Interview mit einem Mörder - Bernhard Aichner - E-Book

Interview mit einem Mörder E-Book

Bernhard Aichner

4,6

Beschreibung

DER NEUE KRIMI VON Bernhard Aichner: MAX BROLLS BESTER FREUND IM VISIER EINES MÖRDERS Dramatische Szenen bei der Eröffnung des neuen Würstelstandes von Ex-Fußballstar Johann Baroni: Mitten in dem fröhlichen Geschehen fällt ein Schuss - und Baroni sinkt zu Boden. Totengräber Max Broll ist verzweifelt: Sein bester Freund darf nicht sterben! Als er wieder zur Besinnung kommt, erinnert sich Max: Er hat den Schützen gesehen. Doch der vermeintliche Täter entpuppt sich als harmloser Tourist. Es gibt kein Motiv, keine Tatwaffe, keine weiteren Zeugen - niemand schenkt Max Glauben. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Sache selbst in die Hand zu nehmen und sich an die Fersen des Mannes zu heften. Max folgt ihm in einer rasanten Verfolgungsjagd, die ihn bis auf ein Kreuzfahrtschiff im Mittelmeer bringt. Er ist überzeugt: Nur er kann den Verrückten zur Strecke bringen, um weitere Gräueltaten zu verhindern … ATEMLOS SCHNELL, GNADENLOS FESSELND: EIN ÖSTERREICHISCHER SENSATIONSEXPORT Kurze Sätze, überraschende Wendungen, geniale Dialoge: Der unverwechselbare Sog, in den Bernhard Aichners Bücher ziehen, machte ihn weltweit bekannt. Die britische Tageszeitung The Independent nennt sein Schreiben eine "Garantie für schlaflose Nächte", als "originell, kraftvoll und fesselnd" beschreibt ihn die Times. Auch im vierten Krimi um Max Broll zeigt er, dass er zu Recht international gelobt wird - und macht der österreichischen Krimiszene damit alle Ehre.

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Bernhard Aichner

Interview mit einem Mörder

Ein Max-Broll-Krimi

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
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Bernhard Aichner
Zum Autor
Impressum
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1

Obwohl Sommer ist. Max heizt den Ofen ein und legt sich hin. Auch wenn sie ihn für verrückt halten, er liebt seine Sauna. Egal, zu welcher Jahreszeit, hier ist sein Rückzugsort, sein kleines Paradies. Finnische Polarfichte, auf der er sich niederlässt, wann immer es geht, ein Ort der absoluten Ruhe, an dem niemand ihn stört. Entspannung, Schweiß, und wie seine Haut brennt. Kein anderer aus der Saunarunde verirrt sich vor Oktober in den Friedhofsgarten, nur er ist hier. Er und die Toten, die hinter der Mauer liegen. Der hübsche kleine Dorffriedhof, für den er verantwortlich ist, die Damen in Schwarz, die ihre Gräber pflegen, während er Wasser auf den Ofen gießt. Kerzen, die brennen, egal, ob die Sonne scheint.

Max Broll. Totengräber, Trinker, Träumer. Sein Leben ist gut. Eine schöne Wohnung im ersten Stock des Friedhofswärterhauses, eine liebevolle Stiefmutter im Erdgeschoss, die für ihn kocht. Und sein bester Freund im Nachbarhaus. Ungefähr zweimal im Monat schaufelt Max ein Grab, er pflegt die Wege, er kümmert sich um alles. Er macht die Arbeit, die keiner tun will, er lebt dort, wo keiner hinwill. Max hat seinen Vater beerbt, hat denselben Beruf ergriffen wie er, ist in seine Fußstapfen getreten, als er gestorben ist. Max hat den einfachen Weg genommen, er ist nicht zurück nach Wien, um fertig zu studieren, er ist im Dorf geblieben und Totengräber geworden statt Journalist. Max hat sich zufriedengegeben damit. Mit diesem Leben am Ende der Welt, mit diesem Dorf, das wenig zu bieten hat. Nur Beschaulichkeit und Tratsch, Natur und Geschwätz, und ab und zu ein Unfall, eine Katastrophe, mit der niemand gerechnet hat, das Schicksal, das wild um sich schlägt. Doch all das interessiert ihn gerade nicht, Max will seine Ruhe. Ein gepflegtes Bier auf seiner Dachterrasse. Oder auch zwei. Und der Friedhofsblick, wenn es dunkel ist. Die vielen Lichter, ein gutes Gespräch mit seinem Freund. Mehr muss da gar nicht sein.

Weil kein anderes Leben besser sein kann. Alles, was früher laut war, ist jetzt wieder still. Die Vergangenheit ruht. Alte Wunden sind verheilt, die Narben tun nicht mehr weh. Max denkt nicht mehr daran, was er verloren hat, wie viel Angst er hatte. Was in diesem kleinen Nest alles passiert ist in den letzten Jahren. Dass seine Freundin einfach tot war, dass seine Stiefmutter beinahe gestorben wäre. Verrückt alles, das Leben, das ihn gebeutelt hat. Ihn und Baroni. Sein Gefährte, sein Trinkpartner, der Ritter, der für ihn in jede Schlacht reiten würde. Und umgekehrt. Nachbarn, zwei Männer, die mit rauchenden Colts an der Bar stehen und trinken. Der Totengräber und der Fußballstar, der nach seiner Karriere ins Dorf zurückgekehrt ist und sich eine Designervilla gebaut hat. Der große Sohn des Dorfes, der den Neid aller auf sich gezogen hat, ein Außenseiter, wie Max auch einer ist. Sie halten zusammen, tun einander gut, brauchen einander. Beide sind ohne Frauen, sie haben kein Händchen dafür. Hin und wieder kommt die Sehnsucht nach Liebe in ihnen hoch, nach Zärtlichkeit und Berührung, dann trinken sie darauf und warten, bis es vergeht, dieses Gefühl, dieser Wunsch, sich an einen vertrauten Körper zu schmiegen, nicht allein zu sein in der Nacht. Dann, wenn sie sich voneinander verabschieden nach einem langen Abend und jeder in seinem leeren Bett verschwindet. Wir sind nicht für die Frauen gemacht, sagen sie und umarmen sich. Wie oft sie sich gegenseitig schon aus dem Dreck gezogen haben. Hilfe ohne Zögern, einer ist für den anderen da. Winnetou und Old Shatterhand. Blutsbrüder. Mindestens.

Max und Baroni. Und die Sauna. Zehn Minuten lang wird er noch sitzen bleiben und das Brennen spüren. Die Augen schließen, an nichts denken. Nur das Feuer, das im Ofen brennt, und der Minzgeruch, den er liebt, das Aufgussöl, das Tilda für ihn zubereitet. Die zweite Frau seines verstorbenen Vaters, Kriminalbeamtin im Ruhestand, die gute Seele des Hauses. Mehr als das. Tilda liebt Max. Und Max liebt Tilda. Auch für sie würde er alles tun. Sie ist seine Familie, sein Halt, wenn er abrutscht, ihre Rindssuppe richtet ihn wieder auf, wenn er am Boden liegt. Sie ist immer da, geht nicht weg. Egal, was Max tut, sie steht hinter ihm. Und sie extrahiert dieses herrliche Öl für ihn. Minze aus dem Garten. Nichts sonst ist wichtig in diesem Moment, die Welt ist draußen vor der Saunatür. Kurz muss sie noch warten.

Ein paar Minuten noch Stille, dann geht die Tür auf. Max räkelt und streckt sich, laut prustet er und verschwindet im Tauchbecken. Eiskaltes Wasser aus der Quelle, ein Geschenk, das er sich zum Geburtstag gemacht hat. Zum ersten Mal hat er diesseits der Mauer gegraben, ein Becken so groß wie acht Gräber. Die vertrauten Maße, Alltag. Die Schalungen, das Graben mit der Schaufel, kein Bagger, Max hat darauf bestanden, harte Arbeit. Aber mit Baronis Hilfe hat er sich diesen Traum erfüllt. Kies, Vlies, Teichfolie, ein kleiner Schwimmteich ist entstanden. Er ist die Vervollkommnung des friedhöflichen Wellness-Bereichs.

Über eine Woche lang haben sie geschuftet, bevor sie das erste Mal untertauchen konnten. Glücklich und zufrieden, so wie jetzt. Mit angehaltener Luft seit sechsundvierzig Sekunden. Das wunderbare Finale seines Saunagangs. Alles, was Max will. Auftauchen, die Sonne auf sich spüren, sich ins Gras legen, kurz noch liegen bleiben. Und dann ein kaltes Bier. Kurz noch ohne Verpflichtung sein, nichts tun müssen, sich einfach treiben lassen. Oder sich unterhalten mit Akofa.

Der neue Dorfpfarrer aus Afrika. Seit gut einem Jahr ist er im Amt, er ist ein Segen für das Dorf. Für Max. Wenn er sich daran erinnert, wie viele Kämpfe er mit dem alten Pfarrer Stein ausgetragen hat, wie vergiftet die Stimmung am Friedhof war. Ein alter, böser Mann, der einfach weggegangen ist, seine Schafe im Stich gelassen hat. Akofa, ein lebensfroher Kerl, der dem Dorf die Angst vor dem Fremden genommen hat. Ein Neger, ein waschechter Bimbo, haben sie gesagt. Er wird Unglück über das Dorf bringen, haben sie prophezeit. Heute lieben sie ihn. Seine unkonventionelle Art, seine großen weißen Zähne, wenn er lacht. Der schwarze Mann, vor dem sie sich gefürchtet haben, er bringt sie jetzt jeden Sonntag mit seiner Predigt zum Lachen. Akofa. Die Bedeutung seines Namens ist Programm. Mein Herz ist zufrieden. Der schwarze Mann, der seinem Totengräber ein Bier entgegenstreckt und lächelt. Es ist ihm egal, dass Max völlig nackt vor ihm liegt. Sich nicht rührt, einfach liegen bleibt.

– Servus, Max. Schaut gemütlich aus.

– Ja.

– Trink ein Bier. Tut dir gut.

– Danke, Herr Pfarrer.

– Es gibt etwas zu feiern, Max.

– Ja, unser guter Baroni eröffnet seinen Würstelstand, das wird ein Fest.

– Nicht nur Baroni, es gibt noch etwas anderes zu feiern.

– Was denn?

– Erntedank.

– Es ist Sommer, Akofa. Erntedank ist in diesem Land erst im Oktober.

– Nein, nein, Max. Heute habe ich geerntet, heute. Eine gute Ernte, ich bin sehr zufrieden, Max.

– Was hast du geerntet?

– Rauch.

– Wie meinst du das?

– Du weißt schon.

– Nein, ich weiß nicht. Keine Ahnung, wovon du sprichst.

– Gras.

– Wie bitte?

– So ein guter Boden hier. Ich habe noch nie eine so gute Ernte gehabt. Das sind einige Kilo, mein Freund, der Heilige Vater meint es gut mit mir.

– Du willst mir sagen, dass du Gras angebaut hast?

– Das wird das beste Gras sein, das ich jemals geraucht habe.

– Du rauchst?

– Nur Gras.

– Wow. Unser Pfarrer ist ein Kiffer.

– Das musst du dir ansehen, Max.

– Wo, um Gottes willen, hast du das angepflanzt?

– Im Kräutergärtchen. Die viele Sonne dort tut den Pflanzen gut.

– Und die Köchin?

– Sie hat mir geholfen mit dem Dünger. Brennnesselwasser, sie schwört darauf. Und sie hatte Recht, ich habe noch nie solche Pflanzen gesehen.

– Was soll ich sagen?

– Du sollst mit mir feiern, Max. Erntedank, verstehst du. Wir rauchen einen. Du und ich.

– Lieber nicht. Du weißt ja, Tilda war bei der Polizei, die findet das bestimmt nicht gut, wenn sie das rausbekommt. Du solltest das ganze Zeug so schnell wie möglich verschwinden lassen.

– Tilda ist lieb, die sagt nichts. Also komm schon, Max. Oben auf deiner Terrasse, ich bringe noch mehr Bier mit. Wir leben nur einmal, oder?

– Ich hab das letzte Mal vor fünfzehn Jahren gekifft.

– Dann ist es höchste Zeit, Max.

– Du bist Priester, Akofa.

– Eben. Und deshalb komm mit mir, mein Sohn.

Max steht auf und trinkt das Bier aus. Es ist noch genügend Zeit, bis Baroni seinen Stand eröffnet und die große Party losgeht, er kann sich noch in Ruhe mit dem Pfarrer auf die Terrasse setzen. Der Tag hat wunderbar begonnen, und er wird auch wunderbar enden. Max ist sich sicher.

2

Seine Stimme ist weit weg. Zwischen den Sonnenstrahlen sind Baronis Lippen, Max sieht, wie sein Mund auf- und zugeht. Wie er mit seinen Händen herumfuchtelt und auf- und niederhüpft. Seid ihr wahnsinnig geworden,schreit er. Wo seid ihr? In zehn Minuten geht es los. Baroni ist außer sich. Er versucht, Max hochzuziehen, doch Max will sitzen bleiben, weiter hinunter auf den Friedhof starren. Nichts tun will er, sich nicht bewegen. Und auch Akofa rührt sich nicht, auch er ist weit weg, reitet irgendwo auf einem Kamel durch die Wüste.

Doch Baroni lässt nicht locker, wütend verschwindet er in Max’ Wohnung und kommt mit einem Kübel kaltem Wasser zurück. Ohne zu zögern, leert er ihn über den beiden aus. Er versucht sie zurückzuholen, redet auf sie ein. So lange, bis Akofa ihm auf die Schulter klopft. Ich hole nur schnell das Weihwasser und mein Messgewand, sagt er. Wir sehen uns gleich unten. Dann verschwindet er. Baroni schaut streng. Immer noch sitzt Max in seinem Sessel. Immer noch ist alles wie im Nebel. Das Leben ist schön.

– Der macht das schon. Akofa ist ein Profi, einen Segen bekommt der in jedem Zustand hin.

– Ihr seid ja völlig besoffen.

– Eingeraucht, Baroni, eingeraucht.

– Du kiffst doch nicht.

– Unser Bimbo hat mich verführt. War gar nicht schlecht.

– Du musst dich jetzt anziehen, Max.

– Ich glaube, ich kann nicht, Baroni. In meinem Kopf dreht sich alles.

– Die Musikkapelle steht schon unten, alles ist bereit. Wir warten nur noch auf euch.

– Ich seh dich doppelt, Baroni.

– Wenn du jetzt nicht sofort aufstehst, gehe ich hinunter in den Garten und zünde die Sauna an.

– Ist ja schon gut, Baroni, ich komm schon.

– Jetzt bringen wir die offizielle Eröffnung hinter uns, dann lassen wir uns volllaufen.

– Wessen Idee war das überhaupt? Diese ganzen Reden, göttlicher Segen, das ist dir doch eigentlich zuwider, oder?

– Der Bürgermeister hat sich das gewünscht. Und nachdem er so einiges möglich gemacht hat, muss ich ihm den Gefallen tun. Und deshalb kommst du jetzt mit, mein Lieber. Wir bringen das gemeinsam hinter uns.

– Tut mir leid, dass ich spät dran bin, Baroni.

– Ist schon gut, Max.

– Hanni wäre stolz auf dich.

Der Würstelstand. Eine Institution im Dorf, ein weiterer Lieblingsplatz in Max’ Leben. Seit er sich erinnern kann, stand die kleine Hütte am Dorfplatz, unzählige Biere haben Max und Baroni dort schon getrunken. Spaß nach getaner Arbeit, ausgelassene Abende. Früher auch mit ­Hanni. Die langjährige Besitzerin des Standes, bevor ­Baroni den Laden übernommen hat. Ein knappes Jahr nach ihrem Tod. Hanni Polzer. Die Frau, die Max heiraten wollte, seine Liebe. Ihr kalter Körper, der neben ihm lag, ein Albtraum, der manchmal immer noch hochkommt. Erinnerungen, die wehtun. Hanni im Würstelstand. Hinter dem Tresen ihr Lachen. Und wie sie in dem Loch am Friedhof verschwunden ist. Max kann das Grab von seiner Terrasse aus sehen, Hanni. Kerzen, die für sie brennen. Und Baroni, der jetzt weiterführt, was sie zurückgelassen hat.

Wegen seiner Geldprobleme. Baroni hat gespielt, hat fast alles verloren. Seine Wohnungen in Wien, sein Vermögen, das Haus im Dorf konnte er gerade noch halten. Die Medien haben ihn damals vernichtet. Fußballstar in Nöten, haben sie geschrieben. Der Zockerkönig am Boden. Johann Baroni am Ende. Aber er hat sich nicht unterkriegen lassen, er hat ganz unten wieder angefangen, hat den Würstelstand übernommen, hat sich hinter den Tresen gestellt und den Bauern im Dorf Würste verkauft. Baroni hat sich demütigen lassen und Kleingeld gezählt. Und dann kam die Idee, aus der Not ein Geschäft zu machen. Eine Kette von Würstelständen. Der Stürmerstar und seine Baronis. Kleine, scharfe Bratwürste. Würstelstände in ganz Österreich, ein neues Logo, eine groß angelegte Werbeoffensive. Baroni hat laut geträumt und in Angriff genommen, wofür sie ihm den Vogel gezeigt hatten.

Baronis Würstchen. Mit einem Augenzwinkern hat er der Welt erklärt, dass er wieder da ist, dass er wieder obenauf schwimmt. Baroni, dieser verrückte Kerl. Max liebt ihn dafür, dass er seine Ideen laut hinausschreit, dass er mutig ist und nicht aufgibt. Dass er aus Hannis Stand eine Perle gemacht hat, ein Schmuckstück. Baroni hat ganze Arbeit geleistet, alles steht bereit, gleich startet er seine zweite Karriere, gleich wird der erste Stand von Baronis Würstchen-Kette feierlich eröffnet. Sobald Max sich angezogen hat. Jeans und Hemd. Max plagt sich. Baroni drängt und lacht.

– Tilda hat gedroht, dass sie dir eine Abreibung verpasst, wenn du nicht auf der Stelle unten erscheinst.

– Zwei Minuten.

– Ach, Max. Wenn ich dich nicht so gernhätte.

– Du liebst mich, Baroni. Und deshalb mache ich mich jetzt richtig hübsch für dich.

– Du sollst dich einfach nur beeilen, bitte.

– Du kannst ja vorausgehen, die warten bestimmt schon auf dich. Du solltest nicht zu spät zu deiner eigenen Eröffnung kommen.

– Halt die Klappe, Max, und mach weiter.

– Ich hab Hunger, Baroni. Ich muss etwas essen, sonst schaff ich das nicht.

– Wir bringen das jetzt hinter uns, dann bekommst du alles, was du willst. Aber jetzt zieh dir bitte endlich dieses verdammte Hemd an.

– Das ist nicht so leicht.

– Soll ich dir helfen?

– Du sollst mich nicht unter Druck setzen, Baroni. Ich gebe mein Bestes.

– Gott sei Dank musst du keine Rede halten.

– Logisch werde ich eine Ansprache halten, Baroni.

– Wirst du nicht.

– Du hast Recht. Werde ich nicht.

– Bitte, komm jetzt, Max.

– Bin so weit. Abmarsch, mein Lieber.

Durch die Tür. Zwei Freunde die Stiegen hinunter. Lachend über den Dorfplatz. Umarmt gehen sie auf die Meute zu. Wie dankbar Baroni ihm ist. Ohne Max würde dieser Tag anders aussehen, sein ganzes Leben würde anders sein. Max ist ihm beigestanden, als er ganz unten war, er hat ihn motiviert, ihm in den Arsch getreten, ihm seine Überheblichkeit genommen, ihm gezeigt, was Demut ist. Deshalb gehen sie nebeneinander, deshalb will Baroni, dass er dabei ist. Weil Max es war, der ihm damals die Schlüssel für den Stand in die Hand gedrückt hat. Dirwird wohl nichts anderes übrig bleiben, hat Max gesagt. Und es war gut so.

Wie schön alles geworden ist, der Umbau. Baroni, wie stolz er ist. Alles hat sich zum Guten gewendet. Alles. Wie sie dastehen. Der Bürgermeister singt ein Loblied auf den großen Sohn des Dorfes. Der heimgekehrte Fußballgott, der gestrauchelt ist, der Kämpfer, der neu beginnt und dem Dorf die Treue hält. Baronis Würstchen. Ein Geschenk für die Gemeinde. Die Musikkapelle spielt einen rührenden Marsch, Akofa spritzt Weihwasser durch die Gegend.

Alle beten ehrfürchtig ein Vaterunser, Max kämpft. Er möchte sich hinsetzen, er will sich mit seinem Freund zurückziehen und feiern. Sich gehen lassen, ohne Fotografen und Journalisten. Seine Freude zeigen, ohne dass das ganze Dorf zusieht. Immer noch ist er weit weg, immer noch fühlt sich alles leicht an. Immer noch schwebt er. Max nimmt kaum wahr, was passiert. Aber lustig findet er es. Was Akofa sagt. Dass der Pfarrer während des Gebetes fast in einen Lachkrampf ausbricht. Die Schützen, die ihre Gewehre von den Schultern nehmen und durchladen. Ein Dorf feiert. Alles wird aufgeboten, was zur Verfügung steht, ein fulminanter Start für Baronis Würstchen. Wie absurd ihm alles vorkommt. Wie berauscht er immer noch ist. Wie der Schützenhauptmann den Befehl zum Salutschuss gibt. Wie die Blicke von Max herumirren, sich irgendwo festhalten wollen. Und wie Baroni langsam umfällt. Wie ein Baum im Wald. Einfach so, während die Kapelle spielt.

Max steht nur da. Schaut zu. Begreift es nicht. Wie Baroni neben ihm zusammensackt und liegen bleibt. Wie sie sich aufgeregt über ihn beugen. Bilder, die ganz langsam an Max vorüberziehen. Baronis Gesicht, seine Augen, die ihn fragend anstarren. Baroni versteht es nicht, warum da plötzlich diese Wunde ist, warum er am Boden liegt. Was ist passiert, Max? Bitte, hilf mir, Max. Seine Augen schreien. Doch Max steht still, er kann nichts tun, sich nicht bewegen, nicht reagieren. Da sind nur diese Bilder, die er wieder und wieder sieht. Die Schützen, die ihre Gewehre abfeuern. Akofa, der grinst und ihm zuzwinkert. Die Frau des Bürgermeisters, die heimlich in ihrer Nase bohrt. Und diese Pistole, die da plötzlich auftaucht zwischen all den Festgästen und Schaulustigen. Eine Waffe, auf die niemand geachtet hat, während die Schützen bellten. Nur eine Sekunde lang, dieser Mann im Getümmel. Ein fremdes Gesicht, das nicht zu den anderen passte, ein Bild, das Max nicht einordnen konnte. Zu schnell ging alles, keine Verbindung zwischen den Dingen, Max steht nur da, begreift es nicht. Alles um ihn herum, es passiert einfach. Er kann nichts tun. Nur zuschauen. Wie Baroni auf dem Asphalt liegt und ihn anstarrt. Wie sich sein Hemd verfärbt. Wie alles rot wird. Und wie die Augen seines Freundes einfach zugehen.

3

Chaos. Alle sehen, wie der Held der Stunde in einer Blutlache liegt. Panik bricht aus. Alle rennen sie davon, innerhalb weniger Sekunden leert sich der Dorfplatz, alle bringen sich in Sicherheit. Keiner weiß, was passiert ist. Sie sehen nur das Blut und wie er sich nicht mehr rührt. Wie er daliegt und zuckt. Johann Baroni. Niedergestreckt von einer Kugel, während die Schützen albern in die Luft schossen. Scharfe Munition, kein Schreckschuss. Das Ende eines Tages, noch bevor er richtig begonnen hat.

Max zittert. Ihm ist kalt, er bewegt sich nicht. Auch nicht, als Akofa vor ihm steht und versucht, ihn wegzuziehen. Akofa schüttelt ihn, redet auf ihn ein, aber Max rührt sich nicht. Er schaut nur auf Baroni. Wie er daliegt. Wie sie ihm helfen und die Blutung stoppen wollen. Wie sie versuchen, ihn zu retten. Wie ein Traum ist es, aus dem Max nicht aufwacht. Die Welt bricht rund um ihn herum zusammen, Rettungswagen tauchen vor ihm auf, Polizisten. Max weiß, was passiert ist. Dass Baroni nicht wieder aufstehen wird. Auf seinen Freund wurde geschossen, eine Kugel hat sich in seinen Bauch gegraben, nur eine Handbreit unterhalb des Herzens, jemand hat ihn einfach niedergestreckt. Ein Fremder, ein Gesicht, das Max vorher noch nie gesehen hat. Immer wieder laufen dieselben Bilder vor seinen Augen ab. Die Schützen, die ihre Gewehre durchladen, Akofas weiße Zähne, die Pistole in der Menschenmenge. Und Baroni, der fällt.

Stillstand. Minutenlang. Bis sie ihn wegzerren. Bis die Polizisten alles absperren und ein Sanitäter ihm eine Decke um die Schulter legt. Kommen Sie, wir kümmern uns um Sie. Sie stehen unter Schock. Kannten Sie den Toten? Wie Max es hört. Wie es langsam bei ihm ankommt. Kannten Sie den Toten? Wie ein Schlag ist es, ein tonnenschweres Gewicht, das auf ihn fällt. Ein Satz, der alles beendet, der seine Ohnmacht noch größer macht, sein Zittern, die Verzweiflung, die da plötzlich überall ist. Wie eine dieser grünen Gießkannen am Friedhof fühlt er sich. Wenn das Wasser rinnt und rinnt und sie irgendwann übergeht. Weil nichts mehr Platz hat in der Kanne, weil sie voll ist. Wasser. Wut. Max sitzt hinter dem Würstelstand am Boden und kann es nicht mehr zurückhalten.

Laut schreit er. Baronis Namen. Dann irgendwelche Laute. Wie ein Tier, das man schlachtet. Zusammengekauert am Boden, verzweifelt, laut, hilflos. Max will, dass Baroni wieder aufrecht neben ihm steht, er will, dass alles wieder so ist, wie es noch vor zwanzig Minuten war. Er versteht es nicht. Will es nicht. Nichts davon. Deshalb schreit er. Max ignoriert den Sanitäter, der auf ihn einredet, er schreit weiter, ohrenbetäubend. Bis Tilda kommt und ihn in den Arm nimmt, gerade noch verhindert sie, dass der Sanitäter ihn niederspritzt, ihn mit Beruhigungsmitteln vollstopft, ihn ausschaltet wie ein kaputtes Radio. Ich kümmere mich um ihn,sagt sie. Dann hält sie ihn fest, redet mit ihm, flüstert in sein Ohr. Liebevoll und ruhig. Das wird schon wieder, Max. Komm schon, du musst mir helfen. Baroni braucht uns jetzt. Immer wieder. So, als würde sie ein wild gewordenes Pferd beruhigen. Mit Liebe, so lange, bis Max leiser wird. Bis er aufhört zu schreien. Bis er sie hört. Aufwacht aus seinem blutigen Rausch. Ihr antwortet.

– Beruhige dich, Max.

– Nein, Tilda. Das darf alles nicht wahr sein, nicht jetzt, nicht Baroni. Bitte nicht, Tilda.

– Du musst dich zusammenreißen.

– Ich will mich nicht zusammenreißen.

– Du bist betrunken, Max.

– Und?

– Baroni braucht dich jetzt.

– Baroni ist tot.

– Was redest du da?

– Ich schaff das nicht noch einmal, Tilda.

– Was denn, um Gottes willen?

– Alle Menschen, die ich liebe, sterben.

– Du musst mir jetzt ganz gut zuhören, Max. Schau mich an. Baroni ist nicht tot, er ist auf dem Weg ins Krankenhaus, und er braucht dich dort. Du musst zu uns zurückkommen, Max. Verstehst du das? Reiß dich zusammen.

– Ein Sanitäter hat mir gesagt, dass er tot ist.

– Schwachsinn. Er hat viel Blut verloren, aber er lebt. Sie bringen ihn jetzt ins Krankenhaus, sie werden alles für ihn tun, Max. Baroni wird überleben, hörst du? Er wird nicht sterben.

– Wird er nicht?

– Nein, Max. Wird er nicht.

Tildas Gesicht ganz nah. Max schaut sie an, er will ihr glauben, will nicht zweifeln an dem, was sie sagt. Seit über fünfundzwanzig Jahren ist sie für ihn da, hat ihn aufgezogen, für ihn gesorgt. Sie hat geweint und gelacht mit ihm. Tilda hat seine leibliche Mutter ersetzt, die er viel zu früh verloren hat. Auf wunderbare Weise bis heute. Tilda und Max, eine Familie. Nur noch sie beide sind da. Wie sie dastehen und gemeinsam beschließen, dass alles gut ausgehen wird. Während das Dorf in Panik ist, während die Polizei den Platz sichert, Straßen sperrt und verzweifelt nach einem Wahnsinnigen sucht, der am helllichten Tag auf den großen Sohn des Dorfes geschossen hat. Der Baroni töten wollte, anstatt ihm auf die Schulter zu klopfen und mit ihm anzustoßen.

Ausnahmezustand im Dorf. Fotografen und Fernsehkameras halten alles fest. Auch wie Max in den Krankenwagen steigt und davonfährt. Ohne Tilda. Weil sie noch bleibt, bis die ehemaligen Kollegen aus der Stadt kommen. Die Kripo, die alles auf den Kopf stellen wird, die Spurensicherung. Tilda wird sich darum kümmern, dass alles korrekt abläuft. Dreißig Jahre lang hat sie nichts anderes getan. Einmal noch wird sie dafür sorgen, dass die Streifenpolizisten keine Fehler machen, dass nichts übersehen wird, dass viele Menschen so schnell wie möglich befragt werden. Ob sie etwas gesehen haben, ob ihnen irgendetwas aufgefallen ist. Tilda. Sie wird alles tun, was nötig ist, dann wird sie nachkommen. Ins Krankenhaus, zwanzig Kilometer weiter, sie wird wieder zu Max stoßen und mit ihm beten. Egal, ob er daran glaubt oder nicht, Max wird seine Hände falten, er wird um das Leben seines Freundes bitten. Lieber Gott, lass ihn nicht sterben. Lieber Gott, mach, dass er wieder aufwacht. Max schließt die Augen und wünscht es sich. Mehr als alles andere.

Im Krankenwagen über die Autobahn. Er kommt wieder zu sich. Langsam wacht Max auf. Kann wieder klar denken. Neben ihm sitzt der junge Sanitäter, der gesagt hat, Baroni sei tot. Ein Zivildiener vielleicht, einer, der nicht gerne tut, was er tut. Er kaut an seinen Nägeln und langweilt sich, minutenlang passiert nichts. Keiner sagt etwas, nur die Straße ist laut. Dann geht der Mund des Jungen wieder auf. Gedankenlos kommt es aus ihm heraus. Schaut nicht gut aus für deinen Freund, sagt er. Er hat zu viel Blut verloren. Max schweigt. Antwortet nicht. Am liebsten würde er ihn schlagen, ihm seine Fäuste ins Gesicht werfen, ihm so lange wehtun, bis er still ist, bis er sein verdammtes Maul hält. Doch Max tut nichts. Er sitzt nur still da und schaut geradeaus. Lässt ihn reden. Weil er daran glaubt, was Tilda gesagt hat. Weil es keine andere Option gibt. Keine. Ich weiß es, Max. Baroni wird das überleben. Er wird seine Augen wieder aufmachen. Baroni wird nicht sterben.

4

Wie lang die Nacht war. Der nächste Tag. Und noch eine Nacht. Wie lang er seine Hand gehalten hat. Max und Baroni auf der Intensivstation. Max und Baroni verbunden, immer noch atmend, bereit weiterzuleben, nicht aufzugeben. Wie klar plötzlich alles ist, dass es keinen anderen Weg gibt, dass es die einzige Möglichkeit ist. Dass Baroni wieder zurückkommen muss. Sie haben noch nicht angestoßen auf seinen Erfolg, auf die goldene Zukunft mit den Würstchen. Da gibt es noch so viele Dinge, die sie tun wollen. So viel Schönes. Max lässt Baronis Hand nicht los, er will bei ihm sein, wenn er aufwacht. Egal, wann. Max bleibt.

Koma. Sie haben die Kugel aus seinem Bauch geholt, aber Baroni wacht aus der Narkose nicht auf. Sie haben alles für ihn getan, vier Ärzte und fünf Schwestern haben um sein Leben gerittert, während Max mit Tilda im Aufenthaltsraum gewartet hat. Kein Auge haben sie zugemacht, jedes Mal, wenn die Tür zum OP-Bereich aufging, sind sie aufgesprungen und haben nachgefragt. Es schaut nicht gut aus, sagten die Ärzte. Er wird überleben, sagte Tilda. Max nickte nur und wünschte sich nichts mehr, als dass sie Recht behielte.

Baronis Karriere wird nicht einfach auf einem OP-Tisch enden. Auch nicht in einem Krankenhausbett, mit Schläuchen aus seinem Mund. Baroni wird wieder aufstehen und weiterleben. Max weiß es. Er spürt es, dass seine Hand nicht kalt werden wird, dass sich diese Finger wieder bewegen werden.

Tilda und Max. Sie lassen ihn nicht allein, sie wechseln einander ab, machen sich Mut. Verzweifelt warten sie immer noch, zwei Tage, nachdem es passiert ist, es ist der einzige Wunsch, den sie haben. Dass Baroni sie anlächelt und sagt, dass alles wieder gut sei. Baroni in diesem Bett neben all den Geräten, sein Herzschlag auf einem Monitor, sein Körper, der stillsteht. Und Tilda, die versucht herauszufinden, was passiert ist. Immer wieder telefoniert sie mit ihren ehemaligen Kollegen, sie will wissen, ob man den Schützen schon gefunden hat. Ob es Spuren gibt, irgendetwas, das ihnen verrät, wer geschossen hat. Doch da ist nichts. Nur die Gewehre der Schützen, die sie untersucht haben, die Kugel, die sie aus Baroni herausgeholt haben. Es war eine Pistole mit Schalldämpfer, kein hundert Jahre altes Gewehr einer Brauchtumsgruppe, keine sinnlose Ballerei in die Luft, es war ein Mordversuch, ein gezielter Schuss auf Baronis Herz. Abgefeuert von jemandem, der seinen Tod wollte. So einfach.

Unvorstellbar für Max, für Tilda, für den Rest des Landes. Die Medien stürzen sich auf die Geschichte. Baronis Gesicht flimmert über die Bildschirme, alle Sender bringen die Story, auch im Ausland berichten sie darüber. Baroni, der früher als Legionär in Deutschland, Spanien und Italien unterwegs war, zu seinen besten Zeiten ein absoluter Star. Baroni, der durch halb Europa stürmte, liegt jetzt im Koma. Sie reden über einen Mordanschlag, vermuten einen Zusammenhang mit seiner Zockerzeit, sie spekulieren, erfinden Räubergeschichten, irgendwelche Unterweltbosse sollen für Baronis Aus verantwortlich sein. Alles deutet auf einen Auftragsmord hin. Es ist die einzig vernünftige Erklärung für das Unfassbare. Und es ist auch das, was Tilda vermutet. Eine Exekution soll es gewesen sein, ein Profi, der in Baronis Kopf das Licht ausgeschaltet hat. Ein einziger gezielter Schuss, eiskalt und abgebrüht am helllichten Tag. Es kann nicht anders gewesen sein