmäßigkeit, seine angeheiratete Tante Lady AgathaArdry, die um ein Vierteljahrhundert ältere Witwe seines Onkels, des Honorable Robert Ardry, eine Amerikanerin aus Milwaukee, die den in ihren Augen wenig rühmlichen Tatbestand ihrer Herkunft nach Kräften zu kaschieren sucht, indem sie den von Melrose verschmähten Adelstitel umso beflissener zur Schau trägt. Diese schrullige Person drängt ihre füllige, an einen Heuballen gemahnende Figur auf ziemlich unerträgliche Weise immer wieder in sein Leben und lädt sich auf Ardry End ein, vorzugsweise zum Tee mit Scones, die sie mit Orangenmarmelade beladen und einem Klacks extradicker Sahne gekrönt in Unmengen verspeist. Melrose versucht tapfer, mit großem Einfallsreichtum, jedoch mäßigem Erfolg und mithilfe des zur Abschreckung strategisch im Garten platzierten Zier-Eremiten Mr Blodgett, seine ungeliebte Tante zu vergraulen, die sich zu allem Überfluss auch in seine Fälle einmischt und ihm gelegentlich sogar bis an die Küsten Cornwalls nachreist, um Verwirrung zu stiften. Nicht verhindern kann er, dass sie regelmäßig auch in seinem Lieblingspub in Long Piddleton aufkreuzt, dem Jack and Hammer, wo sie die mausgrauen Locken schüttelnd salbungsvoll herumposaunt, sämtlichen Anwesenden, seiner Clique nämlich, verbal auf die Finger klopft und mit grandioser Geste ihren Drink bestellt, um von Dick Scroggs, dem gutmütigen Pub-Inhaber, schon aus Gewohnheit ignoriert zu werden, ein Schicksal, das sie mit ihrem Begleiter, dem schrägen Lambert Strether, einem merkwürdigen Verschnitt aus einem Henry-James-Roman, übrigens teilt.

Zur Clique im Jack and Hammer, dem zentralen Panoptikum im Jury-Universum, gehört auch Diane Demorney, ein Luxusgeschöpf mit Modelkörper, Exklusivlieferantin stets sehr spezieller Informationen und obskurer Fakten zu fast jedem Thema unter der Sonne, wovon Jury und Melrose schon des Öfteren beträchtlich profitieren konnten. Ihre Markenzeichen sind rabenschwarzes, akkurat geschnittenes Haar, blutrot geschminkte Lippen und passend lackierte Fingernägel, dazu die vorzugsweise weiße Kleidung, die den arktischen Effekt noch betont, den die mittlerweile von vier schwerreichen Ehemännern geschiedene Dame verkörpert. Die ehemalige Londonerin trägt eine kleine Pistole im Handtäschchen, mit der sie Melrose schon mal bei Gelegenheit in brenzliger Situation das Leben rettet. Den Wodka mit Büffelgras für ihre Martinis bringt sie, wie alle Jury-Gefährten einem guten Tropfen nie abgeneigt, immer selbst mit und lässt sich mit lässiger Eleganz Feuer für ihre Zigarette in edler Spitze geben. Sie weiß, dass sie diejenige ist, die in einem komplizierten Mordfall schon oft die richtungsweisende Frage gestellt oder den entscheidenden Tipp gegeben hat.

Überhaupt erweisen sich (neben den opulenten Abendessen mit Melrose, vorzugsweise im besagten Herrenclub oder in Gourmetrestaurants der gehobenen Kategorie) die meist an- oder gelegentlich auch aufgeregten Wortgeplänkel im Jack and Hammer als unverzichtbare Quelle für Richard Jurys Gedankengänge bei der Lösung seiner Fälle. Wesentlichen Anteil daran hat nicht zuletzt der Besitzer des einzigen Antiquitätenladens in Long Pidd, Marshall Trueblood. Wenn der mit schwungvoller Gebärde den korrekten Gebrauch von Schreibsekretären zur Unterbringung von Leichen erläutert, dabei, eine wohlgepflegte Augenbraue hebend, Beifall heischend in die Runde blickt und sich nach vollbrachter Argumentation eine farbenfrohe Sobranie-Zigarette ansteckt, gibt es keine Widerrede mehr, auch nicht von Melrose, der sich im edlen Wettstreit mit Trueblood mehr als einmal breitschlagen lässt, zu zweifelhaften Exkursionen aufzubrechen. Solange das Gespann, ob im Kasino oder in Kenia, ermittlerisch unterwegs ist, muss die liebevoll gepflegte Feindschaft mit Theo Wrenn Browne ruhen, »dieser Giftschlange«, dem außer von Agatha allseits wenig geschätzten Besitzer von Wrenns Büchernest auf der High Street. Auch Vivian Rivington, ganz die sanfte, dezente Elegante mit dem unterschwelligen Faible für Jury, und Joanna Lewes, Vielschreiberin wenig beachteter Romane, jedoch von nicht unbeträchtlichem schauspielerischen Talent beim Nachstellen von Verbrechenskonstellationen, sind regelmäßig mit von der Partie, wenn es im Jack and Hammer wieder mal darum geht, bei einem Old Peculier, Campari-Limone oder Wodka-Martini lautstark und animiert zu beraten und Superintendent Richard Jury bei der Lösung auch verzwicktester Kriminalfälle einfallsreich zur Seite zu stehen.

Die Inspektor-Jury-Romane, mittlerweile fünfundzwanzig an der Zahl, haben inzwischen auch in Deutschland eine treue Leserschaft. Als zentrale Orte des Geschehens spielen typische englische Pubs eine wichtige Rolle – allen voran das Jack and Hammer. Das Ambiente dieser urig-gemütlichen Lokale schafft den passenden Hintergrund für Kriminalfälle voll rätselhafter Ereignisse und verschlungener Handlungsstränge um falsche Identitäten, Intrigen, Abgründe und Labyrinthe. Im Pub trifft das bisweilen skurril anmutende Figurenpersonal regelmäßig aufeinander, lauter Exzentriker und absonderliche Typen, die Martha Grimes in wechselnden Konstellationen um ihre Fälle gruppiert. Fans der Krimireihe dürfen sich auch bei Inspektor Jurys 25. Fall auf die Wiederbegegnung mit alten Bekannten aus früheren Romanen und das Wiederauftauchen bereits vertrauter Schauplätze in der Handlung freuen.

Einführung von der Übersetzerin Cornelia C. Walter

Inspektor Jury und die Tote am Strand

Meiner großartigen und liebenswürdigen SchwiegertochterTravis HollandSollt ich nicht am Leben sein

Wenn die Drosseln kommen,

Gib der mit dem Roten Schlips,

Den Gedächtniskrümel –Sag ich dir nicht Dank, weil

Tief im Schlaf ich lieg,

Weißt du, ich versuch’s mit

Lippen aus Granit!

EMILY DICKINSON

TEIL I HELL BAY

1. KAPITEL

Brian Macalvie sah auf den Körper der Frau hinunter, deren Gesicht unter dem Gitterwerk aus Seetang und nassem Haar seltsam heiter aussah.

Ganz im Gegensatz zu der Bucht. Die anderen, die bei ihm standen, waren klatschnass oder wären es jedenfalls gewesen, hätte die Inselpolizei nicht vorsorglich die volle Regenausrüstung getragen. Macalvie hatte vom Festland in Cornwall nichts mitgebracht außer Gilly Thwaite, seiner Tatortspezialistin, sowie Detective Sergeant Cody Platt. Gilly stand da und bibberte, trotz des Umhangs, den ihr einer der Polizisten von den Scilly-Inseln um die Schultern gelegt hatte. Bibberte und fluchte leise vor sich hin über ihren Vorgesetzten, weil der zu denen gehörte, die sich Zeit ließen.

Macalvie und seine Leute hatten weniger als eine Stunde gebraucht von dem Zeitpunkt an, als er in Exeter den Telefonhörer wieder aufgelegt hatte, bis zu dem Moment, als das Flugzeug auf St. Mary’s landete, einer der Scilly-Inseln, sechsundzwanzig Meilen vor Land’s End. Auf Bryher, der kleinsten der bewohnten Inseln, gab es keinen Flughafen, und so waren sie zusammen mit Detective Chief Inspector Whitten von St. Mary’s aus das kurze Stück mit dem Boot gefahren.

Alles in allem, dachte Gilly, ein ziemlich gutes Tempo. Es war ja nicht so, dass Macalvie sich nicht schnell bewegen konnte – er konnte sich bewegen wie der Blitz –, nur wenn es um die Totenschau ging, ließ er sich eben Zeit. Mann, und wie der sich Zeit ließ! Er hätte genauso gut festgefroren sein können, und das hier war ja auch der passende Ort dafür. Seine dringende Bitte an DCI Whitten (der ihn angerufen hatte) war, dass nichts bewegt, nichts durcheinandergebracht werden sollte.

Ich werd’s dem Meer sagen, Commander, es soll nichts bewegen.

Eine Viertelstunde lang hatte Brian Macalvie die Leiche betrachtet.

»Es gibt einfach zu viele unbekannte Größen, Chef«, sagte Gilly. Die Anrede »Chef« klang alles andere als unterwürfig. Missmutig klang sie.

Schließlich hatte Macalvie sich hingekniet, um das Gesicht genauer in Augenschein zu nehmen, jedoch ohne das vom Seetang schwere Haar der Toten beiseitezuschieben.

»Ich meine«, fuhr Gilly wacker fort, »Ihr Tatort wird doch von Wind und Wellen immer wieder verunreinigt.« Wie um dies zu untermauern, klatschte eine Welle gegen die Ausbuchtung an der steinigen Landspitze. Und gleich noch eine. Es war wie Donnergrollen, das sich zu ihren Füßen entlud.

Macalvie musterte sie über die Schulter, und sie verstummte.

Die Inselpolizei hatte bereits Aufnahmen gemacht. Gilly wusste, dass ihr Boss es hasste, wenn sie mit der Kamera auch nur verstohlen um den Tatort herumschlichen, als wären deren scheinbar zufällige Blitze verhext, als entzögen sie dem Dunkel Dinge, die besser dort geblieben wären. Es war, als ob die Kamera der Seele die Substanz aussaugte, wie in dem alten Aberglauben, dass ein Foto den Geist einfangen und festhalten würde.

Neben ihm sagte DCI Whitten: »Vielleicht ist derjenige, der das getan hat, danach einfach weggegangen – zurück aufs Festland. Womöglich glaubte er wie diese uralten Völker, die ihre Feinde auf Inseln begruben, dass sie auf diese Weise nicht mehr zurückkommen und Ärger machen konnten. Das Paradoxe an der Sache«, fuhr Whitten fort, »würde jemandem durchaus auffallen, der weiß, dass die Scilly-Inseln eigentlich gegen jegliche Störung gefeit sind, dass sie möglicherweise das sicherste Fleckchen Erde im ganzen Lande sind.« Er blickte auf die Frau hinunter, die nun schon seit zwei Stunden dort lag, reglos bis auf das Wasser, das seitlich an ihr hochschwappte, vollkommen reglos und sehr schön, als wäre sie inzwischen Teil dieser granitgrauen Inseln geworden, die man zu einer Gegend von außerordentlicher Naturschönheit erklärt hatte. »Und als Kulturerbe-Küste ausgewiesen. Nichts Billiges oder Geschmackloses.« Whitten breitete die Arme aus. »Sehen Sie hier einen Starbucks?«

Macalvie kicherte. »Noch nicht.«

Gilly war nicht klar gewesen, wie viel Spannung sich aufgebaut hatte, bis Gelächter sie löste. Das lag nicht nur am Tod und der bleichen Leiche. Es rührte auch nicht von einem Revierkampf her, etwa einem eifersüchtigen Beharren DCI Whittens auf seiner Autorität. Was sie wahrnahm, war ziemlich genau das Gegenteil: Erleichterung. Es war die Erleichterung darüber, dass dieses beispiellose Verbrechen der Polizei von Devon und Cornwall übergeben werden sollte – an Divisional Commander Macalvie.

Der spannungsgeladenen Stimmung nicht gerade zuträglich war das unablässige, donnernde Klatschen der See an die Felsen. Dieser kleine Küstenabschnitt bot keinerlei Schutz vor Wind und Wetter. Entweder die Form der Bucht oder der schroffe Vorsprung der Landspitze machten es noch schlimmer, als wären die Felsen dort draußen ein Bollwerk gegen die Wellen, die sich daraufhin zu einer noch stärkeren Kraft aufbauten. Es war wie das unablässige Hämmern einer Faust gegen eine Tür.

Macalvie, der den Tod nun lange genug angestarrt und eingeatmet hatte, stand schließlich auf und bedeutete Gilly, sie könne loslegen. Sie stürzte sich buchstäblich auf die Leiche, so begierig (sie verabscheute den Gedanken) wie zur Leichenschändung.

Macalvie schaute die Küste hoch und sah Lichter funkeln. »Ist das das Hotel?«

»Das Hell Bay, ja.«

DCI Whitten hatte Macalvie auf der kurzen Bootsfahrt von St. Mary’s herüber so gut er konnte ins Bild gesetzt. Das Hell Bay Hotel war die einzige Übernachtungsmöglichkeit auf Bryher.

Sie gingen über den nassen Sand. »Haben die überhaupt genügend Gäste, um geöffnet zu bleiben?«, fragte Macalvie.

»Allerdings. Es gilt sogar als eines der besten kleinen Hotels in England.«

»Du liebe Güte, sind die Leute so scharf auf Abgeschiedenheit?« Für Macalvie war Abgeschiedenheit ein Pub, das zumachte, wenn er der letzte Gast darin war.

»Na ja. Ich kann mir vorstellen, für jemanden, der zur Hauptverkehrszeit auf der M2 nach London muss, hat es durchaus einen Reiz. Bedenken Sie auch, dass Sie das alles hier noch nicht bei Tageslicht gesehen haben, im Sonnenschein. Es ist wunderschön. Der Sand hier ist ganz weiß.«

Selbst in der Dunkelheit sah er gespenstisch aus, Geistersand.

Whitten war noch nicht fertig. »Ich habe unser Polizeifoto im Hotel herumgezeigt, aber vom Personal erkannte sie keiner. Ich dachte mir, ich mache das gleich, ohne lang zu warten.«

»Danke. Wie viele Gäste sind denn zu dieser Jahreszeit da?«

»Ein paar. Vier, sagte sie, glaube ich.«

»Die Inhaberin? Die Geschäftsführerin?«

»Die Inhaber sind verreist. Machen Urlaub auf den Jungferninseln. Sie haben eine Mrs Gray mit der Leitung beauftragt. Scheint sehr fähig zu sein. Ist auch nicht gleich ausgerastet, als sie erfuhr, dass da buchstäblich vor ihrer Tür eine Leiche liegt.«

»Und, hatten Sie Glück? Bei den Gästen, meine ich?«

Whitten schüttelte den Kopf. »Niemand hat sie erkannt. Klar, mit dem Zeug kreuz und quer im Gesicht … Na, jedenfalls lässt sich bei dieser Runde im Spiel unmöglich sagen, wer die Wahrheit sagt und wer nicht.«

Runde im Spiel. Das gefiel Macalvie. »Hat Ihr Coroner die Theorie, dass die Leiche von woanders angeschwemmt wurde? Von einer der anderen Inseln vielleicht?« Macalvie hatte aufgehört, mit dem Finger in seinen Schuh zu fahren, um den Sand herauszupulen.

»O nein. Hören Sie: Das mit dem Sand geht viel besser, wenn Sie die Schuhe einfach ausziehen. So mach ich es immer. Also, wenn keiner guckt.«

Beide schauten etwas verstohlen zu dem Hotel vor ihnen und dem Grüppchen Polizisten im Hintergrund. Dazwischen schimmerte der kleine Strandstreifen wie zerstoßene Perlen im Mondschein.

»Macht auch mehr Spaß«, meinte Macalvie und entledigte sich der Socken ebenfalls.

Whitten stopfte seine Socken in die Schuhe, band die Schnürsenkel zusammen und hängte sich das Ganze über die Schulter.

Sie gingen weiter am Ufer entlang, der Sand wie Balsam für Macalvies müde Füße. »Sie haben recht, es ist angenehm. Ich hatte ganz vergessen, wie es sich anfühlt …« Dann wurde ihm klar, dass er es vergessen hatte, weil er versucht hatte, diese längst vergangenen Sommer mit Maggs und Cassie zu vergessen. Zwanzig Jahre, und der Gedanke daran besaß immer noch die Macht, ihn zu lähmen, ihn auf der Stelle festzunageln.

Whitten blieb ebenfalls stehen. »Commander Macalvie? Alles in Ordnung?«

»Was? Ja, ja. Schon gut.«

Sie gingen weiter. Sein Gedankengang hatte mit der Erwähnung des kleinen Mädchens zu tun, das die Leiche anscheinend gefunden hatte. Das hatte es ausgelöst, das war ihm klar. Zu wissen, er würde mit einem kleinen Mädchen reden müssen. Er konnte nicht mit Kindern. Es klappte anscheinend bloß, wenn er aggressiv wurde. Da war diese Kleine in Dartmoor gewesen, Jessica. An die erinnerte er sich noch und musste bei der Erinnerung tatsächlich schmunzeln.

Dann trieben die Erinnerungen wieder zurück: er selbst, Cassie, Maggs. Maggie. Sie war so schön gewesen. Wo sie jetzt wohl war? Gab es irgendwo auf der Welt einen Ort, an den man gehen konnte, nachdem das eigene Kind ermordet worden war?

Er schüttelte den Kopf, als wollte er auch aus dem den Sand herauskriegen, und sagte: »Sie erwähnten, die Leiche hätte nicht von woandersher in diese Bucht treiben können.«

»Da bin ich mir ziemlich sicher. Sehen Sie hier, Hell Bay. Die Kraft von Wind und Wellen – ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Körper da hätte hereinkommen können. Sogar die Wellen türmen sich entlang der Landspitze auf.«

»Ja, das habe ich gesehen.«

»Das heißt, sie wurde hier umgebracht.«

Macalvie lächelte im Dunkeln. Darauf war er auch schon gekommen. Er schaute auf die hell erleuchteten Fensterscheiben des Hotels vor sich, das nun vor ihnen aufragte, das Gebäude schärfer umrissen. »Was ist mit dem Hin und Her? Auf die Inseln – auf jede – kommt man nur so, wie ich gekommen bin, das letzte Stück per Boot, stimmt’s? Einen Hubschrauberlandeplatz oder so gibt es nicht?«

»Auf St. Mary’s ist einer, der wird am häufigsten benutzt. Und dann noch einer auf Tresco. Auf jeden Fall müsste man das größere Motorboot nehmen, um von dort nach Bryher zu gelangen.«

»In den letzten, sagen wir, sechsunddreißig Stunden – hat da jemand das Motorboot genommen?«

»Nein, es ist keiner weggefahren.«

»Dann suchen wir entweder einen sehr ausdauernden Schwimmer – obwohl … Weiß der Himmel, wie jemand durch diese Gewässer schwimmen könnte. Ist das möglich?«

»Möglich? Alles ist möglich, aber ich habe noch nie gehört, dass es jemand getan hätte.«

»Oder«, sagte Macalvie, die Fenster im Blick, hinter denen er Gardinen ausmachen konnte und hinter den Gardinen sich bewegende Gestalten, »der Mörder ist vom Himmel gefallen.«

»Oder«, fügte Whitten hinzu, »ist immer noch hier.«

»Dazu wäre ich gleich gekommen.«

2. KAPITEL

»Sie sagten, ein Kind hätte die Leiche gefunden.«

»Eigentlich zwei Kinder: Zoe Noyes ist die Ältere. Lebt mit ihrer Schwester – ich vermute mal, Zillah ist ihre Schwester – und deren Tante, genauer gesagt Großtante in dem Cottage da drüben.« Whitten deutete mit einer Kopfbewegung irgendwo in die Ferne, östlich der Bucht.

»Dann finde ich, sollten wir dort anfangen«, sagte Macalvie.

Whitten ging hinüber, um es einem seiner Männer zu sagen, während Macalvie Gilly Thwaite informierte.

»Ich nehme an, sie war ziemlich verängstigt, oder?«, meinte Macalvie, während sie sich auf den Weg machten.

»Mein Eindruck ist, für Zoe kann es gar nicht genug Leichen geben.«

»Na toll«, sagte Macalvie. Vielleicht, dachte er, bräuchte er das ganze Versteckspiel und Schmeicheltheater diesmal gar nicht zu veranstalten, um das Mädchen hinter dem Rockzipfel seiner Tante hervorzulocken.

Weit entfernt davon, aus ihrem Versteck gelockt werden zu müssen, sauste Zoe im ganzen Haus umher und zerrte noch einen Stuhl ins Wohnzimmer, wo Whitten und Macalvie standen. Als ob einer von ihnen abhauen würde, wenn es keinen Stuhl gäbe. Dann rannte sie weg, um sich einen Hocker zu holen, der vor dem Kaminfeuer stand.

Vor dem Ofen zusammengerollt lag ein großer grauer Kater, die Pfoten unter dem Brustkorb eingerollt. Erst glaubte Macalvie, er würde schlafen, kam dann aber zu dem Schluss, er würde spionieren, denn dicht unter den Augenlidern konnte er goldene Schlitze erkennen.

Hilda Noyes, die Tante, gebot Zoe, mit dem Gewusel aufzuhören und sich hinzusetzen, wenn sie schon unbedingt dabei sein musste. Es wäre bestimmt sinnlos gewesen, Zoe zum Verlassen des Raumes aufzufordern – sie auf ihr Zimmer zu schicken oder sonst wohin außer Hör- und Sichtweite der Polizei. Zoe wusste genau, dass sie es mit einem Mordfall oder dessen Nachspiel zu tun hatte, und sie wusste, dass sie hier die Hauptattraktion war.

Ein weiteres Kind, ein kleines Mädchen, offensichtlich einige Jahre jünger als die vierzehnjährige Zoe, wurde ihnen als Zillah vorgestellt. Besser gesagt, sie wurden auf sie hingewiesen, denn Zillah hatte, ganz im Gegensatz zu Zoe, keinerlei Absicht, sich zu ihnen zu gesellen. Zillah saß auf der Treppe und rutschte, als sie ihren Namen hörte, unmerklich weiter in den Schatten an die Wand.

Macalvie konnte sie kaum sehen, so hatte sie sich im Dunkeln versteckt. Lediglich ihr Haar konnte er deutlich erkennen, fein und hell wie Flusenfädchen.

Seiner Blickrichtung folgend, sagte Zoe: »Das ist Zillah, aber die ist zu nichts nütze.«

Ihre Tante, nicht gerade glücklich über diese Darstellung, meinte: »Zillah ist zu ängstlich zum Reden, Zoe, wie du sehr wohl weißt. Stell es doch nicht so hin, als ob das arme Ding störrisch wäre.«

»Die wird nix sagen, Tante Hilda. Die sagt einfach nix. Das sieht man in ihren Augen.«

Ungehalten wischte Hilda die Bemerkungen ihrer Nichte beiseite. »Nun, zu diesem Mord, Zoe und Zillah, die haben sie gefunden …«

Zoe guckte erschrocken, nicht in Erinnerung an die Leiche, sondern weil ihre Tante ihr die Schau stehlen wollte. »Das kann ich doch erzählen!«

Hilda wollte schon protestieren, als DCI Whitten sich einschaltete. »Das kann sie und soll sie am besten auch. Ich möchte, dass Commander Macalvie es aus erster Hand erfährt.«

Zufrieden, jedoch nicht ohne Macalvie kurz zu mustern, als sei sie sich nicht ganz schlüssig, ob er es aus erster Hand verdiente, erkundigte sich Zoe: »Was ist ein Commander bei der Polizei?«

Whitten gab die Antwort: »Ein sehr hohes Tier. Viel höher als ich. Er arbeitet in Exeter.«

Mit skeptischem Blick musterte sie Macalvie eingehend. »Stimmt das?«

»Was? Dass ich in Exeter arbeite?«

»Nö. Dass Sie wirklich ein hohes Tier sind.«

»Nicht so hoch, wie du es gern hättest. Nicht Polizeichef. Aber erzähl trotzdem.«

Mehr Überredung war nicht nötig. »Okay.« Zoes Blick glitt zu einem Fenster hinüber, dessen Scheiben nun schwarz in der Dunkelheit waren. »Ich war mit Zillah draußen beim Spielen, und dann haben wir beschlossen, wir gehen zur Hell Bay rüber …«

»Was«, sagte ihre Tante, »ihr nicht dürft, das wisst ihr aber.«

Ohne in ihrem Redefluss recht innezuhalten, dämpfte Zoe die Stimme. »Wir sind zum Wasser runter. Wir haben Muscheln gesammelt wie immer, und es dämmerte – ja, genau, es dämmerte.«

(Ein Ausdruck, der ihr wegen seiner düsteren Anmutung offensichtlich gefiel.)

»Und die Wellen sind ganz doll an die Felsen geschlagen. Und dann hab ich das … Ding da gesehen. Noch nicht von ganz nah, ich dachte, es ist vielleicht ein Seehund oder so, weil es so bleich war. Aus der Nähe war es noch bleicher, wie ein Gespenst.«

Als sich auf der Treppe etwas bewegte, sah Macalvie hin. Schüttelte Zillah in stummem Protest den Kopf?

»Da hab ich Zillahs Hand gepackt und gesagt, wir müssen zum Hotel rennen und es denen sagen.«

»Sofort nach Hause rennen, das hättet ihr machen sollen.«

Zoe sparte sich einen Kommentar. »Wir haben es der Frau gesagt, die da die Leiterin ist.«

»Emily Gray«, fügte ihre Tante erklärend hinzu. »Emily ist eine vernünftige Frau. Gut, dass sie da war.«

»Sie hat uns Kakao gegeben«, sagte Zoe.

Der Kakao beendete offensichtlich die Ausführungen. Zoe hob den Kater hoch und setzte sich hin. Der Kater, überhaupt nicht erfreut über dieses Manöver, verzichtete darauf, die Krallen zu zeigen, entwand sich bloß ihren Armen und glitt hinunter, um seine Position vor dem Ofen wieder einzunehmen.

Die Arme auf die Knie gestützt, beugte Macalvie sich vor. »Sonst hast du dort niemanden gesehen?«

»Also wenn, dann hätte ich das doch gesagt, oder?«

»Ja, hättest du bestimmt.« Macalvie blickte zu Zillah hinüber, die gleich wieder von den Gitterstäben am Geländer weghuschte, um sich an die Wand gelehnt hinzusetzen. »Was ist mit deiner Schwester passiert?«

Wieder wollte Hilda Noyes das Gespräch an sich reißen. »Die wird nichts sagen. Sie waren abends draußen und wollten zu …«

Macalvie fuhr dazwischen. »Lassen Sie es doch bitte Zoe erzählen.« Als ob Zeugen keinen blassen Schimmer hätten.

Einsichtig lehnte sich Hilda in ihren Sessel zurück. »Es ist bloß – Zoe schmückt alles gern aus …«

»Stimmt gar nicht. Ich sag es einfach.«

»Manchmal, mein Liebes, sagst du nicht gerade die ungeschminkte Wahrheit.«

»Ich nehme sie auch geschminkt«, meinte Macalvie und musterte Zoe erneut prüfend.

Die grinste übers ganze Gesicht, die Beine überkreuzt, die Hände über den Knien gefaltet. »Zillah hat bald Geburtstag, und da sind wir rüber in den kleinen Laden, wo es alles gibt, und ich wollte, dass Zillah sich was aussucht, was sie möchte, Hauptsache, es kostet nicht mehr als zwei Pfund vierzig. Es war … schon fast dunkel. Ich wusste, es würde bald Nacht sein, aber damit Zillah keine Angst kriegt, hab ich nichts davon gesagt …«

Na, das konnte Macalvie sich denken.

»… dass der Laden bei der Henkerinsel ist …«

Noch so ein saftiger Name. Macalvie meinte, von der Treppe her ein Wimmern zu vernehmen.

»Jetzt regst du Zillah wieder auf«, mahnte ihre Tante.

Das war Zoe aber schnurz.

»Das reicht«, entschied Hilda. »Es ist schon längst Schlafenszeit, Mr Macalvie …«

»Moment.« Er richtete sich in seinem Sessel auf. »Bloß eine Frage noch.«

Hilda seufzte, blieb jedoch ergeben sitzen.

»Wundert es Sie nicht, dass Zillah einfach stumm bleibt, nachdem sie diese Leiche da am Strand gesehen hat, zumindest teilweise? Da ist noch etwas passiert, hab ich recht?«

Zoe guckte erschrocken. Der Blick, mit dem sie Macalvie musterte, war beklommen.

Inzwischen war Hilda aufgestanden. Sie war fuchsteufelswild. »Jetzt gehen Sie aber. Bitte gehen Sie, Sie ängstigen mir meine Zoe ja zu Tode.«

Macalvie erhob sich. »Ehrlich gesagt, Mrs Noyes, Ihre Zoe hat mir Angst gemacht.« Er versuchte es mit einem Lächeln, was sie aber nicht beschwichtigte. »Na, jedenfalls danke ich dir schön, Zoe.«

Auf dem Weg zur Tür legte er ihr die Hand auf die Schulter. Als er schon fast draußen war, kam ihm Zoe hinterher.

»Moment, warten Sie noch.«

»Zoe!«, rief ihre Tante.

Aber Zoe zog die Tür zu, und sie standen draußen im Dunkeln. »Zillah ist okay. Gar nicht beachten.«

Das fand Macalvie eine seltsame Aufforderung. »Wieso …?«

»Zoe!« Hilda war herausgekommen. »Jetzt aber rein mit dir. Die Polizei kann sicher auch noch morgen mit uns reden, wenn es sein muss.« Sie bugsierte Zoe durch die Tür.

Als Zoe sich nach Macalvie umdrehte, erntete er einen scharfen Blick aus diesen arktischen Augen. Wie ein getriebenes Tier, fand er.

Die Tür ging zu, doch er blieb noch einen Augenblick stehen und betrachtete das Cottage.

Zoe mit dem wilden schwarzen Haar (und der möglicherweise noch wilderen Fantasie), Zillah unter Schock bis zur Sprachlosigkeit.

Das hatte ihm bei diesen Ermittlungen gerade noch gefehlt: zwei kleine Mädchen.

»Wir haben sie alle befragt, Boss – das Personal, das gerade Dienst hat, sowie vier Gäste. Anscheinend wusste keiner etwas über das Op…«

»Sie hat jetzt einen Namen, Cody«, sagte Macalvie so bissig, dass Cody Platt von seinem Notizbuch aufblickte.

»Verzeihung. Manon Vinet. Komischer Name. Französisch, meinte die Geschäftsführerin. Alle hatten irgendwie mit ihr geredet, aber nicht über ihre Geschichte oder so. Sie hat nicht über sich gesprochen.« Cody hielt betrübt inne. »In Ermangelung dessen, nichts – nada, null. Nichts.«

»In Ermangelung dessen« war einer von Codys Lieblingsausdrücken. Macalvie kaute einen Streifen Kaugummi, den Cody ihm gegeben hatte, und musterte ihn fragend. »Ist das alles?«

»Fürchte ja.«

»Wie viele Mitarbeiter?«

»Vier vor Ort.«

»Von diesen vier sowie vier Gästen haben Sie also nichts Brauchbares erfahren?« Macalvie wollte ihn nicht direkt kritisieren, er fand es einfach merkwürdig, dass acht Versionen über den Hotelaufenthalt des Opfers nichts zutage förderten.

»Nichts weiter als die Tatsache, dass sie alle recht angenehm fanden. ›Angenehm‹ war der operative Begriff.«

»Es muss aber doch Variationen über dieses Thema geben, Cody.«

»Schon verstanden.« Cody blätterte seine Seiten mit Notizen nacheinander durch, zuckte die Achseln und meinte: »Ich hab alles da, Boss. Aber ich kann ja noch mal zu ihnen hin und …«

Macalvie schüttelte den Kopf. Er fand es faszinierend, dass Cody nie etwas übel nahm, und wenn, dann wusste er es gut zu verbergen. »Nein, heute Abend nicht. Es ist schon fast halb elf.« Er wusste, die Notizen waren nicht nur ausführlich, sondern akribisch. Sergeant Platt mochte die wahre Kunst des Herauskitzelns von Informationen zwar nicht beherrschen, doch auf seine Niederschrift des Gesagten konnte man bauen. Das war erste Sahne. Trotz seiner scheinbaren (und manchmal tatsächlichen) Trägheit besaß Cody eine geradezu unheimliche Gabe, den Bockmist aus den Zeugenaussagen herauszufiltern.

Sie saßen an einem Tisch im Speiseraum des Hell Bay Hotels, schauten hinaus in die absolute Finsternis und lauschten der Brandung, die gegen die Felsen schlug. Whitten war mit sämtlichen kriminaltechnischen Beweisen, die sie an dem Abend zusammengetragen hatten, nach St. Mary’s zurückgekehrt, seine Leute strichen immer noch um Hell Bay herum.

»Wo ist Gilly?«

Cody hob den Blick zur Zimmerdecke. »Im Zimmer des Op… Verzeihung, in Manon Vinets Zimmer oben.«

Macalvie blieb noch eine Weile sitzen und starrte auf die schwarze Fensterscheibe. Dann stand er auf und sagte: »Okay. Sagen Sie denen, sie können zu Bett gehen, sollen sich aber zur Verfügung halten. Kontaktieren Sie Whitten, und sagen Sie, wir brauchen den Hubschrauber.«