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Interdisziplinäre Teams in inklusiven Schulen E-Book

David Labhart

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Beschreibung

David Labhart analysiert in Form einer ethnografischen Studie Fallbesprechungen in multiprofessionell zusammengesetzten Gruppen in der inklusiven Schule. Dabei bedient er sich der Akteur-Netzwerk-Theorie und zeigt am Beispiel des Kantons Zürich, wie das »Interdisziplinäre Team« in der Praxis agiert: Welche Aufgaben werden bearbeitet, wie werden Probleme verortet und welches Wissen wird integriert?

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David Labhart, geb. 1981, lehrt und forscht am Institut Unterstrass an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Seine Forschung umfasst Arbeiten zur Arbeitsteilung und Transdisziplinarität, zur Übersetzung relationaler Soziologie in die Erziehungswissenschaft sowie zu inklusivem Unterricht.

DAVID LABHART

Interdisziplinäre Teams in inklusiven Schulen

Eine ethnografische Studiezu Fallbesprechungen in multiprofessionellen Gruppen

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Frühjahrssemester 2018 auf Antrag der Promotionskommission Prof. Dr. Elisabeth Moser Opitz (hauptverantwortliche Betreuungsperson) und Prof. Dr. Catrin Heite als Dissertation angenommen.

Die Druckvorstufe dieser Publikation wurde vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial- NoDerivs 4.0 Lizenz (BY-NC-ND). Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen finden Sie unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de Um Genehmigungen für Adaptionen, Übersetzungen, Derivate oder Wiederverwendung zu kommerziellen Zwecken einzuholen, wenden Sie sich bitte an [email protected] Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

© 2019 transcript Verlag, BielefeldCovergestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Lektorat: Jonna Truniger, textuell.ch Print-ISBN 978-3-8376-4796-9 PDF-ISBN 978-3-8394-4796-3 EPUB-ISBN 978-3-7328-4796-9 https://doi.org/10.14361/9783839447963

Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Dank
1.Einleitung
2.Das Interdisziplinäre Team im Kanton Zürich
2.1Schulische Integration im Kanton Zürich
2.2Konzeptuell institutionalisierte Zusammenarbeitsformen
2.3Zusammenarbeit zwischen Schulpsychologie und Schule
2.4Abgrenzung von anderen Formen schulischer Zusammenarbeit
3.Zusammenarbeit in multiprofessionellen Gruppen
3.1Das Team als ein spezifischer Typ von Gruppe
3.2Die Differenz zwischen Disziplin und Profession
3.3Inter- und Transdisziplinarität
3.4Forschungsstand
3.5Analytisch-reflexive Sonderpädagogik
3.6Fragestellung
4.Die Akteur-Netzwerk-Theorie
4.1Akteur-Netzwerk-Theorie nach Bruno Latour
4.2Armando Bauleos Gruppenkonzept
4.4Keine Erklärungen durch »das Soziale«: Performanz
4.5Die Konstruktion von TATsachen
5.Selbstreflexive Ethnografie zwischen Nähe und Distanz
5.1Die teilnehmende Begleitung der Gruppenprozesse
5.2Selbstreflexive Distanzierung
5.3Die Analyse der Akteur-Netzwerke
5.4Der Bericht: Konstruktion von Akteur-Netzwerken
6.Das Forschungsfeld
6.1Die drei Schulen
6.2Auswahl der Fallbesprechungen
7.Aushandlung von Zuständigkeiten und finanzielle Ressourcen
8.Die Flucht in den Rassismus
9.Trauma und die Suche nach finanziellen Ressourcen
10.Diskussion der Ergebnisse
10.1Die Aspekte »Aufgabe«, »Problemverortung« und »Wissensintegration«
10.2Aufgabe, Problemverortung und Wissensintegration in den Fallbesprechungen
10.3Aufgabe: Abklärung, nicht Beratung
10.4Problemverortung: Essentialisierung der Problemlage
10.5Wissensintegration: Verunmöglichung durch institutionalisierte Arbeitsteilung
10.6Zusammenfassung
11.Schlussfolgerungen
11.1Stichprobenbedingte Grenzen der Studie
11.2Beratung, Abklärung und Entlastung
11.3Nutzen behindertenspezifischer Kategorien
11.4Rollenklärung
11.5Fazit: Cui bono?
Literaturverzeichnis
Transkriptionsregeln
Abkürzungsverzeichnis

Dank

Als Autor der vorliegenden Dissertation bin ich allein auf dem Buchumschlag aufgeführt. Dadurch wird jedoch verschleiert, dass eine wissenschaftliche Arbeit immer in einem Denkstil verfasst wurde und somit in einem Denkkollektiv von verschiedenen Menschen in Verflechtung mit nichtmenschlichen Wesen überhaupt erst ermöglicht wird.

Mit dem Durchkämmen des Literaturverzeichnisses können sich die Leserinnen und Leser ein Bild davon machen, was sich im offiziellen, wissenschaftlich anerkannten Kommunikationskanal über das Denkkollektiv der vorliegenden Studie manifestiert hat. Wird beim Lesen des Textes analysiert, wie die entsprechenden Referenzen mit der Argumentation verflochten sind, so wird der rationale Anteil des Denkstils der vorliegenden Studie sichtbar.

Zur Offenlegung des emotionalen Anteils in einer wissenschaftlich anerkannten Form dienen die Dankesworte, die hier vorliegen. Ich bin vielen Personen zu tiefem Dank verpflichtet, die ich kaum alle angemessen berücksichtigen kann. Deshalb beschränke ich mich auf das Nennen von wenigen Namen und betone daneben die für mich in meiner Denkentwicklung sowie Feld- und Schreibphase wichtigen Gruppen.

An erster Stelle gilt mein Dank den Mitgliedern der drei beobachteten Interdisziplinären Teams. Ich bin mir bewusst, dass ich Einblick in einen auch sehr persönlichen Bereich des Schulalltags erhalten habe. Der ausserordentlichen Offenheit, die mir entgegengebracht wurde, verpflichtet mich zu grossem Dank. Auch bedanke ich mich bei verschiedenen Fachleuten, die mir per Telefon jeweils ausführlich zu meinen Fragen Auskunft gegeben haben. Und nicht zu vergessen sind diejenigen Personen, die mir den Feldzugang ermöglicht haben, indem sie mich an Schulleiterinnen weitergeleitet haben, die ein offenes Ohr für mein Forschungsvorhaben bekundeten.

Besonders bedanken möchte ich mich bei Prof. Dr. Elisabeth Moser Opitz für die fünf Jahre der Anstellung am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich und das Vertrauen, das sie mir während dieser Jahre entgegengebracht hat. Der Austausch über Theorien, Methoden und Formulierungen hat mir vielfach geholfen, mein Denken genauer verstehen zu lernen und es weiterzuentwickeln. Das Eingebundensein in andere Forschungsprojekte neben meiner Anstellung als Assistent hat dies noch verstärkt und mir daneben Einblicke in sehr unterschiedliche Forschungsfelder ermöglicht. Des Weiteren bedanke ich mich bei Prof. Dr. Catrin Heite für ihre Bereitschaft, als Zweitbetreuerin zu fungieren, sowie dafür, dass sie mir über ihre Rückmeldungen hinaus Diskussionen mit anderen Forschenden aus der Sozialen Arbeit ermöglicht hat.

Ein weiterer grosser Dank gilt am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich darüber hinaus der Interpretationsgruppe des Profils »Sozialpädagogik«. Ich habe mich jeweils sehr wohlgefühlt und habe viel von der gemeinsamen Analyse ethnografischer Beschreibungen gelernt. Auch möchte ich mich für die Gespräche unter Assistierenden – in Kolloquien und während des Mittagessens oder beim Kaffee im Büro – herzlich bedanken.

PD Dr. Erich Otto Graf möchte ich vielmals dafür danken, dass er mich gelehrt hat, Texte bildend zu studieren und auf Originaltexte zurückzugreifen. Ihm verdanke ich auch, dass ich zur Akteur-Netzwerk-Theorie gefunden habe. Zudem besuchte ich bei ihm eine Ausbildungsgruppe zur operativen Gruppentechnik. Meine Vertiefung in die Akteur-Netzwerk-Theorie ist wohl dem Umstand geschuldet, dass es mein Stolz nicht zuliess, die institutionsanalytische Herangehensweise von Erich Graf ohne Weiteres zu übernehmen, und ich mich deshalb dazu getrieben fühlte, mit theoretisch fundierten Bezügen die bewährten Konzepte der operativen Gruppe und der Institutionsanalyse weiter – oder zumindest ein wenig anders zu denken.

Neben der operativen Lerngruppe bin ich auch anderen Lesegruppen zum Dank verpflichtet. Geblieben sind mir die Diskussionsrunden im Lichthof der Universität Zürich oder im Sitzungszimmer des Collegium Helveticum. Über letzteren Ort bin ich über die Lesegruppen hinaus vertieft in die Frage der Inter- und Transdisziplinarität eingetaucht und wurde auch mit den Veranstaltungen des Ludwik-Fleck-Zentrums vertraut.

Im Schreibprozess haben mir einige Personen mit ihrer konstruktiven Kritik dabei geholfen, den Text zu klären. Besonders bedanken möchte ich mich bei Dr. Tobias Studer, der mir inhaltlich und emotional auch beim letzten Schliff mit Tat und Rat zur Seite gestanden hat. Auch haben mir Diskussionen über meine Texte mit Anna-Lea Imbach sehr weitergeholfen, vielen Dank. Elisabeth von Salis bin ich für die Supervisionssitzungen dankbar, die dazu beigetragen haben, dass sich der Nebel im Kontext der Forschung jeweils ein wenig lichten liess.

Für die weitgehende finanzielle Unterstützung zur Publikation der vorliegenden Studie danke ich dem Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung SNF.

Zuletzt möchte ich mich bei meiner Partnerin Linda Kleiner für ihre Unterstützung und ihr Verständnis für mein Pendeln zwischen Wissenschaft und Familie bedanken. Für die Angespanntheit, die ich vor allem in den letzten Monaten des Verfassens dieser Dissertation nach Hause getragen habe, möchte ich mich entschuldigen und mich bei meinen beiden wunderbaren Kindern tausendmal bedanken für das wiederholte Zurückholen in den Augenblick.

David Labhart,

im Januar 2019

I’m not denouncing anyone, I’m not laying any blame, there’s no scandal, no wrongdoers. It’s a collective drift, there were only good intentions.

Bruno Latour (1996, 298)

1.Einleitung

Die »(multi)professionelle Zusammenarbeit« wird in der Diskussion um die Umsetzung einer integrativen respektive inklusiven Schule als zentraler Topos bezeichnet (Arndt 2018) und zeigt sich sehr vielschichtig. So arbeiten Heilpädagoginnen und Heilpädagogen integrativ im Teamteaching in der Regelklasse mit, soziale Herausforderungen werden unter Beizug der Schulsozialarbeit gelöst oder Schülerinnen und Schüler mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen werden mit zusätzlichen Massnahmen wie beispielsweise einer Psychomotorik- oder Logopädietherapie gefördert. Diese Beteiligung am schulischen Alltag von Personen, die sich auf unterschiedliche Disziplinen beziehen, macht eine multiprofessionelle Zusammenarbeit heute zum Ausgangspunkt von Bildung und Erziehung, wobei eine gemeinsame Verantwortung der verschiedenen Professionellen für die Schülerinnen und Schüler der Regelklasse angestrebt wird (Lütje-Klose 2015).

Die Kooperation im gemeinsam von der Regellehrperson und der Fachperson für Schulische Heilpädagogik verantworteten Unterricht macht wohl den am intensivsten erforschten Bereich der Zusammenarbeit aus (für einen Überblick siehe z.B. Lütje-Klose und Miller 2017). Darüber hinaus werden in der Forschung jedoch auch noch andere schulische Felder der Zusammenarbeit zwischen Regellehrpersonen und Fachpersonen für Schulische Heilpädagogik, teilweise auch mit anderen Professionellen wie Fachpersonen der Sozialen Arbeit oder unterschiedlichen Therapeutinnen und Therapeuten, fokussiert. So wurden beispielsweise im Bereich der schulischen Erziehungshilfe respektive im Bereich der Förderung von Schülerinnen und Schülern im sogenannten »Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung« schulexterne Beratungs- und Unterstützungssysteme (Urban 2007) erforscht. Des Weiteren wurden Teamgespräche in der Ganztagsschule in Teams bestehend aus Lehrpersonen, Erzieherinnen und Erziehern in den Fokus genommen (Reh und Breuer 2012). Auch wurden Forschungsprojekte zum interprofessionellen Austausch von Fachpersonen aus den Bereichen der Sozialen Arbeit, der Medizin und der Psychologie/Psychotherapie durchgeführt (Müller 2013). Oder es wurde – um wieder ein wenig näher an den Schulalltag zu rücken – die Zusammenarbeit zwischen Regellehrperson, Fachperson für Schulische Heilpädagogik und Therapeutin respektive Therapeut in Bezug auf die individuelle Förderplanung einer Schülerin oder eines Schülers mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen betrachtet (Luder et al. 2016).

Diese konkreten Beispiele stellen nur eine Auswahl derjenigen Bereiche dar, in denen Forschung zur multiprofessionellen Zusammenarbeit im Feld der integrativen Schule durchgeführt wird. Sie zeigen auf, dass der Topos »Zusammenarbeit« im Schulfeld sehr unterschiedlich und variantenreich aufscheint. Vielfach gehen Zusammenarbeitsformen, die über die Zusammenarbeit zwischen Regellehrperson und Fachperson für Schulische Heilpädagogik im gemeinsamen Unterricht hinausgehen, von Herausforderungen im gemeinsamen Unterricht aus oder sie bearbeiten Herausforderungen, die in anderen Settings der Schule (beispielsweise in der schulergänzenden Betreuung oder auf dem Pausenhof) auftreten. Mit der durch die integrative Schule sicherlich stärker hervortretenden Heterogenität der Schülerinnen und Schüler ist zuallererst die Regellehrperson konfrontiert. Die unterrichtliche Zusammenarbeit mit einer Fachperson für Schulische Heilpädagogik findet meist nur während weniger Lektionen pro Woche statt; in der restlichen Unterrichtszeit ist die Regellehrperson auf sich allein gestellt. Unabdingbar scheint deshalb die Beratung der Regellehrpersonen hinsichtlich des Umgangs mit den integrierten Schülerinnen und Schülern zu sein, damit eine adäquate Förderung auch dann möglich ist, wenn keine andere Fachperson zugegen ist. Das Ziel einer solchen Beratung besteht in der Regel darin, dass die Regellehrperson spezifische Kompetenzen im Umgang mit einzelnen Schülerinnen und Schülern erwerben kann, um im Unterricht handlungsfähig zu bleiben und nachhaltig zu wirken.

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, dass eine Regellehrperson, die eine integrative Klasse führt, die Möglichkeit erhalten sollte, Herausforderungen, die sich in der eigenen Arbeit stellen, mit Fachpersonen anderer Professionszugehörigkeit zu erörtern und zu diskutieren. Analytisch gesehen stellen sich Herausforderungen für eine Regellehrperson dann, wenn eine Erwartung, die an Schülerinnen und Schüler gestellt wird, von diesen nicht erfüllt werden kann und somit verletzt wird. Eine Erwartungsverletzung (Weisser 2007) kann somit als Ursprung der Wahrnehmung einer Problemlage – einer herausfordernden Situation – bezeichnet werden. Gemäss der idealtypischen Vorstellung einer Beratung in einer multiprofessionell zusammengesetzten Gruppe wird eine solche Erwartungsverletzung von einem Gruppenmitglied in die Gruppe eingebracht. Durch die Diskussion im Sinne einer differenzierten Betrachtung der Problemlage aus unterschiedlichen Perspektiven können Lösungsansätze oder Möglichkeiten entwickelt werden, die aufzeigen, wie Bildung und Erziehung weiter angeleitet werden können.

Fallbesprechungen, die der im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen Form entsprechen, werden insbesondere im Gesundheitswesen durchgeführt. Mit der »interdisziplinären Kooperation« soll im Gesundheitswesen die »mangelhafte Effizienz des Versorgungssystems gesteigert werden« (Lützenkirchen 2005, 311), wobei jedoch kaum empirische Ergebnisse dazu vorliegen, ob dieses Ziel zu erreichen ist (Bhamidipati et al. 2016; Körner und Bengel 2004). In Metastudien wird die Effizienz von Fallbesprechungen in multiprofessionellen Gruppen sogar grundsätzlich infrage gestellt (Faulkner Schofield und Amodeo 1999). Es erweist sich jedoch als sehr schwierig, verallgemeinernde Aussagen über Fallbesprechungen in multiprofessionellen Gruppen im Gesundheitswesen zu formulieren, da sich die Zusammensetzung der Gruppen, das Ziel und das Vorgehen je nach Forschungsarbeit sehr stark unterscheiden.

In der Erziehungswissenschaft sind Fallbesprechungen in multiprofessionellen Gruppen noch kaum systematisch erforscht worden. Im Bereich der multiprofessionellen Zusammenarbeit stand bis anhin die Klärung von Autonomie im Sinne klar getrennter Zuständigkeiten im Mittelpunkt. In den letzten Jahren ist die Diskussion über die Qualität der Zusammenarbeit hinzugekommen (Thieme 2013, 49). Als Forschungsdesiderat wird verschiedentlich aufgeführt, dass der Fokus vermehrt auf die Analyse der Prozesse in der Zusammenarbeit gelegt werden solle, um Wissen darüber zu generieren, wie Zusammenarbeit überhaupt gestaltet wird (Arndt 2018; Kosorok Labhart und Maeder 2016; Reh und Breuer 2012). Dabei soll das Ideal der ko-konstruktiven Kooperation nicht Ausgangspunkt der Forschung darstellen, sondern nur als mögliches Ergebnis gelten. Da es sich – wie bereits dargelegt – um ein sehr heterogenes Forschungsfeld mit sehr unterschiedlichen Situationen multiprofessioneller Zusammenarbeit handelt, müssen bei solchen Forschungsvorhaben die spezifischen Eigenheiten des Feldes stets genau berücksichtigt und in die Analyse einbezogen werden. Dies bedeutet, einzelne Beratungsgespräche in ihrer Individualität zu explorieren, um auf diese Weise zu inhaltlich reichen Aussagen über die Frage zu gelangen, wie Erwartungsverletzungen in multiprofessionellen Gruppen verhandelt werden.

Eine solche »In-situ-Analyse« (Kunze und Silkenbeumer 2018) wird in der vorliegenden Studie durchgeführt. Als Forschungsfeld dient das »Interdisziplinäre Team« (IDT). Die Arbeit befasst sich mit Fallbesprechungen, die in IDTs an Primarschulen im Kanton Zürich durchgeführt werden. Das IDT – je nach Schulort auch »Fachteam«, »Interdisziplinäres Fachteam«, »Lösungsorientiertes Fachteam« oder »Kommunikation im interdisziplinären Team« genannt – konstituiert sich im Rahmen von Sitzungen, in denen Professionelle miteinander ins Gespräch kommen und hauptsächlich Fallbesprechungen durchführen. Dieses Forschungsfeld zeichnet sich im Speziellen dadurch aus, dass die Schulleitung und die psychologischen Fachpersonen des Schulpsychologischen Diensts als feste Mitglieder des IDT fungieren.

Die Begriffe »Interdisziplinäres Team« oder »multiprofessionelle Kooperation« wecken grosse Erwartungshaltungen: »Interdisziplinarität« und »Kooperation« gelten gemeinhin als moderne, positiv konnotierte Termini. Die vorliegende Studie distanziert sich jedoch von den positiven Erwartungen an die multiprofessionelle Zusammenarbeit und nimmt eine Beobachtungsposition zweiter Ordnung ein. Es wird kein evaluatives Vorgehen angestrebt, das die zu untersuchenden IDTs bewerten soll. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass das IDT im Kontext der integrativen Schule eine Funktion übernimmt, die für die Schule als Institution sinnvoll und zweckmässig ist. Dadurch rücken die Konstruktionen ins Zentrum, die in den IDTs hervorgebracht werden. Für die Ergründung dieses Erkenntnisinteresses stehen die Darstellung und die Analyse der Gruppenprozesse im Vordergrund. Im Sinne der Ethnografie leitend ist – in den Worten von Clifford Geertz – das Interesse, »herauszufinden, was zum Teufel hier abgeht«, respektive »to figure out, what the hell is going on« (Olson 1991, 248). Diese hier noch ungenaue Fragestellung wird auf der Grundlage von konzeptionellen und historischen Exkursen und der Darstellung des Forschungsstandes in Kapitel 3 spezifiziert.

Zunächst jedoch werden in einem ersten Schritt (Kapitel 2) die Entwicklung und der Stand der schulischen Integration im Kanton Zürich dargelegt, um die Rahmenbedingungen, innerhalb deren die IDTs operieren, aufzuzeigen. Darauf folgt eine Erörterung des Begriffs »Interdisziplinäres Team«, die das Ziel verfolgt, diesen zu präzisieren und inhaltlich genauer zu fassen. Auf der Grundlage eines Einblicks in den Forschungsstand zu Gesprächen und IDTs in der Schule werden sodann Forschungsfragen formuliert, die sich erstens auf die Aufgabe der Gruppe, zweitens auf die Problemverortung in der Ursachenforschung und drittens auf die interdisziplinäre Wissensintegration beziehen (Kapitel 3).

Die vorliegende Studie untersucht die Konstruktion von Lösungen mithilfe der Akteur-Netzwerk-Theorie und ermöglicht dadurch ein detailreiches Verständnis von Gruppenprozessen in IDTs. Dieser Ansatz wird daher eingehend erläutert (Kapitel 4). Das konkrete Vorgehen erfolgt ethnografisch und mittels hermeneutischer Auswertungsmethoden, die ebenfalls detailliert beschrieben werden (Kapitel 5). Aus dem umfangreichen Datenmaterial werden sodann drei Fallbesprechungen ausgewählt, die über ihre Einzigartigkeit hinaus analytisches Potenzial bieten (Kapitel 6). Im Analyseteil der Arbeit werden diese drei Fallbesprechungen im Detail nachgezeichnet (Kapitel 7 bis 9). Auf der Grundlage der Ergebnisse werden im Anschluss daran die in den Fragestellungen aufgeworfenen drei Themen diskutiert, um dadurch ein vertieftes Verständnis des Untersuchungsgegenstands erlangen zu können (Kapitel 10). In den Schlussfolgerungen werden die Ergebnisse schliesslich mit Diskursen aus Praxis und Wissenschaft verknüpft, was in ein abschliessendes Fazit mündet (Kapitel 11).

2.Das Interdisziplinäre Team im Kanton Zürich

Wie in der Einleitung bereits festgehalten wurde, konstituiert sich ein IDT im Rahmen einer Sitzung, in der eine multiprofessionell zusammengesetzte Gruppe Fallbesprechungen durchführt. Zur Schärfung des Forschungsgegenstandes wird nachfolgend zuerst die Geschichte der integrativen1 Volksschule im Kanton Zürich nachgezeichnet (Kapitel 2.1). Die Konzentration auf den Kanton Zürich erfolgt deshalb, weil sich die Formen der interdisziplinären Zusammenarbeit wegen des föderalistisch organisierten Schweizer Schulsystems kantonal unterscheiden. In einem nächsten Schritt wird die Differenz zwischen dem IDT und dem sogenannten »Unterrichtsteam« aufgezeigt (Kapitel 2.2), bevor anhand der Darstellung der Geschichte der Zusammenarbeit zwischen Schule und Schulpsychologischem Dienst (SPD) erläutert wird, in welcher Tradition das IDT steht (Kapitel 2.3). Im Anschluss daran wird das IDT auch noch von anderen Formen der Zusammenarbeit im Schulfeld abgegrenzt (Kapitel 2.4).

2.1SCHULISCHE INTEGRATION IM KANTON ZÜRICH

Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurde im Kanton Zürich wie auch in anderen Schweizer Kantonen und verschiedenen weiteren Ländern das Ziel verfolgt, mit Blick auf eine angemessene Förderung aller Schülerinnen und Schüler möglichst homogene Lerngruppen zu bilden. Zu diesem Zweck wurde im Kanton Zürich ein Sonderschulsystem errichtet, das jeder kategorisierten Lerngruppe eine eigene Schulform oder einen eigenen Sonderklassen-Typus anbot (Wolfisberg 2008). Der Ausgangspunkt dieser Differenzierung des Schulsystems kann allerdings bereits mehr als ein Jahrhundert zuvor ausgemacht werden: Schon bei der Einführung der Schulpflicht in der Bundesverfassung von 1874 wurde der Grundstein für Spezial- und Hilfsklassen gelegt, da auch die »Schwachbegabten« einen Platz im Schulsystem erhalten sollten. Für Spezial- und Hilfsklassen wurde damals das »Doppelargument der ›Entlastung‹ der Volksschule und der besseren Förderung der ›Schwachbegabten‹ in der Hilfsschule« ins Feld geführt (Wolfisberg 2005, 57). Der eher »unkoordinierte Aufbau« (Wolfisberg 2008, 196) des Sonderklassenwesens im Kanton Zürich wurde 1959 im Zuge einer Revision des Volksschulgesetzes (VSG) vereinheitlicht. Neu wurde zwischen Sonderklassen (A: Einschulung; B: ungenügende intellektuelle Leistungsfähigkeit; C: sinnes- und sprachgeschädigte Schulkinder; D: Schul- und Verhaltensschwierigkeiten) und Sonderschulen (für praktisch bildungsfähige, körperlich gebrechliche, blinde, taubstumme, schwerhörige oder schwer erziehbare Kinder) unterschieden.

Das Sonderklassenreglement wurde 1984 erneut revidiert, wodurch Stütz- und Fördermassnahmen wie »Nachhilfeunterricht, Aufgabenhilfe, Sprachheilunterricht, Legasthenie- und Dyskalkuliebehandlung, Hör- und Ablesekurse, Psychomotorische Therapie und Psychotherapie« (Wolfisberg 2008, 198-199) als zusätzliche Unterstützungsangebote an der Regelschule auf eine rechtliche Grundlage gestellt wurden. Erste Konzepte zur schulischen Integration wurden vom Kanton Zürich selbst entwickelt und evaluiert, weil die Zahl der Schülerinnen und Schüler rückläufig war und kleine Gemeinden ein vollumfänglich differenziertes Sonderklassensystem kaum mehr aufrechterhalten konnten, aber dennoch ein Interesse daran hatten, alle Kinder angemessen zu beschulen (Hildbrand et al. 1989). In dieser Zeit wurde im deutschsprachigen Raum zudem Kritik an der Strategie der Separation in Sonderklassen und Sonderschulen laut (Feuser 1982; Haeberlin et al. 1990; Wocken 1987). Ab 1990 war es Gemeinden im Rahmen eines »Schulkonzepts zur integrativen Schulung von Schülerinnen und Schülern mit Schulschwierigkeiten« (Strasser, Coradi und Hildbrand 1989) schliesslich möglich, anstelle von Sonderklassen integrative Schulungsformen anzubieten. Als Bedingung galt dabei, dass integrierte »Kinder mit Förderbedarf […] mindestens die Hälfte der Unterrichtsstunden in der Regelklasse verbringen« sollten (Wolfisberg 2008, 199).

Das Aufkommen und der Ausbau der Sonderklassen sowie der Stütz- und Fördermassnahmen stehen auch in einem Zusammenhang mit der Kostenübernahme der Sonderschulung durch die Invalidenversicherung (IV). Im 1960 in Kraft getretenen Invalidenversicherungsgesetz (IVG) galt die Sonderschulung als Eingliederungsmassnahme. Dies bedeutet, dass die Kosten für sonderpädagogische Massnahmen zu einem erheblichen Teil vom Bund übernommen wurden. Infolge der Annahme der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) durch das Stimmvolk im Jahr 2004 zog sich der Bund im Jahr 2008 jedoch aus der Sonderschulung zurück. In der Bundesverfassung wurde verankert, dass »die Kantone […] für eine ausreichende Sonderschulung aller behinderten Kinder und Jugendlichen bis längstens zum vollendeten 20. Altersjahr« (BV Art. 62 Abs. 3) sorgen müssen. Die Zusammenarbeit der Kantone im Bereich der Sonderpädagogik wird seither durch die sogenannte »Interkantonale Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik« (IVZBS), kurz »Sonderpädagogik-Konkordat«, der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) geregelt. Dem Konkordat sind bis Ende 2017 insgesamt 16 Kantone beigetreten, darunter zuletzt auch der Kanton Zürich.

Das Sonderpädagogik-Konkordat verfolgt insbesondere das Ziel, in den Kantonen ein vergleichbares Grundangebot zur Förderung von Kindern und Jugendlichen mit besonderem Bildungsbedarf zu gewährleisten, die Integration dieser Kinder und Jugendlichen in die Regelschule zu unterstützen und den Einsatz einheitlicher Abklärungsinstrumente sicherzustellen (IVZBS Art. 1). Durch ein Grundangebot und weiterführende »verstärkte Massnahmen« (IVZBS Art. 5) wird zum einen eine Vereinheitlichung des Angebots angestrebt. Zum anderen soll das sogenannte »Standardisierte Abklärungsverfahren« (SAV; IVZBS Art. 7) eine interkantonal vergleichbare Abklärung des Bedarfs an verstärkten Massnahmen ermöglichen.

Das sonderpädagogische Grundangebot und die verstärkten Massnahmen werden im Sonderpädagogik-Konkordat folgendermassen definiert: Ein sonderpädagogisches Grundangebot umfasst Beratung und Unterstützung, heilpädagogische Früherziehung, Logopädie und Psychomotorik, sonderpädagogische Massnahmen in Regel- und Sonderschule sowie die stationäre Unterbringung in sonderpädagogischen Einrichtungen (IVZBS Art. 41). Eine verstärkte Massnahme zeichnet sich darüber hinaus durch ihre längere Dauer, die hohe Intensität, den hohen Spezialisierungsgrad der Fachpersonen sowie die einschneidenden Konsequenzen für das Leben der betroffenen Kinder und Jugendlichen aus (IVZBS Art. 52). Das Grundangebot wird in einzelnen kantonalen Konzepten auch »niederschwelliger Bereich« genannt, während verstärkte Massnahmen teilweise als »hochschwellige Massnahmen« bezeichnet werden.2 Zur Unterscheidung der beiden Bereiche wird häufig hervorgehoben, dass die Regelschule im niederschwelligen Bereich spezifische Unterstützung anbiete, die von einem Ressourcenpool bezahlt werde. Im Gegensatz dazu gehen verstärkte Massnahmen von einem »individuellen Bedarf« (IVZBS Art. 51) aus und werden entsprechend durch einzelnen Kindern und Jugendlichen zugewiesene Ressourcen finanziert. Der Unterschied zwischen dem Grundangebot und den verstärkten Massnahmen zeigt sich vor allem dadurch, dass für verstärkte Massnahmen ein SAV notwendig ist (IVZBS Art. 63).

Der Kanton Zürich hat kein kantonales Sonderpädagogik-Konzept entwickelt, sondern erfüllt die Vereinbarungen des Sonderpädagogik-Konkordats über das Volksschulgesetz und die Verordnung über die Sonderpädagogischen Massnahmen (VSM). Da die Unterscheidung zwischen Grundangebot und verstärkten Massnahmen wie bereits erwähnt auf der Notwendigkeit des Einsatzes des SAV beruht, kann die Sonderschulung im Kanton Zürich zu den verstärkten Massnahmen gezählt werden. Demgegenüber umfasst das Grundangebot laut der VSM Integrative Förderung (IF), Therapien, Unterricht in Deutsch als Zweitsprache (DaZ) sowie Einschulungs- und Kleinklassen.

Bei der IF werden Schülerinnen und Schüler im Unterricht der Regelklasse von einer Fachperson für Schulische Heilpädagogik unterstützt (VSM § 61), wobei die Regellehrperson und die Fachperson für Schulische Heilpädagogik vereinbaren, wie viele der zur Verfügung stehenden Lektionen gemeinsam durchgeführt werden. Während der restlichen Lektionen kann die Fachperson für Schulische Heilpädagogik mit einzelnen Kindern oder einer Gruppe von Kindern in einem separaten Zimmer arbeiten. Obwohl die Fachperson für Schulische Heilpädagogik bei Kindern mit IF die Zusammenarbeit mit Eltern und Schulleitung zu organisieren hat, trägt die Regellehrperson die Verantwortung für die Beschulung (VSM § 72). Die Ressourcen für IF werden anhand der Anzahl der Schülerinnen und Schüler der jeweiligen Schulgemeinde festgelegt. Der Kanton Zürich finanziert auf der Primarstufe pro 200 Schülerinnen und Schüler eine Vollzeitstelle in Schulischer Heilpädagogik (VSM § 81).

Zu den Therapien werden sowohl die logopädische Therapie, die psychomotorische Therapie und die Psychotherapie (VSM § 91) als auch audiopädagogische Angebote (VSM § 92) gezählt. Therapien werden einzeln oder in Gruppen durchgeführt. Die Therapeutinnen und Therapeuten haben zusätzlich die Aufgabe, die Lehrpersonen bezüglich der Therapien zu beraten. Auch in diesem Bereich werden die Vollzeitstellen über die Vorgabe eines Maximums kantonal geregelt, weshalb im Kanton Zürich in einer Schulgemeinde auf der Primarstufe höchstens 0.4 Vollzeitstellen pro 100 Schülerinnen und Schüler für Therapien eingesetzt werden können (VSM § 111).

DaZ-Unterricht wird in Aufnahmeklassen und im Aufnahmeunterricht durchgeführt. In Aufnahmeklassen werden Kinder für längstens ein Jahr beschult (VSM § 153), wobei das Ziel darin besteht, dass sie möglichst schnell Deutsch lernen, um eine Regelklasse besuchen zu können. Für die Aufnahmeklassen ist eine Klassengrösse von acht bis vierzehn Schülerinnen und Schülern vorgesehen (VSM § 165). Danach besuchen die betreffenden Kinder den Aufnahmeunterricht (DaZ-Unterricht) gruppenweise neben dem Regelklassenunterricht. Die einzusetzenden DaZ-Lektionen werden von der Schulpflege über einen in der Verordnung vorgegebenen Schlüssel berechnet und Schulklassen oder Lerngruppen zugeteilt (VSM § 14).

Einschulungs- und Kleinklassen sind wie Aufnahmeklassen Klassen mit einer geringen Anzahl von Schülerinnen und Schülern. So sollen in Einschulungsklassen höchstens vierzehn Schülerinnen und Schüler unterrichtet werden (VSM § 172), in Kleinklassen acht bis zwölf Schülerinnen und Schüler (VSM § 182). Einschulungsklassen sind Klassen, die von noch nicht schulbereiten Kindern zwischen Kindergarten und Primarschule während eines Schuljahres besucht werden (VSM § 17)3. Kleinklassen wiederum sind für »Schülerinnen und Schüler mit besonders hohem Förderbedarf« (VSM § 18) vorgesehen, wobei das Ziel aber ebenfalls im Übertritt in eine Regelklasse besteht (VSM § 191).

Die Sonderschulung als verstärkte Massnahme kann einerseits in einer Sonderschule, andererseits aber auch im Rahmen von Integrierter Sonderschulung (IS) oder als Einzelunterricht erfolgen (VSM § 20); Letzterer wird jedoch nur in Ausnahmefällen erteilt (VSM § 231). Beim Besuch einer Sonderschule findet keine Zusammenarbeit mit einer Regelschule statt, während eine IS dadurch charakterisiert ist, dass sie mindestens teilweise in einer Regelklasse stattfindet (VSM § 221). Administrativ kann die IS entweder einer Sonderschule oder einer Regelschule unterstellt sein (VSM § 222), wobei die betreffende Schule für die Durchführung der Sonderschulung verantwortlich ist (VSM § 223).

Neben der Sicherstellung eines interkantonal vergleichbaren sonderpädagogischen Angebots verfolgt das Sonderpädagogik-Konkordat wie bereits erwähnt auch das Ziel, dass die Kantone ein einheitliches Abklärungsverfahren einsetzen. Dafür wurde im Auftrag der EDK das SAV entwickelt (Lienhard-Tuggener und Hollenweger 2011), das im Kanton Zürich ab dem Schuljahr 2013/2014 von den SPD freiwillig eingesetzt werden konnte und zu Beginn des Schuljahres 2015/2016 flächendeckend eingeführt wurde. Es handelt sich dabei um ein Instrument, das auf der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) basiert. Die ICF wurde im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelt und versteht Behinderung als ein Zusammenwirken von Individuum und Umwelt (Hollenweger 2005). Diesem Verständnis zufolge entsteht Behinderung nicht einseitig als Folge von Einschränkungen im Bereich der Körperfunktionen und Körperstrukturen. Eine Lähmung oder eine Seheinschränkung wird dementsprechend lediglich als »Beeinträchtigung« bezeichnet. Eine Behinderung aufgrund eingeschränkter Körperfunktionen oder Körperstrukturen ist im Gegensatz dazu dann gegeben, wenn die Aktivität des betreffenden Individuums und damit einhergehend dessen gesellschaftliche Teilhabe eingeschränkt sind. Eine Behinderung besteht gemäss der ICF somit dann, wenn eine Einschränkung der Partizipation in Verknüpfung mit Einschränkungen der Körperfunktionen und Körperstrukturen vorliegt.

Der Rückzug der IV aus der Finanzierung der Sonderschulung eröffnete die Möglichkeit, Behinderung auf institutioneller Ebene als mehrdimensionales Konstrukt zu verstehen. Bis zu jenem Zeitpunkt waren IV-Leistungen an medizinische Diagnosen geknüpft worden. Die Finanzierung der Sonderschulung durch die Kantone ermöglichte eine Abkehr von der medizinischen Diagnose hin zu einer Ermittlung eines besonderen Bildungsbedarfs. Dessen Festlegung beruht nun auf der Einschätzung bezüglich der Massnahmen, die zur Ermöglichung der Teilhabe am Regelschulunterricht notwendig sind (Kronenberg 2015). Im Kanton Zürich muss diese SAV-Abklärung von einer Psychologin oder einem Psychologen des SPD durchgeführt werden. Der konzeptionelle Wandel von einer medizinischen Definition von Behinderung, die entsprechende Leistungen der IV auslöste, hin zum bio-psycho-sozialen Modell, das Behinderung als Einschränkung der Partizipation auffasst, stellt hinsichtlich des Diagnoseprozesses veränderte Anforderungen an die Professionellen des SPD. So stehen nun nicht mehr Resultate standardisierter Diagnosetests im Zentrum, sondern vielmehr die Möglichkeiten der Partizipation in unterschiedlichsten Lebensbereichen.

Dies ist beispielsweise auch im Bereich des Intelligenzquotienten (IQ) der Fall, der auf der Grundlage des bio-psycho-sozialen Modells nicht mehr allein den Ausschlag für eine Sonderschulung geben kann. Um Ergebnisse aus psychologischen Tests trotzdem für das SAV fruchtbar zu machen, stellt der Kanton Zürich für die Interpretation der Testergebnisse eines Intelligenztests eine »Übersetzungshilfe« zur Verfügung. So wurden Indikationsbereiche entwickelt, die es den Schulpsychologinnen und Schulpsychologen ermöglichen sollen, »die durch Testverfahren, Beobachtung oder Untersuchungen erhobenen Informationen adäquat in das SAV zu übertragen und […] beispielsweise zu klären, wo die Ergebnisse eines Intelligenztests abgebildet werden können« (BDZH 2014, 3). Mit der Orientierung an der ICF begegnet das SAV der fundamentalen Kritik an einer einseitigen Orientierung am Verständnis von Behinderung im Sinne eines individuellen Problems und weist den psychologischen Diagnosen die Funktion eines »Puzzleteils« zu (Inäbnit und Rom 2008).

Die Prüfung in Bezug auf die Frage, ob gegebenenfalls sonderpädagogische Massnahmen angebracht sind, beginnt im Kanton Zürich mit einem Schulischen Standortgespräch (SSG) (Hollenweger und Lienhard 2007). Dieses Gespräch kann auf Antrag von Eltern oder Lehrpersonen angesetzt werden (VSM § 241) und dient dazu, den Förderbedarf und die Förderziele sowie die zeitliche Planung der Massnahmen festzulegen (VSM § 242). Beim SSG handelt es sich um ein Verfahren, das über die gemeinsame Sprache der ICF eine multiprofessionelle Zusammenarbeit ermöglichen soll (Luder 2011b). Entsprechend nehmen am SSG neben der Regellehrperson, den Eltern und meist auch den betreffenden Schülerinnen und Schülern noch weitere Fachpersonen teil, die »zur Einschätzung und Lösung des Problems etwas beitragen können« (Baur und Meier 2015, 37). Die Diskussion von Ressourcenfragen, Beratungen in IDTs sowie schulpsychologische Abklärungen sollen erst im Anschluss an ein SSG erfolgen (BDZH 2008). Sind sich Eltern und Regellehrperson einig, können sie sich mit dem Vorschlag einer Massnahme an die Schulleitung wenden. Stimmt diese zu, »wird der Vorschlag zur Entscheidung« (VSM § 261). Im Gegensatz dazu müssen Sonderschulungen von der Schulpflege genehmigt werden (VSM § 264), wobei eine vorgängige Abklärung des SPD auf der Basis des SAV notwendig ist. Des Weiteren muss der SPD eine Abklärung durchführen, wenn Uneinigkeiten oder Unklarheiten bestehen (VSM § 251). Sind dazu medizinische, logopädische oder psychomotorische Kenntnisse notwendig, hat die Schulpsychologin oder der Schulpsychologe eine entsprechende Fachperson miteinzubeziehen (VSM § 253).

Die vorhergehenden Ausführungen zum sonderpädagogischen Angebot des Kantons Zürich, zu den Regelungen in Bezug auf die Festlegung des Förderbedarfs respektive von Förderzielen und zu den daraus folgenden Entscheidungen hinsichtlich entsprechender Massnahmen zeigen, dass die integrativ ausgerichtete Schule sowohl eine multiprofessionelle Zusammenarbeit als auch eine enge Zusammenarbeit mit den Eltern notwendig macht. Um die Einzelheiten zu sonderpädagogischen Massnahmen zu regeln, wurden auf Gemeindeebene sonderpädagogische Konzepte entwickelt. Darin regeln die Gemeinden Angebot, Finanzierung, Organisation, Zusammenarbeit sowie Verfahren und Abläufe im Bereich der sonderpädagogischen Massnahmen (z.B. Primarschule Schwerzenbach 2012). Im Bereich der Zusammenarbeit wird in einigen Gemeinden auch das IDT genannt, das nachfolgend auf der Grundlage kommunaler sonderpädagogischer Konzepte genauer beschrieben wird.

2.2KONZEPTUELL INSTITUTIONALISIERTE ZUSAMMENARBEITSFORMEN

In kommunalen sonderpädagogischen Konzepten werden zwei verschiedene Formen der Zusammenarbeit aufgeführt:4 Unterrichtsteams und IDTs. Ihnen werden unterschiedliche Funktionen zugeschrieben (Schule Thalwil 2009):

•Unterrichtsteam: Planung und Umsetzung von Unterricht;

•Interdisziplinäres Team: Beratung.

Das Unterrichtsteam – teilweise auch als »pädagogisches Team« bezeichnet –, bestehend aus Regellehrperson und Fachperson für Schulische Heilpädagogik, plant den Unterricht und setzt diesen mit den Schülerinnen und Schülern um. Diese professionsübergreifende Zusammenarbeit auf der Unterrichtsebene wird seit der Einführung der integrativen Schulung als selbstverständlich erachtet, weil Lehrpersonen den Unterricht gemeinsam mit Fachpersonen für Schulische Heilpädagogik planen und durchführen müssen (z.B. Kreie 2009; Kreis, Wick und Kosorok Labhart 2016a; Lindmeier und Beyer 2011; Lütje-Klose und Urban 2014; Schwager 2011; Werning und Arndt 2013; Wocken 1987).5 Entsprechend liegen zur unterrichtsbezogenen Zusammenarbeit zwischen Lehrpersonen und Fachpersonen für Schulische Heilpädagogik viele Forschungsergebnisse vor. Diesbezüglich wird häufig untersucht, auf welcher Kooperationsstufe (für unterschiedliche Modelle siehe Köker 2012) die Zusammenarbeit verwirklicht wird (z.B. Gebhardt et al. 2013; Lütje-Klose und Urban 2014; Werning und Arndt 2013; Widmer-Wolf 2014). Zu diesem Zweck wird beispielsweise die Qualität der Zusammenarbeit erhoben, wobei eine niedrige Kooperationsstufe (beispielsweise der Austausch von Materialien, Gräsel, Fußangel und Pröbstel 2006) auf eine weniger elaborierte Zusammenarbeit verweist als eine hohe Kooperationsstufe (Ko-Konstruktion, ebd.). Auch Fragen zur Gestaltung der Zusammenarbeit, zu den jeweiligen Zuständigkeitsbereichen der Professionellen und zu deren Aushandlung sowie zu wichtigen Rahmenbedingungen werden in den betreffenden Studien gestellt (z.B. Baumann, Henrich und Studer 2013a; 2013b; Gebhard et al. 2014; Kreis, Wick und Kosorok Labhart 2016b) und es werden Praxishilfen zur Aushandlung der Zusammenarbeit angeboten (z.B. Brenzikofer, Wolters und Studer 2014; Ramirez Moreno 2010; Steppacher 2014).

Die Zusammenarbeit in Unterrichtsteams kann jedoch auch über die direkte Zusammenarbeit von Lehrperson und Schulischer Heilpädagogin oder Schulischem Heilpädagogen im Unterrichtshandeln hinausgehen. So kann sich ein erweitertes Unterrichtsteam beispielsweise einmal im Monat treffen und besteht aus mehreren Lehrpersonen aus Parallelklassen (Jahrgangsteam) oder aus einer Stufe (Stufenteam). Diese Zusammenarbeitsformen sollen es den Lehrpersonen ermöglichen, Synergien zu nutzen sowie pädagogische und didaktische Fragen zu diskutieren (Schule Thalwil 2009), weshalb es sich im weiteren Sinne um sogenannte »professionelle Lerngemeinschaften« handelt. Unter diesem Begriff wird die (teilweise obligatorische) Zusammenarbeit unter Lehrpersonen im Rahmen der Unterrichts- und Schulentwicklung verstanden (z.B. Esslinger-Hinz 2003; Köker 2012; Kolbe und Reh 2008; Werning und Arndt 2013). Professionelle Lerngemeinschaften beschäftigen sich mit der Veränderung von Schule, indem Lehrpersonen ihren Unterricht oder andere Aspekte professionellen Handelns gemeinsam weiterentwickeln, teilweise auch spezifisch im Hinblick auf eine »inklusive Schulentwicklung« (Heimlich et al. 2016).

Die Zusammenarbeit im Unterricht wie auch während der Unterrichtsplanung und die darüber hinaus als zentral erachtete ko-konstruktive Schulentwicklung in professionellen Lerngemeinschaften können somit zum Arbeitsbereich eines Unterrichtsteams gezählt werden. Im Gegensatz dazu liegen die Aufgaben des IDT nicht auf der Unterrichtsebene. Laut dem Konzept der Gemeinde Thalwil kommt ihm in der integrativen Schule vielmehr eine Beratungsfunktion zu: »Das Interdisziplinäre Team ist ein sonderpädagogischer Fachkonvent. Es ist ein Austausch- und Beratungsgremium für sonderpädagogische Fragestellungen innerhalb der Schuleinheit« (Schule Thalwil 2009, 15). Dieses Gremium trifft sich mindestens einmal im Quartal. Die Arbeitsweise gestaltet sich in der Regel wie folgt: Eine Lehrperson oder seltener ein Unterrichtsteam meldet schriftlich – zum Beispiel auf einem Aushang im Lehrpersonenzimmer – ein Anliegen an, das sich auf einzelne Schülerinnen und Schüler, Gruppen von Schülerinnen und Schülern oder ganze Klassen beziehen kann. Meist handelt es sich um Fallbesprechungen, die eine einzelne Schülerin oder einen einzelnen Schüler betreffen. An den Gesprächen können Personen unterschiedlicher Professionen teilnehmen, wobei die Praxis dazu je nach Schule sehr unterschiedlich aussieht. Die möglichen Teilnehmenden und ihre Aufgaben werden im Folgenden kurz beschrieben.

Die Schulleiterin oder der Schulleiter leitet das IDT. Diese Aufgabe umfasst das Sammeln der Anliegen, die Planung des Sitzungsablaufs sowie das Einladen derjenigen Personen, deren Anwesenheit als wichtig erachtet wird. Die Funktion der Schulleitung ist im Kanton Zürich im Zuge der 1997 einsetzenden Entwicklung der »teilautonomen Volksschule« eingeführt worden, zuerst in Schulversuchen und nach der Inkraftsetzung des neuen Volksschulgesetzes seit 2009 schliesslich flächendeckend (Keim 2016).

Die Schulpsychologin oder der Schulpsychologe ist beimSPD der Gemeinde angestellt. Die Fachpersonen des SPD haben die Aufgabe, Abklärungen durchzuführen, Diagnosen zu stellen und auf der Grundlage dieser Abklärungen Massnahmen vorzuschlagen. Darüber hinaus sind sie in der Beratung verschiedener im Schulfeld tätiger Personen wie auch der Eltern von Schülerinnen und Schülern aktiv. Die Ausdifferenzierung der Sonderklassen hatte im Kanton Zürich einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss auf die Etablierung des SPD (Inäbnit und Rom 2008; siehe Kapitel 2.3). Zu Beginn, das heisst ab den 1950er-Jahren, handelte es sich meist um »Sonderklassenlehrer mit einer Ausbildung in Testanwendung« (ebd., 86). Erst später übernahmen Psychologinnen und Psychologen mit Hochschulabschluss die Aufgaben im SPD. Mit dem neuen Volksschulgesetz von 2005 wurden die Organisation und Arbeitsweise der Dienste kantonal geregelt. Ihre gesetzlich festgelegte Aufgabe besteht darin, eine (sonderpädagogische) Massnahme zu empfehlen. Diese Empfehlung hat sich auf eine mehrdimensionale Abklärung gemäss den Vorgaben des SAV zu stützen (siehe Kapitel 2.1).

Die Schulsozialarbeiterin oder der Schulsozialarbeiter kümmert sich in der Schule um sozialpädagogische Belange. Diese Fachperson wird von den Lehrpersonen hinzugezogen, wenn Probleme wie Mobbing/Gewalt, Schulprobleme, Verhaltensprobleme, soziale Probleme oder Suchtprobleme festgestellt werden (Müller 2005). Die Schulsozialarbeiterin oder der Schulsozialarbeiter kann die betreffende Lehrperson beraten oder auch eine Intervention durchführen, an der je nach Problemlage einzelne Kinder respektive Jugendliche, eine Klasse oder die ganze Schule teilnehmen können. Meist sind die Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter in den Pausen auch auf dem Pausenplatz anzutreffen und kümmern sich in Zusammenarbeit mit den Lehrpersonen um dort auftretende Probleme. Obwohl erste Projekte bereits in den 1970er-Jahren umgesetzt worden waren, verbreitete sich die Schulsozialarbeit grossflächig erst in den 1990er-Jahren (Baier 2008). Seit 2012 sind die Gemeinden durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz dazu verpflichtet, für ein bedarfsgerechtes Angebot der Schulsozialarbeit zu sorgen (KJGH § 19). Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter verfügen über ein Hochschulstudium in Sozialarbeit, soziokultureller Animation oder Sozialpädagogik (Vögeli-Mantovani 2005). In Ergänzung dazu werden Weiterbildungsgänge an Fachhochschulen angeboten. Die Schulsozialarbeit wird von den Gemeinden finanziert, was bedeutet, dass die Anstellungsverhältnisse je nach Gemeinde unterschiedlich aussehen können. So ist beispielsweise in Gemeinden des Bezirks Winterthur und Andelfingen pro 540 Schülerinnen und Schüler eine Vollzeitstelle vorgesehen, während die Stadt Winterthur pro 1038 Schülerinnen und Schüler eine Fachperson im Vollzeitpensum beschäftigt (AJB 2016).

Die Schulische Heilpädagogin oder der Schulische Heilpädagoge ist als Einschulungs- oder Kleinklassenlehrperson, als Lehrperson für IF oder im Bereich der IS tätig. Im Rahmen der IF unterstützen und beraten diese Fachpersonen die Lehrpersonen der Regelklassen im Unterricht und werden zu diesem Zweck von der Schulleitung für einige Lektionen einer bestimmten Klasse zugewiesen. Bei der IS sind die Schulischen Heilpädagoginnen und Schulischen Heilpädagogenwährend bis zu acht Lektionen für eine Schülerin oder einen Schüler mit besonderem Bildungsbedarf zuständig und kümmern sich um deren oder dessen Förderung. Dabei wird zwischen Integrierter Sonderschulung in der Verantwortung der Sonderschule (ISS) und Integrierter Sonderschulung in der Verantwortung der Regelschule (ISR) unterschieden. Fachpersonen für Heilpädagogik werden schon seit 1899 ausgebildet, seit 1924 institutionalisiert am Heilpädagogischen Seminar in Zürich (Wolfisberg 2002), der heutigen Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH). Die Ausbildung in Schulischer Heilpädagogik wird als Masterstudium angeboten, wobei ein Bachelorabschluss als Volksschullehrperson vorausgesetzt wird. Je nach Aufgabe sind die Schulischen Heilpädagoginnen und Schulischen Heilpädagogenunterschiedlich angestellt und deshalb auch anderen Vorgesetzten unterstellt. Bei der IF und der ISR sind sieder Schulleitung der Regelschule unterstellt. Dies ist auch bei der ISS der Fall, wobei jedoch laut Gesetz die Sonderschule in Absprache mit der Regelschule über sonder- und sozialpädagogische Massnahmen entscheidet (VSM § 224). Entsprechend erfordert eine ISS eine enge Zusammenarbeit zwischen Regelschule und Sonderschule.

Die Fachperson für Begabungs- und Begabtenförderung ist für Schülerinnen und Schüler mit »besonderen Begabungen oder ausgeprägten intellektuellen Fähigkeiten«6 verantwortlich. Begabungsförderung wird als Teil des Regelschulunterrichts verstanden und soll im Kanton Zürich über die IF abgedeckt werden. Darüber hinaus kann eine Schulgemeinde für die Zielgruppe der »Schülerinnen und Schüler mit ausgeprägter Begabung, deren Förderbedarf die Möglichkeiten des Regelunterrichts übersteigt« (BDZH 2007, 8), zusätzliche Angebote festlegen. Diese Angebote sollten von Lehrpersonen mit Zusatzausbildung oder Schulischen Heilpädagoginnen und Schulischen Heilpädagogen durchgeführt werden (ebd., 12).

Die DaZ-Lehrperson unterrichtet Gruppen von Kindern mit nicht deutscher Erstsprache entweder zeitgleich mit oder ausserhalb der Unterrichtszeiten der Regelklasse. Dieser Zusatzunterricht verfolgt das Ziel, dass die betreffenden Schülerinnen und Schüler dem Regelunterricht auf Deutsch möglichst rasch folgen können. Der DaZ-Unterricht (Aufnahmeunterricht) löste in der Folge der Einführung des neuen Volksschulgesetzes im Jahr 2005 die Sonderklasse E für fremdsprachige Schülerinnen und Schüler ab. Diese war in den 1980er-Jahren »als institutionelle Antwort auf die zunehmende Zahl von Schulkindern mit Migrationshintergrund mit Schulschwierigkeiten« (Wolfisberg 2008, 196) eingerichtet worden. Als Lehrpersonen zugelassen sind heute ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer mit einer Weiterbildung in DaZ (VSM § 292). Allerdings hatte im Schuljahr 2013/2014 ein Drittel der DaZ-Lehrpersonen noch keine von der EDK anerkannte Ausbildung absolviert (Liesen 2013).

Die Logopädin oder der Logopäde beschäftigt sich mit den drei Aufgaben der Ursachenforschung, Diagnostik und Förderung im Bereich der Kommunikations- und Schluckstörungen (DLV 2012). In der Schule stehen Diagnostik und Förderung im Zentrum. In vielen Schulgemeinden führt die Fachperson für Logopädie im Kindergarten ein Screening durch, um Kinder, die in ihrer Sprachentwicklung Unterstützung benötigen, frühzeitig zu erkennen. Gefördert wird hauptsächlich im Einzelsetting mit »therapeutischen Interventionen« (ebd., 5). Logopädie zählt zu denjenigen Therapien, die vom Kanton als sonderpädagogische Massnahme angesehen werden, und wird über den kantonal vorgegebenen Ressourcenpool finanziert. Die Ausbildung zur Sprachheilpädagogin oder zum Sprachheilpädagogen respektive zur Sprachheillehrperson war in der Schweiz zuerst in Fribourg und Zürich möglich. In Zürich wurde sie zu Beginn an der Taubstummen- und Blindenanstalt Zürich durchgeführt und kann seit 1924 am damals neu gegründeten Heilpädagogischen Seminar Zürich, der heutigen HfH, absolviert werden. Der Berufsverband »Deutschschweizer Logopädinnen- und Logopädenverband« (DLV) beschreibt die »interdisziplinäre wissenschaftliche Disziplin« Logopädie im Berufsbild in Anlehnung an den europäischen Verband CPLOL sowohl als eigenen Fachbereich als auch als eigene Profession (ebd., 3).

Eine Psychomotoriktherapeutin oder ein Psychomotoriktherapeut wird beigezogen, um schulische Lernprozesse systematisch über die Bewegung respektive die Motorik zu fördern (Reichenbach 2010). Auch die psychomotorische Therapie zählt zu denjenigen Therapien, die in der VSM zu den sonderpädagogischen Massnahmen gezählt und über die für Therapien zur Verfügung stehenden Ressourcen finanziert werden. Psychomotoriktherapeutinnen und Psychomotoriktherapeuten müssen über eine anerkannte Ausbildung verfügen, die an der HfH in Zürich absolviert werden kann und zu einem Bachelorabschluss führt. Sie haben somit zuvor nicht zwingend eine Ausbildung zur Lehrperson durchlaufen.

Beraterinnen und Berater der Sonderschule stehen der Regelschule bei der IS zur Seite. Dadurch soll ein Erfahrungstransfer von der Sonderschule in die Regelschule ermöglicht werden. Die Beratung muss jedoch nicht notwendigerweise von einer Sonderschule durchgeführt werden, sondern kann auch von einer anderen Fachstelle angeboten werden. Wichtig ist diesbezüglich lediglich, dass behinderungsspezifische Expertise einfliessen kann (BDZH 2012a).

Unter der Bezeichnung der Klassenassistenz wird eine im pädagogischen Bereich nicht ausgebildete Person verstanden, welche die Lehrpersonen im Unterricht unterstützt. Vielfach hat die Klassenassistenz die Funktion, eine Schülerin oder einen Schüler mit besonderem Bedarf in denjenigen Lektionen zu unterstützen, in denen keine Fachperson für Schulische Heilpädagogik präsent ist und keine Therapie stattfindet. Die Rolle der Klassenassistenz ist neu und geht mit der Frage einer Deprofessionalisierung des (heilpädagogischen) Lehrberufs einher. Erst unzureichend bestimmt ist diesbezüglich, welche Handlungen im Schulfeld von einer nicht pädagogisch ausgebildeten Person durchgeführt werden können oder sollen. Zur Klärung dieser Funktion wird an der Pädagogischen Hochschule Zürich zurzeit eine Ausbildung konzipiert (Baiatu 2016).

In einem IDT können Angehörige aller beschriebenen Berufsgruppen (Schulleitung, Psychologinnen und Psychologen des SPD, Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter, Fachpersonen für Schulische Heilpädagogik, Lehrpersonen der Begabtenförderung, DaZ-Lehrpersonen, Logopädinnen und Logopäden, Psychomotoriktherapeutinnen und Psychomotoriktherapeuten, IS-Beraterinnen und IS-Berater sowie Klassenassistenzen) vertreten sein. Ganz generell kann des Weiteren zusammenfassend festgehalten werden, dass das IDT laut dem exemplarisch beigezogenen kommunalen sonderpädagogischen Konzept die Aufgabe hat, Beratung zu sonderpädagogischen Fragestellungen anzubieten. Dies soll unter Berücksichtigung sämtlicher Perspektiven, die in der Schule relevant sind, geschehen. Dadurch unterscheiden sich die Aufgaben des IDT sowohl von unterrichtlicher Zusammenarbeit als auch von der Arbeit in professionellen Lerngemeinschaften.

2.3ZUSAMMENARBEIT ZWISCHEN SCHULPSYCHOLOGIE UND SCHULE

Die auf das Volksschulgesetz von 2005 und den NFA von 2004 folgende Neugestaltung der Organisation des sonderpädagogischen Angebots im Kanton Zürich könnte den Eindruck erwecken, dass sich das IDT als neue Form der Zusammenarbeit erst in jener Zeit herausgebildet habe. Werden die Entstehung und die Geschichte des SPD betrachtet, wird jedoch ersichtlich, dass das Konzept über längere Zeit hinweg entstanden ist und der Zusammenarbeit im IDT mehrere Phasen der Zusammenarbeit zwischen Schulpsychologinnen und Schulpsychologen und den Schulen vorangegangen waren. Dieser Entstehungsprozess wird nachfolgend dargestellt. Da die Entwicklung des SPD in einem engen Zusammenhang mit der Entwicklung der Sonderklassen und der Stütz- und Fördermassnahmen steht, wird die Geschichte des SPD mit der Verbreitung respektive der Aufhebung von Sonderklassen und anderen sonderpädagogischen Massnahmen in Bezug gesetzt. Vor diesem Hintergrund kann die Etablierung der Zusammenarbeit zwischen SPD und Schule besser nachvollzogen werden.

Die Entwicklung der sonderpädagogischen Massnahmen kann aus der Bildungsstatistik rekonstruiert werden. Dabei muss – in heutiger Terminologie – zwischen dem niederschwelligen Bereich (Besondere Klassen; Integrative Schulungsform [ISF], heute IF) und der Sonderschulung (Sonderschulung in Sonderschulen und Heimen; IS) unterschieden werden. Die statistischen Angaben zu diesen zwei Bereichen sind in Tabelle 1 aufgelistet. Zusätzliche Daten zu Therapien sowie zu Stütz- und Fördermassnahmen werden weiter unten direkt im Text berichtet.

Tabelle 1: Statistik zur Anzahl Schülerinnen und Schüler in Besonderen Klassen, Integrativen Schulungsformen (ISF) und (Integrierter) Sonderschulung (ISS und ISR) in prozentualen Anteilen

Niederschwellige Massnahmen

Sonderschulung

Jahr

Volksschule

N

Bes. Klassen

ISF

Total

Separiert

ISS

ISR

Total

1930

65 567

1.8%

1.8%

1935

69 655

1.9%

1.9%

1940

67 842

2.1%

2.1%

1945

67 159

2.0%

2.0%

1950

75 107

2.0%

2.0%

1955

94 511

2.3%

2.3%

1960

100 077

3.3%

3.3%

1965

106 117

3.5%

3.5%

1970

122 426

3.6%

3.6%

1975

133 251

4.1%

4.1%

1980

117 593

3.6%

3.6%

1985

97 977

3.7%

3.7%

1990

99 117

4.1%

4.1%

1995

106 517

4.1%

1.5%

5.6%

**

2000

108 675

4.9%

1.8%

6.7%

1.8%

1.8%

2005

109 593

4.1%

3.6%

7.7%

2.0%

0.1%

0.0%

2.1%

2010

106 999

0.6%

*

2.2%

0.6%

0.2%

3.0%

2015

111 015

0.7%

2.1%

0.4%

1.7%

4.2%

Anmerkungen: Basis Primar- und Sekundarstufenschülerinnen und -schüler unter Ausschluss der Sekundarstufe 2 (und der Brückenangebote in Sonderschulen) sowie ohne Kindergartenkinder. Datenquellen »niederschwellige Massnahmen«: Beck und Imhof (1982) bis zum Jahr 1980; 1985: Berechnung auf der Grundlage des Berichts »Die Schulen im Kanton Zürich 2002/03«, S. 7; 1990 und 1995 und ISF: eigene Berechnungen anhand der Zahlen der Berichte der Bildungsstatistik des Kantons Zürich »Die Schulen im Kanton Zürich« (Berichte abrufbar unter https://www.bista.zh.ch/_pub/Publikationen.aspx [abgerufen am 01.01.2019]; ab 2000 und Sonderschulung: Daten der Bildungsdirektion Kanton Zürich, Bildungsstatistik, Stand 21.11.2017.*: ISF gab es nur im Rahmen des Schulversuches zur integrativen Schulung (Strasser, Coradi und Hildbrand 1989), zur IF seit 2010 sind keine Zahlen vorhanden, weil es sich nicht um kindgebundene Ressourcen handelt; **: keine Daten verfügbar.

Im Bereich der niederschwelligen Massnahmen wird in der tabellarischen Zusammenstellung sichtbar, dass die Verbreitung der Besonderen Klassen (bis 1995 »Sonderklassen«, von 1996 bis 2007 »Kleinklassen«, seit 2008 »Besondere Klassen«) im Kanton Zürich ab dem Jahr 1955 einsetzte (Beck und Imhof 1982). Tabelle 1 ebenfalls zu entnehmen ist die Entwicklung der Zahlen der Schülerinnen und Schüler zwischen 1930 und 2015. Bei den Besonderen Klassen zeigt sich eine 1955 beginnende Zunahme, die sich bis zum Jahr 2000 fortsetzte. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler in Besonderen Klassen stieg in diesem Zeitraum von 2 % auf 4.9 %. Nach 2005 fiel der Anteil auf unter ein Prozent. Dieser Einbruch der Besonderen Klassen lässt sich durch die auf das Volksschulgesetz von 2005 zurückgehenden Veränderungen im Schulsystem erklären. Während die Quote der Schülerinnen und Schüler in Besonderen Klassen seit 2000 gesunken ist, hat der Umfang der integrativen Unterstützung kontinuierlich zugenommen. Wie in Tabelle 1 ersichtlich wird, ist die Gesamtquote der Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf im Bereich der niederschwelligen Massnahmen deshalb weiter gestiegen. Im Jahr 2005 hatten insgesamt 7.7 % der Schülerinnen und Schüler der Primar- respektive Sekundarstufe 1 einen Sonderklassenstatus, wobei sich Separation und Integration ungefähr die Waage hielten. Im Bereich der Sonderschulung war es ab 2005 möglich, Integrationen durchzuführen (in Tabelle 1 ISS und ISR). Der Blick auf den sich kaum verändernden Prozentsatz von ca. 2 % separierter Sonderschulung zeigt jedoch, dass es sich dabei wohl eher um Schülerinnen und Schüler aus früheren Sonderklassen als um Integrationen ehemaliger separiert beschulter Sonderschülerinnen und Sonderschüler handeln dürfte.

Wie eingangs bereits festgehalten wurde, stehen diese Entwicklungen der Quoten von Schülerinnen und Schülern mit Sonderklassenstatus respektive Sonderschulstatus im Kanton Zürich in Verbindung mit der Professionsentwicklung der Schulpsychologie und der Veränderung der Zusammenarbeit zwischen Schulpsychologie und Schule. Die Entstehung und die Etablierung des SPD werden im Folgenden in diesem Kontext beschrieben und können in drei sich überlappende Zeitphasen eingeteilt werden.

In der ersten Phase zwischen 1950 und 2000 stieg die Anzahl der in Sonderklassen beschulten Schülerinnen und Schüler. Die Entstehung der Schulpsychologie fällt in diese Zeit.7 Die Lehrerinnen und Lehrer der Stadt Zürich hatten sich bereits ab Mitte der 1950er-Jahre für die Einführung eines SPD eingesetzt, während diese Institution in den meisten Zürcher Bezirken erst in den 1960er-Jahren entstand (Arn 1970). Laut Rudolf Arn (1970, 142) »bestand das Bedürfnis nach einer Beratungsinstanz für all jene Schulschwierigkeiten, die nicht in den Bereich des Schularztes gehören« (auch Schlichte 1977, 28). Die Ausdifferenzierung der Sonderklassen fand in diesen Jahren exzessiv und zugleich unkontrolliert statt. So berichtet Sonja Rosenberg (1989, 37), dass das Schulamt der Stadt Zürich im Jahr 1952 zehn verschiedene Typen von Sonderklassenschülerinnen und Sonderklassenschülern unterschieden habe: Sehschwache, Schwerhörige, Sprachgeschädigte, Legasthenikerinnen und Legastheniker, körperlich Behinderte, Linkshänderinnen und Linkshänder, Fremdsprachige, Schülerinnen und Schüler mit Psychosen respektive Neurosen sowie Schwachbegabte.

Ab 1959 wurde das Führen von Sonderklassen kantonal geregelt und dadurch vereinheitlicht (siehe Kapitel 2.1). Die Veränderung der Schulstruktur erforderte entsprechende Abklärungsstellen, die mit dem Sonderklassensystem vertraut waren und Zuweisungen zu den Sonderklassen adäquat vornehmen sollten. Für die Abklärung wurde deshalb der Beizug einer Fachperson mit Kenntnissen des Sonderklassensystems notwendig (Bühler-Niederberger 1991). Für diese Arbeit wurden laut dem damaligen Reglement der Stadt Zürich »Lehrer oder Sonderklassenlehrer« vorgesehen, die sich »während eines einjährigen, nur teilweise bezahlten Praktikums, neben Kursen und einem Selbststudium auf ihre Aufgabe vorbereiteten« (Schlichte 1977, 28). Über die Positionierung als aussenstehende Instanz konnte diese Fachperson die Sonderschulbedürftigkeit auf der Grundlage von Testergebnissen klären. Die Herausforderung der Aufgabe bestand Doris Bühler-Niederberger (1991, 84, Hervorhebung im Original) zufolge jedoch nicht primär in der Frage der Zuteilung an sich, sondern vielmehr in den sich daraus ergebenden Diskussionen mit den Eltern: »Nicht in erster Linie die Schwierigkeit der Entscheidung also rief nach dem Fachmann, sondern ihre Konfliktivität. Zuweisungen zu Sonderklassen stiessen schon immer auf den Widerstand der Eltern.«

Abklärungen fanden keineswegs nur auf Nachfrage der Lehrpersonen hin statt. Vielmehr verstanden sich die Schulpsychologinnen und Schulpsychologen als diejenigen, die den Ausbau von Sonderschulen und Sonderklassen zu unterstützen hatten (Arn 1970), was den Zusammenhang zwischen dem Anstieg von Sonderklassen und der Ausbreitung des SPD seit 1950 erklären kann (Beck und Imhof 1982; Inäbnit und Rom 2008; Milić 2007). Wie Bühler-Niederberger (1991) berichtet, haben die Schulpsychologinnen und Schulpsychologen die Lehrpersonen dazu zu bewegen versucht, mehr Kinder in Sonderklassen einzuweisen. Zu diesem Zweck wurden Reihenuntersuchungen zur Intelligenzmessung durchgeführt, wobei es angesichts des damaligen IQ-Grenzwerts von 85 als Kriterium für die Zuweisung zu einer Sonderklasse nicht verwunderlich ist, dass in Klassen mit 30 bis 40 Schülerinnen und Schülern teilweise bis zu zehn »eigentliche Sonderklassenschüler entdeckt wurden« (ebd., 115).

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Parallele zu den Ursprüngen der Schulpsychologie in den USA. So entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch dort das Bedürfnis, »Fachleute für die Zuweisungsdiagnostik« zu konsultieren, wobei die Entwicklung von Intelligenztests um 1911 »das Problem der Zuweisung elegant« (Inäbnit 2007, 176) löste. In der Schweiz führten die Reihenuntersuchungen jedoch nicht automatisch zu einer Sonderklasseneinweisung der diagnostizierten Kinder. Da sich die Eltern wie auch die Lehrpersonen – allen voran Lehrpersonen, deren Schülerinnen und Schüler ein Entscheid betraf, sowie Mitglieder der Schulpflege – oftmals gegen die Empfehlungen wehrten, wurden nicht alle zur Aussonderung empfohlenen Schülerinnen und Schüler auch tatsächlich in Sonderklassen beschult (Bühler-Niederberger 1991).

Die Zusammenarbeit zwischen Lehrpersonen und SPD bestand in der ersten Phase somit darin, hinsichtlich einer Sonderschulzuweisung »objektive« Daten zu gewinnen: Die Testergebnisse des SPD konnten von den Lehrpersonen und den Behörden dazu genutzt werden, die Einweisung in eine Sonderklasse gegenüber den Eltern zu begründen. Zugleich förderte der Einbezug der Schulpsychologie die Schulung in Sonderklassen. Dadurch wurde der Zuständigkeitsbereich des SPD als Experteninstanz für die Sonderklassenzuweisung professionspolitisch ausgebaut. Allerdings deuten die Interviewauswertungen von Bühler-Niederberger (1991) darauf hin, dass die Zusammenarbeit zwischen Lehrpersonen und SPD nicht überall gleich gut funktionierte und nicht immer ohne Meinungsverschiedenheiten vonstattenging. Den Sonderklassenempfehlungen des SPD gegenüber standen insbesondere eine grundsätzliche Infragestellung und die Unbeliebtheit der Sonderklassen aufseiten der Eltern und teilweise auch der Lehrpersonen.

Als zweite Phase der Zusammenarbeit zwischen Lehrpersonen und SPD kann die Zeit bis zur strukturellen Einführung der Integration als Folge des Volksschulgesetzes von 2005 bezeichnet werden, in der die Schule mit der Kritik an den Sonderklassen umzugehen versuchte. In dieser Zeitspanne verbreiteten sich die Diagnose »Legasthenie« und die damit verknüpfte Massnahme, die Legasthenietherapie, sowie kurze Zeit später auch die Dyskalkulietherapie und die Psychomotoriktherapie (Bühler-Niederberger 1991). Diese Therapieformen ermöglichten Schülerinnen und Schülern, die vormals einer Sonderklasse hätten zugeteilt werden müssen, einen Verbleib in ihrer Regelklasse. Anstelle der Aussonderung in eine Sonderklasse wurde somit eine ergänzende Therapie verordnet, gegen welche sich die Eltern meist weniger stark wehrten (ebd.). Zudem konnte der SPD auf diesem Weg dem Wunsch der Lehrpersonen nach zusätzlichen Fördermassnahmen entsprechen. Interviewaussagen in der Untersuchung von Bühler-Niederberger (1991) weisen darauf hin, dass der SPD die Wünsche der Lehrpersonen in vielen Fällen umgesetzt hat. Umgekehrt konnte der SPD dadurch seine Zuständigkeit im Bereich der Abklärung weiter ausbauen. Die Schulpsychologie erachtete sich ab den 1970er-Jahren konsequenterweise auch als die für Abklärung und Therapie von Legasthenie zuständige Stelle (Schlichte 1977). Diese Erweiterung des ursprünglichen Aufgabenbereichs der Sonderklassenzuweisung war für den SPD auch deshalb von Bedeutung, weil er auf diese Weise seine Arbeitsstellen insbesondere in kleinen Gemeinden legitimieren konnte. Entsprechend geht Bühler-Niederberger (1991) davon aus, dass das Störungsbild »Legasthenie« dem entstehenden Berufsstand der Schulpsychologinnen und Schulpsychologen bei der Etablierung geholfen hat. Damit einhergehend wurden jedoch auch die Ausbildungsanforderungen erhöht, weshalb Lehrpersonen mit Zusatzausbildung in Testdiagnostik Schritt für Schritt von Psychologinnen und Psychologen mit Hochschulabschluss abgelöst wurden (ebd.).

Neben den Therapien wurden auch die Stütz- und Fördermassnahmen ausgebaut. So besuchten bereits 1984 rund 20 %8 der Schülerinnen und Schüler eine therapeutische Massnahme (Logopädietherapie, Legasthenietherapie, Dyskalkulietherapie, Psychomotoriktherapie, Psychotherapie, Maltherapie, Musiktherapie, Rhythmik) oder erhielten stützende Massnahmen (DaZ, Aufgabenhilfe, Nachhilfe) (Bühler-Niederberger 1993). Diese Zahl nahm bis 1992 allerdings nur noch geringfügig zu (ebd.). Eine Untersuchung der Entwicklung von Stütz- und Fördermassnahmen im Zeitraum zwischen 1996 und 2005 geht davon aus, dass der Prozentsatz im Jahr 1996 auf ungefähr 27 % angestiegen war. Im Jahr 2005 wurden in den Bereichen von Aufgabenhilfe, Therapien (Logopädietherapie, Legasthenietherapie, Dyskalkulietherapie, Psychomotoriktherapie, Psychotherapie), übrigen Stütz- und Fördermassnahmen (Rhythmik, Nachhilfeunterricht) oder DaZ 38 Massnahmen pro 100 Schülerinnen und Schüler9 gesprochen. Laut Andrej Milić (2007) wurden im Schuljahr 2005/2006 48 Massnahmen pro 100 Schülerinnen und Schüler durchgeführt, wobei sich diese auf 33 % der Schülerinnen und Schüler verteilten. Das heisst, dass im Schuljahr 2005/2006 ein Drittel der Schülerinnen und Schüler sonderpädagogische Massnahmen erhielt, ein Teil von ihnen auch mehrere Massnahmen gleichzeitig.

In den Jahren nach einer Untersuchung von Otto F. Beck und Beda Imhof (1982), die sich auf den Zeitraum zwischen 1930 und 1980 erstreckte, stiegen somit die Sonderklassenquote wie auch die Quote der Stütz- und Fördermassnahmen. Die steigenden Zahlen führten dazu, dass in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre im Bereich der Legasthenie eine sogenannte »Legasthenieprophylaxe« eingeführt wurde (Bühler-Niederberger 1991). Zu diesem Zweck wurden Reihenuntersuchungen im Bereich des Schriftspracherwerbs durchgeführt. Die Ergebnisse wurden anschliessend in interdisziplinären Gruppen diskutiert, woraus sich eine neue Form der Zusammenarbeit zwischen Lehrpersonen, SPD und Therapeutin oder Therapeut ergab. In diesen Diskussionen wurde besprochen, welche Schülerinnen und Schüler in Bezug auf ihre Lese- und Rechtschreibentwicklung als »Risikokinder« einzuschätzen seien. Die betreffenden Schülerinnen und Schüler wurden vom SPD jeweils genauer abgeklärt, worauf gegebenenfalls eine Legasthenietherapie eingeleitet wurde. Diejenigen, deren Leistung knapp um den Grenzwert lag, wurden in einer kleinen Gruppe »präventiv« unterrichtet – dies in der Hoffnung, viele Probleme bereits früh angehen und auf diese Weise die Therapiebedürftigkeit reduzieren zu können. Des Weiteren wurde mithilfe von Rückfragen an die Lehrpersonen versucht, die Abklärungsquote zu senken, da die Schulpsychologinnen und Schulpsychologen mit der Zuweisung zu den Sonderschultypen und der Vergabe von Stütz- und Fördermassnahmen bereits gut ausgelastet waren (ebd.).

Die interdisziplinären Besprechungen, die sich im Bereich der Legasthenie etablierten, wurden im Verlauf der Zeit auf Abklärungsfragen insgesamt ausgeweitet. Daraus ergab sich die sogenannte »SPD-Sprechstunde« als dritte Phase